Romane & Erzählungen
Der Vater

Glück verloren

Als seine Frau starb, wusste Jonathan genau, dass er nie wieder glücklich werden kann. Das Erste, was ihn so zu glauben gebracht hatte, waren ihre Kinder. Marine war sieben und Dionne schon siebzehn. Zwei Mädchen. Mutterlos. Als Vater konnte er sie nie und nimmer allein erziehen. So dachte er zumindest.

Das Zweite, was ihm sein Glück wegnehmen sollte, war seine Geliebte, Monica. Er liebte sie nicht mehr. Wie sollte er sich eigentlich aus der Patsche ziehen¬? Der Schreck fuhr ihm in die Glieder.

Als Agnes begraben wurde, fuhr er nach Hause, packte seinen Koffer und war weg. Als Dionne eines Morgens die Augen voll Tränen die Treppe hinuntergestiegen war und sich nach dem Vater erkundigte, antwortete ihre Tante knapp und trocken: “Durchgebrannt„. Was? *** Der Zug fährt um drei Uhr. Die Schwestern wollten noch mal durch das Dorf spazieren gehen. Dann hat es angefangen zu regnen. Auf dem Heimweg haben sie die Schuhe ausgezogen, waren mit nackten Füßen auf dem warmen nassen Asphalt

gegangen. Dann befanden sie sich in einem Zug, der nach Süden fuhr. Weit, unbegreiflich weit. Nach Süden… . “ Was halten sie davon?”, fragte ein dicker Mann und legte seine Ledertasche auf das Tischchen. Sie nickten. “Das Wetter wird sich halten, glaube ich.” Murmelte er. Sie nickten. So still waren die beide nur in 1967 nach Dionnes Mandeloperation in Paris, als sie im Zug mit der Mutter nach Hause fuhren. *** Es war im Juli 1976, als Marine nach dem Papa fragte. “Schaff mir was zu essen„ sagte sie. In der Küche fanden sie Mandarinen. Marine war krank. Sie lag im Bett und hatte Fieber. Dionne

brachte Mahlzucker und Tee. Die Tante war auch krank, aber nicht so wie Marine, zeitweilig, sondern dauernd und fortwährend. Sie hatte Diabetes. Die Schwestern haben viel darüber gelesen. Diabetes mellitus, umgangssprachlich auch Zuckerkrankheit genannt, ist eine chronische Stoffwechselerkrankung. Die beiden wichtigsten Formen sind der Typ-1- und der Typ-2-Diabetes. Typ-1-Diabetes beginnt meist schon im Kindes- oder Jugendalter. Hierbei tritt ein absoluter Mangel an dem körpereigenen Hormon Insulin auf. Ungesunde Ernährung, Übergewicht und mangelnde Bewegung erhöhen das Risiko

für Typ-2-Diabetes. Aber mit der Tante haben sie niemals darüber geredet. Es war schwer mit ihr überhaupt zu kommunizieren. “Parler par énigmes!„ -sagte einmal Marine und lachte. Sie wohnten in Saint-Jean-de-Luz, immer Touristen, immer Lärm und Hin- und Herlaufen. Das war der Stand der Dinge, als im Juli 1976 Marine nach dem Papa fragte. *** Marine hat meine Fotos gefunden. Sie hat geweint und geschrien. Das dürfte nicht passieren. Meine Schuld. Ich

haspelte etwas über “nicht traurig sein„ und wollte meine Bilder zurück. Es flatterte in meinem Kopf. Ich hätte mein Wutausbruch maskieren können. Unser Leben war falsch, verpfuschte Kindheit. Und ich dachte: “Du bist im richtigen Alter, Marine, um alles zu wissen. Die Lüge, der Verrat, die Nutzlosigkeit! Für all das bist du im richtigen Alter! *** Nun schweigen sie. Marine ist eingeschlafen. Die Dionneaugen glänzen, als sie zum Fenster hinaus schaute. Sie ist ruhig. Es donnert. Ein Blitz fuhr aus den Wolken. Durch das offene Fenster spürt sie die frische, feuchte Luft. Schwarze, krallige Zweige

klopfen leise gegen die Wand des alten Hauses. Die Tante kommt. *** Ihr verwickeltes Haar, das im Luftzug der Türspalte leise zitterte, lag unordentlich auf ihren Schultern. Sie sah beunruhigt aus. Sie warf den Wintermantel ab und stürzte ins Zimmer. Ohne allen Anlass griff sie nach Dionnes Hand und zerrte sie in die Küche. Dann begann sie bitterlich zu schluchzen. *** Am Morgen ist sie wieder in dem klaren Bewusstsein aufgewacht. Sie hat viel gekocht und viel gegessen. Sie

wollte aber nicht, dass ich mithelfe. Marine war in der Schule und ich wollte unbedingt mit meiner Tante reden. “Ich sterbe„ - hatte sie gestern gesagt und einige Papiere gezeigt. Ein Testament hat sie gemacht. Ich wusste nicht, was Angst bedeutet. Jetzt weiß ich es genau. Ich kann nicht fragen, ich bin nicht imstande dafür, auch Marine nicht. Wir müssen warten…. Am 18. November 1978 ist sie gestorben. Während sie alle schliefen, muss der Tod gekommen sein. Die Tante hat ihn wahrscheinlich nicht bemerkt, denn als Marine um acht Uhr an ihre Tür klopfte und keine Antwort bekam, öffnete sie ein paar Sekunden später und

da lag sie, ruhig unter die Decke.

Weiteres

*** “Niemals habe ich geglaubt, imstande zu sein in ein Waschbecken hereinzupissen! Aber ich musste! Das war ein Notfall! „ Sie lachten. Julia erzählt weiter. Sie ist eine Freundin von Dionne. Marine mag sie nicht. Jo kommt. Er ist ein Au-pair aus Brasilien. Marine ist in ihn verliebt. Niemand achtet auf sie, sie mault, geht in ihr Zimmer und telefoniert. *** Ein Brief kommt. Jonathan Fabre, Hotel Avion Prague.

Sie weinen, wagen aber nicht ihn zu öffnen. Sehr geehrte Frau Baccouche, Ich habe versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, habe aber keine Antwort erhalten. Ich bitte Sie um Verständnis. Ich vermisse meine Töchter! Ich bitte Sie, erlauben Sie mir, meine Töchter zu holen. Jonathan F. 1980 Da stiegen ihnen wieder die Tränen in die Augen. Die Adresse, die Adresse! Schreiben und Tränen… ***

Am Morgen kommt Kamil. Er hat Brötchen mitgebracht. Er ist ein Konditor. Wohin gehst du heute Abend, Dionne? Sie lacht. Kamil ist vierundvierzig. Etwas später klingelte es und ein Mann stand mit einer Tasche vor unserer Tür. Der Briefträger. Dionne schrie auf und stammelte. Gelähmt stand sie an der Schwelle, ergriff mit der rechten Hand den Knauf, schaukelte ein bisschen und fragte: “ Einschreibebrief? „ Ja, unterschreiben Sie bitte hier. „ Marine trat an der Tür heran, zitterte leise vor Überraschung. Später standen sie da und versuchten zu verstehen, was innerhalb von wenigen Minuten alles passiert war.

Sollte es eine Antwort sein? Den Brief haben sie nur am Samstag geschickt. *** Jonathan war gerade aufgestanden, er zog rasch seine Hosen an und fand die Socken. Ungewaschen, unrasiert, schäbig und nervös trank er seinen Morgenkaffee. Man konnte ihn nur für verrückt halten, denn was einen Mensch nicht verrückt macht, ist sein tägliches, stabiles und unveränderliches Benehmen. Jonathan aber benahm sich äußerst sonderbar. Er war schmutzig, er trug seinen abgetragenen Pullover, sein geschnittenes Brötchen sah wie ein Massaker auf dem Tisch aus. Sein Mundgeruch war bei weitem auch nicht

so frisch. Heute war für ihn alles anders. Die Wallung seiner Gedanken bedrückte ihn. Er saß, bohrte seine abgekaute Brötchen, bröselte die Kekse und grübelte. Seine persönliche Integrität war verwirrt. “Lieber Herr Jonathan, ich habe Ihnen das Folgende zu sagen! „ Er zuckte. In die Türöffnung stand Monsieur Finkel. Seine Augen funkelten listig. Sofort fühlte er sich ertappt. Monsieur Finkel lachte laut und fragte:“ Wissen Sie, Monsieur Fabre, was jemandem passieren kann, wenn man ihn bei einer Lüge ertappt? „ Seine Stimme klang naiv und etwas gleichgültig. Jonathan

räusperte sich.“ Was …was meinen Sie? „ Der Mann öffnete den Mund, sprach aber kein Wort, sondern begann ihn aufmerksam zu betrachten, als ob er etwas analysierte. Seine dicken Pausbacken bebten und Jonathan merkte, dass es aussah, als ob er ein Lachen zu halten versuchte. Sein verzerrtes Gesicht musterte ihn mit abscheulicher Neugier. Er begann zu schwitzen. Der Mann überblickte den Tresor, wohin Jonathan seine wertvollen Unterlagen aufbewahrte. Sein etwas trüber und unklarer Gesichtsausdruck wanderte durch seine ganze Wohnung. Monsieur Finkel war der

Bankleiter und Aktionär. Sein beruflicher hin und her laufender Blick erschöpfte Jonathan. Und es reizte ihn, denn beinahe wusste er, warum diese Egelschnecke gekommen war. Etwas juckte und kratzte in ihm so, dass er von einem Bein auf den anderen treten musste. Finkel bemerkte es und sagte: ‘Also, Monsieur, ich bin beauftragt, ihnen das Folgende zu berichten“. Und er redete, und redete, und redete…. Es war deutlich zu merken, dass der Mann wahrscheinlich froh war, solcher Art Rede zu führen, denn seine Mundwinkel verzerrten sich. Als er fertig war, musterte er Jonathans wehmütige Gestalt, seine Nüstern verengten sich und

er nahm Abschied.

Der Verlust

Es gibt bestimme Schwierigkeiten, wenn man nach langer Arbeit keine Früchte erntet. Zum Beispiel, wenn man ein Gefühl hat, aller Vergeblichkeit und aller Sinnlosigkeit des Lebens in sich zu tragen. Ein oberstes Gebot der Unternehmer ist, nie und keinesfalls seine Angelegenheiten ohne berechenbare Ergebnisse durchzudrehen. Und falls alles einmal zerbricht, so muss der Unternehmer alle Kräfte haben, um durch den Ruinen seiner Bemühungen und Gemütsbewegungen mit erhobenem Kopf zu schreiten. So war es nun mit Jonathan. Wie eine

Made, wie ein zahnloses Raubtier sah er jetzt aus. Der Hausknecht erschien ihm jetzt erfolgreicher. Er erlitt keine Verluste, der war immer sicher, dass es Arbeit für ihn gab. Für ihn war alles stabil und unveränderlich. Seine verstaubte alte Cordhose, seine zerknitterte Kappe, seine altväterische Brille, alles, alles war würdig und ruhig.

Und nun ist Jonathan selbst ein Sündenbock geworden und konnte seine triumphierenden Blicke nicht mehr werfen. Er schämte sich so sehr! Seine eigene Existenz war vergeblich. Alles war segmentiert. Er konnte seinem Leben

und der Welt nicht mehr gegenüberstellen. Er hatte nichts mehr. Und die Welt hat ihn nicht mehr. Die Welt wollte Ihn nicht mehr. Die Welt brauchte ihn nicht mehr. Alles war abgemacht. Das Herz schlug ihm bis zum Halse herauf. “Verlotterter Mensch! „ murmelte er leise. Dann kam er nach Hause, packte seinen Koffer und war weg.