Romane & Erzählungen
Aus einem prekärem Tagebuch (2) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008

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"Aus einem prekärem Tagebuch (2) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008"
Veröffentlicht am 16. November 2008, 12 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich hasse diese Selbstdarstellungsdinger. Ich weiß immer nie, was ich in Blöcke wie diesen hier eintragen soll.
Aus einem prekärem Tagebuch (2) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008

Aus einem prekärem Tagebuch (2) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008

Das Gespräch

Es ist exakt 08:23 – Ich habe mein Ziel erreicht und betrete den dreigeschossigen, klobigen Verwaltungsbau der ARGE, den Sie gerade neu bezogen haben. Die ARGE hat gerade erst geöffnet, vor dem Eingang drücken sich noch einige Leute herum, von denen ich nicht klar sagen kann, ob es „Kunden“ oder Angestellte sind.

 

ARGE – eine gelungene Abkürzung, ungeheuer vielsagend. Hört sich nach arg, Arglist, Argwohn und ähnlichem an. Auch karg und Sarg kann man damit assoziieren. Es ist eine abweisende Abkürzung, ein Wort mit einem häßlichen, harten Klang.

 

Offenbar finden gerade massive Umbaumaßnahmen statt, im Eingangsbereich stapeln sich große, schmuddelige Haufen aus Dämmstoffen und Rigipsplatten. Ich wundere mich etwas, denn das rote, verklinkerte Gebäude ist erst vor wenigen Jahren als neues Domizil des Ruhrstädter Arbeitsamtes errichtet worden. Und schon sind Sie wieder am Bauen.

 

Ich ziehe den zerknitterten, auf einem schmuddelig grauen Papier gedruckten „Einladungsbrief“ aus der Jackentasche. Man will sich mit mir über meine berufliche Situation unterhalten, wie es mir von meinem Fallmanager Herrn Kroll schon angedroht worden ist. Ich soll einen Lebenslauf, Zeugnisse und Bewerbungen mit bringen.

 

Tatsächlich dabei habe ich einen kurzen Lebenslauf in geraffter Form und ein wenig vorteilhaftes Arbeitszeugnis eines früheren Arbeitgebers dabei. Ich soll um 8.30 bei einem Herrn Stößchen in Zimmer 3.17 erscheinen – 3. Stock, Zimmer 17. Soll ich mich mühsam das Treppenhaus emporschleppen, mir dabei gesunde Bewegung verschaffen und überflüssige Kalorien verbrennen oder nehme ich den Aufzug?

 

Nach kurzem Überlegen schreite ich zu der rostfreien glänzenden, aber etwas schmierig wirkenden Edelstahltür des Aufzugs und drücke den Knopf. Nach einiger Zeit öffnet sich die Tür und ich trete ein.

 

Ich habe in Aufzügen immer ein beklommenes Gefühl. Ich weiß natürlich, daß es praktisch unmöglich ist, mit einem modernen Aufzug abzustürzen, zumal das Risiko in einem Gebäude mit nur drei Stockwerken noch überschaubar erscheint. Dennoch überkommt mich jedesmal ein leichtes, aber noch deutlich spürbares Unbehagen.

 

Der Aufzug stoppt und es passiert ein paar Sekunden lang nichts. Dann öffnet sich die Tür, erst nur einen schmalen Spalt, als würde sie erstmal nur blinzeln, dann scheint sie noch mal alle Kräfte zu sammeln und schließlich öffnet sich die Kabine mit einem etwas ungesund wirkenden, mahlend-knarzenden Geräusch. Auf dem Rückweg werde ich das Treppenhaus nehmen.

 

In der Lobby der 3. Etage stehen öffentlich zugängliche PCs, auf denen man kostenlos im Internet surfen kann. In erster Linie sind sie gedacht für Stellensuchende, die dort im Internet die Angebote des Arbeitsamtes durchforsten sollen. Niemand ist da. Die Leere in dem Gebäude wird mir unheimlich. Ist es am Ende doch wahr und Frau Merkel hat das Jobwunder vollbracht? Hat die Kanzlerin die Arbeitslosigkeit tatsächlich bezwungen? Oder zumindest die Arbeitslosen?

 

Mir kommt ein irrer Gedanke: Bin ich womöglich DER LETZTE „Arbeitslose“ in Ruhrstadt – Ist dieser ganze Behördenapparat am Ende nur noch da, um mich als allerletzten Fall zu bearbeiten?

Ich biege in einen der Flure ab und mustere die Türschilder, die allesamt mit provisorischen Namenszetteln überklebt worden sind. Ganz am Ende des Gangs werde ich auf der linken Seite fündig: Zimmer 17, Herr Stößchen. Ich atme noch einmal tief durch, klopfe kurz an und öffne die Tür.

 

Ich betrete ein Doppelbüro, am linken der beiden Schreibtische sitzt ein Mitte bis Ende Dreißig jähriger Mann in legerer Kleidung (Sweatshirt, Jeans, irgendwelche turnschuhartigen Freizeitschuhe. Offensichtlich Herr Stößchen.

 

»Ja Bitte?« »Marcel Achenwall, Sie hatten mich für heute eingeladen!«

»Oh, ist es schon 8.30h? Ähm, Warten Sie bitte einen kleinen Moment, ich ruf Sie dann gleich..«

 

Naja, zumindest macht der Typ keinen wirklich arschlochartigen Eindruck, wirkt eher ein bißchen verpeilt. Ganz im Gegensatz zu Herrn Kroll, meinem Fallmanager, mit dem mich eine herzliche gegenseitige Abneigung verbindet.

Ich gehe wieder in die Lobby und setze mich vor einen der öffentlichen PCs und spiele ein wenig an der Tastatur rum, mittlerweile tauchen weitere Leute auf.

 

Und schon ist Stößchen wieder da und dirigiert mich in sein Büro. Stößchen ist bereits ein wenig angegraut, wirkt erschreckend motiviert und recht gut gelaunt, wahrscheinlich ist er kein Morgenmuffel. Vermutlich schnellt er jeden morgen energiegeladen aus dem Bett, bereit neue „Fälle“ in prekäre Jobs in Zeitarbeitsbuden und Callcenterklitschen zu vermitteln.

An irgendjemanden erinnert er mich, aber an wen nur?

 

»Ja, prima, dann wollen wir mal sehen, was ich für Sie tun kann. Ich bin ja Arbeitsvermittler hier, wir sind hier jetzt ja gerade neu eingezogen und das ist hier alles noch ein bißchen chaotisch. Unterlagen ham' Sie mit, prima, dann könn' wa ja gleich anfangen...«

 

Ich reiche ihm meinen Lebenslauf sowie das Zeugnis meines letzten Arbeitgebers.

Ich will ihm irgendwie begreiflich machen, daß ich derzeit als Selbstständiger eigentlich genug zu tun habe und in dem Sinne nicht wirklich Arbeit brauche. Zwecklos, man belehrt mich darüber, daß ich trotzdem in jedem Fall verpflichtet wäre, meine Bedürftigkeit zu verringern und mir halt noch einen Nebenjob suchen solle. Am besten als Callcenteragent, weil ich das zuletzt gemacht habe.

Na toll, genau das will ich ums Verrecken nicht.

 

Ich habe schon über 4 Jahre in Bimmelbuden verbracht und Rentnern in Ostdeutschland neue Flatrate-DSL-Anschlüsse am Telefon angedreht, zuletzt für die PANDORA AG in Gelsenkirchen. 4 Jahre als Telefonsklave sind genug. Dabei habe ich nur deshalb Hartz 4 beantragt, um wieder zu einer bezahlbaren Krankenversicherung zu kommen...

 

»Jaaa, selbstständig, das ist gar nicht so einfach, ich war ja auch mal in der IT-Branche selbstständig, bevor ich hier bei der Arge reingerutscht bin und Arbeitsvermittler geworden bin, da müssen Sie sehen, daß Sie Ihr Geschäft ankurbeln, aber natürlich müssen wir alles unternehmen, damit Sie möglichst bald nicht mehr Kunde bei uns sind«.

 

Kurios. Ich soll Kunden finden, die ARGE hingegen will ihre Kunden unbedingt loswerden. Eine widerlichere Perversion des Begriffs „Kunde“ ist mir noch nicht untergekommen. Man ist bei der ARGE nicht Kunde, sondern ein „Fall“, ein zu bearbeitendes Rohmaterial, das Futter, das die Maschine am Laufen hält und dem bürokratischen Apparat erst seinen Sinn verleiht.

Tja. Und dann geschieht es. Wir verbringen dann tatsächlich eine geschlagene, satte Stunde damit, meinen Lebenslauf zu entwirren und in einen Musterlebenslauf der ARGE einzutragen. Nebenbei versucht der Arbeitsvermittler immer wieder auf meine Akte in der Datenbank zuzugreifen, aber natürlich ist das System abgestürzt und blieb abgestürzt. Meine Daten bleiben irgendwo im EDV-Nirwana verschollen. Vorerst.

 

Tja, und nach einer Stunde hat Herr Stößchen dann seinen nächsten „Kundentermin“, ich war entlassen- und soll übermorgen um drei Uhr Nachmittags wiederkommen. Mir schwant Übles. Wenn das in dem Tempo weitergeht, würde das noch einige Dutzend Termine brauchen, bis eine fertige Bewerbung dabei rauskommt. Ich sehe mich in Gedanken schon viel Zeit bei Herrn Stößchen verbringen. Und das alles nur für 217,50 aufstockendes ALG2.

 

Wahnsinn. Als wenn die keine dringenderen Fälle zu vermitteln haben als mich.

Die Lobby im 3 Stock ist jetzt belebt. Obwohl, belebt ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort: Ein geschätzt 60-jähriger Mann mit gelblich-grauen, strähnigen Haaren sitzt in einem Trainingsanzug in stark gekrümmter Haltung mit seltsam verdrehten Beinen vor einem der Computerterminals und sichtet offenbar die Stellenbörse der Arbeitsagentur. Mir läuft bei dem trostlosen Anblick ein kalter Schauer über den Rücken und ich eile das Treppenhaus hinunter. Bloß raus hier.

 

Plötzlich fällt mir wieder ein, an wen mich Stößchen erinnert: An den koksenden Ex-Nachbarn von mir, der auf dem zweiten Bildungsweg irgendwas im sozialen Bereich mit Jugendlichen geworden war.

 

Draußen ist aus dem leichten Sprühregen inzwischen richtiger Regen geworden.

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gaethke
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Gast echt, echter, und trotzdem lustig - Spitzenmäßig! (Arbeite genau da als genau das und) hab mich halb totgelacht, besser abstruse Realitäten beschreiben get gar nicht. Mehr davon!
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Hagenbaeumer Das wird - ja immer besser !
Macht Lust auf noch mehr !
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