Krimis & Thriller
Haartje und die liebestollen Terroristen

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"Haartje und die liebestollen Terroristen"
Veröffentlicht am 06. Juni 2015, 100 Seiten
Kategorie Krimis & Thriller
© Umschlag Bildmaterial: Wolfgang Dirscherl/www.pixelio.de
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Über mich gibt es nichts interessantes. Aber jetzt auch mit schönen bunten Bildern.
Haartje und die liebestollen Terroristen

Haartje und die liebestollen Terroristen

Haartje und die liebestollen Terroristen






Hauptwachmeister Haartje hockte auf seinem alten quietschenden Drehstuhl vor dem dienstlichen Computer und verfasste eine Diebstahlsanzeige. Eine Tätigkeit, die seinem recht bescheidenen für eine ordentliche Karriere bei der Polizei jedoch durchaus ausreichender Intellekt, jedoch eine immense Herausforderung darstelle. Er quälte sich durch die Fakten. Der entwendete Gegenstand wurde etwas schlicht als

ordinäre Schubkarre bezeichnet. Es fehlten jedwede Hinweise auf Modell, Baujahr, Farbe, Bereifung und besondere Merkmale.

Haartje schrieb „Handelsüblich“ in die dafür vorgesehene Spalte und dachte dabei: Blöde Bauern hier. Klauen sich gegenseitig die Karren, und können sie dann noch nicht mal richtig beschreiben. Wie soll man da noch ordentlich seine Arbeit machen?

Er setzte noch hier und da ein paar Häkchen im Formular und speicherte es im Ordner „Diebstahl, unerledigt“ ab. Dieser Ordner hatte mittlerweile eine beachtliche Größe, denn in den letzten Tagen hatten sich Diebstähle von

bäuerlichem Handwerkszeug offensichtlich zum verbrecherischen Trend entwickelt. Alles wurde geklaut: Schubkarren, Leiterwagen, Mistgabeln, Schippen und Besen. Bei Hansens hatte man sogar den ganzen Trecker entwendet; Heini Hansen hatte sogar geweint als er diese frevelhafte Untat zur Anzeige brachte.

Dann, in der festen Gewissheit, für heute seine Pflicht erfüllt zu haben, beendete er das Programm und ging ins Internet, öffnete eine Pornoseite und begutachtete das Angebot. Er entschied sich für einen Clip in dem zwei schwitzende nackte menschenähnliche Wesen unterschiedlichen Geschlechts

dem gleichnamigen Verkehr frönten. Haartje guckte genau hin.

Seit ihm vor ein paar Monaten der Fall der illegal entsorgten Müllsäcke so viele Sorgen bereitet hatte, und er ein bekanntes Internet - Spiel immer noch nicht verstanden hatte, war er auf das angucken von Online Pornos verfallen.

Eine echte Leidenschaft hatte er für das virtuelle Poppen entwickelt. Und mittlerweile konnte er kaum einen Tag verstreichen lassen ohne seine wohldosierte Portion Porno.

Haartje wusste selbst nicht so genau was er so toll an diesem Emotionslosen Rammeln fand, keinesfalls erregte es ihn. Doch er fand, dass dieses

unglaublich mechanische Pumpen ihn vollkommen entspannte; ihm die Last seiner langweiligen Bemühungen im Dienste der öffentlichen Ordnung und Sicherheit förmlich von den eingefallenen Schultern blies. Und immens faszinierend erschien ihm jedes Mal wieder die unglaubliche Anzahl an verzwickten gymnastischen Stellungen. Manche davon schienen ihm doch sehr unbequem für die Ausführenden. Und dann war da noch die schier absurde Größe männlicher Geschlechtsteile, häufig so lang und dick wie eine ausgewachsene Mettwurst, die ihm mitleidlos die eigene Unzulänglichkeit bewiesen, und ihn stets arg verwundert

zurückließen. Da half auch kein gut gemeinter Ratgeber literarischer Natur in dem lauthals, und offensichtlich gegen jedwede Erfahrung,

versichert wurde das es dem Weibsvolk auf die Größe nicht wirklich ankomme.

Was bei Haartje doch arge Zweifel weckte angesichts seiner strammen, ausgefahrenen 12,5 Zentimeter, (er hatte zweimal nachgemessen!) die jede seiner Ex - Freundinnen zum Gähnen und Grinsen gebracht hatten.

Doch an diesem Tag wollte sich bei Hauptwachtmeister Haartje keinerlei wohlverdiente Entspannung einstellen. Er war, sozusagen, nicht mit dem Kopf dabei.

Denn andauernd gingen seine Gedanken auf Wanderschaft.

Nämlich hin zu den wirklich aufregenden Ereignissen die seiner in naher Zukunft harrten.

Schon in fünf Tagen war es soweit. Da konnte er allen beweisen was in ihm steckte; was er so alles drauf hatte als Polizist, als Bewahrer der öffentlichen Ordnung und Hüter der örtlichen Sicherheit. Und letztlich als Verantwortungsvoller Mann und vollwertiges Gemeindemitglied. Denn in der Vergangenheit waren seine Verdienste um das Allgemeinwohl eher bescheidener Natur gewesen.

Haartje hatte ein paar angetrunkene

Rowdys zur Ordnung gerufen, hatte den Straßenverkehr geregelt als ihnen Stundenweise die elektrische Versorgung aufgrund eines Defektes versagt wurde, er hatte dabei geholfen entlaufene Tiere zu suchen.

Und er hatte in den letzten Tagen unzählige Anzeigen, die sich allesamt um verschwundene bäuerliche Arbeitsutensilien drehten, aufgenommen.

Eine Lebensleistung, die Haartje alles andere als Stolz empfinden ließ. Doch mit diesem schwarzen Fleck auf seiner Biografie war es nun bald vorbei. Er würde endlich und bald die wohlverdiente Anerkennung für sein unermüdliches, selbstloses Schaffen im

Dienste bürgerlicher Sicherheit ernten können.

Haartje wurde bei diesem Gedanken ganz warm ums Ordnungshüter - Herzen. Und genau in diesem Moment stöhnte der Kerl auf dem Bildschirm wie ein kranker Elch, zuckte und zappelte und bog die Zehen durch. Haartje erschrak fürchterlich ob dieses gewaltigen Gegröles. Verschämt zitternd klickte er sein Abendprogramm weg, fuhr das dienstliche Dateiengrab herunter und verzog sich in die eigenen vier Wände.


Dienstagmorgen.

Haartje, frisch rasiert und notdürftig

gewaschen, schloss seinen Dienstraum im Gemeindebüro auf, setzte Kaffee auf und schlenderte rüber zur Merle, die sich im gegenüber liegenden Raum durch den Arbeitstag quälte, um nach seiner Post zu fragen.

„Moin Merle.“ Sagte Haartje.

„Moin Haartje.“ Sagte Merle.

„Post für mich?“ Fragte Haartje.

„Jau!“ Antwortete sie, und reichte ihm einen Stoß Briefe über ihren Schreibtisch.

„Danke.“ Sagte Haartje, und verzog sich wieder, den Blick fest auf die Post gerichtet. Das Kaffeewasser blubberte. Haartje kippte sich einen ein, fügte etwas Kondensmilch dazu, rührte um,

und setzte sich mit seinem dampfenden Becher hinter seinen verschrammten

Schreibtisch. Er begann den Tag mit dem sorgfältigen Studium der eingegangenen Briefe. Obwohl er insgeheim wusste das nicht wirklich etwas wichtiges dabei war. Denn meistens waren es die schriftlichen Flatulenzen frustrierter Bauerstöchter, die aus lauter Langeweile versuchten ihn auf postalischem Wege in ihre lauschigen Schlafzimmer zu locken. Denn auch wenn er alles andere als ein Adonis ist, mit seiner bös verbauten Figur, dem etwas linkischen Auftreten und seinem Kindskopf auf dem sich die meisten Haare auf Nimmerwiedersehen

verbschiedet hatten, so ist er doch der einzig verbliebene und leidlich akzeptable Junggeselle im Ort.

Natürlich schmeichelte es ihm ob dieser Tatsache, dennoch mochte er sich mit ernsthafter Familienplanung nicht so recht anfreunden. Angestrengt studierte er die Absender. Einige waren ihm wohlbekannt, die schmiss er gleich weg. Einige wenige kannte er noch nicht, die hob er sich für eine beschauliche Stunde auf.

Dann kam ihm doch noch etwas Ungewöhnliches unter. Nämlich ein überaus unscheinbarer brauner Umschlag in Größe Din A 3, ohne Absender und mit den Worten „Wichtig“

und „An die Vertreter der Staatsmacht“ adressiert.

Haartje fragte sich kurz selber ob er denn nun zu diesen Vertretern gehörte. Antwortete sich mit einem unsicheren „Vielleicht.“ Und öffnete den Umschlag. Heraus fiel ein säuberlich gefaltetes Blatt Papier, eng bedruckt mit sauberen Buchstaben. Haartje fing an zu lesen:

„WIR, DIE AKTIVISTEN/INNEN DER GRUPPE „VOLKSFRONT REVOLUTIONÄRER AGRAR ANARCHISTEN“ ( VRAA ) HABEN NACH LANGEN UND INTENSIVEN INTERNEN DISKUSSIONEN DEN ENTSCHLUSS GEFASST MIT SOFORTIGER WIRKUNG DEN

BEWAFFNETEN KAMPF AUFZUNEHMEN!

DIESER ENTSCHLUSS BERUHT VOR ALLEM AUF DER STARREN UNEINSICHTIGKEIT DER HERRSCHENDEN AGRAR - INDUSTRIELLEN DIE MIT IHRER ANHALTENDEN RIGOROSEN AUSBEUTUNG DER HEIMATLICHEN ACKERFLÄCHEN, DIE LEBENSGRUNDLAGE VIELER KLEINBAUERN ZERSTÖREN. DIESE ÜBERAUS ASOZIALE HALTUNG

GEGENÜBER DER MEHRHEIT DER LANDBEVÖLKERUNG IST NICHT LÄNGER TOLERIERBAR. WIR SIND FEST ENTSCHLOSSEN DIESEM

EIGENNÜTZIGEN VERHALTEN EINIGER UNBELEHRBARER EGOISTEN EIN ENDGÜLTIGES ENDE ZU SETZEN. IN ABSEHBARER ZUKUNFT WIRD EINE AUFSEHENERREGENDE AKTION UNSER ANLIEGEN IN DIE ÖFFENTLICHKEIT TRAGEN UND UNSEREN KAMPF UM EINE ZUTIEFST GERECHTE UND LIEBEVOLLE NUTZUNG LANDWIRTSCHAFTLICHER RESOURCEN ZUM LEITBILD BÄUERLICHER REVOLUTION ERHEBEN. NUR WAHRE HINGEBUNGSVOLLE LIEBE WIRD UNS ALLE RETTEN!

„KOMMANDO ROTE SCHOLLE

HOLMENKÖTEL“ V. R. A. A.

Haartje schluckte einen Mundvoll Kaffee runter, unterdrückte dann mit einiger Mühe ein hämisches Lachen ob diesem scheinbaren Schelmenstreich. Denn so ein offensichtlicher Mist konnte doch wohl nicht ernst gemeint sein. Oder doch?

Haartje grübelte darüber. Kam mit seinem Nachdenken jedoch nicht weit. Ihm wollte niemand einfallen der unter die Rubrik „Agrar - Industrieller“ fallen könnte. Noch nicht einmal ansatzweise. Denn hier herum existierten keinerlei Großgrundbesitzer, geschweige denn Ausbeuter bäuerlicher Nutzflächen. Das waren alles kleine Höfe die ein paar

Hektar bewirtschafteten, ein wenig Vieh hielt. Außerdem gab es ein paar Pferdehöfe bei denen reiche Städter ihre vierbeinigen Statussymbole untergestellt hatten.

Also alles andere als eigennützige Ausbeuter.

Und Anarchisten…? Da fiel ihm erst recht keiner ein. Hier im Dorf liefen noch nicht mal langhaarige bekiffte Unruhestifter rum. Okay, es gibt ein paar die am Wochenende ordentlich einen draufmachen, die sind n bisschen laut, machen Blödsinn, kotzen in fremder Leute Vorgärten. Aber Terroristen?

Das konnte nur ein beknackter Scherz sein.

Doch um sicher zu gehen konnte es nicht schaden eine zweite Meinung einzuholen.

Haartje leerte seinen Kaffeebecher, rückte seinen Hosenbund zurecht

und schlurfte in Richtung Bürgermeisterbüro.

Er klopfte, hörte ein schroffes „Herein“ und sah sich im nu Aug in Aug mit Walter Reister, Bürgermeister in seiner fünften Amtszeit, Oberhaupt einer weitverzweigten Sippschaft und noch ahnungsloser Landwirt.

Haartje reichte ihm das Schreiben über den Schreibtisch.

„Kam heute Morgen mit der Post, natürlich ohne Absender.“ Aufmerksam

beguckte er das feiste Bürgermeistergesicht, während dessen Besitzer sich mit bebenden Lippen durch den kurzen Text arbeitete. Reisters Gesicht verfärbte sich in Sekunden Richtung Rot, seine Brille segelte mit ungläubigem Erstaunen über die Tischplatte. „Dat ischa ma n starkes Stück!“ Entfuhr es dem Dorfpatron. „Sie wissen was das bedeutet? Sie wissen was jetzt zu tun ist, Haartje?“ „Äaaaah… Sicherlich… Sie glauben also auch… Nur ein Dummer Jungen Streich, nicht wahr?“

„Schön wär ´s, Haartje! Sind Sie eigentlich vertraut mit den jüngsten Ereignissen auf dieser Welt? Ich glaube

nicht! Denn was Sie da reden kommt mir doch recht naiv vor. Der Terrorismus hat Konjunktur, Haartje! Überall und zu jeder Zeit sind diese feigen Fallensteller am Werk; In jedem Augenblick ist mit einem Angriff auf unsere freiheitliche Demokratie zu rechnen. Überall! Das bedeutet leider auch hier in unserer beschaulichen Heimat! Und das werde ich nicht so einfach zulassen. Nicht solange ich dieses Amt ausfülle…! Nicht solange ich denken und atmen kann, Haartje! Haben wir uns verstanden?“

„Ich weiß nich recht…?“

„Mensch Haartje, Sie sind doch Polizist… und n plietschen Kerl

obendrein, Sie müssen doch wissen wie man so was angeht! Ermitteln, aufklären, unschädlich machen!“

„Aber so ganz alleine… Und so ganz ohne Unterstützung… Ich meine… Das is bestimmt ne tüchtig schwere Arbeit und so… da müsst ich schon was Hilfe haben. Oder es dauert halt.“

„Sie können jederzeit auf die Hilfstruppen vom Bauhof bauen. Das sind kräftige Kerle, die können auch mal draufhauen. Und wenn ich mich recht entsinne haben Sie noch Kontakte zu ihrer ehemaligen Dienststelle in Hamburg. Ich werde die da mal anrufen ob die nich n Spezialisten für so Fälle da haben. Also fahren Sie morgen da mal

hin und schildern denen unsere verzwickte Lage!“

„Alles klar, Herr Bürgermeister.“

„Und vergessen Sie nicht Haartje… In vier Tagen steigt unsere Jubiläumsfeier, dieses Jahr auch mit der Austragung der Meisterschaft! Da kann ich mir und meinem Dorf keine Störungen leisten. Das ist viel zu wichtig, als das irgendwelche wirren Öko - Anarchisten mein Fest mit ihrem Quatsch belästigen! Das ist mal Sicher!“

„Jawoll Herr Bürgermeister!“

„Und jetzt raus hier! Ich hab zu arbeiten!“

„Jawoll!“

Haartje fühlte sich ein weiteres Mal von

seinem Chef leicht gedemütigt und schwer von sich selber enttäuscht. Er hätte gegenüber diesem alten Dorfpotentaten seinen Standpunkt mutiger vertreten sollen, hätte eisern an seiner Überzeugung festhalten müssen. Doch jetzt war die Gelegenheit verpasst. Ein Umstand, der ihn schon sein ganzes Leben begleitete. Die verpassten Chancen häuften sich.

Er hockte sich in seinen alten Golf um mal eben und so nebenbei die Lage zu peilen. Er drehte seine Runde, ließ sich sehen im Dorf. Grüßte hier und da mit einem kurzen Kopfnicken. Dann machte er sich davon in Richtung Festwiese am Rande seines Reviers.

Dort schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Das große Festzelt schwitzte in der Sonne, ebenso wie die vier Gemeindearbeiter die im Schatten eines Baumes saßen, rauchten und Bier tranken. Haartje vernahm ihr ausgelassenes Gelächter. Als sie ihn bemerkten verstummten sie schlagartig und setzten ein beflissenes Dienstgesicht auf.

„Moin Leudde!“ Begrüßte sie Haartje.

„Moin.“ Sagte einer.

„Moin.“ Ein anderer.

„Moin.“ Sprach der dritte.

„Moin, du oller Oberförster!“ Feixte der letzte und älteste in der Runde. Haartje ließ es durchgehen.

„Alles gut bei euch?“ Fragte er.

„Sicher, “ erwiderte der Alte, der Chef der Truppe, „haben nur mal eben ne kleine Kreativpause eingelegt.“

„Ich meine mit dem Platz. Den Parkplätzen, den Buden, dem Wettkampfring und den Absperrungen.“

„Alles in Arbeit, Haartje. Wir sind so was von im Plan.“

„Stellt lieber noch n paar Absperrgitter mehr auf. Man kann ja nie wissen.“

„Wieso? Irgendwas im Busch?“

„Ich mein ja nur. Vor allem wegen den besoffenen Heckenpennern. Und es gibt da so ne vage Warnung, von wegen Spektakuläre Aktion irgendwelcher Ökofreaks. Was Genaues weiß ich noch nicht.“

„Na, dascha n Ding!“

„Wie gesagt, was genaues weiß ich nich. Aber n paar mehr Absperrgitter können ja nich schaden.“

„Wie du meinst. Wir besorgen noch welche, in Knollenkamp haben sie wohl noch welche die sie nich brauchen, glaub ich.“

„Also… das wär ´s dann fürs erste. Tschüss denn.“

„Tschüss denn.“

„Tschüss.“

„Tschüss auch.“

„Wiedersehen.“

Haartje fuhr ab und nach Hause. Feierabend.


Am nächsten Morgen, er war frisch geduscht und rasiert, machte er sich auf in die große Stadt. Hamburg, die Stadt seiner größten Ängste und unregelmäßig wiederkehrender Albträume, war sein ehemaliger Dienstort. Er war nach seiner Ausbildung in fast jedem Stadtteil Streife gegangen, musste Ladendieben hinterherhasten und Familienstreitigkeiten schlichten. Doch am schlimmsten waren die Nachtschichten auf Sankt Pauli gewesen. Schlägereien an fast jeder Straßenecke, dazu betrogene Freier, betrogene Touristen und freche Drogendealer. Und sie alle hassten Haartje, so kam es ihm jedenfalls

vor wenn er all den Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen Glauben geschenkt hätte. Man hatte ihn angespuckt, mit Steinen nach ihm geschmissen und versucht ihn zu schlagen und zu treten. Obwohl er doch nur helfen wollte, mochte man ihn offenbar nicht sehr. Und er hatte in Rekordzeit die Schnauze voll von dieser Stadt und ihren Einwohnern. Kein Wunder das er die erste Gelegenheit nutzte um ihr seinen krummen Rücken zuzuwenden. Das war jetzt ungefähr drei Jahre her und er bereute seine Entscheidung so wenig wie am ersten Tag.

Selbst an diesem Tag, diesem kurzen

Besuch, fühlte er sich unwohl im riesigen Labyrinth der Straßen dieser Stadt. Er und sein alter Golf wurden geschnitten, aggressiv angehupt und mit wüsten Gesten bedroht.

Pünktlich um kurz vor zehn meldete er sich beim Pförtner des Polizeipräsidiums am Bruno - Georges - Platz 1 an. „Hauptwachtmeister Haartje. Ich habe einen Termin um zehn mit dem Hauptkommissar Klausen.“

Der alte Knacker in der abgetragenen Uniform hinter der Glasscheibe befragte ein staubiges dickes Buch vor ihm, dabei nickte er angestrengt und abwesend.

„Ihren Dienstausweis bitte!“

Haartje reichte ihm das verlangte Dokument durch einen schmalen Schlitz. Der Olle studierte kurz die abgegriffene Plastikkarte, dann scannte er das Ding ein, schrieb etwas Unleserliches in sein Buch und händigte Haartje seinen Ausweis Plus einer Besucherkarte wieder aus. „Die Besucherkarte Bitte gut sichtbar an der Kleidung befestigen. HK Klausen erwartet Sie im vierten Stock, Abteilung G, Zimmer 142.“

„Danke.“

Haartje marschierte zu den Aufzügen, bestieg einen und drückte auf die 4. Der Aufzug glitt empor.

Oben angelangt musste sich Haartje

erneut orientieren. Was nicht ganz einfach war. Das Gebäude ist merkwürdig geformt; Ein innerer Ring an dem außen im rechten Winkel mehrere normale vierstöckige Einheiten angebaut sind. Es erinnert vage an ein riesiges Zahnrad, das

Er hatte endlich die Abteilung G gefunden, latschte zu seinem Ziel und versuchte dabei mit keinem der umherhastenden Anzugträger zusammen zu stoßen. Da war dann auch das Zimmer mit der Nummer 142. Haartje klopfte höflich an.

„Herein!“

Er trat ein.

„Hauptwachtmeister Haartje. Wir hatten

gestern telefoniert… es ging um einen etwas merkwürdigen Drohbrief den ich erhielt… einen, wie mir scheint, doch recht üblen Streich irgendwelcher Kindsköpfe.“ „Nun mal ganz ruhig, Hauptwachtmeister. Setzen Sie sich erst mal.“ Haartje nahm Platz. Und guckte sein Gegenüber ausgiebig an.

Der HK Klausen war äußerlich so ein Papa - Typ. Grauer Schnurrbart, Pfeife zwischen den Zähnen und ne drollige Halbglatze, bemerkte er, dazu Flicken auf den Ellenbogen seiner Tweed - Jacke, Ehering am Finger und bequeme Schuhe an den Füßen.

Angenehmer Typ. So zum Ansehen.

„Sie haben besagtes Schriftstück dabei?“

„Aber sicher doch.“

Er reichte ihm den angeblichen Anarchisten - Wisch. Der HK las ihn, eindringlich und wohl durchdacht. Dann redete er in seine Sprechanlage:

„Ich brauche hier einen Träger.“

Und Haartje fragte sich was denn wohl jetzt so ein Träger sein soll, als ein junger und hübsch frisierter Mensch die Türe aufriss.

„Das geht sofort in die Dokumenten Sicherung. Ich will eine genaue Analyse. Etwaige Fingerabdrücke, Tintenbeschaffenheit, die ganze Spektralanalyse. Und bitte heute noch!“

Der junge Mann griff mit einer Gummibehandschuhten Hand den Brief

und verschwand lautlos.

„Gehe ich recht in der Annahme dass Sie dieses Dokument noch keiner Spurensicherung unterzogen haben?“

„Ähhh, wie gesagt… ich hielt das bisher nicht für notwendig. Ein Dummer - Jungen - Streich, Sie verstehen?“

„Da machen Sie es sich aber ein bisschen sehr einfach, Herr

Hauptwachtmeister, pflegen Sie den Dienst in ihrem Revier auch so auszuführen?“

„Gewiss nicht…! Bei uns auf dem Dorf herrscht Ruhe und Ordnung. Was auch nicht sehr schwer ist. Bei uns passieren keine Morde, keine Entführungen und keine gewaltigen Missetaten. Und

deswegen kam mir auch dieses Schreiben eher so vor als ein spaßiger Streich, eine Verarsche, etwas womit sich die gelangweilte Dorfjugend mal einen Jux macht. Außerdem habe ich keinerlei Kenntnis von irgendwelchen Anarchisten oder Terroristen und Öko - Spinnern bei uns in Holmenkötel.“

„Das hat man nie, Haartje. Das hat man nie!“

„Wenn Sie meinen.“

„Ja, ich meine. Es scheint mir, dass sie diese Angelegenheit etwas zu sehr auf die leichte Schulter nehmen, Herr Hauptwachtmeister. Und das kann ich nicht gutheißen. Bei solch schwerwiegenden Indizien für einen

etwaigen Terroranschlag darf man sich keine Nachlässigkeiten erlauben. Da muss man mit aller Härte und harten Bandagen ermitteln. Wir wollen hier in Deutschland keinesfalls ein Nine/Eleven.“ „Was raten Sie mir dann? Können Sie mir irgendwelche Hilfe zukommen lassen? Ich stehe nämlich dort ganz alleine, wissen Sie!“ „Nun, ich weiß ja nicht wie sie da so arbeiten. Welche Kenntnisse Sie denn so haben von ihren potentiell verdächtigen Individuen. Führen Sie eine Datenbank der Einwohner?“

„Ich hab keine Datenbank. Ich kenn die Leute einfach. Da braucht man nur n bisschen Menschenkenntnis, und Urteilsvermögen.“

„Falsch! Man braucht alle möglichen Informationen derer man habhaft werden kann. Urteilsvermögen ist schön und gut, doch was nutzt sie, wenn sie auf falschen Informationen beruht…? Richtig…! Sie liegen dann mit Ihrem Urteil meilenweit daneben.“

„Ach, und ich dachte… na ja, aber wie kommt man an all die Informationen? Ich könnte mich natürlich etwas genauer umhören.“ „Nutzlos, Herr Hauptwachtmeister. Jeder dort kennt Sie. Jeder der etwas zu verbergen hat, wird es garantiert nicht vor Ihnen ausbreiten. Sie brauchen da einen Horchposten… einen Unsichtbaren!“

„So einen hab ich nicht.“

„Aber ich! Wir haben hier einen Spezialisten für organisiertes Sammeln von schmutziger Wäsche. Einen wahren Kenner der Materie, eine sozusagen unsichtbare Nachbarschaftswache. Der zur Zeit nicht so richtig ausgelastet ist. Ich kann Ihnen den Mann ganz unbürokratisch für ein paar Tage überlassen.“

„Sehr freundlich.“

„Also abgemacht. Der Mann heißt Hörwech. Kommissar Hörwech. Sie werden sich gut mit ihm verstehen. Er wird sich morgen früh bei Ihnen melden. Wir haben ja Ihre Telefonnummer, ihre Daten“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich

danke Ihnen für die Hilfe bei meiner kleinen Angelegenheit.“

„Nicht zu danken, Haartje, wir müssen doch zusammenarbeiten. Und wenn Sie weitere Erkenntnisse in diesem Fall haben, rufen Sie mich bitte an. Ich bin sehr daran interessiert was da so bei Ihnen vor sich geht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte…“

Mit diesen Worten war Haartje entlassen. Er verabschiedete sich höflich und ging seiner Wege.

Auf der Fahrt zurück in seinem polternden Golf fragte er sich was der wohl so für ein Typ ist, dieser Kommissar Hörwech; ob er wohl ein verträglicher Kollege ist, oder ein

arroganter Besserwisser? Vielleicht auch ein unbrauchbarer Faulpelz? Denn warum nur war der HK Klausen so freigiebig mit seinem Personal? Da musste doch irgendwo der Wurm drin sein.

Und was wohl passieren würde wenn dieser Hörwech tatsächlich ein paar Terroristen aufspüren würde?

Was würde das für Haartje bedeuten?

Sein ohnehin schon stark angeschlagener Ruf als Hüter von Recht und Ordnung in seiner Gemeinde würde ins Bodenlose sinken. Sie würden ihm glatt ins Gesicht lachen, nicht nur hinten rum. Vielleicht müsste er sogar seinen recht angenehmen Posten räumen.

Und dann? Zurück nach Hamburg? Das würde er nu gar nicht so gut finden.

Da war es wohl besser die Ermittlungen etwas voranzutreiben, ein wenig Druck machen, die Zügel anziehen. Butter bei die Fische.

Zurück in seinem Revier, wo alles in seiner Abwesenheit seinen Gang

gegangen war, machte Haartje sich erst mal einen frischen Kaffee, durchsuchte die Tagespost nach etwaigen Indizien für mögliche anarchistische Umtriebe, fand aber nur die üblichen schmachtvollen Liebesbriefe seiner bäuerlichen Verehrerinnen. Er schmiss sie weg.

Er trank seinen Kaffee aus und machte

sich auf zu einem kurzen aber dennoch gründlichen Wachgang durch die ihm anvertrauten Straßen. Vielleicht konnte er zufällig etwas aufschnappen.

Und oben, an der Kreuzung von Bundesstraße und dem Heringsgang stieß er auf das erste Anzeichen das sich in seinem Dorf etwas Unheilvolles zusammenbraute.

Im Wartehäuschen der Verkehrsbetriebe hatte jemand in großen Großbuchstaben dieselben gesprayt. In einem knalligen Rot prangten die Buchstaben: V. R. A. A. Und darunter: LIEBE FÜR DAS VERSKLAVTE NUTZVIEH!

Haartje blieb stehen und beguckte sich die Schweinerei. Einen halben Meter

hoch standen die Buchstaben dort. Das war ja mal ne Sauerei! Er zückte sein Mobiltelefon und machte Zwecks Beweissicherung ein Foto. Dann setzte er seinen Rundgang fort. Und schon nach wenigen Metern musste er die nächste Schmiererei registrieren.

V. R. A. A. GEGEN INDUSTRIELLE AUSBEUTUNG UNSERER GELIEBTEN ACKERFLÄCHEN! Prangte in übergroßen Buchstaben an der Seitenwand der Raiffeisen - Bank. Das war ja nu überhaupt nicht lustig, dachte Haartje, das is ja geradezu aufrührerisch, außerdem macht es n schlechten Eindruck.

Weiter ging er. Und er fand solch

boshafte Botschaften noch an weiteren exponierten Flächen seiner Gemeinde. Von jedem machte er Aufnahmen, bis sein Handy klingelte.

„Haartje.“ Meldete Haartje sich.

„Haartje Mensch, ich such Sie schon ne ganze Weile. Wo sind Sie denn?“ Es war der Bürgermeister der fragte.

„Na, hier bin ich doch.“ Antwortet er pflichtschuldig und wahrheitsgemäß.

„Wo?“

„Na hier.“

„Und wo genau ist das bitte?“

„Lehmweg, Ecke Billstraße.“

„Ach so, dann haben Sie also schon Kenntnis genommen von diesen unsäglichen und überaus diffamierenden Schmierereien.“

„Hab ich. Alles schon dokumentiert.“

„Dann is ja gut. Haartje, finden Sie raus wer da hinter steckt. Solche

Sauereien kann ich nich durchgehen lassen. Das is nich nur ne leichte Sachbeschädigung. Das is… das is ne… verdammt, das is ne wirklich widerliche Geschichte… und ne kommunistische Ver… Dingens eben…“

„Verschwörung?“

„Ja, meinetwegen. Finden Sie einfach diese dreckigen Schmierer!“

„Ich werde mich bemühen. Morgen erwarte ich einen kompetenten Kollegen aus Hamburg. Da werden wir schon bald Ergebnisse vorlegen können.“

„Scheiß auf Ihre Ergebnisse. Ich will

diese Verbrecher hier nich haben!“

„Ich habe verstanden. Wie gehe ich nun mit diesen Graffiti um?“

„Werden morgen entfernt. Habe den Burschen vom Bauhof schon Bescheid gestoßen.“

„Alles klar.“

„Und denken Sie dran Haartje, am Wochenende haben wir die große Feier. Da können wir uns keinerlei Störungen erlauben. Das hätte unschöne Folgen, nicht nur für mich. Auch für Sie könnte das hier das Ende sein.“

„Ja, so etwas kam mir schon in den Sinn.“

„Dann wissen Sie ja was zu tun ist.“

Mit diesen Worten legte er auf, und ließ

Haartje mit einem enorm unguten Gefühl in der Magengegend zurück. Doch was sollte der jetzt tun? So ganz allein auf weiter Flur. Er würde warten müssen. Mal schauen was morgen dieser Kollege da zu bieten hat. Vielleicht würde der ja so ein wahres Superhirn sein, ein Meisterdetektiv, ein Superbulle, der in Null Komma Nix hier aufräumt. Bis dahin konnte Haartje nur warten. Also machte er erst mal Feierabend.

Donnerstagmorgen.

Haartje klebte noch ein kleiner blutiger Fetzten Klopapier auf der Oberlippe als er sein Büro aufschloss. Bei seiner morgendlichen Rasur hatte das Telefon

geklingelt und hatte ihn dermaßen erschreckt, dass er sich eine ordentliche Scharte in die Oberlippe schnitzte.

Und nachdem er Kaffee aufgesetzt hatte pulte er den Fetzten vorsichtig ab, schlürfte dann genüsslich seinen Morgenkaffee und überlegte was nun zu tun sei.

Als er so ganz verloren in seinen Gedanken stocherte, nach Strategien suchte und Konzepte abwog, klopfte es laut und herzlich an seine Tür. Und ohne ein einladendes „Herein“ abzuwarten stürmte ein kleiner Mann mit einem großen Kopf zackig in sein Büro, knallte die Tür hinter sich zu und setzte sich Haartje gegenüber.

„Tach!“ Sagte der Mann.

„Moin!“ Erwiderte Haartje.

„Sie sind Haartje?“

„Richtig. Hauptwachtmeister Haartje! Und Sie wünschen?“

„Kai - Uwe Hörwech. Ich bin Ihr neuer, zeitlich begrenzter Kollege.“ „Aha… Na denn, Herzlich Willkommen Herr Kommissar.“

„Danke. Und lassen Sie das mit dem Herrn. Nennen Sie mich Kai - Uwe. Schließlich sind wir beim selben Verein, nicht wahr.“

„Is gut, Kai - Uwe. Ich bin einfach der Haartje. Oder Hauptwachtmeister, wennde willst.“

„Sehr schön. Und jetzt wollen wir gleich

mal n bisschen arbeiten, Haartje. Praktischerweise werde ich mich gleich hier einrichten, wenn ´s recht ist. Wenn du mal so freundlich wärst und mir hilfst mein Zeug hier unterzubringen.“

„Aber sicher doch.“

Das gab dem Hauptwachtmeister die günstige Gelegenheit seinen neuen Kollegen eingehend unter die Lupe zu nehmen. Haartje stellte fest das dieser Kommissar ein gar Merkwürdig Wesen war; Nichts an seinem Körper schien so recht zusammen zu passen. Unter einem recht ausladenden Leib bewegten sich zwei stabile dicke Stampfer, hingegen seine Arme zwei spindeldürren schlenkernden Insektenbeinen glich. Und

dieses komische Gesicht. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine unfertige Kindervisage, mit strahlend blauen

unschuldig blickenden Augen, doch bei näherem Hinschauen bemerkte man eine Menge Falten in diesem Gesicht. So als würde dieser Mensch des Nachts ausschließlich auf einer Cordhose schlafen. Komische Type, dachte Haartje, als er sich einen nicht zu großen Karton griff.

Und sie schleppten reichlich Kisten, Kästen und Kartons in Haartje ´s schmuckloses Büro, nebenbei unterhielten sie sich so über dies und jenes. Haartje erfuhr so eine Menge über seinen neuen Kollegen. Sein Alter, seinen

Werdegang bei der Polizei und einige private Details aus dem sparsamen Leben des Kai - Uwe Hörwech.

Äußerst interessiert guckte Haartje seinem Kollegen dabei zu als dieser seinen ganzen Krempel aufbaute. Da gab es glänzende Kästen mit einer Menge Reglern und Leuchtdioden, mattschwarze Konsolen die leise Fiepten und diverse Lautsprecher, Monitore, Transmitter und Computer. Dazu Kopfhörer, ein Ding das aussah wie ein Keyboard und weitere kleine Piepskästen, die Haartje noch nie in seinem Leben gesehen hatte.

„Hübsche Instrumente.“ Meinte er denn auch sagen zu müssen.

„Ja genau.“ Erwiderte Hörwech mit verkniffenem Gesicht. „So, ich brauch jetzt noch ne vernünftige Antenne um mich hier einzuloggen.“ „Antennen haben sie drüben. Auffem Dach.“ Sagte Haartje und deutete auf die im Nebengebäude untergebrachte Wache der freiwilligen Feuerwehr.

„Na wunderbar, is ja einfacher als ich dachte.“

Hörwech schnappte sich ein paar Meter Kabel, eine kleine Zange, Schraubendreher und ein schwarzes Kästchen und folgte Haartje hinaus und über den Flur.

Wieder in ihrem Büro Haartje hatte frischen Kaffee aufgesetzt beobachtete

er seinen Kollegen dabei wie er an dubiosen Reglern etwas regelte, Befehle in die Tastatur hämmerte und verschiedene Anzeigen im Auge behielt, dabei lauschte er angestrengt seinem Kopfhörer. Von draußen drang die Stimme von Merle an sein Ohr wie

sie ein albernes Liedchen trällerte

Mit einem Becher dampfenden Kaffee ´s schlich sich der

Hauptwachtmeister an den in seiner Arbeit versunkenen Mitarbeiter heran und stellte den Becher vor diesem auf eine noch freie Fläche des überladenen Schreibtisches ab.

Hörwech zuckte erkennbar zusammen.

„Vorsicht mit Flüssigkeiten, Haartje.

Könnte alles in die Binsen gehen!“ „… ` tschuldigung!“

„Pass nächstes Mal besser auf.“

„Jau. Und… wenn ich mal fragen darf… wie soll uns dieser ganze Kram dabei helfen n paar angebliche Terroristen zu fangen?“

„Ganz einfach. Wir hören ihnen zu, den Rest übernimmt die Technik.“ „Aber wie…?“

„Algorithmen. Filtern das Gesagte durch. Geben Alarm wenn bestimmte subversive Schlüsselwörter benutzt werden. Wir brauchen dann nur noch die Handydaten, Standort, Namen, Adressen und alles andere. Und schon haben wir die bösen Buben am Wickel.“

„Wir hören sie ab?“

„Ganz genau! Und nicht nur das. Selbstverständlich lesen wir auch ihre E - Mails, SMSen. Für das Öffnen der althergebrachten Post habe ich für ´s Erste keinen Antrag gestellt, schreibt eh keiner mehr richtige Briefe.

„Aber…? Ist das denn überhaupt erlaubt? Ich meine Legal?“

„Braucht ja keiner zu wissen, außer wir beiden Hübschen. Außerdem… hier herrscht Gefahr im Verzuge. Da kann man sich immer drauf rausreden. Und im Besonderen haben wir es hier wohl mit äußerst kriminellen und subversiven Staatsfeinden zu tun, wie mir der Herr Hauptkommissar Klausen versichert hat.

Da sind solche Maßnahmen durchaus gerechtfertigt."

„Ich mein ja nur… so von wegen Datenschutz, und so.“

„Datenschutz? Was ist dir wichtiger Haartje? Datenschutz, oder der Schutz deiner Bürger vor einem etwaigen Terroranschlag mit unabsehbaren katastrophalen Folgen?“

„Nun ja…“

„Eben! Hab ich mir doch gedacht. Die Amerikaner machen das schon seit Jahren und mit großem Erfolg. Also werden wir unsere kleine Aktion jetzt starten. Und ich bin mir sicher dass wir ein paar brauchbare Informationen erhalten werden.“

Und mit diesen folgenschweren Worten tippte der Kommissar Hörwech ein paar Befehle in seinen Computer und die Dinge nahmen unweigerlich ihren unschönen Lauf.

Ein wahres Stimmengewitter brandete an ihre Ohren. Haartje, mit einem hübschen Kopfhörer ausgestattet, erschrak heftig über diesen kakophonischen Tsunami der arg gewaltig und fast gewalttätig in seine Gehörgänge schwappte. Es hörte sich an wie eine unkontrollierte Menschenmenge, in der jeder einzelne sein eigenes Lied sang. Der Kommissar neben ihm regelte an seinen Geräten rum; er filterte, extrahierte und

schraubte am Hintergrundrauschen. Die Stimmen wurden klarer, verständlicher und eindeutig unterscheidbar: „…und der Doktor Pannkuch hat mir doch nur so ne Sitzbäder verordnet…“

Ein anderer Telefonanschluss:

„… Ole war wieder betrunken und is hingefallen, hat sich n Loch im Kopp eingefangen.“

Noch ein anderer:

„… weißte… und dann noch Kartoffeln mit Soße.“

Die beiden Ermittler lauschten angestrengt, ihr Atem ging flach und stockend. Haartje fand das außerordentlich spannend, sogar äußerst

faszinierend. Doch dieser kleine

warnende Gedanke in seinem Kopf, dass er hier eigentlich einer vollkommen illegalen Tätigkeit nachging

machte ihm kein reines Vergnügen daraus.

Energisch riss er sich los von dieser seltsamen Methode polizeilicher Fleißarbeit.

„Ich muss jetzt meine Runde machen.“ Erklärte er seinem horchenden Komplizen. Und schon stürmte er hinaus, stieg in seinen alten Golf und gab beherzt Gas.

Auf den Straßen herrschte Ruhe, die wenigen Menschen die Haartje sah verrichteten mit sturer Selbstverständlichkeit ihre

Alltagsgeschäfte. Er fuhr hinaus zur Festwiese um einen Blick auf die Vorbereitungen zu werfen.

Dort war ordentlich Betrieb. Bierbuden wurden an ihren Platz gezerrt, eine mobile Küche im Festzelt installiert und der Wettkampfplatz wurde gereinigt und auf seine Tauglichkeit überprüft.

Denn nicht nur das Holmenkötel seine 750 Jahre Existenz in diesem Jahr feierte, nein, denn dieses Jahr wurden auch die regionalen Ausscheidungskämpfe um die Norddeutsche Meisterschaft im Schienbeintreten bei ihnen ausgetragen. Eine Veranstaltung, die dem Dorf eine Menge Renommee und Glanz und Glorie bescherte.

So denn, alles würde glatt über die Bühne gehen. Eine Störung dieser Festivitäten würde der Gemeinde recht unschöne Publicity und einen nicht wieder gut zu machenden negativen Ruf im Landkreis bescheren. Dieses musste mit allen Mitteln vermieden werden.

Also beschloss der Hauptwachtmeister dem Areal eine persönliche und strenge Überprüfung angedeihen zu lassen. Zu Fuß und ganz auf sich gestellt schritt er das eingezäunte Gelände ab, rüttelte hier und da am Sicherheitszaun um dessen Stabilität zu prüfen. Er spähte hinter und unter Buden und begutachtete das Festzelt aufs peinlichste genau. Zu guter Letzt glotzte er noch angestrengt in die

Gegend. Doch nichts ungewöhnliches, oder gar unsicheres wollte sich zeigen. Also stellte er seine öffentliche Observation kurzerhand ein und machte sich davon.

Zurück in seinem kargen Wachzimmer erwartete ihn Kollege Hörwech mit frisch gebrühtem Kaffee und ebensolchen Informationen.

„Hör Dir das mal an.“ Sagte er und versuchte vergeblich ein schelmisches Grinsen zu verkneifen als er mit sichtbarer Freude auf eine Wiedergabetaste hieb. Nach kurzem Knistern entkam dem Lautsprecher eine gewisse weibliche Stimme:

„… und dem Haartje werde ich es auch

noch zeigen! Diese Bangbüx von einem Dorfscheriff hat doch wirklich die Lampe am Brennen wenn er glaubt er könnte mich einfach so ignorieren! Diesem uniformierten Muster an Arroganz werde ich schon noch eine tüchtige Überraschung bescheren! So kommt der mir nich weg. Wenn er glaubt er müsste meine Anrufe und Briefe nich beantworten, dann wird er sich mächtig wundern was ihm so alles zustoßen wird…!“

Eine andere Stimme, jedoch auf ´s gleiche erregt, antwortete:

„Genau. Dieser slodderiche Lögenbüdel wird schon sein blaues Wunder erleben. In seinen eigenen Arsch wird er sich

beißen, der Schraffelachtein.“

„Aber Hallo, Karola! Für morgen alles vorbereitet?“

„Alles is parat, Swantje. Wir werden eine Menge Aufmerksamkeit erregen!“

„Dann bis morgen.“

„Und Tschüss!“

Haartje spürte den fragenden Blick seines Kollegen förmlich auf seiner Haut, voller Scham und ängstlicher Erwartung suchten seine Augen den friedvollen Anblick des Parkplatzes vor seinem Bürofenster auf. Doch keineswegs entkam er der gründlichen Neugier des Abhörspezialisten Hörwech.

„Was war denn das, Haartje?“

„Aaaaach, das sind nur diese doll

anhänglichen Mädels aussem Dorf hier. Ich bin früher mal mit der einen und anderen ausgegangen. Nix ernstes, nur n Happen Flirten. So Schmusereien eben. Doch wie es aussieht können diese Deerns nich die Finger von mir lassen.“

„Also nur so romantisch veranlagte Frauenzimmer…? Und Du bist dir absolut sicher das dieses Weibsvolk nix mit unseren staatsfeindlichen Anarchisten zu tun hat?“

„Ach was, nee… die sind wohl nur hinter mir her. Und dieses Gefasel da von Wegen blaues Wunder… da werden die beiden Süßen mir sicher nur n ordentlichen Streich spielen. Ich werde mal ernsthaft mit denen reden müssen!“

„Na denn, wollen wir ´s hoffen.“

Kommissar Hörwech war nicht wirklich überzeugt von diesen Neuigkeiten aus dem Liebesleben seines Kollegen. Schon gar nicht wenn er diesen so richtig beguckte.

Dieser linkische Hauptwachtmeister mit dem schütter werdenden Haar macht alles andere, als den nachhaltigen Eindruck zu vermitteln es mit einem unwiderstehlichen Liebhaber zu tun zu haben. Doch diese Welt, so weiß Kommissar Hörwech aus eigener Erfahrung, ist alles andere als durchsichtig. Der erste Eindruck kann gewaltig täuschen. Außerdem sind sie hier ja auf dem platten Land, da setzt

man sicher andere Prioritäten an seinen zukünftigen Lebenspartner. Also belässt er es bei dieser etwas fadenscheinigen Erklärung.

Er entlässt Haartje in den vorläufigen Feierabend. Und nachdem dieser seine Fest und Mobilrufnummer da gelassen hat, macht er sich mit einem „Tschüss denn!“ davon.

Hörwech derweilen, hört weiter zu und ab.

Freitagmorgen.

Die Sonne schien und ein laues Lüftchen streichelte sanft die frisch rasierten Wangen eines mäßig ausgeschlafenen Hauptwachtmeisters als der sich in

seinen alten Golf faltete um pünktlich zum Dienst zu erscheinen. Unter Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit fuhr er Richtung Gemeindehaus. Der Weg führte ihn unter allerlei bunten Wimpeln, Girlanden und Fahnen drunter her und er staunte tüchtig über diese nächtliche Arbeitsleistung. Das komplette Dorf war aufgeräumt, geschruppt und geschmückt.

Vor dem Gemeindehaus flatterten die aufgezogenen Fahnen träge im Wind. Haartje parkte, zupfte sich einen frechen Fussel von der frischen Uniform und betrat mit unsichtbarem, doch ausreichendem, Arbeitseifer sein

Büro. Wo ihn ein merkwürdig pfeifendes Geräusch empfing, schon glaubte er, dass er gestern vergessen hätte die Kaffeemaschine abzustellen. Doch dann erinnerte er sich an die Tatsache dass er hier nicht mehr der einzige Ermittler war. Dann sah er den anderen. Kommissar Hörwech saß zusammen gesunken vor seinen Gerätschaften und gab hin und wieder Laut. Haartje ging zu ihm hin, beugte sich mit kollegialer Zuneigung über den schlafenden Abhörspezialisten um diesen mit einem leichten brüderlichen Boxhieb auf den Hinterkopf zu wecken. Unter Hörwechs Kinn hatte sich eine kleine Lache Spucke angesammelt. Haartje klopfte an.

Und der Hinterkopf klang hohl, schwankte und zuckte, und erhob sich endlich. „Moin, Kollege.“ Begrüßte Haartje ihn.

Hörwech zuckte und zappelte zusammen. Haartje glaubte schon einen heimlichen Tourette - Kranken vor sich zu haben. Doch dann beruhigte sich der Kollege, gähnte laut und ausgiebig und begrüßte die Welt und den Hauptwachtmeister mit einem nuscheligen: „Moin.“ Haartje, das Herz voller Mitleid für den scheinbar schwer arbeitenden und unbequem genächtigten Kollegen, sah sich genötigt dem Kollegen eine kleine, aber dennoch unvergessliche Freude zu bereiten, indem

er ihn mit Unschuldsmiene und harmlosem Tonfall darauf hinwies das heute eine außerordentliche Festivität ihrem enormen Arbeitseifer wohl einen Strich durch die Rechnung machen würde.

Hörwech hörte zu. Und begriff dann langsam. Er sollte von seiner Arbeit ferngehalten werden. Keine schlechte Idee, wie er fand. Dieser ganze Mist hier mit den angeblichen Anarchisten und gemeingefährlichen Terroristen war eh ein Haufen Hühnerscheiße. „Also gut, Haartje, dann sehen wir uns mal diese Party an.“

„Recht so, Kollege, arbeiten können wir immer noch. Außerdem kann ich einen

guten Mann da sehr gut gebrauchen. So für den Sicherheitsdienst. Präsenz zeigen, Sie wissen schon… „

„Ich kann ´s mir denken. Aber vorher muss ich mich n bisschen frisch machen, Haartje.“

Geht klar. Wir können schnell noch bei mir vorbei. Ich hab n eigenes Badezimmer.“

„Dann mal los.“

Mittlerweile Mittag verließen diese beiden Koryphäen deutscher Sicherheitsorgane die schäbige Bude des Hauptwachtmeisters. Frisch gewaschen und hübsch frisiert machten sie sich auf zur Festwiese. Und noch bevor sie den Parkplatz erreichten kamen ihnen die

ersten Besoffenen entgegen. Es wurde ausgiebig gejohlt, gebrüllt und gesungen.

„Blöde besoffene Bauernlümmel!“ Musste Hörwech dazu sagen.

„Ach, “ entgegnete Haartje, „die hauen nur mal n bisschen auf die Pauke. Sind harmlose Landmänner.“

Darauf kam einer dieser harmlosen Landmänner nahe an die Seitenscheibe des Wagens, ließ die speckige Cordhose runter, präsentierte sein Hinterteil und brüllte:

„Hier könnt ihr beiden Oberförster mich mal kreuzweise!“

Alles lachte lauthals und prustete vergnügt. Bis auf die beiden

Ordnungshüter, die nahezu gelähmt schienen bei diesem Anblick. Haartje fasste sich als erster, drehte die Scheibe runter und knurrte in Bester Böser - Bulle - Manier:

„He Swenny, geh nach Hause olle Saufnase, leg dich hin und schlaf deinen Rausch aus. Und wenn ich dich heute nochmal sehe, dann werde ich dich die Nacht über einsperren. Verstanden!?“

Die Besoffenen torkelten johlend von dannen.

Die beiden beherzten Schutzmänner parkten den fahrbaren Untersatz, und unvermittelt fanden sie sich wieder in einem wahren Spektakel. Da wurde laut gebrüllt, gesungen, geflucht und

gehustet. Dazu gab es ausgeleierte Schlagermusik aus den achtziger Jahren. In enormer Lautstärke.

Haartje machte Handzeichen zu seinem Kollegen ihm zu folgen. Dicht am Absperrgitter ging ihr Gang hin zum Eingang. Der Alte vom Bauhof war hier eingeteilt um den Türsteher zu spielen, jedoch schien er diese höchst verantwortungsvolle Aufgabe recht lasch zu handhaben.

Er winkte einfach jeden Ankommenden herein. Egal ob nüchtern oder vollgetankt. Bekannt oder fremd.

Auch die beiden Bediensteten wurden ohne Beanstandung eingelassen. Nur im Vorübergehen vernahmen sie den gut

gemeinten Rat doch bitte sauber, nüchtern und anständig zu bleiben.

Die Festwiese war schon um diese Uhrzeit gerammelt voll. Haartje entdeckte eine ansehnliche Anzahl an ihm unbekannten Menschen die in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit dem menschlichen Sinn für Sittsamkeit Hohn sprachen. Besonders rund um den

abgesteckten Kampfplatz herrschte massive Unruhe. Dort wurden schwere Vorwürfe des Betrugs und der Unfairness hin und her geworfen. Was nicht sonderlich verwunderte. Kam es doch bei jedem Wettkampf zu solch Zerwürfnissen.

Der Kommissar Hörwech war dennoch bös Erstaunt über dieses absurde Gebaren. Zur besseren Verständlichkeit erklärte ihm der Hauptwachtmeister kurz und einprägsam die Regeln dieses Traditionsreichen Wettkampfes.

Das Schienbeintreten existiert in dieser Gegend der Welt seit Jahrzehnten. Ursprünglich von einem früh verrenteten Anthropologie - Professor erfunden um perfide Streitigkeiten zwischen den bäuerlichen Sippschaften auf ansatzweise humane Art und Weise zu schlichten und die umliegende Fauna und Flora vor nicht wieder gut zumachendem Schaden zu bewahren. Es wurden zwei beinahe athletische

Vertreter einer jeden Sippschaft ausgewählt, die, angetan mit kurzen Cordhosen und gewöhnlichen Gummistiefeln sich im Geviert des Schmerzes kräftig und mit ausgesuchter Treffsicherheit gegenseitig gegen die Schienbeine traten. So lange und weit bis der Gegner sich mit schmerzverziertem Gesicht am Boden wiederfand, oder vorher durch eine deutliche Ansage den Kampf aufgab. Die Regeln waren denkbar einfach. Die beiden Kontrahenten fassten sich gegenseitig mit den Händen an die Schultern, und dann wurde möglichst kräftig und gezielt auf die Schienbeine des Gegners eingetreten. Verboten waren

allerlei Hilfsmittel, wie Stahlkappen in den Schuhen, oder Schienbeinschoner, wattierte Socken oder gar Beinprothesen aus Holz, Plastik oder Aluminium.

Doch trotz dieser einleuchtenden Regeln kam es immer wieder zu erbitterten Vorwürfen der Verletzung ebendieser Regeln. Und nicht selten endeten diese feinen Wettkämpfe in wüsten Faustkämpfen und erbitterten Fehden zwischen den Kontrahenten.

Also führte dieser Wettkampf, der ursprünglich der Vermeidung solch garstigen Tuns ersonnen wurde, zu noch wüsteren Feindschaften. Was allgemein und öffentlich nicht gutgeheißen wurde, dennoch streng

weiter geführt wurde. Tradition ist eben Tradition.

Die beiden Ordnungshüter flanierten weiter durch die ausgelassen schimpfende Menge, und gelangten wie von Zauberhand geführt zum Eingang des gestopft vollen Festzelts. Hier bebte und brodelte die Feierlichkeit bis in die letzte Fuge des nachlässig verlegten Holzbodens. Eine angeheiterte Amateur - Kapelle schmetterte mit schierer Inbrunst die Schlager der sechziger Jahre in herrlicher Dissonanz durch die stark behaarten Ohren ungelenk stolpernder Tänzer. Das Buffet war seit geraumer Zeit geöffnet. Also war es nicht sonderlich überraschend dass die

beiden Polizisten alle Nase lang auf mehr oder weniger betrunkene Bauersleut trafen. Sogar den anwesenden Frauen in ihren feinsten geblümten Kittelschürzen sah man die zunehmende alkoholbedingte Schlagseite an. Kein Wunder bei dem Anblick der vielen und vollen Krüge Steckrübenbowle die überall auf den Tischen im Takt mit der Musik bebten. Eine bereits bös besoffene Alte mit grauer Frisur und fettigem Gesicht lüftete ihren Rock und schwang abwechselnd ihre strammen, mit Krampfadern übersäten Beine in die rauchgeschwängerte Luft, sodas die Anwesenden ihren verwaschenen

blassrosa Schlüpfer bewundern konnten. Ein großer Kerl mit roter Nase und kunstvoll geflickter Cordhose, wahrscheinlich Ihr Ehegatte, redete auf sie ein. Doch die Olle schob ihm einfach nur ihre teigigen Hände unter die Achseln und hob ihn beiseite. Es wurde noch ein wenig lauter, noch ein wenig ausgelassener, noch ein wenig chaotischer.

Die beiden Beamten beendeten mit leicht besorgten Mienen ihren aufschlussreichen Rundgang. Was immer das hier für Leute waren, Terroristen waren das sicherlich nicht. Also schoben und schubsten sie sich gegenseitig durch den Ausgang.

Und hier draußen, hinter den Buden und Ständen ging es erst richtig rund. Eine ansehnliche Zahl von Betrunkenen hatte sich hier versammelt um der gemeinsamen Notdurft zu frönen. Es wurde gewaltig gepisst und gekotzt, eine wahre Sintflut. Ganze Waldbrände hätte man löschen können. Und es stank höllisch. Was den Anwesenden kaum zu stören schien, sie lachten munter und flachsten mutig. Der reinste Frohsinn.

Die zwei Uniformierten machten kehrt und sich gemeinsam vom triefenden Acker. Ungläubig über solch freizügiges Verhalten schüttelte der Kollege Hörwech nur noch stumm den Kopf.

Und kaum hatten sie sich an den Rand

der Menschtraube auf dem Vorplatz heran gearbeitet, harrte die nächste bestürzende Erfahrung auf den landfremden Kommissar.

Der Bürgermeister gab sich die Ehre. Walter Reister hatte sich zu diesem feinen Anlass in seinen besten Anzug gezwängt. Der braune Zweireiher zwickte scharf in seiner Hüfte und spannte bedrohlich über seinem mächtigen Bauch, doch was konnte man erwarten von einem Kleidungsstück das schon seinem Vater treue Dienste geleistet hatte?

Er ließ sich sichtlich nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht vom Anblick seiner Angetrauten. Dörte Reister thronte gleich

neben seinem improvisierten Rednerpult auf einem ächzenden Gartenstuhl und schwitzte stumm vor sich hin. Dummerweise und angesichts ihrer fehlinterpretierten Repräsentationspflicht hatte sie sich in einen räudigen Nerzmantel gewandet. Alle fünf Sekunden wischte sie den ausgiebig fließenden Schweiß von ihrer Stirn und aus dem speckigen Nacken.

Dumme Kuh, dachte der Bürgermeister, als ob wir schon Winter hätten. Dann breitete er seine kurzen dicken Arme aus - eine Geste die er sich bei einem bekannten Fernsehprediger abgeschaut hatte - , und begann mit fester Stimme seine eingeübte Ansprache aufzusagen:

„ Liebe Mitbürger und Bürgerinnen, liebe Freunde und Gäste aus Nah und Fern. Ich darf euch versichern das ich mich unheimlich freue, euch alle hier und heute begrüßen zu dürfen…!“

Etwas zögerlich wurde applaudiert.

„Ausziehen!“ Forderte ein einsamer Spaßvogel aus der Menge heraus. Reister sprach weiter über das Gemurmel hinweg. Und im nachhinein konnte Haartje beim besten Willen keine Auskunft mehr darüber geben, wer das rhythmische Geknatter zuerst vernommen hatte. Doch nach wenigen Augenblicken hörten es alle. Ein wüstes Scheppern, Schlagen und Poltern dröhnte über das regelmäßige Kawumm

eines Dieselmotors. Lauter und lauter wurde der Lärm. Eine Sirene setzte ein, eine Hupe hupte schwachatmig.

Die Menge wurde unruhig.

Einige Augenpaare suchten die nähere Umgebung nach der Herkunft dieses unpassenden Geräuschs ab. Auch Haartje und Hörwech blickten angestrengt in die Gegend.

Eine schwache schwarze Rauchfahne hinter einer belaubten Buschreihe war das erste was sie erblickten. Bürgermeister Reister stockte in seiner schön zurechtgelegten Ansprache.

Dann sahen sie es hinter den Büschen hervorbrechen: Ein Ungetüm, ein Monstrum, ein ungeheuer polterndes

Instrument aus schwarzem Stahl. Stinkend und aus allen Löchern qualmend rollte dieser Alptraum an den ersten Bierbuden vorbei und auf die Menge zu.

Eine Frau schrie markerschütternd ihren Schrecken hinaus. Ausnahmslos alle Anwesenden erstarrten in ihrer jeweiligen Tätigkeit. Biergläser schepperten zu Boden, Teller flogen von den Tischen, zwei Schienbeintreter brachen abrupt ihren zähen Kampf ab. Anfeuerungsrufe verstummten, die Musik setzte aus.

Das Monstrum rumpelte näher heran.

Erste Einzelheiten wurden schmerzlich erkennbar.

„Das is doch mein verdammter Trecker,“ entfuhr es Heini Hansen, „den erkenn ich doch mit verbundenen Augen!“

Und tatsächlich. Das Ungetüm entpuppte sich mehr und mehr zu einem sonderbaren Gefährt. Doch der alte 24 - PS - Fendt ähnelte kaum noch einem normalen bäuerlichen Transportmittel. Das Ding war mit allerlei Gedöns ausgestattet worden. Mistgabeln ragten hervor, Sensen und Sicheln sausten scharf durch die ätzend stinkende Luft. Verkleidet war dieses Ungetüm mit allerhand Blechen die aussahen wie gebrauchte Schubkarren. Alles in schartigem Schwarz gestrichen. Auch

der Güllelaster der achtern dranhing machte keineswegs den Eindruck dass diese Aktion ohne Opfer abging. Mittlerweile war deutlich zu erkennen dass dieses schreckliche Gefährt von Menschenhand gelenkt wurde. Drei Personen in schwarzen Overalls und Sturmhauben, bewaffnet mit Flugblättern und spitzen Forken, grölten unverständliche Botschaften in die nunmehr weniger fröhliche Gemeinschaft der Feiernden.

„DIE ANARCHISTEN!“ Hörte Haartje den Bürgermeister brüllen.

„DIE TERRORISTEN!“ Hörte Haartje den Kollegen Hörwech brüllen.

Er versuchte sich zu orientieren, wollte

an den Ort dieser unheimlichen Bedrohung, wollte etwas unternehmen um diesen bösen Angriff auf diese unschuldige Feierlichkeit und auf seine Polizeikarriere im Besonderen augenblicklich zu unterbinden. Doch was sollte er tun? Und überhaupt wie? Im Augenblick hatte er es schwer genug auf den eigenen Füßen zu bleiben. Er wurde von allen Seiten rüde geschubst, gehauen, geschoben und gedrängelt. Haartje sah wie sein Kollege Hörwech von einem wüsten Bauernlümmel mit rotem Gesicht zu Boden geboxt wurde. Er blieb verkrümmt im Schlamm liegen, seine Nase blutete. Von dieser Seite war also keine Hilfe mehr zu erwarten.

Haartje stolperte über ein verlorenes Bierglas, verlor kurzzeitig die Orientierung. Als er wieder sicheren Stand verspürte musste er feststellen, dass der wahnwitzige Trecker mit seiner anarchistischen Besatzung eine hübsche Kurve gedreht hatte und nun von der Seite kommend einen Angriff startete. Er musste mit ansehen wie ein Mann sich diesem scheppernden Ungetüm in den Weg stellte, mit schwungvollem Ausfallschritt versuchte er das Gefährt zu entern, wurde aber von einem üblen Stoß von einer Mistgabel zurück geschlagen. Reglos blieb er am Boden. Ein paar andere denen der Suff eine gehörige Portion Mut verliehen hatte,

versuchten ebenfalls eine Attacke. Allesamt wurden sie gesichelt und gesenst. Blut spritzte, Zähne flogen umher. Das tuckernde Monstrum war jetzt ganz nahe. Die Besatzung startete ohne jede Vorwarnung die Güllepumpe. Ein wahrer Monsun von schauderhaft stinkender Scheiße ergoss sich auf die arg Erschrockenen. Haartje duckte sich, bekam aber doch eine tüchtige Portion Scheiße auf den Rücken. Es würgte ihn. Aus den Augenwinkeln sah er wie die Frau des Bürgermeisters laut zeternd in ihrem übel mit Scheiße verschmiertem Nerzmantel vom Podest stürzte, der Bürgermeister selbst, mit inzwischen geplatzter Hose, fuchtelte wüst mit

seinen Fäusten in Richtung Haartje. Der verstand natürlich nichts. Um ihn herum herrschte ein Geschrei wie auf dem Fischmarkt, dazu hatte die Schlagermusik wieder eingesetzt.

Haartje rutschte aus und fiel auf den Hintern. Feucht drang der Mist durch seine stinkende Hose. Ein Blatt Papier schwebte an seiner Nase vorbei. Er griff danach. Das muss wohl so ein Flugblatt von den Leuten, diesen perfiden Terroristen, sein, dachte er, als er instinktiv zu lesen begann:

„DIESER MANN, EIN VERDAMMT GEFÜHLLOSER VERTRETER VON RECHT UND ORDNUNG IN UNSEREM SCHÖNEN HEIMATORT, TRÄGT MIT

SEINEM CHARAKTERLOSEN VERHALTEN GEGENÜBER UNS DIE ALLEINIGE SCHULD FÜR DIESE REVOLUTIONÄRE AKTION! BEDANKEN SIE SICH BEI HAUPTWACHTMEISTER HAARTJE!“

Sogar ein Foto von ihm fand sich auf diesem unschönen Geschmiere.

Ein tüchtiger Schrecken durchfuhr den konfusen Hauptwachtmeister. Er starrte dem abfahrenden Monstertrecker hinterher, die drei Figuren schmissen im mer weitere dieser gemeinen Botschaft unters verschreckte und besoffene Volk. Haartje rappelte sich auf, stolpernd und strauchelnd rannte er dem Vehikel hinterher. Langsam kam er näher. Und

nun vermeinte er auch diese Personen da in ihren schwarzen Klamotten zu erkennen. Trotz der Sturmhauben. Das waren eindeutig Frauen, das erkannte er sicher. Und das waren ihm bekannte Frauen da. Das waren unzweideutig seine Verehrerinnen dort oben auf dem fauchenden Ungetüm das sich mehr und mehr entfernte. Das waren Karola, die Swantje, und die Kirsten. Verdammte Kacke!

Eine gnadenlos kalte Angst packte ihn am Genick. Das war das Ende. Für ihn war hier Feierabend, das war mal sicher. Kraftlos sank er hin aufs eingeweichte stinkende Gras. Das machte jetzt auch nichts mehr. Er war

erledigt. Uferlose Panik überschwemmte sein leeres Innenleben. Und das letzte was er sah bevor er die Augen schloss, war die immens wütende Figur des Bürgermeisters der auf ihn zu torkelte.







Text: harryaltona

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Über mich gibt es nichts interessantes. Aber jetzt auch mit schönen bunten Bildern.

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Ameise Wer hätte, das Gedacht. Ja die Damen sind rachelüstern. Und das beweißt , das größe allein, nicht alles ist, was die Damen in ihren Bann zieht.
Habe Deine Geschichte gern gelesen Lg Ameise
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Tausend Dank Ameise,
ja so ist das, verliebte Frauen sind mitunter zu allem bereit.
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Deutsches Brauchtum versickert eben nicht in irgendeiner Jauchegrube. Es wir gehegt und gepflegt und geschützt ... vom Bürgermeister und einem pflichtbewussten, liebestollen Ordnunghüter. Das rechtfertigt natürlich auch alle (il)legalen Maßnahmen. :-)
Nur der Drohbrief im A3-Umschlag hat mich irritiert. Ich wusste nicht, dass es so große Briefschlitze gibt.
Das war Lesespaß!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Tausend Dank Kara,
ja... die Geschichte hat schon beim Schreiben Spaß gemacht. Und das mit dem Briefschlitz ist vielleicht ein kleines Missgeschick. Oder ein Mysterium?
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
DoktorSeltsam Wow, Harry, ich bin beeindruckt. Wollte mich mal eben schnell in die Flut Deiner immer lesenswerten Gedanken werfen, da entdeckte ich die Anzahl der Seiten. Trotzdem kann ich jetzt schon sagen, der Anfang ist geil wie stets!

Dok
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Danke. Und ich muss zugeben das diese Story ein bisschen ausgeufert ist. Liegt wohl an dem Thema. Trotzdem isses lesenswert und ich bin damit zufrieden. Doch etwas kürzer geht ja auch. Versuch mal "Heimatfilm" - Eine kleine Absurdität!
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
DoktorSeltsam Versteh mich nicht falsch - es ist mir nicht zu lang! Auf keinen Fall! Ich hatte nur bislang keine Zeit, es bis zum Ende zu lesen.

Beste Grüße
Dok

PS: Ich bin ein großer Fan von Heimatfilmen. Werde ich daher definitiv ausprobieren.

D.
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Schon in Ordnung. Lass dir Zeit. Is morgen auch noch da. Oder übermorgen. Oder... Aaaaaach, du machst das schon.
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Haartje und die liebestollen Terroristen..."
Hab mich köstlich amüsiert bei diesen horrormäßig
und sch...verspritzenden Tohuwabohu,
von den voll auf die Schippe genommenen Abhöhrspezialisten
und den gar wehrhaften und überaus liebestollen Terroristinnen... grinst*
Klamotte pur... grinst noch mal*
Aber bei all dem Klamauk, wenn deine Geschichte erst mal von den Kollegen der NSA analysiert und ausgewertet wurde, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass demnächst vor dem Kanzleramt ein neues Verkehrszeichen stehen wird...
-Gesperrt für Gülle-Fahrzeuge aller Art-
LG Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
HarryAltona Genau!
Danke Louis!
lg... harryaltona
Vor langer Zeit - Antworten
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