Fantasy & Horror
Drachenfängerin - Gesamtausgabe

0
"Seit Jahren sucht Chair nach Rettung für ihren Sohn. Ein altes Ritual ist ihre einzige Hoffnung ..."
Veröffentlicht am 02. Juni 2015, 58 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
© Umschlag Bildmaterial: justdd - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

ÜBER Wenn ich nach oben schaue, die weiße Zimmerdecke. Ein wenig unscharf der Fensterrahmen, die Vorhangstange, messingfarben, dünner blauer Stoff links und rechts. MICH Akkusativ des Personalpronomens ich. Gewöhnlich von einer Person verwendet, wenn sie aus ihrer eigenen Perspektive über sich selbst spricht. In diesem Fall ist der Akkusativ abhängig von der Präposition über.
Seit Jahren sucht Chair nach Rettung für ihren Sohn. Ein altes Ritual ist ihre einzige Hoffnung ...

Drachenfängerin - Gesamtausgabe

1. Kapitel

Es war kaum noch als das zu erkennen, was es einmal gewesen war. Verkohltes Schwarz, vereinzelt durchbrochen von orangeroten Mustern, wo das Feuer noch glühte. Aus der Luft ein dunkler Fleck auf dem hellen Flickenteppich von Feldern, ein weiterer Makel auf einem Stoff, der ohnehin nicht der feinste war. Mit einem dumpfen Aufprall landete Ke auf dem Boden, in sicherer Entfernung dessen, was vor kurzem noch ein Dorf gewesen war. Chaïr sprang vom Rücken des Drachen und blieb neben ihm stehen, fassungslos. Das kann nicht sein. Es darf einfach nicht sein! Die Flammen hatten das Dorf so gründlich

zerstört, dass es kein Unfall gewesen sein konnte, trotz des trockenen, fast schon wüstenhaften Klimas, das in der Region vorherrschte, trotz der strohgedeckten Dächer, die leicht Feuer fangen konnten, trotz der Tatsache, dass es, wie es aussah, seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr geregnet hatte. Sie waren vor ihr dagewesen, kein Zweifel. Hoffnungslosigkeit stieg in ihr auf. Wie sollte sie es jemals schaffen, wenn sie immer zu spät kam? Chaïr ballte stumm die Faust, schloss die Augen und holte Luft. Nicht daran denken! Weitermachen! Einen Moment verharrte sie, dann warf sie einen letzten Blick auf das niedergebrannte Dorf und wandte sich wieder

zu ihrem Drachen um. „Wir gehen wieder“, teilte sie ihm mit. „Hat keinen Zweck, hier nach Überlebenden zu suchen, oder was meinst du?“ Ke schnaubte, sein Blick war so resigniert, wie sie sich fühlte. Die Elfe klopfte ihm mitfühlend auf die Schnauze und wollte schon um ihn herumgehen, um aufzusteigen, als sich seine Nüstern auf einmal weiteten, sein Kopf fuhr zum Dorf herum. Chaïr stutzte. Langsam wandte auch sie sich um, doch – da war nichts. Nur schwarze, verkohlte Ruinen, Trümmerhaufen. Wieder blickte sie zu Ke, der auffordernd schnaubte. „Du weißt genau, dass ich nicht so gut höre oder rieche wie du. Außerdem, wer auch

immer da gerade kommt, könnte genausogut ein Feind sein. Ist ja nicht so, dass wir keine hätten, was?“ Die Elfe schüttelte den Kopf und zog die schwarze Stoffmaske über ihr Gesicht, bis nur noch die Augen zu sehen waren, und rückte ihren Helm zurecht. „Pass auf, Vorschlag: Du ziehst dich nach da drüben“, sie deutete auf das nahe Arinasfeld, „zurück und greifst nur ein, wenn es nicht anders geht. Einverstanden?“ Der Drache wirkte nicht völlig überzeugt, das sah sie an der Art, wie er den Kopf schief legte. „Ich hab immer noch meinen Bogen, schon vergessen? Und ich bin nicht mehr das wehrlose Mädchen, das ich mal war.“ Kes Augen wurden schmal. Chaïr brauchte

einen Moment, um zu begreifen, dann warf sie den Kopf zurück, ein verzweifeltes Lachen entrang sich ihrer Kehle. „Ach, ich vergaß – du magst kein Arinas. Ich weiß, Ke, aber … siehst du hier vielleicht ein anderes Versteck für einen Drachen deiner Größe?“ Sie konnte nicht verhindern, dass ein sarkastischer Unterton in ihren Worten mitschwang. Der echsenartige Kopf zuckte widerwillig, dann fuhr Ke herum. Es kostete ihn nur einen Flügelschlag, bevor er hinter den hohen, hellgrünen Stämmen verschwand und sie allein zurückließ. Ein kurzes Lächeln gestattete sie sich, dann, schlagartig, war sie wieder ernst, ganz Kriegerin, ganz Drachenfängerin. Innerhalb

von Sekunden lag der Bogen in ihrer Linken, ein Pfeil in der Rechten. Bereit, innerhalb von Sekunden zu schießen, aber, vom Standpunkt eines Laien aus gesehen, keine unmittelbare Bedrohung – noch nicht. Nun hieß es Warten. Es dauerte nicht lange, vielleicht eine halbe Minute. Leises Tappen, wie schnelle Schritte, jemand, der rannte. Davonrannte? Eine Bewegung zwischen den Ruinen. Die Elfe kniff die Augen zusammen. Eine schmale, zerlumpte Gestalt, die zwischen den Häusern hervorgestürmt kam. Einer der Dorfbewohner, der das Inferno überlebt hatte? Es schien kaum möglich, aber dennoch war er da. Oder sie, wie auch immer.

Sie konnte es nicht fassen. Durchatmen, weitermachen. Wie immer. Chaïr holte Atem und umfasste ihren Bogen fester. Es war pures Glück, dass der Überlebende – ein Junge, klein, mager, so viel erkannte sie inzwischen – direkt auf sie zulief. Den Blick hatte er auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern, und weil sie in ihrem staubbedeckten, knielangen Ledermantel vor der Steppenlandschaft kaum auffiel, hatte er sie wohl auch noch nicht gesehen. Einen Moment wartete sie noch, bis der Flüchtende nah genug war, dann trat sie einen Schritt vor. „Wovor läufst du weg?“ Ihre Stimme durchschnitt die Stille, die sonst

nur vom leisen Keuchen des Jungen und seinen Schritten durchbrochen wurde, wie ein Messer. Die Reaktion folgte auf der Stelle. Stolpern, beinahe wäre er gefallen, fing sich gerade noch, starrte sie einen Moment lang an wie einen Geist, dann fuhr er herum. Resigniert beobachtete Chaïr, wie er davonrannte. Eigentlich war es abzusehen gewesen – zum einen war sie ganz offensichtlich eine Drachenfängerin, zum anderen hätte sie ihren Bogen vermutlich besser wieder weggesteckt. Nur wusste sie nun immer noch nicht, wovor er eigentlich geflüchtet war. Einfach vor dem Feuer? Unwahrscheinlich, das war fast aus. Also doch Feinde. Es war jene fast schon

paranoiaartige Stimme in ihrem Kopf, die seit dreieinhalb Jahren in jedem Schatten eine Gefahr sah, sie an jeder Ecke innehalten ließ, ob da nicht doch … Es reicht! Erneut ballte sie die Faust. Viel zu oft musste sie sich selbst zur Ordnung rufen, sich zwingen, nicht nachzugeben. Ein leises Gurren aus der anderen Richtung. Als sie sich umwandte, streckte Ke den Kopf über die meterhohen Arinasspitzen, die gelben Augen funkelten fragend. Chaïr seufzte. „Du hast ja Recht, ich geh schon. Wartest du hier?“ Der Drache wirkte nicht unbedingt angetan. Einen Moment lang schien er zu überlegen, dann machte er einen Satz, breitete die Flügel aus und landete vor

ihr. Die Drachenfängerin schwieg. „Schön“, entgegnete sie schließlich. „Aber lass dich bloß nicht blicken, klar?“


2.Kapitel

Schnelle Schritte, unregelmäßig pochend auf dem harten Boden, kaum gedämpft durch die dünne Schicht aus losem Sand und Asche. Keuchen, das sich in seinen Ohren einen erbitterten Wettkampf mit seinem rasenden Herzschlag lieferte. Sen spürte, dass er fast am Ende war, das einzige, was ihn noch weitertrieb, war die Angst. Der Mann von der Goldenen Garde war eigentlich schon schlimm genug gewesen, auch wenn er sich nicht sicher war, wieso der eigentlich hinter ihm her war. Immerhin betete er selbst genauso zur Nymphe wie jeder, der dem Orden angehörte. Dennoch – selbst bei einem

religiösen Fanatiker bestanden mehr Chancen, heil aus der Angelegenheit herauszukommen, als bei einem Drachenfänger, der für genug Geld vermutlich so ziemlich alles tun würde. Der Gardist war zurückgeblieben. Eigentlich. Bevor der Söldner plötzlich vor ihm gestanden hatte, wie aus dem Boden gewachsen. „Bleib stehen, bei der Nymphe und all ihren silbernen Dienern!“ Da war er wieder. Nah, so nah. Weiter, los!, trieb er sich selbst an. Noch bis zu der Ecke da vorne. Blut rauschte in seinen Ohren, als er in die kleine Straße einbog. Noch das dritte Haus, hinter dem eine enge Gasse begann, das wusste er. Wenn er

schnell genug war, würde der Gardist vielleicht daran vorbeilaufen, diese verzweifelte Hoffnung spornte ihn zu einem letzten Sprint an, er wusste nicht, woher er überhaupt noch die Kraft nahm. Er flog förmlich die Gasse entlang, nahm die leichte Krümmung mit schnellen Schritten – und prallte zurück. Wo sich einmal ein Weg befunden hatte, eingeklemmt zwischen dem großen Arinasspeicher und einigen kleineren Hütten, war nun nur noch ein Trümmerhaufen. Der größere Lehmbau war zwar nicht niedergebrannt, aber die schon lange rissigen Ziegel hatten der Hitze des Feuers nicht länger standhalten können. Verdammt. Und jetzt? Durch die

Ruinen? Sen zögerte, warf einen Blick hinter sich – und erstarrte. Fußabdrücke. Teils kaum zu erkennen, aber wenn man darauf achtete, gut genug zu erahnen, um ihm folgen zu können. Und die Goldene Garde duldete keine Stümper, hieß es. Die Verzweiflung drohte ihn wegzuschwemmen wie ein Platzregen in der Regenzeit, türmte sich über ihm auf und drohte ihn zu ertränken. Angst, solche Angst. Die Schritte des Gardisten waren es schließlich, die ihm die Kraft zu einem letzten Atemzug verliehen. Er lief nach rechts, wo die Trümmer ihm nicht den Weg versperrten – und fuhr aufjaulend zurück. Der Boden war

heiß, das Feuer noch nicht ganz aus. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und ließ ihn keuchen. Nicht aufgeben! Weitermachen! Er sah das Gesicht seines Bruders vor sich, der ihn immer angetrieben hatte. Den Schmerz ignorieren, er geht vorbei. Sen holte Atem, versuchte, aufzutreten – und schrie erneut, hüpfte unbeholfen auf einem Bein auf und ab. Den Tritt sah er nicht kommen, er traf ihn völlig unvorbereitet am Knie des unverletzten Beins und holte ihn von den Füßen. Sen ächzte, als er auf dem Boden aufkam, er landete auf der Seite, versuchte, sich abzurollen – und erstarrte. Unmittelbar über ihm hing ein Kurzschwert in

der Luft. Der Drachenfänger!, war sein erster Gedanke, doch als er den Blick hob, war da ein silbriger Waffenrock, auf dem Brustpanzer prangte deutlich sichtbar der Goldene Quell, das Wappen der Goldenen Garde. Das Gesicht des Mannes war ernst, die hellblauen Nordaugen blickten fast schon bedauernd. „Ich sage es dir gleich, wir werden um deinen Tod nicht herumkommen. Aber wenn du kooperierst, wird es schnell gehen, das verspreche ich dir.“ Sen starrte ihn an, sprachlos. „Wie … aber warum …“ Der Mann seufzte. „Es sind nur ein paar Fragen. Aber wenn du so davon überzeugt bist, dass Édhoan gut für Zhiël ist, kann ich

leider nichts für dich tun, verstehst du?“ Sen schüttelte den Kopf, versuchte, rückwärts zu robben, fort von diesem Irren, doch der drückte ihm den Stahl an die Kehle. „Aber ich bete doch zur Nymphe! Was wollt Ihr denn?“ Der Gardist schüttelte bedauernd den Kopf. „Das kann jeder behaupten, vor allem, wenn es nur darum geht, sein elendes Leben zu retten. Aber wenn meine Oberen sagen, dass dieses Dorf voller Heiden ist – welchen Grund hätten sie, zu lügen? Sag mir das.“ „Ich weiß nicht …“ „ … aber du erwartest, dass ich dir glaube?“ Ein mildes, trauriges Lächeln glitt über das Gesicht des Mannes. „Schluss mit dem Unsinn. Neben dir haben noch andere

überlebt, es hat keinen Zweck, das zu leugnen, ich habe noch andere Schritte gehört als nur deine. Wo versteckt ihr euch?“ Sen starrte den Mann überrascht an. Wer sollte überlebt haben? Im Feuer? Unmöglich – das war, als würde man einen Pflug zerbrechen und dann noch erwarten, dass man mit ihm arbeiten könne. „Ich warte …“ Die Stimme des Gardisten war bedrohlich sanft. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet!“ Sen hörte die Verzweiflung in seiner Stimme. Ein Knurren entrang sich der Kehle des Gardisten, dann, plötzlich, versetzte er dem Jungen einen harten Tritt in die Seite. Sen stöhnte und rollte sich zur Seite, versuchte, unauffällig Abstand zu gewinnen.

„Aber wenn ich es Euch doch sage!“, gab er verzweifelt zurück, insgeheim bereits auf den nächsten Tritt gefasst – doch da kam nichts. Stattdessen hörte er eine leise, raue Stimme gelassen sagen: „Ich denke, das reicht.“ Dann das Sirren einer Bogensehne, ein erstickter Aufschrei, ein harter Aufprall auf dem Boden. Schließlich Stille. Nach einem Moment hob Sen unsicher den Kopf und spähte über seine Schulter hinweg. Was er sah, ließ ihn seine Deckung aufgeben. Der Soldat lag bäuchlings auf dem Boden und rührte sich nicht, seine Augen starrten blicklos zur Seite, das Schwert war ihm aus der Hand geglitten. Aus seinem Rücken ragte ein

Pfeil. Leise, sich nähernde Schritte ließen ihn aufblicken. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand der Drachenfänger, den Bogen noch in der Hand, die stechenden gelben Augen, das einzige, was von seinem Gesicht zu sehen war, fest auf Sen gerichtet. Der junge Mann wich erneut zurück und drückte sich gegen die Wand. Der Drachenfänger musterte ihn einen Moment stumm, dann stellte er sachlich fest: „Ich schätze, ich habe dir gerade das Leben gerettet.“ Er hatte eine seltsame Stimme, heiser, als wäre sie lange nicht benutzt worden, aber da war noch etwas, was ihn irgendwie stutzig machte – oder besser stutzig gemacht hätte,

wäre er nicht zu verängstigt gewesen, um darüber nachzudenken. Sen antwortete nicht. Es war ein Drachenfänger, was sollte er da schon sagen?! Der Söldner hob leicht das Kinn, ging aber nicht auf Sens Schweigen ein, sondern fuhr fort: „Vielleicht solltest du dich irgendwie revanchieren, meinst du nicht?“ Sen schluckte. So etwas in der Art hatte er befürchtet. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde irgendwann demnächst der Satz „Ich habe dein Leben gerettet, also gehört es mir!“ auftauchen, oder zumindest etwas Ähnliches, und dann würde ihn wohl ein Leben in Sklaverei erwarten. Doch nichts dergleichen geschah. „Zufällig gibt es da etwas, das du für mich tun könntest

…“, erklärte der Drachenfänger und legte dabei den Kopf schief, auf eine … beinahe fragende Art. Sen überlegte fieberhaft. War das jetzt ein Angebot an ihn oder würde der Drachenfänger ihn in jedem Fall zwingen, das zu tun, was er wollte? Und spielte das überhaupt eine Rolle? „Was?“, fragte er nach einem Moment leise. In den gelben Augen spiegelte sich ein vages Lächeln. „Es gibt oder gab jemanden in diesem Dorf, zu dem ich ein paar Fragen hätte. Du kommst doch von hier, nicht?“ Sen nickte und versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. Ein paar Fragen … das war weniger schlimm, als er gedacht hatte, viel weniger – wenn der Söldner denn

vorhatte, es dabei zu belassen. „In Ordnung, ich bin dabei“, erwiderte er, mutiger geworden, aber weiter misstrauisch. Der Drachenfänger nickte, offenbar befriedigt. „Gut. Es geht um einen jungen Mann, vielleicht etwas älter als du. Ich kann ihn nicht besonders genau beschreiben – ich weiß nur, dass er am rechten Arm eine Art bläuliche Zeichnung hat … sagt dir das was?“ Sen spürte, wie seine Gesichtszüge beinahe entgleisten. Erschrocken nickte er. Der Söldner konnte doch wohl nicht …? „Hatte er irgendwelche außergewöhnlichen Fähigkeiten? Und weißt du, was mit ihm geschehen ist?“, fragte der Drachenfänger weiter. Sen presste die Lippen zusammen. „Ich kannte ihn ziemlich gut“, erklärte er nach

einem Moment zögernd, „aber abgesehen von dieser seltsamen Zeichnung an seinem Arm … ich habe nie etwas Besonderes an ihm entdecken können. Die Leute haben ihn gemieden deswegen, er war ein Außenseiter, aber das ist auch schon alles.“ „Und was ist mit ihm geschehen? Du redest in der Vergangenheit von ihm, ist er …?“ „Tot“, sagte Sen und senkte den Kopf, damit der Söldner ihm die Lüge nicht ansah. Der Drachenfänger stieß deutlich hörbar die Luft aus. „Tot“, wiederholte er leise, wie für sich selbst. Sen blickte auf. Der Söldner lehnte an der Wand zu seiner Rechten, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprach, und als er es dann tat, klang es müde. „Es spielt eigentlich

keine Rolle mehr, ich bin mir fast sicher, dass er es war … aber kannst du mir dieses Mal an seinem Arm noch genauer beschreiben?“ Sen zögerte einen Moment. „Ich … ich könnte versuchen, es zu zeichnen, aber ich weiß nicht, wie gut ich das hinbekomme“, bot er unsicher an. Der Drachenfänger nickte. Sen beugte sich nach vorne, stützte sich mit einer Hand auf und begann, in der weichen, teils noch warmen Asche die komplexen Muster nachzubilden, die er so gut kannte. Einige Male zögerte er mit Absicht und zeichnete Fehler. Er wollte lieber nicht den Eindruck erwecken, die blauen Linien allzu gut zu kennen, auch wenn dem so war – bei einem Drachenfänger war es besser, kein Risiko

einzugehen. Als er fertig war, richtete er sich auf und musterte angespannt den Söldner, der sich von der Mauer abgestoßen und über die provisorische Skizze gebeugt hatte. Nach einem Moment nickte er kaum merklich. „Er war es, kein Zweifel.“ Er blickte auf und sah Sen direkt an. Die Maske ließ keine Regung erkennen, aber der junge Mann meinte, in den gelben Augen eine Resignation zu erkennen, die ihn erschreckte. Er wandte den Blick ab. Eine ganze Weile herrschte Schweigen, dann fragte der Drachenfänger mit einem nachdenklichen Unterton: „Wo willst du jetzt eigentlich hingehen?“ Sen runzelte die Stirn, die Furcht kehrte

zurück. „Wieso … wieso interessiert Euch das?“ Der Söldner neigte leicht den Kopf. „Ich kann jede Hilfe brauchen, die ich kriegen kann. Komm mit mir, wenn du willst.“ Ungläubig beugte Sen sich nach vorne. „Das meint Ihr doch nicht ernst!“ Der Drachenfänger hob eine Braue. „Doch, eigentlich schon. Was spricht dagegen?“ Sen wollte antworten, stockte dann aber. Kurz überlegte er, ob er lügen sollte, aber er wusste, dass er kein guter Lügner war – und wer konnte schon sagen, was der Söldner zu tun imstande war, wenn er merkte, dass er belogen wurde … „Ich … ich will kein Drachenfänger sein, glaube ich“, entgegnete er also nach einem

Moment leise, den Blick gesenkt aus Furcht vor der Reaktion des Drachenfängers. Der verschränkte die Arme. „So.“ Sen wagte es nicht, etwas zu erwidern. Nach einem Moment lachte der Söldner leise. Es war ein seltsames Lachen, bitter, aber dabei irgendwie … hell, von der Tonlage her jedenfalls. Der Drachenfänger verstummte abrupt. „Du hast zu viel Angst vor mir“, erklärte er nüchtern. „Und du musst kein Drachenfänger werden, wenn du mit mir kommst, nur, um das klarzustellen. Also, was ist?“ Sen zögerte. Du hast zu viel Angst vor mir … Hieß das, er sollte einfach ehrlich sagen, was er meinte? Er biss sich auf die Lippe, bevor er leise erklärte: „Ich glaube, es fällt mir

schwer, jemandem wie Euch zu vertrauen.“ Der Drachenfänger legte den Kopf schief. „Das kommt der Sache schon näher, denke ich. Unsereins hat einen schlechten Ruf, das stimmt … aber heißt das notwendigerweise, dass ich genauso bin wie alle anderen?“ „Ich bin lieber einmal mehr zu vorsichtig als zu wenig“, entgegnete Sen, der zunehmend mutiger wurde. Der Söldner lachte leise auf. „Eine schöne Tugend. Aber hast du schon einmal darüber nachgedacht, was dir vielleicht bevorsteht, wenn du hierbleibst? Plünderer, Räuber – die, nebenbei bemerkt, wohl kaum davor zurückschrecken werden, dich in die Sklaverei zu verkaufen – außerdem werden Leute der Goldenen Garde zurückkommen, wenn sie nichts von

ihrem Mann hören, und die werden dich kaltblütig töten. Schon vergessen, was der Typ gerade gesagt hat?“ Sen schluckte. „Nein, aber … woher weiß ich, dass Ihr nicht das Gleiche mit mir macht?“ Der Drachenfänger neigte bedächtig den Kopf. „Das“, sagte er leise, „ist eine gute Frage.“ Sen bemühte sich um eine entschlossene Miene. „Und wenn Ihr mir sie nicht beantworten könnt, komme ich nicht mit.“ Die gelben Augen funkelten. „Starke Worte.“ Sen erwiderte nichts. Der Drachenfänger lachte leise auf. „Das ist die Ironie an der ganzen Sache. Wir haben einen so schlechten Ruf, dass uns niemand mehr glaubt, wenn wir wirklich helfen wollen.“ Er

schüttelte den Kopf. „Glaub mir, wenn ich dich in die Sklaverei verkaufen oder dich töten wollte, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Hätte ich dir sonst das Leben gerettet? Würde ich dich nicht vielmehr sofort töten? Hier, in einem Dorf voller Leichen, fällt ein Toter mehr oder weniger kaum auf. Um auf das zurückzukommen, worauf ich eigentlich hinauswollte … hast du eine andere Wahl, wenn du auf Dauer überleben willst? Ganz allein den Pflug ziehen, die Felder bewirtschaften? Wovon willst du leben?“ „Ich …“ Auf diese Frage wusste Sen so schnell keine Antwort. „Mir fällt schon etwas ein“, entgegnete er nach einer kurzen Pause, bemüht, einen zuversichtlichen Unterton in

seine Stimme zu legen. Die gelben Augen des Söldners funkelten leicht. Ihm war mit Sicherheit klar, dass das eine Lüge war. „Nun, wir werden sehen. Ich schätze, bis die Goldene Garde zurückkommt, haben wir noch etwas Zeit, mindestens bis morgen, du hast also Zeit, deine Möglichkeiten zu überdenken. Bis dahin … gibt es hier einen Ort, der sich gut verteidigen lässt? Ein Haus, das halbwegs heil geblieben ist, oder etwas Ähnliches?“ Sen erwiderte nichts. Er wollte nicht mit dem Söldner kommen, der Mann war ein Drachenfänger. Sich mit ihm einzulassen wäre schlimmer als ein Pakt mit Édhoan persönlich … wovor ihn die Nymphe bewahren mochte. Überhaupt – warum schien

der Söldner eigentlich so erpicht darauf, ihn zum Mitkommen zu bewegen? Mitgefühl oder etwas in der Art ganz sicher nicht, aber was war es dann? Solange er das nicht wusste, war es besser, auf nichts weiter einzugehen. Nein, er würde dem Drachenfänger nicht helfen. Der Mann wartete einen Moment, dann lachte er erneut bitter auf. „Schön, dann eben nicht. Ich denke, ich finde auch so etwas.“ Damit wandte er sich um, der Mantel wehte leicht hinter ihm her, als er ebenso rasch verschwand, wie er aufgetaucht war. Sen blickte ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war, eine hohe, dunkle Gestalt vor den in der Abendsonne roten Ruinen, dann stieß er erleichtert die Luft aus. Obwohl er

sich zuletzt sehr selbstsicher gegeben hatte mit seinem Schweigen, hatte er doch Angst gehabt. Zeit, seinen eigenen Unterschlupf aufzusuchen, den er sich bereits ausgewählt hatte, dachte er – vielleicht war er dort ja sogar einigermaßen sicher.

3.Kapitel

Das Haus, wo vor wenigen Tagen noch Leya gewohnt hatte, die junge Frau, in die er schon seit einigen Jahren heimlich verliebt gewesen war, und wo er sich einrichten wollte, befand sich am anderen Ende der Stadt. Leya – der Gedanke an sie, mit dem feinen, dunklen Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen und ihrem hinreißenden Lächeln, versetzte ihm mehr als nur einen Stich. Natürlich war sie verlobt gewesen … und jetzt war sie tot. Sen wagte nicht, sich auszumalen, wie sie umgekommen sein mochte – eigentlich konnte er gar nicht wahrhaben, dass sie einfach … weg sein sollte. Sie war eine der wenigen gewesen, die

ihn nicht wie Abschaum behandelt hatten, wie sonst nur sein älterer Bruder, oder die blinde Alte, die am Rand des Dorfes gewohnt und ihm dafür, dass er ihr hin und wieder etwas von der eigenen spärlichen Ernte abgab, Geschichten erzählt hatte: Von den Waldelfen, einem geheimnisvollen Volk, das einst im Isewald gelebt hatte; von der langen Reise der Drachen, die aus dem Osten gekommen waren; von den Magierkönigen, die vor Jahrhunderten das Land beherrscht hatten … Sen hatte stundenlang in ihrer Hütte sitzen und still ihren Erzählungen lauschen können. Diese Fantasien von fremden Völkern und vergangenen Zeiten hatten ihm immer geholfen, die anderen und ihre Gemeinheiten zu ertragen. Damals, fiel

ihm ein – sprach er jetzt schon von einem Leben, dass nur wenige Stunden zurücklag, als wäre es vor Jahren gewesen? Wie auch immer, damals hatte er sich gewünscht, sie wären alle tot – und jetzt … wollte er, sie wären noch am Leben. Jeder einzelne von ihnen war besser als die Goldene Garde oder der Drachenfänger. Als er, in solch düstere Gedanken versunken, Leyas Haus erreichte, sah er in der Ruine den Widerschein eines Feuers und blieb wie angewurzelt stehen. Offenbar war der Drachenfänger schneller gewesen als er. Er fluchte leise. „Ach, jetzt also doch?“, erklang da hinter ihm die heisere Stimme des Söldners. Sen fuhr herum und wich zurück. Die gelben Augen

funkelten, diesmal mit einem beinahe verschmitzten Ausdruck. Bogen und Köcher hatte der Drachenfänger abgelegt, fiel ihm auf, nur das Schwert trug er weiterhin an der Seite. Sen schüttelte hastig den Kopf. Der Söldner lachte auf; leise, entspannt klang es diesmal. Sen runzelte die Stirn. Wurde der Mann unvorsichtig? „Dachte ichs mir doch“, fuhr der Drachenfänger fort. „Sag …“, er lehnte sich an die Hauswand, „hast du schon einmal einen echten Drachen gesehen?“ Sen starrte ihn völlig perplex an. Ein Drache? Wie kam er jetzt darauf? „Offenbar nicht“, fuhr der Söldner fort, den Blick in die Ferne gerichtet. „Ich dachte nur,

wenn ich hier bleibe, auch wenn es nur bis morgen ist, sollte ich dir vielleicht meinen Weggefährten vorstellen. Ke ist sein Name. Und … erschrick nicht, er ist ziemlich groß.“ Wie auf ein Kommando erschien ein Kopf zwischen den Trümmern, mit messingfarbenen Schuppen bedeckt. Drei gelbe Augen, die beunruhigenderweise den gleichen Farbton hatten wie die seines Herrn, musterten ihn interessiert. Sen stolperte rückwärts. Allein der Kopf des Drachen hatte mindestens die Größe eines kleinen Hauses, die einzelnen Schuppen waren jede größer als Sens Kopf. Ke legte den Kopf schief, holte Atem, in kleinen, heftigen, schnellen Zügen – und spie Feuer. Es waren nur einige wenige,

vergleichsweise kleine Flammen, die aus seinen Nüstern schlugen, als der Drache die Luft in einem Stoß wieder entweichen ließ, dennoch machte Sen vor Schreck einen weiteren Satz zurück. „Ach je“, hörte er den Söldner neben sich sagen und wandte den Kopf. Der Drachenfänger hatte den Blick ernst auf seinen Drachen gerichtet. „Ich glaube, er hat sich wieder erkältet.“ Chaïr lächelte unter ihrer Maske, als sie den entgeisterten Blick des Jungen sah. „Erkältet? Ein Drache?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob es das gleiche ist wie das, was wir eine Erkältung nennen; vermutlich ist es eher eine Art Vertrocknung

oder Überhitzung“, erklärte sie ihm. „Aber die Symptome sind so, wie sie aussehen würden, wenn ein Drache erkältet wäre, deswegen. Das gerade lässt sich zum Beispiel gut mit einem Niesen vergleichen.“ Der Junge blickte immer noch ungläubig drein. „Wenn … wenn Ihr meint …“, erwiderte er schließlich unsicher. Auf einmal schien ihm etwas Wichtiges einzufallen; er wurde blass. „Er … er gehorcht Euch doch?“ Chaïr lachte trocken auf. „Wenn nicht, hätte er mich längst aufgefressen.“ Der Junge blickte ehrfürchtig zu Ke auf. „Tun Drachen das denn? Menschen fressen, meine ich?“ Die Drachenfängerin musterte ihn interessiert. Er wäre gar kein schlechter

Lehrling – er stellte die richtigen Fragen, schien einen ordentlichen Respekt vor Drachen zu haben … und er wirkte fasziniert. Chaïr, du übertreibst, schalt sie sich. Sie war doch selbst gerade erst neunzehn – da war es noch viel zu früh, einen anderen auszubilden. Ihr eigener Meister war viel älter gewesen – wie alt genau, das wusste sie nicht, aber auf jeden Fall nicht mehr wirklich jung. „Natürlich tun sie das“, beantwortete sie die Frage des Jungen. „Von irgendwas müssen sie schließlich leben. Seit die Drachen dort leben, haben sich andere Tiere ziemlich aus den Isebergen zurückgezogen. Und seit auch noch jede Menge unvorsichtige Menschen und Elfen dort auftauchen … vergiss es.

Genug andere Beute finden die Drachen dort gar nicht mehr. Wobei sie die Menschen und Elfen von Natur aus vermutlich in Ruhe lassen würden, auch wenn sie die Möglichkeit hätten, sie zu fressen. Aber die Gegebenheiten zwingen sie dazu.“ Der Junge nickte, den Blick weiterhin auf Ke gerichtet. Chaïr musste unter der Maske unwillkürlich lächeln, als sie sah, wie er jede Bewegung des Drachen wachsam verfolgte. Jetzt, wo sie ihn in aller Ruhe von Nahem betrachten konnte, fiel ihr auf, dass er gar nicht so jung war, wie sie zunächst angenommen hatte; fünfzehn mindestens, vermutlich eher älter. Der Irrtum stammte wohl daher, dass er klein war für sein Alter, und auch seine Züge wirkten ungewöhnlich

jung. Aber dennoch … Stimme und vor allem sein Blick verrieten ihn. „Wie lange seid Ihr schon mit ihm unterwegs?“, riss der Junge sie aus seinen Gedanken. Chaïr zögerte kurz, bevor sie antwortete; zu viel wollte sie schließlich nicht preisgeben. „Etwa ein Jahr“, erwiderte sie dann. „Vielleicht länger, vielleicht kürzer; wenn man viel herumreist, verliert man manchmal das Zeitgefühl. Warum?“ Der Junge zuckte die Schultern, das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn. Chaïr musterte ihn erneut aufmerksam. Jetzt hatte er den Blick gesenkt, doch vorhin war ihr aufgefallen, dass er eine seltsame Augenfarbe hatte, eine Art … violett? Sie war sich nicht sicher, es wäre ungewöhnlich so

weit im Süden. Die Kleidung war zerlumpt, und um den linken Arm trug er einen behelfsmäßigen Verband, der sorgfältig den gesamten Unterarm bedeckte – offenbar hatte er sich bei dem Feuer verletzt. Schuhe trug er keine, möglicherweise hatte er sie verloren; wahrscheinlicher war jedoch, dass er, wie viele Arme im warmen Süden Zhiëls, gar keine besaß, weil sie nicht unbedingt notwendig waren. „Wer bist du eigentlich?“, fragte sie schließlich beiläufig in die Stille hinein. Der Junge hob misstrauisch den Blick. Doch, violett, eindeutig. „Warum interessiert Euch das?“ „Warum nicht?“ Der Junge verschränkte die Arme, seine

Miene war finster und abweisend. „Es geht Euch nichts an.“ Chaïr lächelte hart unter der Maske. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber es geht doch eigentlich um etwas vollkommen anderes, oder nicht? Du willst nichts mit mir zu tun haben, das ist das Problem. Du lässt mir nicht einmal eine Chance, dein Vertrauen zu gewinnen. Und warum? Weil ich ein Drachenfänger bin, und alle Drachenfänger sind von Grund auf böse. Ist es nicht so?“ Ihre Stimme war scharf und schneidend geworden, während sie sprach, und der Junge war erschrocken einen halben Schritt zurückgewichen. Er wagte es nicht, etwas zu erwidern. „Hast du jemals darüber nachgedacht, dass

es anders sein könnte? Ob du es glaubst oder nicht, auch ich war einmal ein Kind. Ich war unschuldig. Ja, ich, ein Drachenfänger! Stell dir das vor. Du siehst das, was aus mir geworden ist, und du verabscheust mich; vielleicht hast du damit sogar recht. Aber was dahinter steckt, das weißt du nicht. Du glaubst auch gar nicht, es wissen zu müssen. Nein, ich bin ein Drachenfänger, und das reicht, um mich zu verurteilen. Du hast keine Ahnung. Niemand, der kein Drachenfänger ist, hat auch nur den Hauch einer Ahnung.“ Der Junge starrte sie aus großen Augen an. Chaïr wusste instinktiv, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Als er nichts entgegnete, wandte sie sich um und ging mit großen Schritten zurück zu dem, was vor kurzem noch

ein Haus gewesen war. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Falls du dich entscheiden solltest, meine Hilfe anzunehmen, komm wieder her, ansonsten bleib weg. Ke wird auf dich aufpassen“, sagte sie, wobei sie einen fragenden Blick mit dem Drachen wechselte. Der legte den Kopf schief, verzog dann aber leicht genervt einen Mundwinkel und streckte sich, um den Jungen vorerst im Auge behalten zu können. Chaïr wandte sich ab. „Danke“, wisperte sie dem großen Drachen zu. Ein großes, gelbes Auge blinzelte sie kaum merklich an, dann erhob sich der Drache und setzte mit einem gewaltigen Flügelschlag über die Mauer hinweg. Chaïr lächelte unter ihrer Maske still

vor sich hin, bevor sie fortfuhr, ihre neue Unterkunft zu begutachten und einzurichten. Sen blieb einen Moment lang überrumpelt vor den Überresten des Gebäudes stehen. Das war es, was er gewollt hatte, oder? Der Drachenfänger würde ihn in Ruhe lassen. Bis auf den Drachen, aber der war ja eigentlich nur ein Tier. Zählte nicht. Warum also hatte er so ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass sich, nun ja … beinahe wie schlechtes Gewissen anfühlte? Sen verscheuchte den Gedanken rasch. Er hatte sein Ziel erreicht, nur das zählte. Und was den Drachen betraf – nun, er war sich sicher, dass er auch ihn innerhalb kürzester Zeit loswerden würde. Er ging

los. Stunden später – er hatte etliche Haken durch die verbrannten Gassen geschlagen, sich ein paar Mal in inzwischen ungefährlicheren Ruinen versteckt und war einmal sogar zwischen die dichten Arinasstämme geflüchtet – kreiste Ke immer noch über ihm und behielt ihn im Auge. Sen spähte zum Himmel empor. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Drache sich über ihn lustig machte … in den gelben Augen meinte er das gleiche spöttische Funkeln zu entdecken wie in denen des Söldners. Er seufzte ergeben. Wahrscheinlich sollte er sich einfach einen Platz zum Schlafen suchen, immerhin wurde es bald dunkel. Suchend blickte er sich um, entdeckte aber

ringsum nichts als feuergeschwärzte, hohle Ruinen, die im schwindenden Tageslicht zunehmend ungemütlicher wirkten und ganz sicher nicht besonders einladend waren. Sen biss sich auf die Lippe. Sollte er vielleicht doch besser … ? Zögernd wandte er sich um. Bei Nacht war das leere Dorf doch ziemlich unheimlich – er hatte das Gefühl, die Toten würden sich ruhelos in den Häusern, die nun ihre Gräber waren, umdrehen. Wenn er sich das so bildhaft vorstellte, klang die Gesellschaft des Drachenfängers doch eigentlich gar nicht so unangenehm, vor allem, wenn es dort auch ein Feuer und vielleicht etwas zu Essen für ihn gab … und … wenn der Söldner wirklich so war, wie er sich gab … vielleicht war er doch nicht so

übel, wie Sen zunächst angenommen hatte … Sie dienen Èdhoan, manche sind Hexer und scheuen sich auch vor Menschenopfern nicht. Doch selbst die, die keine Hexer sind, die sich nicht durch die Macht des Isenerzes verführen lassen, sind üble Burschen. Das harte Leben in den Isebergen hat sie kalt und grausam gemacht, dort müssen sie täglich um ihr Leben kämpfen, mit den Drachen, die sie fangen und verkaufen, aber auch gegeneinander. Oh, sie schrecken nicht davor zurück, ihresgleichen zu töten, um an Geld zu kommen – sie schrecken vor gar nichts zurück. Die Worte der alten Frau hallten noch in ihm nach. Wieder hörte er den unheilvollen Klang ihrer Stimme, sah die alten, blinden Augen

blicklos in die Ferne starren, ihren Kopf bedeutungsvoll nicken. Ihre Geschichten haben oft einen wahren Kern, hörte er seinen Bruder sagen. Und dennoch … wo sonst sollte er hin? Hier bleiben, allein? Der Drachenfänger hatte schon Recht gehabt vorhin, im Grunde hatte er keine andere Wahl. Mit einem tiefen Seufzer machte er sich auf den Weg zurück zu Leyas Haus. Jetzt im Dunkeln war das Feuer schon von weitem zu erkennen, als er auf die Ruine zustapfte. Unsicher trat er durch den Durchgang, wo einmal die Haustür gewesen war. Der Drachenfänger saß am Feuer, nicht mehr als ein schwarzer Schattenriss vor den hell lodernden Flammen. Sen erzitterte

unwillkürlich, als ihm der Geruch des über dem Feuer hängenden Bratens in die Nase stieg. „Du bist zurück.“ Die heisere Stimme des Söldners ließ ihn innehalten. Er hatte sich nicht einmal umgewandt – hatte er ihn gehört? Eigentlich hatte er nicht das Gefühl gehabt, besonders laut gewesen zu sein … Sen zögerte noch einen Moment, dann trat er näher. „Setz dich.“ Es war ein Befehl, kein Angebot oder gar eine Bitte. Er wagte es nicht, sich zu widersetzen. Eine Weile herrschte Schweigen, es war ein seltsamer Gegensatz zum Nachmittag, als der Söldner geradezu redselig gewesen war. Dann

… „Du hast mich belogen.“

0

Hörbuch

Über den Autor

Ryvais
ÜBER

Wenn ich nach oben schaue, die weiße Zimmerdecke. Ein wenig unscharf der Fensterrahmen, die Vorhangstange, messingfarben, dünner blauer Stoff links und rechts.

MICH

Akkusativ des Personalpronomens ich. Gewöhnlich von einer Person verwendet, wenn sie aus ihrer eigenen Perspektive über sich selbst spricht. In diesem Fall ist der Akkusativ abhängig von der Präposition über.

Leser-Statistik
26

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Lessa Sehr schön, hat mir gut gefallen. Würde schon gern wissen, wie es weitergeht. Hast du noch was?

Großes Lob übrigens für die Rechtschreibung, das hab ich auch hier schon ganz anders gesehen :)
Vor langer Zeit - Antworten
Ryvais Danke ;)
Ja, zurzeit sitz ich wieder dran, aber es wird völlig überarbeitet, weil ich von dieser Fassung ziemlich viel umgeschmissen habe. Also mal sehen, ob die bisherigen Szenen überhaupt vorkommen ...
Lg, Ryvais
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Ich mag auch mehr. Lg ameise
Vor langer Zeit - Antworten
Ryvais Jaa ... ich hoffe, ich komm bald dazu, weiterzuschreiben ... ;-) Danke für das Abo!
Lg, Ryvais
Vor langer Zeit - Antworten
Buhuuuh Sehr gut geschrieben was ich las! :-)

Simon
Vor langer Zeit - Antworten
abschuetze Jetzt will ich auch wissen, wie es weiter geht ...
Es gibt doch eine Fortsetzung?

LG von Antje
Vor langer Zeit - Antworten
EagleWriter Zu hoffen wärs ^^
lg
E:W
Vor langer Zeit - Antworten
Ryvais Hey ihr zwei!
Ja, das nächste Kapitel kommt bald. Freut mich, dass die Geschichte euch bis jetzt gefällt!
LG, Ryvais
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
8
0
Senden

130226
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung