Romane & Erzählungen
Aus einem prekärem Tagebuch (4)

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"Aus einem prekärem Tagebuch (4)"
Veröffentlicht am 22. November 2008, 10 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich hasse diese Selbstdarstellungsdinger. Ich weiß immer nie, was ich in Blöcke wie diesen hier eintragen soll.
Aus einem prekärem Tagebuch (4)

Aus einem prekärem Tagebuch (4)

Auf ein Neues

Das Wetter ist heute nicht so beschissen wie gestern, sogar die liebe Sonne zwängt sich durch die vereinzelten Löcher in der grauen Wolkenmasse am Himmel und sendet ein paar wärmende Strahlen. Leider ändert das nichts daran, daß ich heute schon um 15:00 meinen nächsten Termin habe. Wenigstens muß ich nicht übertrieben früh aufstehen. Ich widme den Vormittag einem aktuellen Internetprojekt und arbeite konzentriert mehrere Stunden am Stück, unterstützt von etlichen Bechern starken Kaffees.

Schließlich denke ich mir „Was solls, da mußt Du durch“ und verlasse das Haus und bewege mich Richtung ARGE.

Das Gebäude ist wieder nahezu menschenleer, ich klopfe, Herr Stößchen läßt mich wieder knapp 2 Minuten warten und bittet mich dann herein. Was macht er in den2 Minuten? Läßt er seine Kreuzworträtsel oder irgendwelche Pornohefte verschwinden? Vermutlich gehört das einfach zum Ritual, das man erstmal warten muß. Wahrscheinlich lernen die das auf irgendeinem Lehrgang für ARGE-Arbeitsvermittler - „Kunde“ Erstmal 2-10 Minuten warten lassen.

Stößchen steht heute ein bißchen auf der Leitung, ich sage ihm noch mal wer ich bin und dann ist er voll da. Die quälende Prozedur vom Vortag geht weiter. Diesmal ist auch seine Kollegin da und der gestern noch leere Schreibtisch gegenüber ist nicht leer, sondern von einer bebrillten Frau mit einem nichtssagenden Gesicht und einer ebenso nichtssagenden, blonden Frisur besetzt. Das Radio dudelt leise vor sich hin, offenbar Nachrichten.

»..rechnen die Wirtschaftssachverständigen für das kommende Jahr mit einem massiven Einbruch der Konjunktur und einem Wachstum von maximal 1%..« kommt es aus dem Kasten.

Die Frau wirkt entsetzt:
»Das ist ja furchtbar. Hast Du das gehört? Da gehen die Zahlen ja wieder nach oben.
Stößchen: »Jaja, ganz schlimm.«

Ich wage eine kleine Bemerkung:
»Naja, zumindest werden Sie nicht arbeitslos und die Kunden gehen Ihnen auch nicht aus.«

Stößchens Kollegin guckt mich an, als wenn ich ihr vorgeschlagen hätte, nackt auf dem Tisch zu tanzen:
»Ja, aber.. aber wir müssen doch.. wir wollen doch alle vermitteln!« preßt sie hervor und widmet sich wieder ihrem Computermonitor.
Mir wird klar, daß ich es  mit Leuten zu tun habe, die in einer Parallelwelt leben, zu der ich keinen Zugang habe. Kommunikation ist unter solchen Umständen immer mit Risiken behaftet.
Heute funktioniert das Computersystem nach einigen Anläufen und so geht es erfreulich schnell, meinen Lebenslauf zu ergänzen. Stößchen weist auf seinen Monitor, er ist von seinem Werk begeistert:

»Sehen Sie sich das mal und gucken Sie mal, ob alles richtig ist, sieht doch toll aus, oder?«
Scheiße. Die haben jetzt tatsächlich eine vorgegebene Layoutvorlage für Bewerbungen, mein Lebenslauf wirkt erschreckend professionell gestaltet, natürlich nach amerikanischem Muster, also rückwärts, mit den letzten Jahren beginnend.

»Ja ganz, toll«, würge ich hervor und ahne bereits, was als nächstes kommt.
»So, dann mache ich Ihnen jetzt noch ein schönes Anschreiben fertig und das Deckblatt, und dann schicke ich Ihnen die Vorlage per Email, die nehmen Sie dann in Zukunft immer, wenn Sie sich bewerben.«

Er schreibt einen unheimlich duften Text, ich bin belastbar, teamfähig, selbstständig, kommunikativ und anpassungsfähig und zu allem bereit, verfüge über unglaubliche Kenntnisse im Telefonmarketing und alles, was ich vielleicht noch nicht weiß, kann ich in allerkürzester Zeit hinzulernen. Vor allem “macht es mir Freude, mit Kunden zu telefonieren“ und „in einem Team“ zu arbeiten.

Hier ist ein kleiner Einschub fällig: Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein. Eigentlich verabscheue ich Telefongespräche und das ganze verblödete Gequake von Teamarbeit und Teamfähigkeit ist der blanke Horror für mich. Mein Traumarbeitsplatz kommt mit keinen bis wenigen Kollegen aus, die Legebatterien im Callcenter erinnern mich immer an Massentierhaltung. Eine der zahlreichen Geißeln der modernen Arbeitswelt ist die Teameritis.

Überall wo mehr als eine Person auf einem Haufen hockt, entsteht automatisch ein Team, das dann mit Teambesprechungen – nein halt, „Team-Meetings!“, Team-Motivation und ähnlichem qequirlten Scheißdreck malträtiert wird. Schlimmstenfalls wird auch noch die ohnehin knappe Freizeit davon in Beschlag genommen, indem man per Gruppenzwang genötigt wird, mit den lieben Kollegen Kegeln, Joggen oder Essen zu gehen. Natürlich völlig freiwillig und immer auf eigene Kosten. Macht man dabei nicht mit, dann zeigt man damit mangelnde Teamfähigkeit und fehlendes Engagement.
Der wirkliche Zweck der Übung ist natürlich, ein Klima von Gruppenzwang und gegenseitiger Kontrolle zu schaffen.

Auch bei der ARGE hat man das offenbar eingeführt: Die blonde Frau quasselt am Telefon mit jemandem und ich höre mehrfach das Wort „Teamtreffen“.

Zurück zu Herrn Stößchen: Auch das Anschreiben hat ein ganz wundervolles, professionelles Layout und auch das dazugehörige Deckblatt ist wirklich gelungen. Wenn ich mich nicht kennen würde, würde ich mich glatt einstellen, wenn ich mich bei mir bewerben würde.

Herr Stößchen schickt mir den ganzen Kram per Email nach Hause – ich soll noch ein passendes Foto in das Deckblatt einfügen – und das wars schon wieder.

Stößchen strahlt wie ein frisch lackiertes Pferd:
»Kommen Sie mal Anfang nächster Woche wieder, Montag oder Dienstag, dann können wir gleich mal sehen, wo Sie sich überall bewerben können, Sie können aber gerne inzwischen selber schon gucken.«

»Wann jetzt, Montag oder Dienstag?«

»Hmmm, weiß ich jetzt gar nicht, rufen Sie mich nochmal an! Am besten morgen früh!«
Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich daran, ihn mit dem Gesicht durch die Tischplatte seines Schreibtischs zu drücken. Oder es zumindest zu versuchen.  Ich reiße mich zusammen, verscheuche den dunkelroten Nebel der Gewaltfantasie und sehe zu, daß ich den Ort des Schreckens verlasse.

Was ist hier nur geschehen? Früher konnte man sich darauf verlassen, daß Mitarbeiter des Arbeitsamtes ebenso langsam wie mißgelaunt und desinteressiert waren. Die Wahrscheinlichkeit tatsächlich einen Job vermittelt zu bekommen, tendierte gegen Null. Diese Leute hier hingegen legen einen geradezu psychopathischen Eifer an den Tag. Da muß hinter den Kulissen gewaltig was umorganisiert worden sein. Oder man hat der Organisation einfach nur viel  frisches Blut zugeführt.
Neue Besen kehren ja bekanntlich gut. Hatte doch mein Fallmanager mir schon gedroht:

»SIE werden sich noch umgucken! Wir kriegen jetzt 15 neue Arbeitsvermittler, wir finden schon was für Sie!«

Ich kann nur hoffen, daß er nicht Recht behält. Jedenfalls nicht so bald.
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gaethke
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MiauFrosch Ich lasse mal ein Lob da ;) - Sehr gut geschrieben,habe es gerne gelesen.
Weiter so!

Viele Grüße,
das Fröschlein!
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