Kurzgeschichte
Komm nach Hause, Mutter! - eine Geburtstagsgeschichte

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"... von Unruhegeistern und anderen Erfahrungen"
Veröffentlicht am 10. Mai 2015, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich bin alt wie ein Baum, wild wie der Wind und neugierig wie ein Kind. Ich schreibe und lese, solange ich mich zurückerinnern kann. Einst beruflich als Fernsehautorin. Nun solls als Hobby in die Belletristik gehen. Ich lebe wieder in Deutschland, in Stralsund. Ungarn ist Vergangenheit
... von Unruhegeistern und anderen Erfahrungen

Komm nach Hause, Mutter! - eine Geburtstagsgeschichte

Komm nach Hause, Mutter!


Die letzten Strahlen der Sonne wärmten ihre Gesichter, ließen den Wein in den Gläsern wie flüssige Rubine funkeln und ließen die kleine Runde, die sich oberhalb des Weinberges unter dem dreihundertjährigen Maronenbaum versammelt hatte, lange Schatten werfen. Freunde aus der Nachbarschaft und dem Ausland, Sohn und Enkel aus Berlin, die Schwester aus Paris, und sie alle hatten es sich bequem gemacht. Unterhalb des Weinberges, dessen Reben sich schwer über den dunklen Trauben bogen, ein kleines Häuschen. Davor hatten

die Gäste ihre Zelte aufgeschlagen. Das Lagerfeuer, von Ziegelsteinen umfasst, würde bald so weit zu Glut zusammengebrannt sein, dass man Maroni rösten und Fleisch grillen könnte. Alles für ihr Fest, den 65. Geburtstag. Ein Sprachgewirr aus Deutsch, Französisch, Englisch und Ungarisch mischte sich mit fröhlichem Lachen und dem Klingen der Gläser. Plötzlich Ruhe, ausgelöst durch eine Frage, die wohl mancher hier sich stellte, aber ihr Sohn sprach sie aus und sie wurde sofort kreuz und quer in die anderen Sprachen übersetzt. „Mutter, du bist nun seit 5 Jahren hier, hast deinen Weinberg bestellt und dich als Selbstversorgerin bewiesen. Aber in deinem Alter wirds doch mühsam, das Leben hier in

der Fremde, in der Wildnis, ohne jeden Komfort. Wann kommst du zurück nach Hause, nach Berlin?“

Sie entgegnete: „Und was soll ich dort wohl tun? Vom Balkon aus auf die Straße schauen? Hier genieße ich den Muskelkater nach dem Umgraben.“

Sie hielt ihr Glas gegen die Sonne und ließ den dunklen Kekfrankos aufleuchten, ehe sie einen kräftigen Schluck nahm. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem hochgesteckten Haar gelöst hatte. Ihr Blick streifte über Obstbäume, den Garten, das Feld, den Trinkwasserbrunnen. Fast ein Hektar. Und sie schaute auf die gegenüberliegende Hügelkette, auf der sich eine bunte deutschsprachige

Selbstversorgergemeinschaft mit kleinen Kindern in selbstgebauten Behausungen niedergelassen hatte, um hier ein neues Leben zu beginnen, wie sie.

„Ich bin hier zu Hause. Genau dieses Land, diese verrückte Sprache, diese Menschen hier die meine Nachbarn sind und all das, was ich mir in den vergangenen fünf Jahren geschaffen habe, aus eigener Kraft. Dieses kleine Dorf mit seinen einfachen Lehmhäusern, dieses sanfte Tal. Mehr Komfort brauchts nicht. Und überhaupt, was hat das mit meinem Alter zu tun? “

„Wie kannst du dir so sicher sein?“ wollte er nun wissen, „du bist in deinem Leben mehr als dreißigmal umgezogen, Leipzig, Berlin, Leuna, Frankfurt am Main, Berchtesgaden.

Und nun bist du in Ungarn gelandet, in diesem kleinen Dorf, das nicht mal eine Durchgangsstraße besitzt. Und dann noch auf einem Weinberg, in einem Haus ohne fließendes Wasser? Das nennst du Komfort?“

Sie überlegt, ja, die Ortswechsel waren immer verbunden mit beruflichen Veränderungen, besonders in den Jahren nach 1989. „Bist du auf der Flucht gewesen“,  wollte ihr ungarischer Weinbergnachbar wissen, ein Mann von knapp 90 Jahren, der hier im Dorf geboren war und wohl auch sein Leben hier beenden würde. Der die wechselhafte Geschichte Ungarns kannte. Wenn er das Gras mähte, die wilden Pflaumen oder die Haseln schnitt, sang er mit wunderschöner Stimme alte Lieder, aus

denen all seine Liebe zu diesem Land strömte, aber auch eine große Traurigkeit. Oft saß sie auf ihrer Bank und hörte ihm zu. Und obwohl sie kaum verstand, worum es in den Liedern ging, waren sie ihr nicht fremd. Sie verstand sie ganz tief im Inneren.

„Auf der Flucht? Eine gute Frage. Ich zog in den letzten zwanzig Jahren der Arbeit hinterher wenn der alte Arbeitsplatz in Gefahr war. Ja, und ich floh vor der Arbeitslosigkeit. Aber gleichzeitig genoss ich die Freiheit, immer etwas Neues zu lernen und zu machen, Arbeitsstellen, die ich mir nach dem Zusammenbruch und Verschwinden meiner ehemaligen Heimat, der DDR,  nicht vorstellen konnte. Herausforderungen, die mich bis an die äußersten Grenzen meiner

selbst brachten. Gestern noch Selbständigkeit mit der Konsequenz des Scheiterns, morgen mittlere Führungsebene in einem westdeutschen Unternehmen mit einem Burnout, übermorgen wieder Selbständigkeit. “  Ihr Sohn bohrte weiter: „Mutter, das war gestern. Aber was mit deiner Heimat, deinem Heimatland?“

„Meinst du Heimweh, Sven? Nein, hatte ich nie. Warum auch. Für den Ort, den ich mir jeweils gewählt hatte, schlug mein Herz. Und wenn es an der Zeit war, zog ich weiter. Es war immer spannend, was ich erlebte, schnell hatte ich Freunde gewonnen und die Arbeit ließ mir auch keine Zeit dafür. Und so flog mein Leben dahin. Du hattest doch auch dein Leben, oder? Und Mathias? Ja, nach 30

gemeinsamen Jahren war es Zeit, loszulassen. Wir hatten uns beide geändert. Nun sind wir gute Freunde, aber jeder lebt sein eigenes Leben.“

„Aber diese ungarische Sprache?“ fragte ein Anderer. „Sie ist eine Herausforderung.
Ja. Aber nach drei Kursen an der Volkshochschule hatte ich zumindest die Grundlagen. Die Sprache selbst lerne ich jetzt hier mit den Menschen.“

Ihre Freundin aus Berlin schaute skeptisch: „Naja, das klingt ja alles sehr romantisch. Aber das Alter. Und wenn man dann krank wird, in einem fremden Land. Du bist 65, meine Liebe.“ Marianne lächelte ihre Freundin an. „Angelika, schau dir Ferry an. Was heißt schon alt? Hier im eigenen Haus

mit Garten und Weinberg, Feld und Obstbäumen kann ich mir ein angenehmes Leben gestalten. Die Arbeit hält mich jung. Ich fühle mich wohl und reich. In Deutschland gälte ich mit meiner Rente als arm und würde schneller altern. Wie absurd.“

Ein Blick hinunter zum Feuer und ihr knurrender Magen holten sie wieder zurück aus ihren Gedanken. „Lasst uns ans Feuer gehen, Zeit zum Essen.“ Jeder der Gäste hatte zuletzt seinen Gedanken nachgehangen, nun nahmen sie Gläser und Flaschen und gingen durch die Reihen des Weinberges hinunter. Mangalizasteak, deutscher Kartoffelsalat, ungarisches eingesäuertes Gemüse, ausgebackene Pilze und Zucchini, Honigmelonen vom Feld.  Und

dazu herrlich duftendes frisches ungarisches Weißbrot. Alle langten mit Appetit zu. Und bald verwoben sich wieder die Sprachen, die Stimmen und das Lachen. Ihr  Sohn griff zur Gitarre und sang ihr ein Ständchen. Ihre Schwester stimmte ein französisches Chanson an und mancher sang mit.

Dann erhob sich Ferry, ihr Nachbar, stützte sich auf seinen Stock und bedankte sich für ihre Nachbarschaft.

„Durch dich ist der Weinberg wieder belebt und dein Garten ist ein Paradies geworden, Marianne.“ Sie wurde verlegen und umarmte ihn. Er war ein strenger Gärtner, sie wusste sein Lob zu schätzen. Sie dachte schon, er wolle sich verabschieden, musste er doch bis ins Dorf hinunter laufen. Doch er wolle nun

auch ein Lied singen, erklärte er.  Sie übersetzte das ungarische Gespräch den Gästen, dann schwiegen alle. Und in der Dunkelheit, nur angestrahlt vom Feuer, begann er zu singen. Anfangs noch nach dem Ton suchend, etwas zittrig. Doch dann  erklang eine große ungarische Melodie, seine wohltönende Stimme reihte Strophe an Strophe, es wechselten getragene und schnelle Passagen und bald hatten alle die musikalische Struktur erfasst und summten leise mit.  Als er endete war es ganz still. Auch sie war gerührt. Sie applaudierten ihm. Er verabschiedete sich. Alle dankten ihm mit ihrem Geleit ins Dorf, wo seine Frau auf der Bank vorm Haus saß. Die große Gesellschaft erstaunte sie nur kurz, dann stand sie mit

einem Tablett voller Gläser und einer Flasche selbst gebrannten Aprikosenpalinkas vor den Gästen. Auf das Wohl aller mit jedem anstoßend störten ihre vielsprachigen Zuprostungen kurz die dörfliche Nachtruhe. Der  Nachtwächter des Dorfes war sofort zur Stelle, lächelte verstehend und legte den Finger an den Mund. „PSSST!“ Auf dem Weg nach oben nahm sie das Gespräch über Heimat und Fremde, die Jugend und das Altern  wieder auf. War es ihr doch wichtig, verstanden zu werden. „So ist das hier im Dorf, kann man sich da nicht wohl fühlen? Es spielt keine Rolle, ob ich hier geboren wurde und auch nicht, wie perfekt ich die Sprache beherrsche. Ich denke, je neugieriger und offener jemand auf  Neues zugeht, naiv und

neugierig wie ein Kind, desto weniger Fremdheit kommt auf. All das hält doch jung, oder?“

Am wärmenden Lagerfeuer leerten sie noch manche Flasche Rotwein und alle stießen mit ihr  an auf ihr Zuhause, auf die Jugend und das Altern. Und sie hatte den Eindruck, dass den anderen ihr Lebensgefühl nun weniger fremd war.

Komm nach Hause, Mutter!

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Tintenklecks
Ich bin alt wie ein Baum, wild wie der Wind und neugierig wie ein Kind.
Ich schreibe und lese, solange ich mich zurückerinnern kann.
Einst beruflich als Fernsehautorin. Nun solls als Hobby in die Belletristik gehen.

Ich lebe wieder in Deutschland, in Stralsund. Ungarn ist Vergangenheit

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tooshytowrite Erfüllt alle Kriterien. Ich wünschte, ich hätte das geschrieben...
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks hmm? Kriterien? Danke für Deinen Kommentar und das Lob.
lg der Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
tooshytowrite ooops, meine Kriterien die ich an Texte stelle. Relevanz, Stil, Länge usw.
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks Danke, auch für die Antwort
Vor langer Zeit - Antworten
Hiob2punkt0 Es kommt immer auf die Sichtweise an und die Mutter scheint mir eine fortschrittliche zu haben. Danke das du uns so nah dran gelassen hast.
Liebe Grüße
Markus
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks bitte, gerne Markus.. Sichtweisen kann man ja eben verändern durch den Abstand. :-) lieben Gruß, der Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
Manon129 Das hast du super gut geschrieben. Mir gefällt es....regt mich auch ein wenig zum Nachdenken an. Danke.

LG Manon
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks Danke für den Kommentar. Ja die Themen Heimat und Fremde sind nicht Ohne. Und auch das Thema Freiheit oder als "Alte" bvormundet werden hat Zündstoff. .. Da lässt sich fein drüber schreiben.
freut mich, wenn es Dir gefällt. Lieben Gruß sendet der Tintenklecks und dankt gleich hier für die Talerchen :-)
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Eine liebevoll erzählte und wie mir scheint sehr persönliche Geschichte. auch für mich ist Heimat dort, wo ich gerade lebe. Dieses herzliche, unvoreingenommene kann man hier in Hessen kaum noch erleben. Liebe Grüße, danke Herbsttag
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks ja, es stecken viel persönliche Erfahrungen in meinen Geschichten. Nur insehr kleinen abgelegenen Dörfern findet man noch das Gemeinsame.. habe ich vielfach erlebt..
lg an Dich vom Klecks
Vor langer Zeit - Antworten
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