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Reparier mal Liebe! (2) - Kapitel 2 - Fotos und Erinnerungen

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"Danielle (D)..."
Veröffentlicht am 01. Juni 2015, 76 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Danielle (D)...

Reparier mal Liebe! (2) - Kapitel 2 - Fotos und Erinnerungen

Kapitel 2: Fotos und Erinnerungen

D wurde durch das Kläffen des kleinen Nachbarhundes aus dem Schlaf gerissen. Benommen griff sie nach dem Wecker am Nachttisch und blinzelte. Schon zehn Uhr? Sie rieb sich die Augen. Normalerweise schlief sie nie bis zehn. Allerdings hatte sie gestern bis nach Mitternacht ferngesehen, was sie normalerweise auch nicht tat. Immer noch etwas träge kletterte sie aus dem Bett, streckte sich ausgiebig und ging dann zum Fenster. Sie blinzelte, als sie die Vorhänge zurückzog und das Sonnenlicht ihr direkt ins Gesicht schien. So wie es aussah,

stand ein weiterer, wunderschöner Augusttag bevor. Im Garten nebenan sprang Tiffany, der verwöhnte Yorkshire-Terrier um Mrs. Terrance herum. Offenbar waren die beiden gerade von ihrem Morgenspaziergang zurückgekommen. Wie immer trug Tiffany eine kleine Schleife am Kopf – heute gelb – und ein farblich passendes Halsband. Hätte es geregnet, wäre der Hund in einem leuchtend gelben Regencape unterwegs gewesen. Tiffany zerrte ungeduldig an ihrer Leine, offenbar um ihr Frauchen dazu zu bringen, mit ihr ins Haus zu gehen. Plötzlich sah Mrs. Terrace auf und

entdeckte D am Fenster. Sie lächelte und nickte ihr zu. Und D lächelte zurück und winkte. Schließlich trat D vom Fenster zurück und warf sich einen kurzen Blick in der verspiegelten Kleiderschranktüre zu. Während sie sich mit den Fingern durchs Haar kämmte, überlegte sie, ob sie zuerst duschen oder frühstücken sollte. Sie hatte heute viel Zeit. Es gab nichts, was sie drängte. Sie musste nur um 15:30 Uhr bei Ihren Eltern sein. Ihre Mutter hatte Geburtstag und Robert kochte. Beim Gedanken an Essen im Allgemeinen und die kulinarischen Kreationen ihres Bruders Robert im Besonderen, merkte D, wie ihr Magen knurrte. Ein deutliches

Zeichen, dass sie dem Frühstück vor der Dusche den Vorzug geben sollten. Sie nahm ihre blaue Freizeithose vom Sessel neben dem Fenster und schlüpfte hinein. Für einen Moment blieb ihr Blick an dem Kleiderberg hängen, der am Sessel aufgetürmt war. Der Bügelhaufen. Irgendwann, wenn das Wetter schlecht war, würde sie die Sachen wirklich bügeln und in den Kasten zurückschlichten. Der Bügelberg war nicht der einzige Kleiderhaufen, der derzeit in ihrem Schlafzimmer herumlag. Seit sie damit begonnen hatte, ihren Kleiderschrank und die Kommode auszumisten, sah ihr Schlafzimmer aus als hätte eine Bombe

eingeschlagen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, schnell und konsequent den gesamten Inhalt ihrer Kästen durchzugehen – Kleidung, Schuhe, Bettzeug, Bettwäsche, überzählige Handtücher, Tischdecken und was sonst noch zum Vorschein kam – und dabei großzügig alles auszusortieren, was sie nicht mehr brauchte. Der plötzliche Drang zur Durchführung dieses Projekts hatte sie vor zwei Wochen überkommen. Sie hatte sogleich begonnen, alles aus den Kästen zu zerren. Anfangs war sie sich noch mit viel Enthusiasmus und Energie bei der Sache gewesen. Leider hatte sich das Vorankommen des Projekts in der

vergangenen Woche dann aber verlangsamt und war nun mehr oder weniger zum Stillstand gekommen – zumindest im Moment. In den letzten Tagen war es in der Arbeit so hektisch gewesen, dass sie abends nicht in der Stimmung war, sich mit dem Durcheinander in ihrem Schlafzimmer zu beschäftigen. Stattdessen hatte sie angesichts des schönen Wetters versucht, etwas im Freien zu unternehmen. Das war weit entspannender und machte mehr Spaß. Am Montagabend war sie nach der Arbeit noch zum See geradelt und schwimmen gegangen; am Dienstag hatte sie sich mit Sarah zum Abendessen getroffen, und am Mittwoch war sie

direkt vom Büro zum See gefahren. Die Lage im Schlafzimmer war jedoch nicht völlig hoffnungslos. Am Donnerstagabend hatte sie zumindest den Screening-Prozess beendet und alles aussortiert, wovon sie sich (nach einer gewissen zusätzlichen Reflexionsphase) wahrscheinlich trennen würde. Und gestern Abend – vor ihrem Fernsehmarathon – hatte sie die meisten jener Sachen, die sie behalten wollte, wieder säuberlich in Kasten oder Kommode geräumt. Mit Ausnahme dessen, was zum Bügeln am Sessel lag und einiger Handtücher, die sie gewaschen, aber noch nicht zusammengelegt vor dem Kleiderschrank

abgeladen hatte. Die Sachen, von denen sie sich trennen wollte, lagen in drei Stapeln am Bett bzw. am Boden direkt daneben. Zwei der Textil-Berge nahmen fast die gesamte Bettseite ein, auf der sie nicht schlief. Der dritte Stapel lag am Teppich zwischen Bett und der Wand, an der Roberts riesiges, blaues Bild hing. Alle möglichen Kleidungsstücke, aus denen sie herausgewachsen war oder die sie sicher nie mehr anziehen würde waren hier aufgetürmt, ebenso wie die Vorhänge aus dem Studentenheim, die zwar noch gut aussahen, für die Fenster hier aber viel zu kurz waren. Außerdem noch das tief-dekolletierte

Cocktail-Kleid, das Pete ihr gekauft hatte, ein paar senffarbenen Handtücher, die von ihrer Großmutter stammten, und schließlich das wild geblümtes Tischtuch mit acht passenden Servietten, das sie von Tante Sauvie zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte und das sie nach fast sieben Jahren der Lagerung in den hintersten Schrankwinkeln nun ohne schlechtes Gewissen weggeben würde. D verließ das Schlafzimmer und das dort herrschende Chaos und ging durch das sonnendurchfluteten Wohnzimmer in die Küche, die vom Wohnzimmer nur durch zwei hüfthohe Schränke und eine Theke abgetrennt war. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und

schob zwei Stück Toastbrot in den Toaster. Dann öffnete sie den Kühlschrank und nahm die Butterdose, ein Glas Marmelade, zwei Eier und etwas Käse heraus. Zehn Minuten später saß sie auf dem großen Sofa im Wohnzimmer, ein Teller mit Toast, Rührei und ein paar Scheiben Käse auf dem Schoß und die Kaffeetasse auf dem Couchtisch vor sich. Sie drückte ein paar Tasten auf den Fernbedienungen für TV und DVD Player und startete eine neue Folge der Serie, die sie gestern Abend angesehen hatte. Es war eine Comedy/Love Serie, die vor circa zwölf Jahren zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt worden war. Wie

fast alle jungen Leute damals, war sie geradezu süchtig danach gewesen. Im Laufe der Jahre hatte sie die Serie fast vergessen, bis Robert ihr vor ein paar Monaten das komplette DVD-Set zum Geburtstag geschenkt hatte. Seither sah sie ab und zu, wenn sie Zeit hatte, eine Folge an, oder zwei (oder gleich vier wie letzte Nacht). Es war lustig, unterhaltsam und entspannend. Und es erinnerte sie an früher. Ihre Sicht auf manche Dinge schien sich im Laufe der Jahre allerdings drastisch geändert zu haben. Vielleicht war das ein Zeichen, dass man erwachsen wurde? Es fiel ihr besonders in Hinblick auf die etwas chaotischen Beziehung auf, die die

beiden Hauptcharaktere in der ersten Staffel miteinander hatten, und die ausgerechnet in der letzten Folge dramatisch endete hatte. Als Teenager war sie tagelang richtig verstört und wütend gewesen, und hatte lange auf eine Versöhnung und ein Happy End gehofft. Das war nie passiert. Und heute, Jahre später und mit etwas mehr Lebenserfahrung ihrerseits, leuchtete es ihr perfekt ein, dass das Mädchen sich weigerte, ihrem Ex nochmal eine Chance zu geben. Er war ein Vollidiot! D hatte gerade ihr Ei aufgegessen und kicherte über eine lustige Szene, als ihr Handy am Couchtisch summte. Mit einem unwilligen Brummen beugte sich vor,

überzeugt, dass es nur eine SMS von Pete sein konnte. Die Nachricht war aber von Sarah. Hallo D! Bist Du schon auf? Vergiss nicht, zu schauen, ob Du ein paar gute Fotos fürs Wochenende hast. Ich könnte am frühen Nachmittag vorbeikommen und sie abholen. Fahre morgen zu Jack. Sarah D starrte stirnrunzelnd auf die Nachricht. Sie hatte so gehofft, sich irgendwie von dieser Aufgabe drücken zu können, die Ihr nun schon eine Weile im Magen lag. Genaugenommen sei Rick und Jack vor ein paar Monaten die Idee gehabt hatten, für das Get-Together am kommenden

Wochenende eine kleine Film-und Fotoshow zusammenzustellen. Wie alle anderen im Freundeskreis war auch D dazu aufgerufen, ihr bestes oder lustigstes Fotomaterial aus der gemeinsamen Vergangenheit beisteuern… D kaute auf der Unterlippe und überlegte, was sie tun sollte. Nachdem Jack und Sarah offenbar nicht daran dachten, lockerzulassen, und es durchgehen zu lassen, dass sie einfach nichts lieferte, sollte sie vielleicht einfach in den sauren Apfel beißen und es hinter sich bringen! Sie antwortete Sarah: Okay. D Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit

wieder dem Fernsehschirm zu. Sie konnte es aber nicht lange genießen, denn nicht einmal zwei Minuten später summte das Handy wieder. Eine neue SMS. Diesmal von Robert: Danielle, hast Du irgendwelche Geburtstagskerzen, die Du für den Kuchen bringen kannst? Danke! Rob Sie tippte eine schnelle Antwort: Ja, ich bring welche. D Dann sah sie weiter fern und aß ihr Frühstück auf. Als sie gerade nach der Kaffeetasse greifen wollte, erwachte Ihr Handy wieder zum Leben. Diesmal

klingelte es. Ein Anruf. Und auf dem Display erschien das Bild von Pete, das sie in London gemacht hatte. D starrte es einen Moment an. Sie wollte jetzt absolut nicht mit ihm sprechen. Und sie sollte wohl endlich das Foto löschen, denn es erzeugte bei ihr nur noch Widerwillen und andere unangenehme Gefühle. Mit einem gereizten Kopfschütteln schaltete sie den Fernseher und den DVD-Player aus und stand vom Sofa auf. Das Telefon klingelte noch ein paar Mal, dann wurde es still. In der Küche räumte D das Geschirr in die Spülmaschine. Dann öffnete sie ein paar Schubladen und suchte nach den

Geburtstagskerzen. Sie wusste, dass sie irgendwo noch welche haben musste. Schließlich fand sie sie ganz hinten in der Schublade mit den Plastiksäckchen und der Alufolie. Es waren noch genau sieben Kerzen. Das musste reichen. Um die Kerzen später nicht zu vergessen, legte sie sie jetzt gleich auf die Theke neben ihre Handtasche. Dann warf sie einen Blick in Richtung Küchenuhr. Es war jetzt 10:55 Uhr. D kratzte sich am Kopf und überlegte, ob sie nun duschen gehen sollte oder… Nein, wenn sich das mit den Fotos schon nicht umgehen ließ, dann sollte sie es wohl lieber gleich tun. Sie ging zur geschlossenen Tür des

Reservezimmers, wie sie den Raum normalerweise nannte. Als ihre Großmutter noch in dieser Wohnung gelebt hatte, war dies das Näh-und Gästezimmer gewesen. D konnte sich noch gut erinnern, wie Robert und sie als Kinder auf dem Gästebett herumgesprungen waren und es ein paarmal fast zum Einsturz gebracht hatten. Nachdem ihre Großmutter gestorben war, hatte ihr Vater die Wohnung geerbt und sie einige Jahre vermietet. Als D dann vor etwas mehr als zwei Jahren ihr Studium abgeschlossen und einen Job in Deens gefunden hatte, war die Wohnung zufällig gerade wieder frei geworden.

Die chaotischen Mieter, die ihre Eltern fast zur Verzweiflung getrieben hatten, waren völlig überraschend ausgezogen. Da die Wohnung also gerade frei war und sie eine Wohnung brauchte, war es klar, dass sie dort einziehen würde. Das perfekte Arrangement. Natürlich waren ein paar Renovierungs-und Reparaturarbeiten nötig gewesen, und Robert, ihre Eltern und sie selbst hatten viel Zeit mit streichen, schleifen, putzen und Möbelaufbau verbracht. Jack, Tony und Sarah hatten auch mitgeholfen. Nur Pete hatte sich sehr wenig an diesem Projekt beteiligt und war ausgerechnet an den betreffenden Wochenenden fürchterlich beschäftigt

gewesen. D öffnete die Tür zum Reservezimmer und trat ein. Entlang der Wand zu ihrer Linken standen immer noch ein paar ungeöffnete Umzugskartons mit Sachen aus dem Studentenheim und ihrem Zimmer bei ihren Eltern. Daneben standen Plastikboxen, die mit Dinge wie Schulbüchern, alten CDs und Videos, Stofftieren und Fotoalben mit Kinderfotos gefüllt waren. Auch ein Kunststoffbehälter, der Weihnachtsdekorationen enthielt, und eine Papiertüte mit Geschenkpapier und –schleifen waren darunter. Im hinteren Teil des Raumes lehnten ihre Camping-Sachen: Zelt, Luftmatratze,

elektrischen Kühlbox, Campingtisch… Seit drei Jahren war das alles nicht mehr benützt worden. Camping war mit Pete nie in Frage gekommen. Wenn sie zusammen irgendwo hingefahren waren, musste es zumindest ein Vier-Stern-Hotel sein. D wandte sich dem alten PC und Monitor zu, die am Schreibtisch zu ihrer Rechten am Fenster standen. Seit sie den Laptop hatte, verwendete sie den alten Computer kaum noch. Heute brauchte sie ihn aber, denn sämtliche Fotos aus der Zeit, um die es ihren Freunden ging, waren auf diesem Rechner gespeichert. Je näher sie dem Schreibtisch kam, desto unruhiger wurde sie. Ärgerlich über sich

selbst, schüttelte sie den Kopf. Das war ja lächerlich! Sie holte tief Luft und schnaubte durch die Nase. Da war doch wirklich nichts dabei! Sie setzte sich zum Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Sofort begann er zu summen. Während sie darauf wartete, dass der Rechner hochgefahren war, fiel ihr Blick auf den Stapel Papier neben dem Mousepad. Briefe, Rechnungen, Kontoauszüge, Versicherungsinfos und dergleichen Papierkram. Sie hatte sich angewöhnt, alle Unterlagen hier zu sammeln und erst abzulegen, wenn der Stapel eine gewisse Höhe erreicht hatte. Plötzlich fiel ihr etwas Blaues auf, das

zwischen den Papierseiten hervorschaute. Sie kniff die Augen zusammen. War das der Folder über London? Sie ergriff die blaue Ecke und zog daran. Auf dem Cover des Folders waren Bilder von Big Ben, dem London Eye, der Tower Bridge, und – ganz links unten – das Schwan Logo der Firma, für die sie arbeitete. Sie hatte den Folder während der letzten Tage gesucht – im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und in der Küche. Vergeblich. Offensichtlich hatte sie ihn versehentlich mit der letzten Kreditkartenabrechnung hier auf den Ablagestapel gelegt. Mit dem Folder in der Hand ging sie schnell in die Küche, wo sie ihn auf die

Theke legte. Am Wochenende würde sie sich das wohl mal ansehen müssen, denn June würde am Montag im Büro sicher fragen, was sie darüber dachte. D kehrte zum PC zurück. Auf ihrem Stuhl lümmelnd klickte sie sich zum „Eigene Bilder“-Ordner am C-Laufwerk durch. Die Tatsache, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, ihre Fotos nach Themen in Ordnern abzulegen, sondern sie einfach nur alle zwei bis vier Monate von der Kamera in einen namenlosen Ordner heruntergeladen hatte, würde das bevorstehende Vorhaben zu einem ganz besonderen Genuss machen… Auf dem Bildschirm standen gut 23

namenlose Ordner zur Auswahl – der erste aus der Zeit als sie die Digitalkamera vor neun Jahren bekommen hatte. Sie würde sich wohl am Erstellungsdatum der Ordner orientieren müssen. Großartig! Auf ihrer Unterlippe kauend, versuchte sie, sich für einen Ordner zu entscheiden, mit dem sie anfangen wollte. Sie rechnete im Kopf ein paar Jahre zurück. Sie war vor fast sieben Jahren im September nach Deens gekommen, um hier zu studieren. Sie beschloss deshalb, den Cursor auf jenen Ordner zu richten, der zwei Monate nach ihrem Einzug ins Studentenheim erstellt worden war.

Nach einem raschen Doppelklick wartete sie, dass der frustrierend langsame Rechner endlich den Ordner öffnete. Im Wohnzimmer hatte ihr Telefon wieder zu klingeln begonnen… Sie schloss kurz die Augen und knirschte mit den Zähnen. Das war sicher wieder Pete! Sie verspürte plötzlich den starken Drang, die Maus in ihrer Hand zu zerdrücken. Auf dem Bildschirm war inzwischen ein Überblick aller im Ordner enthaltenen Bilder im Miniaturformat erschienen. D klickte auf das erste Foto: Das Auto ihrer Eltern am Studentenheim-Parkplatz, der Kofferraum vollgestopft mit ihren Umzugssachen. Ein Klick auf den Pfeil,

und das nächste Foto erschien: Robert und Dad, wie sie ein Regal aus dem Auto hoben; dann Mom, lächelnd, in der Eingangshalle des Studentenheims; schließlich Zimmer Nummer 415, das sie drei Jahre lang bewohnt hatte – im Bild noch in leerem und nicht besonders einladendem Urzustand; ihre Eltern in einem Café in Deens; Robert in Zimmer 415, an den Schreibtisch gelehnt, eine Eistüte in der Hand, Kartons, Taschen und anderes Umzugsgut um ihn herum. Das folgende Bild musste ein paar Tage später aufgenommen worden sein, denn es zeigte wieder ihr Zimmer, diesmal allerdings schon wesentlich wohnlicher. Der Teppich, den sie mitgebracht hatte,

war am Boden ausgebreitet, am Fenster hingen anstatt der hässlichen, braunen Vorhänge ihre eigenen, gelb-weiß gestreiften. Ihr Schrankregal war bereits an seinem Platz zwischen Bett und Schreibtisch, der Fernseher obenauf, und in den Fächern darunter die neuen Teller und Tassen. Das gerahmte Bild mit den Gewitterwolken, das heute noch im Vorraum ihrer Wohnung hing, lehnte am Bett. Beim Durchsehen dieser Studentenheim Fotos, erinnerte sich D plötzlich, dass ihr Gemütszustand während dieser ersten Tage in Deens geschwankt war. Mal war sie voll Begeisterung und Aufregung über diesen neuen Lebensabschnitt

gewesen, dann hatte sie sich plötzlich einsam und unruhig gefühlt… Es war eine emotionale Achterbahnfahrt gewesen. Sie hatte bis dahin immer zu Hause bei ihren Eltern gelebt, kannte die neue Stadt noch kaum und hatte hier auch keine Freunde. Sie musste sich im komplizierten Hochschulsystem erst zurechtfinden und sich an das Studentenheimleben mit so vielen neuen Gesichtern gewöhnen. Es war aufregend und beängstigend zugleich. Völliges Neuland. Manchmal überwältigend. Sie hatte sich viel schneller eingelebt als erwartet. Die Leute im Studentenheim waren durchwegs sehr nett, und die Stockwerks-Küche der perfekte

Zufluchtsort, wenn ihr in ihrem eigenen Zimmer die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Sie ließ den Rest der Bilder rasch durchlaufen. Für ihre Freunde waren diese Fotos nicht wirklich von Interesse. Sie klickte auf einen neuen Ordner und öffnete ihn. Das erste Foto, das am Bildschirm erschien, zeigte Sarah, wie sie ihre Augen rollte und in Richtung Jack nickte. Zufrieden lehnte D sich in ihrem Stuhl zurück. Endlich etwas Brauchbares! Sie hatte Sarah in einem Italienisch-Sprachkurs für mäßig Fortgeschrittene Hörer aller Fakultäten kennengelernt. In einer der ersten Stunden hatte der

Professor die Aufgabe gestellt, mit dem jeweiligen Tischnachbarn einen Arzt-Patienten-Dialog vorzubereiten. D’s Sitznachbarin war Sarah gewesen. Und auch wenn sie zuvor noch nie miteinander gesprochen hatte und sich überhaupt nicht kannten, hatten sie einen Riesenspaß beim Schreiben des Dialogs und vor allem bei der Aufführung gehabt. Sarah als älterer, flirtender Doktor und D als weinerliche, hypochondrische Patientin. Und obwohl Sarah eineinhalb Jahre älter war und Chemie studierte, und D Wirtschaft, hatten sie sich auf Anhieb bestens verstanden und sofort angefreundet. Sie hatten dieselbe Art von Humor, ähnliche Weltanschauungen, den

gleichen Musikgeschmack, mochten dieselben Filme und hatten beide einen Bruder – bloß, dass Sarahs Bruder ein Jahr jünger war und in einer anderen Stadt studierte, während Robert mehr als zwei Jahre älter war als D.) Sarah war in Deens aufgewachsen, lebte mit ihren Eltern in einem Haus nahe der Universität und hatte eine Gruppe von Freunden, die sie zum Teil schon aus Kindergartenzeiten kannte. D sah sich die nächsten paar Bilder an. Da war ein gutes Foto von Carrey und Rick, wie sie auf dem Sofa in Jacks Elternhaus saßen und in die Kamera lächelten. D wusste noch, wie Sarah sie überredet

hatte, doch zu Jacks Party mitzukommen, damit sie endlich auch die anderen Freunde kennenlernen konnte. D klickte weiter durch die Partyfotos. Eine Aufnahme von Jack mit einer riesigen Schüssel Chips im Arm; Tony, Anja und Sun auf dem Wohnzimmerteppich sitzend und lachend; Sarah und Carrey beim Tratsch im Flur ... Nach Jacks Party hatte es nicht lange gedauert, bis Sarahs Freunde auch D’s Freunde geworden waren. Die Gruppe bestand damals aus Jack, Anja, Carrey, Tony, Sun, Rick und Sarah – und es war immer etwas los oder geplant: Wanderungen, Radfahrten, Partys, Filme,

Schwimmen am See, kleine Ausflüge mit dem Zug oder dem Auto. Sie hatten viel Spaß gehabt! Am Computer erstellte D einen neuen Ordner, den sie ‚Für Sarah‘ nannte und kopierte die drei besten Partyfotos hinein. Mit einer schnellen Mausbewegung öffnete sie dann die Miniaturbildübersicht eines neuen Ordners. Die Fotoserie begann mit Sarah, an einen Holzstapel gelehnte, eine Wasserflasche in der Hand, einen Rucksack am Boden vor sich. Als nächstes ein Bild mit Bäumen, einem Bach und einigen schneebedeckten Bergen in der Ferne; dann Jack, der

vorgab, mit einem Stock Schafe zu hüten; Rick und Carrey, lächelnd, von Schafen umringt; Carrey, noch immer inmitten der Schafe, aber nun mit verschränkten Armen und unbehaglichem Gesicht. D fiel plötzlich ein, dass es fast unmöglich gewesen war, die Schafe loszuwerden. Anfangs hatten sie es lustig gefunden, wie die blökenden Tiere hinter ihnen hergetrabt waren, doch als es am Weg hinunter zu regnen begann, die Wiese rutschig wurde und die Schafe im Galopp den Abhang heruntergekommen waren, war ihnen allen mulmig geworden und sie waren froh gewesen, als sie es über den nächsten Zaun in Sicherheit

geschafft hatten bevor jemand stolpern und von der Herde überrannt werden konnte. Der nächste Ordner, den D öffnete, begann mit einigen Schnappschüssen von einer anderen Wanderung, die sie mit Sarah und ihre Freunde unternommen hatte. Musste Ende Oktober gewesen sein. Da waren Jack und Rick auf einem matschigen Weg; eine Nahaufnahme von zwei Fröschen bei der Paarung; eine Foto von Rick und Sun, Arm in Arm mit typischem Foto-Lächeln; Carrey und sie selbst auf einer Bank beim Jausnen ... D markierte die besten drei Bilder und kopiert sie in den Sarah-Ordner. Dann kritzelte sie eine kurze Notiz auf ein

Stück Papier – zur Erinnerung welche Ordner sie schon durchgesehen hatte. Der nächste Ordner enthielt erwartungsgemäß Fotos aus der Vorweihnachtszeit: Jack, der Sarah mit Weihnachtsplätzchen fütterte; Sun und Anja mit Weihnachstmann-Mützen; Glühwein-Party in der Stockwerksküche – mit Richard, dem nervigsten Mitbewohner aller Zeiten, auf der gegenüberliegenden Seite des großen Küchentischs. Es folgten ein paar Weihnachtsfotos mit Robert und den Eltern: Mom beim Anprobieren des Wintermantels, den sie als Geschenk bekommen hatte; Dad wie er ein neues Werkzeug hochhielt und Robert mit

einem dicken, neuen Kochbuch im Arm... Die Aufnahmen mit den Weihnachtsmannmützen und die mit Jack, Sarah und den Keksen landeten in der „Für Sarah“ – Kollektion. D beschloss, den folgenden Ordner zu überspringen, da er vor allem Fotos von Weihnachten und Sylvester mit ihrer Familie enthalten würde und von Roberts 22. Geburtstag. Das war nichts, was Jack für seine Fotoshow brauchen konnte. Sie bewegte den Cursor ein wenig nach unten und öffnete einen Ordner, der im folgenden Frühjahr erstellt worden war. Und da war Venedig! Großartig! Genau das hatte sie gesucht! Da war eine grinsende Sarah vor einer Reihe von

Gondeln. D erinnerte sich gerne an diese Reise, die sie mit dem Italienischkurs Anfang März unternommen hatten. Sie klickte auf die nächsten Fotos: Sarah und jemand anderen von der Rialto Brücke winkend; sie selbst an eine mit Graffiti bemalten Hauswand gelehnt, ein Stück Pizza in der Hand; Sarah mit nassen Haaren vor einem riesigen Teller Pasta. Sie waren auf dem Weg zum Hotel in einem Regenguss gekommen und in diese etwas überteuert Trattoria geflüchtet. Das Foto war gut! Sehr verlockend aussehende Pasta. D war froh, dass sie gerade gefrühstückt hatte. Sonst hätte sie sich nun wohl Nudeln kochen müssen. Im nächsten Foto standen Sarah und sie

in der Warteschlange für den Aufzug auf den Campanile am Markusplatz. Dann ein Bild, das Sarah von ihr gemacht hatte, wo sie die Augen in Richtung gestressten japanischen Paares hinter sich verdrehte, das ihnen bereits zum dritten Mal an diesem Tag begegnet war. D klickte weiter. Da war ein Schnappschuss von Sarah vor der riesigen Glocke am Campanile. Nur Sekunden später hatte das Ding begonnen, zu schwingen… Sie hatten es gerade noch in den nächsten Aufzug nach unten geschafft, bevor die Glocke wirklich loslegen konnte. Am letzten Foto war sie selbst zu sehen – beim Versuch, einen äußerst

beharrlichen Straßenhändler abzuwimmeln. D kopierte fünf Bilder von der Venedig-Reise in den Ordner für Sarah und machte eine kurze Notiz auf ihrem Zettel. Dann versuchte sie, sich zu entscheiden, welchen der 23 Ordner sie als nächstes anklicken sollte. Sie entschied sich, einfach gleich den nächsten zu nehmen. Die Fotoshow begann mit einem lachenden Robert, der vor dem Haus ihrer Eltern neben seinem neuen Auto stand. Sie klickte weiter. Es gab ein paar Fotos von einigen Leuten in der Studentenheimküche, die nicht mehr ganz

nüchtern schienen. Dann Jack auf einer Veranda, ein Weinglas in der Hand. D biss sich auf die Lippe und zögerte. Das war im Garten von Sarahs Eltern gewesen. Auf dem folgenden Foto: Carrey im Gespräch mit Sarah; dann ein schön gedeckter Gartentisch mit einer Geburtstagstorte. Schließlich eine Nahaufnahme der Torte. Aufschrift: Happy 21st Birthday. D fühlte wie es ihr die Kehle zuschnürte. Diese Fotos waren von Sarahs 21. Geburtstag… Für einen Moment starrte sie einfach nur auf den Bildschirm. Eines war klar: Jetzt kam der schwierige

Teil! Sie atmete tief durch und widerstand der Versuchung, schnell zu einem anderen, harmloseren Ordner zu wechseln. Mit versteinerter Miene klickte sie zu den nächsten Fotos. Es waren Schnappschüsse von ein paar Geburtstagsgästen, die sie nicht kannte; ein gutes Foto von Sarahs Eltern; eines von Rick, Carrey und Sun mit hochgehaltenen Gläsern; dann Sarahs Reilley-Oma erschöpft auf einem Sessel sitzend…. Ein weiterer Klick und die Großmutter verschwand. Stattdessen füllte eine Aufnahme der gesamten Familie Reilley unterm Kirschbaum den Bildschirm. D

schluckte und merkte, dass ihre Hand auf der Maus leicht zitterte. Da waren sie: Eine lächelnde Sarah mit ihrer Mutter, ihrem Vater, der Oma – und Joe. D hatte Mühe, nicht einfach impulsiv auf das X in der rechten, oberen Bildschirmecke zu klicken und den Ordner zu schließen. Sie wusste es war dumm. Dieses Bild war nun schon fast sechs Jahre alt. Sie hatte doch nicht ernsthaft noch immer ein Problem damit?!? Oder etwa doch? Sie hielt ihren Blick für einen Moment auf die Familie gerichtet. Dann, während ihr Herz ihr bis zum Hals schlug, zwang sie sich, bewusst Sarahs Bruder anzuschauen. Bis zu dieser Geburtstagsparty hatte sie

Joe noch nie getroffen. Sie hatte natürlich von ihm gehört – von Sarah, seinen Eltern oder einem der Freunde. Er studierte irgendwo ein paar Stunden von Deens entfernt und weg von Deens entfernt und kam fast nie nach Hause. Diese erste Begegnung mit ihm bei Sarah Geburtstag war kein übermäßig beeindruckendes Erlebnis gewesen. Sie hatten ‚Hallo‘ gesagt und das war‘s gewesen. D ließ ihren Blick kurz in Richtung Fensters abgleiten und legte den Kopf von Seite zu Seite, um etwas lockerer zu werden. Dann sah sie wieder zurück auf den Bildschirm, wo die Reilleys immer noch

lächelten… Als sie sich vor 15 Minuten hier hingesetzt hatte, war sie nicht sicher gewesen, wie es sich anfühlen würde, diese Fotos wiederzusehen. Es war eine ungeheure Erleichterung, nun zu wissen, dass es okay war. Sie saß hier Auge in Auge mit seinem Foto und es ging ihr immer noch erstaunlich gut. Offensichtlich hatte sie den Punkt erreicht, wo das hier nichts war als ein paar alter Fotos! Fast beschwingt klickte D nun durch den Rest der Geburtstagsfotos. Es war ein Gefühl als hätte sie gerade eine Prüfung bestanden, vor der sie sich seit langem gefürchtet

hatte. Bevor sie aus dem Ordner zumachte, kopierte sie ein paar Bilder vom Geburtstagskind und Freunden (nicht aber vom Bruder!) in die Sarah-Sammlung und kritzelte ein paar Notizen auf ihren Zettel. Dann streckte sie sich, gähnte ausgiebig und sagte sich, dass sie jetzt eigentlich aufhören könnte. Sie hatte genug Bilder für Sarah beisammen, die ihren guten Willen mehr als bewiesen. Das war alles, was zählte. Es war nicht nötig, sich noch mehr Fotos anzusehen! Andererseits, warum eigentlich nicht? Jetzt, wo sie wusste, dass es ihr nichts

ausmachte… So öffnete sie den nächsten Ordner. Am ersten Foto waren Sarah und Anja neben ihren Fahrrädern zu sehen, blühende Bäume im Hintergrund; dann eine Aufnahme von ihr selbst und Sarah, wie sie auf einer Bank die Frühlingssonne genossen. Während dieser kleinen Radtour hatte Sarah erzählt, dass ihr Bruder Anfang April an die Uni in Deens wechseln und deshalb wieder zu Hause einziehen würde. Den Grund für den Uni-Wechsel hatte Sarah zwar nicht gekannt, aber sie hatte ihre Theorie geteilt – vom Uni-Professors, der sein behütetes Töchterlein in einer eindeutigen, nicht jugendfreien Situation mit Joe erwischt

hatte. Erst ein Jahr später hatte D erfahren, dass Sarahs Theorie absolut nichts mit der Realität zu tun hatte. Als sie geistesabwesend durch die nächsten Fotos klickte, huschten ein paar Bilder von ihr selbst und Robert in Stockholm vorbei. Sie hatten die Reise zusammen in den Osterferien unternommen, um Roberts damalige Freundin zu besuchen, die dort studiert hatte. Und offenbar hatten sie da viel fotografiert… Den vielen Aufnahmen aus der schwedischen Hauptstadt folgten Schnappschüsse von einer Studentenheim-Party: Einige Typen beim Rauchen in der Küche, darunter Richard, der mit glasigen Augen in die Kamera

grinste. Am nächsten Bild waren Carrey und Anja beim Streichen einer Wand in leuchtendem Orange zu sehen. D verlangsamte ihr Klick-Tempo. Sie hatte dieses Foto in der kleinen Wohnung gemacht, die Anja nach ihrem Auszug von zu Hause damals im Mai bezogen hatte. Sie hatten alle beim Umzug mitgehofen. Es folgten Aufnahmen von der ganzen Malertruppe: Jack und Rick beim Abkleben der Fenster; Sarah mit farbbespritzten Händen; Anja und sie selbst mit großen Farbrollern… Den Blick auf den Bildschirm gebannt, überlegte D für einen Moment. Joe musste zu diesem Zeitpunkt schon in

Deens gewesen sein. Dass er trotzdem nicht auf den Fotos war, lag zum Teil wahrscheinlich daran, dass er in den ersten paar Monaten mit dem Uni-Wechsel und den etwas abweichenden Anforderungen in Deens alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Außerdem, und das hatte Sarah immer wieder auf die Palme gebracht, hatte er anfangs wenig Interesse gezeigt, an Unternehmungen mit seiner Schwester und den Freunden, die ja immerhin auch seine Freunde gewesen waren, teilzunehmen. Er war höchstens ab und zu mit Jack ausgegangen, aber mehr nicht. Nach anfänglicher Freude, ihren Bruder endlich zurück zu haben, war Sarah

ziemlich verärgert und enttäuscht gewesen. D konnte sich noch gut an die regelmäßige, kleinen Schimpftiraden erinnern, wenn Joe wieder einmal eine Einladung zu einer Fahrradtour zum See oder einer Wanderung mit der ganzen Bande abgelehnt hatte, und stattdessen lieber mit seinem Motorrad sein Leben gefährdete und oder mit irgendeinem Püppchen (wie Sarah die Mädchen nannte, die er ihrer Meinung nach massenweise aufgabelte) seine Zeit verbrachte. D kratzte sich am Kopf und versuchte, die Erinnerungen, die diese Fotos aufwirbelten, nicht an sich heranzulassen. Sie kopierte ein paar

Bilder vom Ausmal-Projekt und fügte sie der Sammlung für Sarah hinzu. Dann ging sie in den nächsten Ordner über. Es begann mit einer Aufnahme von Jack vor dem Haus der Reilleys. Er stand vor seinem neuesten renovierten Auto, während Sarah mit skeptischem Blick am Fahrersitz saß. Am nächsten Bild standen Jack und Joe zwischen Jacks Auto und Joes Motorrad. D atmete ein paarmal tief durch. Es war nach und nach passiert. Dass sie sich in Sarahs Bruder verliebt hatte. Sie war in diesem Sommer oft bei den Reilleys gewesen. Manchmal nur um Sarah zu gemeinsamen Unternehmungen abzuholen, manchmal um etwas für die

Veranstaltung vorzubereiten, die für die italienischen Erdbebenopfern Spenden bringen sollte und für die sie und Sarah sich freiwillig gemeldet hatten. Mit all diesen Besuchen im Haus der Reilleys und den regelmäßigen Aufforderungen von Mrs. Reilley, doch zum Abendessen zu bleiben, war es unvermeidlich, ab und zu auch Joe zu begegnen. Oder ihm am Esstisch gegenüber zu sitzen. Die Unterhaltungen mit ihm gingen aber kaum über ‚Hallo‘ und ‚Tschüss‘ und das gelegentliche ‚Kannst Du mir bitte mal die Butter geben?‘ hinaus. Und dann, an einem Samstag Ende Juli, hatte sich das zu ändern begonnen. Sie

war mit dem Fahrrad zu Sarah gefahren, um zusammen mit ihr zum Fluss weiter zu radeln. Dort wollten sie Robert und seine Freundin zu einem Picknick treffen und eine Wasserski-Veranstaltung ansehen. Völlig unerwartet hatte Joe sich ihnen angeschlossen. Und weil sein Fahrrad vor kurzem gestohlen worden war, fuhren sie zu dritt in Mrs. Reilleys Auto zum Fluss. Beim Gedanken an diesen Tag wurde D jetzt heiß. Ihre Hand auf der Maus fing an feucht zu werden und sie wischte sie gedankenverloren über ihren Oberschenkel. Sarah, Joe und sie waren kaum am Fluss angekommen und hatten sich zu Robert

und Maria gesetzt, als ihr plötzlich furchtbar übel geworden war. Kotzübel. Mit lähmenden Kopfschmerzen. Vermutlich eine Magengrippe… Jedenfalls hatte Joe sie gleich zum Studentenheim zurück gefahren. An diesem Tag war irgendwas in Gang gekommen. Auch wenn sie wie benommen gewesen war, und vollbeschäftig damit, den Brechreiz zu unterdrücken; und auch wenn er eigentlich nichts getan hatte, als sie heimzubringen und ihr eine Tasse Kamillentee zu machen… D holte tief Luft und versuchte jegliche aufkommende Gedanken oder Gefühle zu verdrängen. Hastig klickte sie weiter

durch die Fotos: Sarah auf Joes Motorrad mit einem Blick, der deutlich Ihre Abscheu für das Ding zum Ausdruck brachte; Joe und sein Vater, beide lächelnd, die Spannung trotz der freundlichen Gesichter fast greifbar. D hatte eine Weile gebraucht, um zu erkennen, dass Joe mit diesem ganz spezielle Lächeln Ärger und ungelöste Probleme überspielte. Die nächsten paar Bilder zeigten Joe und Jack beim Stutzen eines Baumes im Garten der Reilleys. Wahrscheinlich Anfang August. Mr. und Mrs. Reilley waren auf Urlaub gewesen und hatten Joe die Verantwortung für den Garten übertragen. Sie hatten wohl

hauptsächlich den Rasen gemeint. Dass er Mitten im Sommer auf die Idee kommen würde, den Baum zu stutzen, hatten sie wohl kaum erwartet. Joe und Jack hatte mit Gartenscheren begonnen und schließlich zur Kettensäge gegriffen. Sie hatten ein echtes Massaker angerichtet. Und Mr. Reilley war vom Ergebnis absolut entsetzt gewesen. Ein verschmitztes Lächeln hatte sich auf D’s Gesicht ausgebreitet, ohne dass sie es gemerkt hatte. Jetzt, wo es ihr bewusst wurde, korrigierte sie das schnell und das Lächeln verschwand. Sie klickte weiter. Am Bildschirm erschien der Hausberg von Deens, Mount Hunt – mit frisch beschneitem Gipfel.

Ihre Hand auf der Maus wurde wieder ein wenig unruhig, aber sie machte weiter. Ende August. Ein paar Tage zuvor hatte es in den Bergen geschneit, aber dieser Samstagmorgen war klar und sonnig gewesen – der perfekte Tag für einen Ausflug mit der Seilbahn auf den Berg, um Sarahs Cousine aus Kalifornien, die gerade zu Besuch war, einmal echten Schnee zu zeigen. Die Aufnahmen vom Berg zeigten eine fabelhafte Aussicht: weiße Berggipfeln, die in der leuchteten in der Sonne, während im Tal noch der Nebel hing. Dann ein Bild von Rick und Sarah vor der Seilbahnstation, wie sie gerade ihre Handschuhe anzogen und Mützen aufsetzten. Schließlich Jack,

Rick und Joe beim Schneemannbauen. D schluckte. Es kostete sie enorme Überwindung, jetzt nicht schnell wegzusehen. Joe war auf diese ‚Bergexpedition‘ mitgekommen – das erste Mal, dass er sich an einer derartigen Gruppenaktivität beteiligt hatte. Auf dem nächsten Foto war der Schneemann vollendet, trug eine Strickmütze, Jacks Schal und einige von Carrey Cookies als Knöpfe. Das Bild danach zeigte Tony wie er so tat als wolle er den Schneemann mit dem Schal erdrosseln; Joe der versuchte, dem Schneemann mit einem abgebrochenen Skistock zu Hilfe zu kommen; dann Rick,

der mit dem Schneemann-Kopf unterm Arm davonspazierte; Anja, die diese Szenen mit gespieltem Entsetzen beobachtete… Am letzten Bild der Serie war die ganze Gruppe in zwei Reihen um den kopflosen Schneemann herum versammelt, Sarah vorne mit dem Kopf des Schneemanns im Arm, während Jack den Kopf von hinten tätschelte. D hielt einen Moment inne – ihr Herzschlag jetzt sehr schnell. Während dieser Aufnahme war Joe hinter ihr gestanden (wahrscheinlich reiner Zufall). Keineswegs auf Tuchfühlung, aber doch zu nahe um seine Nähe ignorieren zu können. Es war das erste Mal in der

Geschichte gewesen, dass sie sich gewünscht hatte, er würde nur ein klein wenig näherkommen. Hartnäckig den Anflug von Melancholie ignorierend, den dieses Bild ausgelöst hatte, markierte D das Foto und kopierte es in den Sarah-Ordner. Es war ein gutes Bild, also warum nicht? Sie klickte aus dem Ordner heraus und holte tief Luft. Lehnte sich im Stuhl zurück und streckte die Arme über den Kopf. Irgendwie hatte sie jetzt weiche Knie… Sie warf einen Blick auf die Liste der Ordner auf dem Bildschirm und überlegte, ob es nicht vielleicht doch Zeit war, aufzuhören. Was sie bisher

gesehen hatte, hatte sie weniger berührt als befürchtet. Aber sie musste es nicht unbedingt auf die Spitze treiben. Der Inhalt der nächsten Ordner enthielt mit Sicherheit eindeutige Beweise ihrer Beziehung mit Sarahs Bruder. Und das musste sie wirklich nicht unbedingt sehen. Oder doch? Während sie eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte, schweifte ihr Blick ab zur Tastatur. Was tun? Aufhören oder weitermachen? Sie sah wieder zum Bildschirm auf. Sie wusste nicht genau warum, aber ein verrückter Teil von ihr brannte geradezu darauf, weiterzumachen. Vielleicht nur,

um sich etwas zu beweisen – um sich selbst auf die Probe zu stellen. Sie war sich nicht ganz sicher. Aber irgendwie musste sie einfach mehr sehen. Jedoch auf keinen Fall alles ... Zögernd steuerte sie den Cursor zum nächsten Ordner. Sie öffnete ihn mit einem Doppelklick und stellte dann, sobald die Übersicht der Miniaturbilder auftauchte, auf Listenansicht um. Anstatt der 40 Mini-Bilder erschien eine Liste mit etwa 40 Dateinamen – ein P jeweils gefolgt von einer 7-stelligen Nummer. Jetzt konnte man absolut nicht mehr sagen, welches Bild sich hinter welcher Nummer verbarg. D kaute an der Innenseite ihrer Wange.

Und jetzt? Plötzlich kam ihr eine Idee: Sie würde das hier wie russisches Roulette spielen – blind irgendwelche Dateien anklicken und so genau vier Bilder nach Zufallsprinzip auswählen. So würde sie mit diesem Ordner und den folgenden beiden vorgehen und dann duschen gehen. Für einen Moment ließ sie den Cursor über die Liste gleiten. Dann, die Lippen fest aufeinandergepresst, öffnete sie per Doppelklick ein Foto. Es zeigte sie selbst neben ihrem Fahrrad, Ihr Blick etwas unsicher. War dieses Bild von ihrer Radfahrt mit Joe? (Als er sich Sarahs hellblaues Fahrrad ausgeliehen hatte?) Er hatte einfach ihre Kamera

geschnappt und abgedrückt. D gab sich keine Zeit, über das Fahrradfoto nachzudenken. Schnell machte sie es wieder zu und öffnete ein anderes: Joe auf ihrem Bett im Studentenheim, eine Kaffeetasse in der Hand. Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Das musste nach seinem Unfall gewesen sein. Ja, genau, denn rechts im Bild lehnten seine Krücken gegen den Schreibtisch. D klickte zur Liste zurück und atmete tief durch. Es ging ihr immer noch gut, oder? Ja, kein Problem! Sie brachte den Cursor auf einen anderen Dateinamen und klickte zweimal. Ihre Eltern neben dem Christbaum, viele

schöne Päckchen rundherum. D biss die Zähne zusammen und versuchte, jetzt nicht daran zu denken, wie sie damals über die Weihnachtsfeiertage nach Hause gefahren war. Sie hatte sich schon am Weg dorthin nicht gut gefühlt und war letztlich mit einer Grippe und Fieber am 26. im Bett gelandet – ohne jegliche Hoffnung, wie geplant vor dem Jahreswechsel wieder in Deens zu sein. Am 28. war überraschend dann Joe vor der Türe ihres Elternhauses gestanden – und bis Neujahr geblieben. Mit einem zittrigen Atemzug, schloss D den Ordner und öffnete den nächsten. Ihren Blick auf die Liste von Ziffern gerichtet, steuerte sie eines der letzten

Fotos an und öffnete es. Am Bildschirm erschien Jack, an einem Baum gelehnt mit einer Banane, Tony und Kim dahinter in inniger Umarmung. Wahrscheinlich der erste Mal, dass Tony seine Freundin mitgebracht hatte. D klickte zum nächsten Foto: Sie selbst auf einer Bank mit einem großen Sandwich. Hinter ihr Joe und Jack, Joe mit bösen Grinsen und ausgestreckten Hand, als wolle er nach ihrem Sandwich greifen. Am folgenden Bild war die völlig chaotisch Studentenheimküche zu sehen, nachdem die Putzfrau vier Tage lang nicht aufgetaucht war. D erinnerte sich, wie sie dieses Bild per E-Mail an den

Studentenheimbetreiber geschickt hatte. Nächstes Bild: Robert, Joe und sie selbst im Wohnzimmer ihrer Eltern. Joe hatte die Arme um sie geschlungen, und hielt sie fest, damit sie nicht entkommen konnte, während er sie kitzelte. Dad hatte das Bild gemacht… Bevor sie von Erinnerungen überwältigt werden konnte, schloss D schnell das Bild und den Ordner und saß dann für einen Moment nur da und starrte ins Leere. Wollte sie wirklich noch mehr sehen? Selbst nicht ganz sicher, was sie tat, änderte sie spontan ihre Regeln fürs Russische Roulette und öffnete statt des nächsten Ordners den

übernächsten. Erstes Bild: Holzhaus am See unter Bäumen, Joe’s Auto daneben… Sie hatten ein paar Tage gemeinsam im Ferienhäuschen seiner Tante verbracht. Mit einer angespannten Handbewegung, fuhr D sich mit den Fingern durchs Haar. Laut ihrer selbsterdachten Roulette-Regeln müsste sie nun per Zufallsprinzip ein neues Foto öffnen. Aber ihre Hand hatte bereits einfach zum nächsten Bild weitergeklickt. Und da war Joe. Mit freiem Oberköper, bis zur Hüfte im dunkelgrünen Wasser des Sees, die Haare tropfnass, im Hintergrund das Häuschen. D schluckte. Recht viel schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr werden.

Das einzige, was vielleicht noch mehr wehtun würde, wäre eine Foto vom offenen Kamin mit der Matratze davor, die sie vom Loft heruntergezerrt hatten. Zum Glück hatten sie das nie fotografiert… Sie warf dem jungen Mann am Bildschirm noch einen kurzen Blick zu und ließ ihn dann verschwinden, als sie einen kleinen Stich im Bauch verspürte. Okay. Tief Luft holen… Gesehen. Und überlebt! Weiter zu den letzten beiden Bildern. Mit unruhiger Hand klickte sie auf irgendeine Bild-Datei. Joe beim Grillen. Mit entwaffnendem Lächeln hielt er eine gefährlich aussehenden Gabel in

Richtung Kamera. D ließ etwas Luft durch zusammengebissene Zähne entweichen. Okay. Ein letztes Bild, und dann war’s wirklich genug! Sie klickte auf eines der letzten Fotos dieses Ordners. Aufgenommen in einem Chinesischen Restaurant waren auf dem Bild viele Schüsseln mit herrlichem chinesisches Essen zu sehen, und Sarah, die über den Tisch herüberlachte. Links von ihr hielt Rick grinsend seine Stäbchen hoch, und rechts kuschelte sich Liz gerade an Jack. Mit angewidertem Knurren machte D das Bild schnell zu, klickte aus dem Ordner heraus und schloss dann für einen Moment die Augen. Mit der Hand

massiert sie ihren Nacken. Wow! Das war jetzt doch etwas zu viel des Guten gewesen! Sie machte die Augen wieder auf und schnaubte mit vorgeschobener Unterlippe einen tiefen Atemzug heraus. Sie war immer noch okay! Ja, auf jeden Fall okay! Sie richtet sich im Sessel auf und öffnete die Sammlung von Bildern, die sie für Sarah zusammengestellt hatte. Es war eine vorzeigbare Menge. Sarah konnte wirklich nicht meckern! Mit ein paar schnellen Bewegungen nahm D einen CD-Rohling aus der Schublade und brannte den Sarah-Ordner auf die

CD.

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BillyWS

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