Kapitel 30 Vara
Der Rauch eines prasselnden Holzfeuers schlug ihnen entgegen, als Simon die Tür des Gasthauses aufstieß. In der stickigen Luft hing der Geruch von bratendem Fleisch und schalem Bier, welches die wenigen Gäste aus großen Krügen tranken. Obwohl der Raum, den sie betraten wohl leicht Platz für fünfzig Leute geboten hätte, gab es neben ihnen grade einmal drei weitere Gestalten, die in den rauchverhangenen Ecken des Gasthauses saßen. Bei diesem Wetter war kaum jemanden danach, sich im Inneren
eines stickigen Hauses aufzuhalten. Gut für sie, dachte Simon. Damit sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand erkannte. Er gab dem anderen ein Zeichen, ihm zu folgen.
Das Feuer, das ihm vorher bereits aufgefallen war, brannte in einem offenen Kamin in der Mitte des Raums. Im Winter sicher eine wahre Erholung für alle Reisenden und Bürger, die aus den kalten Straßen kamen, nun jedoch hielt es die Kundschaft eher fern. Über den Flammen hing ein Spieß mit einem ganzen Schwein, das ein Küchenjunge beständig drehte.
„Also… wir sind hier.“, meinte Ordt und ließ sich auf einem Platz an der
Rückwand des Raumes nieder. Seine Augen blieben dabei auf die Tür gerichtet und Simon bezweifelte nicht, dass der Wolf jeden, der hereinkam, genau beobachten würde. „Was nun ?“
„Ich hatte eigentlich vor, mich in den Bibliotheken umzusehen.“, antwortete er. Er hatte den anderen bisher nicht ausführlich erzählt, was mit ihm geschehen war, aber auch sie wussten, dass er nach Antworten suchte. Und Simon wusste nicht, wie lange er brauchen würde, um das zu finden was er suchte. Vorausgesetzt, dachte er, dass die Bibliotheken hier überhaupt einen Hinweis enthielten, der ihm weiterhalf. Entweder dabei, das Rätsel der Seherin
zu lösen… oder herauszufinden, was mit ihm Geschehen war.
„Ihr könnt solange hier warten oder… Ihr zieht ohne mich weiter. Mein Ziel jedenfalls ist fürs Erste genau hier.“
„Ich dachte, das hätten wir geklärt.“, meinte Kiris grinsend. „Wir stehen das zusammen durch. Und sei es nur deshalb, weil wir alle alleine keine Chance mehr haben. Ohne Tiege währen wir nicht aus Anego entkommen und ohne Euch auch nicht, ohne Ordt wäre ich nicht mehr aus Stillforn entkommen.“
„Und ohne Euch gäbe es sehr viel weniger, um das ich mir Gedanken machen muss.“, brummte Simon, konnte aber ein schwaches Grinsen nicht verbergen.
„Sagt der Mann, der sich vor einem Irrlicht fürchtet.“ Kiris zwinkerte, so dass es weder Tiege noch Ordt bemerkten. Irgendwie hatte diese Frau es sich zur Aufgabe gemacht, seine Nerven zu strapazieren. Und seine Ansichten…. Er hatte einen Teil der Grausamkeit und Härte, die diese Leute erdulden mussten jetzt selbst erlebt. Und nach wie vor war er sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Es änderte jedenfalls wenig an seinem momentanen Ziel. Varas Bibliotheken. Er machte Anstalten aufzustehen, wurde jedoch von einer Stimme zurückgehalten.
„Ich würde Euch gerne begleiten.“, bemerkte Kiris. „Das heißt wenn Ihr das wollt.“
Simon hielt in der Bewegung inne. Es wäre sicherer alleine zu gehen. So zog er weniger Aufmerksamkeit auf sich, den seine momentane Tarnung würde bereits zu genug fragenden Blicken führen. Ein Farmer war das letzte, was man in den steinernen Hallen der Gelehrten erwartete….
Auf der anderen Seite….
„Wenn Ihr wollt.“, erklärte er schließlich und stand auf.
„Wir werden fürs erste hier warten.“, meinte Ordt, bevor er und Kiris aufbrechen konnten. „Wenn Ihr bis heute Abend nicht zurück seid, versuche ich mit dem Geld, das wir noch haben ein
Zimmer zu bekommen. Und… passt auf Euch auf.“
„Keine Sorge.“, antwortete Kiris. „Was kann uns in einer Bibliothek geschehen?“
„Euch könnte ein Buch auf den Kopf fallen.“, bemerkte Tiege. „In den Archiven Helikes kann das durchaus lebensgefährlich sein. Manchmal folgt darauf nämlich gleich das ganze Regal.“
Simon ignorierte den Scherz des Gejarn, während er und Kiris durch die Tür auf die Straße hinaus traten. Die weiß getünchten Fassaden der Häuser spiegelten die Sonne wieder und die Helligkeit war nach dem dämmrigen Inneren des Gasthauses beinahe
schmerzhaft. Es war eine Weile her, dass er das letzte Mal hier war. In Vara jedoch, veränderte sich alles nur langsam und das Ziel, an den es ihn zog, konnte er von überall sehen. Die kupfergrünen Dächer der Bibliotheken erhoben sich über der Stadt, wie es andernorts ein Fürstensitz oder eine Burg tun mochte. Doch Vara hatte schon immer einen Sonderstatus genossen und die Patrizier der Stadt selten viel Wert auf Prunk gelegt. Hingegen war es die unendliche Findigkeit der Gelehrten, die aus allen Ecken des Reichs ihren Weg hierher fanden, welche das Bild der Siedlung prägte. Das gewaltige Kanalsystem, das die Stadt sowohl über als auch
unterirdisch durchzog und die meisten Häuser und öffentlichen Brunnen mit frischem Wasser versorgte, war Beweis genug dafür.
Die Straße, der sie folgten, führte über genau einen solchen künstlichen Wasserlauf. Eine aus Marmorplatten gelegte Rinne führte unter einer aus hellem Holz gefertigten Brücke hindurch, an deren anderen Ende sich ein kleiner Platz befand. Simon war bereits fast auf der anderen Seite angelangt, als er merkte, dass Kiris nicht mehr an seiner Seite war. Sie stand auf dem Scheitelpunkt der kleinen Brücke und sah dem träge dahin strömenden Wasser nach.
„Ich schätze, so etwas gibt es in Stillforn nicht?“ , fragte er, während er zu ihr zurück ging.
„Es gab natürlich Gräben auf den Feldern, aber einen Fluss durch eine Stadt zu leiten… das ist beeindruckend.“
„Tatsächlich ist es nicht einmal ein Fluss.“, antwortete Simon. „Das Land um Vara ist trocken, verglichen mit den übrigen Herzlanden. Das hier stammt aus Höhlen tief im Fels auf dem die Stadt steht.“
Es war belanglos, dachte er. Sie sollten sich auf den Weg machen. Gleichzeitig genoss ein Teil von ihm das simple Gespräch mehr als er zugeben wollte. Es war… schön einmal alleine
mit ihr zu sein.
„Hört zu, ich verstehe langsam, dass Ihr… mich hassen müsst. Und ich weiß, dass Ihr mir nicht verzeihen wollt, aber…“
Bevor er den Satz beenden konnte, schüttelte Kiris den Kopf.
„Ihr seid nicht mehr der Mann, der Ihr einmal wart.“ Sie drehte sich zu ihm um und obwohl sie einen halben Kopf kleiner als er selbst war, fand Simon sich unfähig ihrem Blick auszuweichen. „Oder spielt Ihr nur mit uns, bis Ihr habt was ihr wollt?“
„Götter, ich wünschte, ich könnte darauf eine ehrliche Antwort geben…. “ Er trat an das Geländer der Brücke und
sah den Wasserlauf entlang, bis zu der Stelle, wo er an den Stadtmauern entsprang. Wenigstens entkam er so Kiris fragendem Blick. „Mein Leben hat sich in den letzten Wochen sehr verändert, soviel kann ich sagen.“
„Ihr wisst es wirklich nicht, oder?“
Jetzt war es an Simon den Kopf zu schütteln.
„Nein. Wenn ich heute zu meinem alten Leben zurückkehren könnte, meine Fähigkeiten zurück gewinnen würde…. Ich weiß nicht, was passieren würde, ob ich da weitermachen würde, wo ich aufgehört habe…. Götter, ich hatte vor, ganz Canton zu übernehmen, könnt Ihr euch das vorstellen?“
„Vielleicht könntet Ihr es dann aus den richtigen Gründen tun.“, meinte Kiris. Er konnte spüren, wie sie direkt hinter ihn trat.
„Vielleicht… ich habe genug Dinge gesehen, die sich zu ändern lohnen würde. Mehr als genug für ein Leben.“ Er drehte sich um. „Und vielleicht ist Macht ein Gift. Schleichend, aber genauso tödlich, wie ein Stich ins Herz. Was ist jedes hohe Ziel, Welt, wenn am Ende nicht mehr davon bleibt als Asche?“
Einen Augenblick standen sie sich wortlos gegenüber. Die Stille wurde allmählich drückend, so als würde sie auf etwas warten. Eine Antwort
vielleicht, auch wenn Simon nicht wusste, wie die aussehen sollte….
„Wir sollten weitergehen.“, erklärte er schließlich nur und setzte sich wieder in Bewegung.
Kiris folgte ihm nach einem Moment, in dem sie noch regungslos auf der Brücke stehen blieb. Sie hatten die Bibliotheken jetzt so gut wie erreicht. Der Platz, den Simon schon zuvor gesehen hatte, lag direkt zu Füßen der über der Stadt thronenden Bauten. Gewaltige Hallen aus honigfarbenem Stein, die einen angenehmen Gegensatz zu der sonstigen, grellen Helligkeit Varas darstellten. Große Fenster, die teilweise vom Fundament einzelner
Gebäude bis zum Beginn der mit Schiefer gedeckten Dächer hinaufreichten, zierten die Fassaden. An anderen Stellen wiederum erhoben sich Bauwerke aus simplen, aufeinander gefügten Stein oder aus unverputzten Ziegeln. Es war ein Sammelsurium von Baustilen und manche der Gebäude hier stammten wohl noch aus der Gründungszeit der Stadt. Es war der vielleicht einzige Ort in Vara, der nicht durchstrukturiert und geplant war, sondern einfach mit der Zeit gewachsen, so wie es andernorts Wehranlagen taten. Bloß brauchte Vara natürlich kaum militärischen Schutz. Im Herzen des Imperiums gelegen, schien es unmöglich,
das jemals eine fremde Armee bis hierher vordringen könnte. Die alte Zitadelle der Erdwacht, weiter im Landesinneren stellte zudem ein weitaus größeres Hindernis dar, als es jede normale Festung je tun würde. Nein statt Verteidigung, war hier eine Zitadelle des Geistes entstanden. Und hoffentlich enthielt sie, wonach Simon nun schon seit Monaten suchte….
Der Hügel, auf dem die Bibliothek lag, war größtenteils in einzelne Terrassen umgewandelt worden, auf denen sich ausladende Gärten erstreckten. Blumenbeete mit Blüten in allen Farben zogen sich, fast wie lebende Banner, die Erdrampen hinauf und
rahmten eine große Treppe ein, die zum Haupttor des Bauwerks führte. Bäume, ragten dort, wo die Beete noch Platz boten, aus der Erde. Das dichte Blätterdach tauchte die Stufen vor ihnen in kühle Schatten, welcher Reisende wie Ortsansässigen geradezu aufzufordern schien, dort niederzulassen. Auf der großen Freifläche vor dem Bibliothekszugang wiederum, erhoben sich drei Brunnen, jeweils zwei an beiden Enden des Platzes und einer direkt im Zentrum. Der stetige, eiskalte Wasserstrom aus den Tiefen unter Vara, füllte die Luft mit einem zarten Wasserschleier, in dem sich das Sonnenlicht brach. Simon hatte
vergessen, wie viele Stunden er selber hier verbracht hatte, wenn Alastor ihn zum Lernen oder Bücher holen schickte. Und auch viele der Gelehrten und Archivare der Bibliotheken Varas, zogen es vor, ihre Zeit hier draußen, statt in den Mauern ihrer Zuflucht, zu verbringen. Die Gestalten in ihren markanten blauen Roben saßen an den Springbrunnen oder im Schatten der Gärten, unterhielten sich gedämpft, blätterten in Büchern oder meditierten schlicht in der mittäglichen Stille.
„Es ist… schön hier.“, stellte Kiris fest, während sie ihm über den Platz und die Stufen der Treppe hinauf folgte. Der Duft der allgegenwärtigen Blumengärten
erfüllte die Luft, während sie auf einem Absatz stehenblieben und hinab auf den Platz blickten.
„Das ist es.“ , antwortete er nachdenklich . „Vara ist… vielleicht einer der glücklicheren Orte in Canton. Der Kaiser lässt den Leuten hier größtenteils ihre Unabhängigkeit und der Patrizier hört meist auf seine Bürger. Und wie ihr seht, es funktioniert. In Anego… das war der alleinige Wille des Kaisers. Das hier hingegen… ist der Wille der Menschen, schätze ich. Tiberius Wunsch, alles zu kontrollieren wird das allerdings kaum viel länger zulassen.“
„Wieso seid ihr euch da so sicher?“,
fragte Kiris. „Ich bezweifle, dass diese Leute ihre Freiheit so einfach abgeben würden.“
„Ihr habt es doch selbst bereits gesehen und ihr habt Kellan gehört.“, antwortete er. „Und ich kenne Tiberius. Ich gebe dem hier noch ein paar Jahre, dann wird der Kaiser versuchen, auch hier seinen Einfluss bis ins Kleinste durchzusetzen. Und er hat die Mittel dazu. Die Leute werden versuchen zu kämpfen, sicher. Das tun sie immer. Und sie werden zertreten.“
„Nicht wenn sie jemand führen würde.“ Kiris Stimme wurde ernst.
„Und wer soll das sein?“, fragte Simon und konnte einen belustigten
Unterton nicht verbergen. Bisher war jeder, einschließlich er selbst, gescheitert, der versucht hatte, sich gegen die Ordeal-Herrscher zu stellen. Bei den Göttern, ein Unsterblicher war während des großen Bürgerkriegs vor zweihundert Jahren daran gescheitert. Und vielleicht hielt sich Tiberius selbst längst dafür. Für einen Gott.
Bevor Kiris ihm eine Antwort geben konnte, riss ihn eine andere Stimme aus seinen Gedanken. Eine Stimme, die er kannte. Und eine, die er nie wieder hatte hören wollen. Er konnte spüren, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, während er sich zu dem Neuankömmling umdrehte. Und spätestens jetzt waren
alle Zweifel ausgelöscht.
„Hallo, Simon. Ich schätze, du hättest nicht gedacht, mich je wiederzusehen.“