Biografien & Erinnerungen
... du mußt schweigen - Die Tochter des Flüchtlings

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"... es begann im Sommer 1961"
Veröffentlicht am 29. März 2015, 46 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Ich bin alt wie ein Baum, wild wie der Wind und neugierig wie ein Kind. Ich schreibe und lese, solange ich mich zurückerinnern kann. Einst beruflich als Fernsehautorin. Nun solls als Hobby in die Belletristik gehen. Ich lebe wieder in Deutschland, in Stralsund. Ungarn ist Vergangenheit
... es begann im Sommer 1961

... du mußt schweigen - Die Tochter des Flüchtlings

Sommererinnerung

Es war ein wunderschöner Sommer und sie verlebte drei unbeschwerte Wochen in einem Kinderferienlager in der Nähe der Leuchtenburg in Thüringen. Bilder von riesigen Weinbergschnecken, die beim Erklimmen des Burgberges aufgesammelt und in der Hosentasche verstaut wurden, lassen sie heute herzlich lachen. Waren doch die Schnecken in ihrem Freiheitsdrang bald wieder aus der Hosentasche heraus geschleimt und hatten ihr ein klebriges Taschentuch hinterlassen.


Ja, die Freiheit. Die Zehnjährige fühlte sich unendlich frei in diesen Ferien.

Keine traurige, sie stets ermahnende Mutter, kein sorgenvolles Flüstern der Eltern, das verstummte, sobald sie das Zimmer betrat. Nein, Heimweh plagte sie nicht.

Sie blühte auf und lachte.

Genoss die Sonne und die Nachtwanderungen, das Singen am Lagerfeuer. Und dann war da Lutz, mit dem zusammen sie in der Theatergruppe spielte. Sie als Rapunzel, er als ihr Prinz. Seine märzblauen Augen sieht sie heute noch vor sich. Und seine roten Ohren, als er ihr abends beim Lagerfeuer eine grüne Zuckergummischlange und einen Strauß Erika schenkte. Ganz nahe hatten sie beieinandergesessen, an diesem Abend. Ihre erste Kinderliebe. Sie strahlte vor Glück.

Welch herrliches Leben!
Und noch eine Woche voller Abenteuer lag vor ihr. Mit Lutz.

Es war der August des Jahres 1961.

Eines Morgens nach dem Frühstück knackte und rauschte mal wieder die Beschallungsanlage des Ferienlagers. Alle schauten gespannt zu den Lautsprechern. Sie waren neugierig, ob jemand zum Lagerleiter gerufen wurde oder ob man nur das Nachmittagsprogramm angesagte.

Und dann konnten es alle genau hören: "Jutta Meisner, bitte zum Lagerleiter!". schallte es durch den Speisesaal, über den Hauptplatz und durch alle Bungalows. Jutta versuchte sich ganz klein zu machen.

Wurde rot im Gesicht. Wer sie kannte, schaute sie mitleidig an. Hatte sie etwas ausgefressen? Sie war sich keines Vergehens bewusst. Denn normalerweise rief er nur besondere Frechdachse oder gar Übeltäter zu sich. Doch sie hielt, wie die Eltern es ihr immer wieder mahnend als Versprechen abgenommen hatten, die Regeln ein.

"Sollten etwa die Weinbergschnecken, denen sie aus Unwissenheit die Freiheit geraubt hatte, zu einem Tadel führen? Oder gar ihre Freundschaft mit Lutz?" Tausend Gedanken schossen Jutta durch den Kopf.

Selbst ihre Gruppenleiterin hatte neulich sehr streng geguckt, als sie kurz vor der Nachtruhe nach einem Spaziergang mit Lutz

in den Bungalow huschte.

„Jutta, das ist wohl nicht der richtige Umgang für dich“, klangen die mahnenden Worte in ihr nach.

„Warum?“ fragte Jutta. Doch es gab keine Antwort. Nun gut, Lutz gehörte zu den Frechdachsen. Es gab keinen Baum, der ihm zu hoch war, keine Sportart, bei der er nicht unter den Besten zu finden war. Manche Rauferei, aus der er mit Schrammen als Sieger wieder auftauchte.

Oft verschwand er aus dem Lager oder war nicht aufzufinden und wurde am anderen Tag zum Lagerleiter gerufen. Aber immer hatte er dann Süßigkeiten aus den Taschen seiner Lederhosen gekramt und ihr geschenkt.

Nein, sie hatte ihn nie verraten.

Mit einem mulmigen Gefühl, das sich zwischen Marmeladensemmeln und Malzkaffee im Bauch breit machte, lief sie zur Baracke der Lagerleitung. Ein lackschwarzes Taxi mit einer Banderole aus schwarzweißen Strichen stand davor.

Sie klopfte zaghaft an die Tür und trat ein.

Das Erste was sie im Gegenlicht des Fensters erkannte, war der Rücken einer Frau, die auf dem Besucherstuhl saß. Ihr gegenüber, hinter seinem Schreibtisch, die große Gestalt des jungen Lagerleiters, der ihr freundlich zulächelte.

"Komm her, Jutta", sagte er zu ihr. Das Klang nicht gefährlich und sein Lächeln machte ihr Mut. Sie trat einen Schritt näher. In diesem Moment drehte sich die Frau um.

"Mama, was machst du denn hier?" Jutta flog auf ihre Mutter zu. Die erhob sich, breitete die Arme aus und Jutta schmiegte sich an sie. Die Mutter überhäufte sie mit Küssen.

"Warum ist sie so seltsam, das macht sie doch sonst nicht?", wunderte sich Jutta.

"Mama?" Sie blickte ins Gesicht der Mutter. Deren Augen waren ganz rot und nass. "Warum hat sie geweint?" überlegte Jutta. Aber sie traute sich nicht zu fragen. Denn die Familienregel hieß: "Nix vor Fremden erzählen! Du musst schweigen." Also schwieg sie und ließ sich weiter von der ungewohnten Zärtlichkeit verwöhnen.


Der Lagerleiter wandte sich an Jutta: "Deine Mutter hat mir berichtet, dass dein Vater

schwer erkrankt ist und dich gern sehen möchte. Du hast heute und morgen frei und kannst mit deiner Mutter zu ihm fahren."

Jutta löste sich von ihrer Mutter.

"Vater krank, sehr krank!" Deshalb Mutters Tränen! Sein liebes Gesicht tauchte kurz in ihrer Erinnerung auf, dann waren ihre Augen tränennass und das Bild zerfloss.

Die Mutter putzte mit ihrem Taschentuch auch Juttas Tränen weg.

"Komm, Kind. Das Taxi wartet."

Mit einem "Danke" und "Auf Wiedersehen" verabschiedeten sich die Beiden vom Lagerleiter. Jutta holte noch schnell, wie von der Mutter angewiesen, ihren kleinen Rucksack mit etwas Kleidung zum Wechseln

und der Zahnbürste dann rollten sie in dem nach Benzin riechenden Auto über holperige Landstraßen Thüringens einem Jutta unbekanntem Ziel entgegen.

Die Mutter schwieg.


Das Taxi hielt vor einem Gebäude, um das herum viele Menschen und Reisebusse standen. Jutta las: "Feengrotten Saalfeld". "Hier sollte Papa sein? Und was bedeutet Feengrotten?"

Aus den Märchen wusste sie, dass Feen etwas sehr geheimnisvolles waren. Und sie hatte immer das Gefühl, Feen schwebten zwischen Leben und Tod. Ihr Magen brummelte wieder laut, wie vorher, als sie zum Lagerleiter gerufen wurde. Als ob ihre

Mutter es geahnt hatte, zog sie das schmächtige Mädchen zu einem Bratwurststand. Das Taxi manövrierte sich aus dem Menschengewimmel. Mutter und Tochter stärkten sich an Thüringer Rostbratwurst, bevor Mutter mit ihr dem Eingang des Gebäudes zustrebte.


Inmitten der herrlichen Tropfsteine, an einem etwas versteckten Ort, hockte sich die Mutter zu ihr, so dass sie Jutta in die Augen schauen konnte: "Jutta, alles, was du heute hörst, siehst und erlebst, darfst du niemandem erzählen. Niemals! Versprich es mir! Unser aller Zukunft hängt davon ab." Jutta versprach, was sie nicht verstand. Aber sie wünschte sich nichts sehnlicher, als

endlich ihren Vater zu sehen, der krank war und sie sehen wollte.

Deshalb nickte sie brav und sagte:

"Ja Mama, niemals. Ich verspreche es."

Einige Zeit später, nachdem sie dem Touristenpulk durch die schöne Höhle bis zum Ausgang gefolgt waren, wandte sich die Mutter einem kleinen Weg zu, der gleich rechts neben dem Gebäude in den Wald führte. Sie wanderten etwa eine dreiviertel Stunde, bis sie vor einem großen schiefergedeckten Haus ankamen. Ihre Mutter betätigte die Klingel. Kurz danach kam eine freundlich guckende rundliche Oma mit einem grauen Zopfdutt in einem bunten Sommerkleid aus dem Haus. Sie trat ans Tor und fragte: "Das ist also Martina?"

Ihre Mutter antwortete: "Nein, Jutta, aus dem Ferienlager Leuchtenburg." Nun erst holte die Frau einen großen Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss auf.

Sie wandte sich an die Mutter: "Herzlich willkommen. War es schön einsam im Wald?"

"Keiner außer uns", antwortete diese.

„Na, dann hattet ihr ja einen ruhigen Spaziergang", wandte sich nun die alte Frau freundlich an Jutta.

"Kommt rein, ihr werdet Hunger haben. Dein Vater wartet schon darauf, mit euch das Mittagessen einzunehmen. Du willst doch nicht, dass er verhungert?"

Mit diesen Worten schob sie Jutta vor sich her ins Haus. Jutta war sehr erstaunt, all die Gespräche über Martina und den einsamen

Wald verstand sie nicht. Auch nicht, dass Papa nicht in einem Krankenhaus war, sondern hier in diesem schönen großen Haus bei einer alten Oma. Diese stellte sich nun als Rosa vor, schloss eine Tür auf, die eine Treppe hinunter führte und Jutta vermutete dort den Keller. "Warum war Papa im Keller eingeschlossen?" Ihr wurde angst und bange. Doch aus den ruhigen Gesichtern der alten Frau und der Mutter konnte sie nichts entnehmen, dass Gefahr andeutete, deshalb folgte sie ihnen die steile Treppe hinab ins Düstere.

Noch eine Tür wurde aufgeschlossen und sie kamen in einen Gang, in den durch eine verglaste Tür Tageslicht hereinströmte. Und hinter der Glastür sah sie in einem Lehnstuhl

ihren Vater sitzen. Etwas dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber lebendig. Das Zimmer war sonnendurchflutet und das große Fenster gab einen weiten Blick ins nächste Tal frei. Jutta stürmte durch die von Rosa geöffnete Tür und landete Sekunden später bei ihrem Papa auf dem Schoß, umarmte ihn und wurde von seinen Küssen betupft.

"Papa!"

"Jutta, mein Mädel!"

Als sich die alte Frau nicht mehr im Raum befand, überfiel Jutta ihren Vater sofort mit Fragen: „Papa, wieso bist du krank, wieso bist du nicht im Krankenhaus und warum bist du im Keller eingesperrt? Was machst du in Thüringen? Was macht der Zirkus ohne dich?

...“

Der Vater stoppte die atemlose Fragekette einfach mit einem Papakuss.

"Ach Kleines, mir geht es ja schon besser und ich bin hier zur Erholung. Schau, da ist die Terrasse, wir können hinausgehen. Ich bin nicht eingesperrt.“ Er erhob sich langsam und nahm Jutta an die Hand um mit ihr die Terrasse zu betreten, von der aus man mühelos in den darunterliegenden Obstgarten kam. Siehst du, hier kann ich spazieren gehen. Und als dann noch zwei wunderschöne Schäferhunde angerannt kamen, dem Vater die Hand leckten und sich auch von Jutta streicheln ließen, war Jutta wieder in einem Ferienparadies angekommen und hatte ihre Fragen

vergessen.

Sie lief mit den Hunden in den Garten, fand dort auch einen Ball und bald hatte sie sich im Spiel verloren, waren doch Hunde für sie eine heiße Sehnsucht, die aber in der Wohnung der Eltern nicht erfüllt werden konnte. So wurde jede Begegnung mit Hunden für sie zu einem kleinen Glück, dass sie voll auszukosten wusste.

„Jutta, komm essen!“ Die Stimme des Vaters. Und der vertraute Trillerpfiff. Sie eilte unter den hohen Obstbäumen zurück und sah ihn dann auf der Terrasse an einem gedeckten Tisch sitzen, neben ihm die Mutter. Rosa trug gerade Schüsseln herbei. Jutta merkte nun, wie hungrig sie war. Feine Düfte wehten ihr entgegen. Endlich wieder mit Mama und Papa

an einem Tisch sitzen, gemeinsam essen. Wie in einer richtigen Familie. Jutta hielt dieses Gefühl - dieses Bild - in ihrem Herzen fest.

Der Nachmittag war besonders schön, Papa, Mama und sie spielten "Bildergeschichte".


Weiße Blätter lagen vor ihnen und Buntstifte. Jeder musste irgendwo auf dem Blatt eine kleine Figur oder ein Geschehnis zeichnen. Dann wurden die Blätter getauscht. Nun malte der nächste auf das Blatt wieder eine Figur und so weiter. Die Blätter wurden fünfmal getauscht. So waren dann fünfzehn Figuren oder Geschehnisse auf einem Blatt. Beim vorletzten Tauschen verband jeder die Figuren mit Pfeilen und legte so eine

Reihenfolge fest. Und dann wurde ein letztes Mal getauscht. Nun musste jeder aus den Bildern in der vorgegebenen Reihenfolge eine Geschichte erzählen. War das ein Staunen und Lachen. Jutta flog durch die Bilder, die Mama, Papa und sie miteinander gemalt hatten und erzählte ihnen ihre Feriengeschichte, in der auch die Schnecken und Papa, die Feen aus der Grotte und der Papa mit den Hunden ihren Platz fanden. Papa und Mama hörten aufmerksam zu, auch ihre Geschichten hatten mit ihrem gemeinsamen Leben zu tun. Und manch schöne Erinnerung tauchte in ihr auf. Und es gab viel zu lachen.

Wie wertvoll ihr diese zwei Tage und dieses Geschichtenbuch werden würden, Jutta ahnte

es nicht. Sie genoss dieses Beisammensein wie ein großes Abenteuer.


Am nächsten Morgen überreichte der Vater Jutta die drei Blätter, sie waren wie in ein kleines Buch eingeheftet.

„Juttas Geschichtenbuch“ stand auf dem obersten Blatt. „Wann immer du traurig bist, mein Kind, schau dir diese Bilder an. Es stecken noch viele Geschichten in ihnen. Schreib sie auf.“

Schon war es Zeit, Papa in seinem Krankenzimmer zurückzulassen. „Er braucht noch viel Ruhe“ sagte die alte Oma.

Dann wies sie Jutta und ihrer Mutter den Weg zur Bushaltestelle.

An den "Feengrotten" stiegen sie aus und

nahmen dort einen Bus nach Kahla.

Die Busfahrt verbrachten beide schweigend.


Bevor die Mutter mit Jutta ins Taxi stieg, um sie zum Ferienlager zurückzubringen, erinnerte sie das in der Erinnerung an den Vater ruhende Mädchen an ihr Versprechen. „Du kannst ja erzählen, dass es Papa bald wieder gut gehen wird. Mehr nicht, auch nicht, wo wir waren!“

„Ja, Mama. Aber warum?“

„Ich erzähle es Dir, wenn du vom Ferienlager zurückkommst. Einverstanden?“

„Ja, gut.“

Dann standen sie schon vor dem Eingang des Ferienlagers. Mutter übergab Jutta dem Lagerleiter und kurz danach rumpelte das

Taxi mit ihr davon.“


Jutta hatte Glück, keiner sprach sie wegen des kranken Vaters an. So musste sie nichts verschweigen und nicht lügen.
Voller Freude konnte sie die letzten Tage in Thüringen genießen, bevor es nach Hause ging.

Umzüge

Als Jutta aus dem Ferienlager zurückkam, erkannte sie die Wohnung nicht mehr wieder. Überall standen Kisten und Kartons, alles war eingepackt. Ihr Zuhause gab es nicht mehr. Sie blickte erstaunt umher. „Mama, warum ist alles eingepackt?“

„Wir müssen in eine andere Wohnung umziehen. Diese gehörte doch zum Zirkus, wo Papa gearbeitet hat. Papa kommt nicht mehr zurück. Er lebt jetzt woanders und hat auch eine neue Arbeit.“ Jutta verstand nichts.

„Wieso kommt Papa nicht zurück. Er kann mich doch nicht allein lassen.“

„Er lässt Dich ja nicht allein. Er wird dir schreiben. Schau, eine Karte ist schon da.“

Sie gab Jutta eine Ansichtskarte. Jutta sah auf das Foto der Karte, dass ihr nichts Bekanntes zeigte. Auf der Rückseite stand: Kurfürstendamm. Und in der Handschrift von Papa: „für meine kleine Fee. Ich wünsche Dir viele Geschichten in Deinem Geschichtenbuch. Mir geht es gut. Sei umarmt. Kuss …“.

Und dann sah sie noch ein kleines lächelndes Blümchen, mit dem Papa immer ihre Geburtstagskarten unterschrieben hatte.

„Wo ist Papa? Wann besuchen wir ihn?“

Die Mutter nahm Jutta in die Arme. „Papa wohnt jetzt in einem anderen Land. In Westdeutschland. Und da können wir ihn nicht besuchen. Er uns auch nicht mehr hier. Sei tapfer, wir können nichts daran ändern.

Irgendwann kommt die Zeit, da sind wir wieder zusammen. Ganz bestimmt.“

Jutta riss sich los. Sie griff nach ihrem Teddy, den Papa ihr einst schenkte und der Karte. Die Wohnungstür fiel hinter ihr ins Schloss. Die Mutter sah durchs Fenster, wie Jutta in den Park lief. Und sie packte weiter, ihre Tränen fielen auf das Zeitungspapier, in das Sie die Lieblingstasse ihres Mannes einwickelte. Juttas Tränen durchweichten bis zum Abend den Teddy und die Karte. Danach veränderte sich sehr viel im Leben beider. Sie zogen weit weg in eine kleine Stadtrandwohnung, wo niemand sie kannte. In der Schule erzählte Jutta, sie habe keinen Vater, was fast der Wahrheit entsprach. Ihre Mutter bekam keine Arbeit mehr in ihrem

Beruf als Journalistin und nahm eine Hilfsarbeit als Werkstattschreiberin an.

Das Geld war knapp. Die Wohnung oft kalt. Sie putzten Treppen, um Kohlen kaufen zu können. Klassenfahrten und Ferienreisen wie früher, waren für die Mutter nicht mehr zu bezahlen. Und so bleib der kleine Garten, den sie sich vom Munde abgespart hatten, ihr Luxus, ihre Oase. Hier wuchsen die Schneeglöckchen und Tulpen, die Jutta früh vor der Schule zum Blumenladen brachte und damit die Familienkasse auffüllte.

So lebten sie beide wie auf einer Insel des Schweigens. Warum der Vater bei Nacht und Nebel aus der DDR verschwunden war, kam nie zur Sprache. Auch die seltenen Briefe des Vaters, die sie oft über Umwege erhielten,

 manchmal sogar ohne Umschlag im Briefkasten vorfanden, schwiegen darüber. Dennoch waren es glückliche Tage für sie beide, ein Lebenszeichen aus der anderen Welt zu bekommen. Sie zündeten eine Kerze an, es gab Papas Lieblingspudding, die Götterspeise, sie lasen sich gegenseitig die Abenteuer des Vaters aus dieser fremden Welt wieder und wieder vor. Jetzt arbeitete er bei einer kleinen hessischen Zeitung unter einem Pseudonym als Reporter. Und am Ende des Abends, mit dem letzten Kerzenstummel, verglühten auch die Grüße des Vaters zu Asche.

Eines Tages wurde Jutta zum Schuldirektor bestellt. Mit einem flauen Gefühl im Magen klopfte sie an seine Tür. „Nun Jutta, du

nimmst nicht am kollektiven Leben teil, fährst nicht mit zu den Klassenfahrten. Und bei der Vorgeschichte deines Vaters wirst du auch keine Chance auf ein Studium haben. Wäre es nicht besser, du lernst einen Beruf und unterstützt deine Mutter?" Er schwieg eine Weile, spielte mit seinem Federhalter. Dann beugte er sich ein wenig über seinen Schreibtisch, ihr entgegen: "Du könntest mir natürlich auch erzählen, was dein Vater so in seinen Briefen schreibt. Du bekommst doch sicher Post von ihm, oder?“ fragte er.

Jutta verschlug es die Sprache. Was wusste der Direktor von ihnen, der Mutter und dem Vater?  Aber sie wagte keine aufsässige Frage, stand der Direktor doch im Ruf, die Schüler zu schlagen. Und durch ihren Kopf

hallte Mutters Warnung: „Du darfst niemals etwas erzählen, was Du heute erlebt und gesehen hast und wo wir waren.“

Und sie kannte ihr Versprechen, dass sie in der Feengrotte gegeben hatte: „Nein. Niemandem. Niemals.“ Allmählich begann sie zu verstehen. Das ganze Ausmaß dieses Schrittes von ihrem Vater. Doch sie wusste noch immer nicht, warum er damals vor vier Jahren gegangen war, geflüchtet. Jutta schwieg, schluckte alle Fragen und Antworten als große Brocken hinunter, bis ihr der Atem stockte. „Nun, du schweigst? Überleg es Dir. Ich habe die Kinder von Verrätern sehr genau im Auge. Wer einsichtig ist, dem kann ich jedoch helfen.“ Es klingelte gerade zum Pausenende.

Mit einer Handbewegung des Direktors war sie entlassen. Erleichtert und gleichzeitig tief beunruhigt erlebte sie die letzte Unterrichtsstunde wie im Nebel.

Als die Mutter an diesem Tag von der Arbeit kam, hatte Jutta schon alle Hausarbeit erledigt. Sie wollte mit der Mutter reden.  Doch auch an diesem Tag gab ihr die Mutter auf ihre Fragen keine Erklärungen. „Was damals geschehen ist, hat dein Vater mir nicht erzählt. Er wollte uns wohl schützen. Auch zu mir kommen immer wieder Leute, die etwas über ihn wissen wollen. Ich sage ihnen nur, es gäbe keinen Kontakt. Und die Briefe haben wir ja alle verbrannt. Du doch auch?“ Jutta senkte den Kopf. Den Geburtstagsbrief hatte sie behalten. Tapfer holte sie ihn aus

ihrem Tagebuch und reichte ihn der Mutter. Mit einem Streichholz setzte sie ihn in Brand und bald war nur noch die Asche auf dem Teller zu sehen.

Eine Woche später kam Mutter mit einem Lächeln nach Hause. „Jutta, wir ziehen um. Ich habe eine Arbeit als Gärtnerin und du bekommst eine neue Schule. Wir werden es schaffen.“ Jutta fiel ihrer Mutter um den Hals. Neue Hoffnung wuchs in ihr.

Der kleine Transporter mit ihren wenigen Habseligkeiten zuckelte über die Straßen Sachsens nach Thüringen. Wie erstaunt war Jutta als er vor einem Haus hielt, dass sie bereits kannte. „Hier haben wir doch Papa besucht?“

„Ja, und hier werde ich als Gärtnerin und

Haushälterin arbeiten,“ antwortete ihr die Mutter. „Die alte Rosa ist gestorben und der Herr Doktor hat mir eine Nachricht zukommen lassen, dass nun eine Stelle frei werden würde. Wir wohnen unten im Haus neben dem Appartement, in dem Papa damals untergebracht war.“

„Und die Schule?“, fragte Jutta. „Du kommst zu seiner Frau in die 6. Klasse. Wenn du dich anstrengst, und bei deinen guten Leistungen ist das für dich nicht schwer, kannst du hier die Empfehlung für die EOS bekommen und später zum Studium. Jetzt hängt es von dir ab.“ Jutta fiel ihrer Mutter um den Hals.

Sie steckte von nun an ihre ganze Kraft in die Schule. Nachdem sie begriffen hatte, wofür sie und ihre Mutter bestraft wurden, hatte sie

sich geschworen, es denen zu zeigen. Sie würde das Abitur schaffen. Sie würde studieren. Und sie würde dafür sorgen, dass es ihnen besser ging.


Es war zu Ihrem 18. Geburtstag, als der Hausherr abends bei Ihnen an die Tür klopfte.

Jutta die gerade mit der Mutter bei einm Glas Wein saß öffnete. Der Doktor hielt ihr einen bunten Blumenstrauß entgegen: "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag."

"Bitte, kommen Sie doch herein, wir stoßen gerade auf meine Zulassung zum Volontariat an", lud Jutta den Gast ein.

"Gern, das ist ja ein doppelter Grund zum feiern. Herzlichen Glückwunsch!

Und ich habe auch noch ein Geschenk für Sie. Ein Brief, der nun seit acht Jahren auf Sie wartet." Jutta und ihre Mutter verstummten, schauten sich mit großen Augen an. "Von Papa!" flüsterte Jutta.

"Ja, von ihrem Vater. Er übergab mir den Brief damals, bevor er die DDR verlassen mußte, mit der Bitte, ihn zu hüten und Ihnen zu ihrem 18. Geburtstag zu übergeben. Oder im Falle seines Todes." Jutta streckte schon die Hand nach dem Brief aus, den der Doktor in der Hand hielt. Zuckte aber zurück, als sie den letzten Satz des Doktors vernahm.

"Keine Sorge, er lässt sie grüßen. Er ist gesund. Ich sah ihn vor einigen Tagen, als ich auf einem Ärztekongress in Frankfurt am Main war."

Jutta kämpfte tapfer gegen eine vorwitzige Träne und ihre Mutter lächelte.

Der Brief in einem verschlossenen Umschlag lag nun vor den Beiden auf dem Tisch.

"Wenn Sie noch Fragen haben, wir können uns am Wochenende treffen, dann habe ich Zeit. Nun guten Abend, Sie werden einiges zu verdauen haben," mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Langsam zog Jutta den Brief zu sich heran und blickte fragend zur Mutter. Die nickte ihr ermutigend zu.

Auf dem Umschlag stand: "Für meine Tochter, August 1961"

Jutta öffnete das Covert und begann zu lesen.

Papas Brief

„Mein liebes Mädel,

wenn Du diesen Brief liest, feierst Du gerade Deinen 18. Geburtstag mit deiner Mutter zusammen. An etwas Schlimmeres, wie an meinen Tod, mag ich nicht denken. Doch auch das kann geschehen.

Ich bin sehr glücklich, dass deine Mutter dich noch einmal zu mir bringen konnte. Dein Zöpfchengesicht und deine Sommersprossen werde ich als lebendiges Andenken an Dich mit mir tragen.


Heute nun hältst Du diesen Brief in Deinen Händen, den ich kurz nach Eurem Besuch bei mir im Hause von Dr. W. geschrieben

habe. Er gehört zu den wichtigsten Briefen, die ich je geschrieben habe. Und er ist mir am schwersten aus der Feder geflossen.

Mit ihm sende ich dir aus meinem Leben 1961 in deine Zukunft meine Gedanken und Erlebnisse, damit du die Geschichte deines Landes und mein Leben verstehst. Damit Du verstehst, was Euch an Widerständen in Eurem Leben entgegengeweht hat.


In wenigen Stunden werde ich die DDR verlassen. Verlassen müssen, um genau zu sein, weil ich sonst von der Staatssicherheit verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werde. Du wirst dich fragen, warum. Nachdem ich, wegen meines Engagements für die ungarische Revolution, ein halbes Jahr zur

Strafarbeit verurteilt wurde, folgten noch einige ähnliche „Arbeiten“. 1961 wurde der Zirkus Aeros verstaatlicht, angeblich hatte er Steuerschulden. Ich wurde als Betriebsleiter dort eingesetzt. Sozusagen zur Bewährung.  Für mich als Journalist, Schriftsteller und Kabarettist ein Fiasko. Ich weiß nichts von Betriebsführung. Ich sollte einen Zirkus leiten und war für die Ökonomie verantwortlich.

Die Saison war stark verregnet, die Plätze morastig oder unter Wasser. Die Zuschauer blieben aus. Und damit das Geld. Futter für die Tiere war nirgends aufzutreiben.

Ich bekam die Anweisung, die Nummern auf die umliegenden Kulturhäuser aufzuteilen. Das musste schief gehen. Löwen und Elefanten, Hochseilartistik und Pferde lassen

sich nicht in ein Kulturhaus umsiedeln.

Welch Wahnsinn! Die Stadt Leipzig, der nun der Zirkus gehörte, hatte selbst kein Geld, die Wirtschaft war am Boden. Jeden Tag flohen Tausende Menschen nach Westdeutschland. Durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft fehlte es an Lebensmitteln, Tierfutter und Streu. Alles war chaotisch. Meine Telefonate und Berichte wurden abgewiesen mit dem Hinweis, ich würde die DDR schwächen und mit meinen Berichten Sabotage betreiben. Eines Tages standen zwei Männer in meinem Bürowagen, einer von der Staatssicherheit, den kannte ich noch von 1956. Den anderen kannte ich nicht. Er murmelte einen Namen. Mein Assistent und Fahrer Egon war mit im

Büro. Er war aufgestanden und neben mich getreten, er legte mir beruhigend die Hand auf den Arm. Die beiden musterten mich und beschuldigten mich der Sabotage. Sie provozierten mich. Ich sollte etwas unterschreiben. Egon ging einen Schritt nach vorn, er stand nun zwischen mir und den beiden. Im Hin und Her begann ich, laut zu werden. Hilflos und empört.

Ich schrie sie an: Es gibt kein Heu und kein Fleisch für die Tiere, keine Kohle für die Heizung, unsere Lebensmittelkarten werden von den Geschäften hier nicht akzeptiert. Wir haben kein Geld. Der Platz steht unter Wasser, sechs Wochen Regen. Kein Benzin, wir können nicht weg. Und von euch kommt keine Hilfe. Und das soll ich alles

verantworten? Ich kann ja die Pferde schlachten, damit meine Leute was zu fressen haben und die Löwen!

Dann bin ich wohl zusammengesunken.

Mein Fahrer schnappte mich und brachte mich zum Auto. Er sagte den Männern: Verhaften können sie ihn später, jetzt muss er zum Arzt. Er brachte mich zu einem befreundeten Arzt nach Thüringen und überließ mich seiner Obhut. So berichtete es mir der Arzt später, als ich wieder aufwachte. Mein Assistent, dieser mutige Mann, fuhr mit dem Auto weiter nach Bayern.


Nach zwei Wochen intensiver Pflege war ich wieder halbwegs hergestellt. Doch zurück konnte ich nicht. Die Zeitungsmeldungen

behandelten mich wie einen Schwerverbrecher. Aber ich war wohl gut versteckt hier in diesem Haus.

Ja, ich hatte den Zirkus im Stich gelassen. Jedoch lag es nicht in meiner Kraft, diese Aufgabe zu bewältigen. Ich hatte gekämpft und verloren.

Mein Arzt brachte eines Tages einen Mann mit, der sich als “Mütze“ vorstellte.

„Also, Kumpel, ich hab ein Auto draußen und gute Papiere für dich, wir können fahren.“

„Wohin?“, fragte ich ihn.

„In die Freiheit, wenn du willst. Ansonsten hast du ja gesehen, was hier passiert.“

Ich schreibe schnell diesen Brief an dich. Und übergebe ihn dem Arzt. Er wird ihn dir zukommen lassen.

Ich bin auf der Flucht, mein Mädchen.

Und ich weiß nicht, ob wir uns je wiedersehen. Ich liebe dich und umarme dich. Bleib aufrecht und ehrlich. Das Wertvollste sind Wahrheit und Freiheit. Behüte sie. Und unterstütze Deine Mutter.

Dein Papa.“

Jutta hatte den Brief mit Tränen in den Augen, mit offenem Mund und klopfendem Herzen vorgelesen.

Beide schauten sich an und umarmten sich.

Da war es nun, des Rätsels Lösung. Eine Antwort auf all die Fragen.

Jutta griff nach ihrem Weinglas und stieß mit der Mutter an.


"Auf Papa! Und auf Dich!"



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Über den Autor

Tintenklecks
Ich bin alt wie ein Baum, wild wie der Wind und neugierig wie ein Kind.
Ich schreibe und lese, solange ich mich zurückerinnern kann.
Einst beruflich als Fernsehautorin. Nun solls als Hobby in die Belletristik gehen.

Ich lebe wieder in Deutschland, in Stralsund. Ungarn ist Vergangenheit

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Willie Als ehemaliger DDR-Bürger sind mir natürlich viele der Geschehnisse in Erinnerung, auch wie mit Leuten umgegangen wurde, die sich kritisch äußersten.
Wie gut deine Erzählung ist, geht ja aus den Kommis hervor und da schließe ich mich gern an.
Da ich selbst schreibe- interessiert mich natürlich außer der Handlung auch immer, wie hat der Autor seine Erzählung aufgebaut. Das hier ist keine bloße, gut geschriebene Anreihung von Geschehnissen. Fast wie in einem Krimi, weiß der Leser nicht genau, was sich da entwickelt. Das idyllische Fereinlager und dann plötzlich der Besuch der Mutter, die ein bisschen wie die böse Königin im Märchen auftaucht. Dass sie das keineswegs ist, dass der Leser in falsche Richtung dachte, wird erst allmählich offenbar und so hat die Erzählung eine Spannung, eine durchweg natürliche Spannung, die den Leser zusätzlich fesselt.
LG
Willy
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks Ich danke dir Willy für Denen Kommentar und die Analyse. Manchmal ist es so, dass sich Erlebnisse plötzlich aus dem Herzen lösen und ein Text daraus wird, weil die Zeit reif ist :-)
Und danke für den Favo
LG vom Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
sugarlady Eine ergreifende Geschichte.
Traurig und hoffnungsvoll zugleich.
Ich hab sie mit Spannung gelesen.
Liebe Grüße
Andrea.
Vor langer Zeit - Antworten
paulkarl Da habe ich auf gut Glück so eine ergreifende Geschichte gefunden!
Der Zirkus Aeros ist mir auch noch ein Begriff.
Schon immer gab und gibt es Flüchtlinge mit ihren Schicksalen, sie sollen nicht vergessen sein.
Gut geschrieben, danke.
LG Paul K.
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks ich danke dir. lg vom Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
Sylke 
Tränen, die da kommen. Alles so nah bei mir geschehen, das rührt besonders an. Erinnerungen kommen wieder.
Danke Klecksl.
Lg von Sylke
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks Ja, einige habe das tatsächlich erlebt .. Man liest es nun mit "Zeitzeugenaugen" oder eben staunend, die später geborenen
lg der Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
Loraine Was für eine Geschichte - herausgerissen aus einer Kindheitsidylle - Begleitspuren im Herzen und starke Frauen die lange einsame Tage ohne Mann und Vater hatten. Berührend - lebendig und Zeitgeschichte. Danke Loraine
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks Bitte sagt der Tintenklecks
Danke für Deine Geschenke
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Du hast mit Deinem Buch Erinnerungen geweckt. Als Kind war ich oft auf der Leuchtenburg und die Feengrotten, gehörten zum jährlichen Ferienprogramm. Und die guten Thüringer vermisse ich in Hessen besonders. Deine Geschichte berührt mich. lg Ameise
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