Kurzgeschichte
Im Morgenrot stirbt die Nacht

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"Im roten Licht der aufgehenden Sonne starb die Nacht, doch der Wald schien nicht erwachen zu wollen."
Veröffentlicht am 04. März 2015, 20 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich ...bin Österreicherin ...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte ...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist ...lese quer durch viele Genres ...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken
Im roten Licht der aufgehenden Sonne starb die Nacht, doch der Wald schien nicht erwachen zu wollen.

Im Morgenrot stirbt die Nacht

Rötlich schimmerten die Zweige der mächtigen Eichen im Licht der aufgehenden Sonne und die Welt erwachte zu neuem Leben als Lia dem Gebüsch entschlüpfte und sogleich stockstarr stehen blieb. Rundum war es totenstill. Kein Vogel sang, der Wind schien verebbt zu sein, nichts rührte sich. Nur dort, etwa fünf Schritte entfernt, stand sie. Ihr dunkles, total zerzaustes Haar schimmerte im Licht und bedeckte nur einen Teil ihrer bloßen weißen Haut, die sie lediglich durch ein dünnes Stoffbündel, das sie an sich presste, verbergen konnte. Selbst aus der Entfernung konnte Lia erkennen, dass ihre Augen weit aufgerissen waren, als

sehe sie vor sich etwas unvorstellbar Schreckliches. Lia starrte vermutlich auf dieselbe Weise zurück. Der Anblick verstörte sie auf so zahlreiche Arten, dass ihr erst viel später auffiel, dass die junge Frau vor ihr nicht die einzige Person auf dieser Wegstrecke war; vermutlich aber die einzige, die noch lebte. Ringsum lagen die Leichen von Männern, Frauen und Kindern. Sieben an der Zahl; allesamt auf grausame Weise hingerichtet. Überall war Blut, auf der Erde, den Toten, den Blättern und auf der einzigen Überlebenden. Wie in ein dünnes rotes Kleid gehüllt sah sie aus aufgrund der unzähligen Blutspritzer, die sie bedeckten.

Ganz langsam entfernte sich Lia von dieser bizarren Szenerie, jedoch ohne sich umzudrehen. Sie wollte diesem Grauen nicht den Rücken zukehren. „Biff!“, zischte sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Hätte sie locker gelassen, so hätten sie bestimmt geklappert vor unterdrückter Angst. Noch einmal rief sie auf diese Art nach ihrem Bruder und nur wenige Herzschläge später schälte er sich aus dem Unterholz. Mit gerunzelter Stirn kam er auf sie zu. „Was ist denn los?“, flüsterte er, doch anstatt zu antworten, streckte sie die Hand aus und wies mit dem Finger in die

Richtung, aus der sie gerade gekommen war. Irritiert runzelte er die Stirn, doch er bohrte nicht weiter nach. Vielleicht hatte er die wachsende Panik in Lias Augen erkannt. Zumindest schien er mit Gefahr zu rechnen, denn als er sich in Bewegung setzte, um herauszufinden, was seiner kleinen Schwester solche Angst machte, hielt er seinen Knüppel angriffsbereit in die Höhe. Zuerst wollte das Mädchen ihm nicht folgen, doch allein bleiben wollte es ebenso wenig. Hastig huschte sie ihm also hinterher und sah gerade noch wie Biff den Knüppel zu Boden fallen ließ und auf die Unbekannte zuschritt. Die Angst schlug scharfe Krallen in Lias Herz, das sich

zusammenzuziehen schien. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein? Hatte er denn die Leichen nicht gesehen? Spürte er denn nicht, dass diese Frau…ja, was eigentlich? Lia konnte es nicht beschreiben, doch irgendetwas in ihr schrie furchtbar laut auf, wenn ihre Gedanken um diesen Menschen kreisten, der dort völlig unbewegt zwischen all den Leichen stand. „Es ist alles gut“, hörte sie den Bruder sagen, doch Lia wusste es besser. Irgendetwas stimmte mit dieser Frau nicht. Hätte sie ihm doch bloß nichts davon erzählt. Inzwischen war er so nah an die Unbekannte herangetreten, dass er nur noch die Hand hätte ausstrecken

müssen, um sie zu berühren. Dies tat er aber nicht, sondern sprach einfach weiter mit leiser Stimme auf sie ein. Währenddessen löste er die Bänder, die seinen Mantel zusammenhielten und reichte diesen dann an die Frau weiter, die ihn nur ausdruckslos anstarrte. Als auch nach mehreren Herzschlägen nichts geschehen war, wagte es Biff, der Unbekannten den Mantel um die Schultern zu legen. Als sie nicht darauf reagierte, trat er noch einen Schritt näher an sie heran und verschloss das Kleidungsstück so, dass zumindest der Großteil ihrer Blöße bedeckt war. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Mantel nicht verrutschen würde,

griff er vorsichtig nach ihrer Hand. Lia stöhnte auf in Erwartung, dass jetzt gleich etwas Furchtbares passieren würde, doch nichts geschah. Langsam kam ihr Bruder auf sie zu und zog die Fremde hinter sich her, die sich willenlos abführen ließ. „Was willst du denn mit ihr?“, fauchte das Mädchen ihn etwas schärfer an, als es beabsichtigt hatte. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und nun konnte sie das Klappern ihrer Zähne nicht mehr zurückhalten, doch ihr Bruder runzelte nur leicht die Stirn, als verstehe er nicht, weshalb sie so reagierte. „Ich nehme sie mit ins Lager“, erwiderte er ruhig. „Sie könnte verletzt

sein.“ „Bitte, lass sie hier“, flehte Lia nun, was sie selbst etwas überraschte. Immerhin war sie es gewesen, die ihren Bruder hierher geführt hatte. Doch die Nähe der Schwarzhaarigen, die immer noch völlig starr dastand und nichts um sich herum mitzubekommen schien, machte sie fast wahnsinnig vor Furcht. „Sie braucht unsere Hilfe.“, beharrte Biff und damit war das letzte Wort gesprochen. Während er sich bereits in Bewegung setzte, blickte Lia ihm unruhig hinterher. „Und wer hilft uns?“, flüsterte sie in den Wind.

* Fasziniert von ihren großen dunklen Augen und dem tiefschwarzen Haar, das sich so scharf von der weißen Haut abhob, konnte Biff nicht anders, als die Unbekannte anzustarren. Es gelang ihm einfach nicht, den Blick von ihr abzuwenden. Ihre Wangen waren leicht gerötet, was sie nur noch schöner machte. Als er ihre Hand ergriffen hatte, war eine Flutwelle der Empfindungen über ihn hereingebrochen. Er spürte es jetzt noch. Dieses bemitleidenswerte Wesen hatte so unvorstellbares Leid

ertragen müssen. Alles in ihm wollte ihr helfen, sie beschützen vor jedweder Gefahr, die sich ihr entgegenwerfen könnte. Zwischen den Bäumen konnte er bereits das Feuer ausmachen, das an ihrem Lagerplatz brannte. Zwei Gestalten bewegten sich dort; seine Eltern. Als jene den Sohn mit der Fremden erblickten, hielten sie in ihrem Tun inne. Es brauchte nicht viel Überzeugungskraft, um sie dazu zu bewegen, die Elende aufzunehmen. Bald saß Biff mit ihr am Feuer und reichte ihr eine Schüssel mit Eintopf. „Für dich“, sagte er, woraufhin sie ihn zum ersten Mal wirklich ansah. Ein

wohliger Schauer lief ihm den Rücken hinab, als ihre dunkelbraunen Augen, in denen ein paar winzige grüne Funken eingeschlossen waren, ihn musterten. Tatsächlich vergaß er für einige Herzschläge zu atmen. Die Welt rundum schien zu verblassen. Er sah nur noch sie und wiederum spürte er die Qualen, die sie durchlitten haben musste. Was hatte man ihr bloß angetan? Er wagte nicht, sie zu fragen. Überhaupt fiel es ihm schwer in ihrer Nähe zu sprechen. Immerhin hatte auch sie noch kein Wort von sich gegeben. Auch das Essen rührte sie nicht an. Stattdessen hockte sie nur angespannt da und blickte ins Feuer. Biff sah deutlich, dass ihr Gesicht von

Schmerz verzerrt war. Seine Mutter hatte sie bereits auf Verletzungen untersucht, doch außer ein paar ungefährlichen Kratzern hatte sie nichts feststellen können. Auch Lia war inzwischen zurückgekehrt und saß auf der anderen Seite des Feuers. Biff verstand nicht, weshalb seine Schwester die Fremde mit einer solchen Abneigung anstarrte. Obwohl er sie gerne zurechtgewiesen hätte, wollte er sich nicht von seinem Platz neben der Schönen erheben. Er hielt ihre kalte Hand, die leicht zitterte. Unbemerkt verstrich der Tag und Dunkelheit begann sich über das Lager zu legen. Lia war wieder verschwunden, was Biff nur Recht war. Ohnehin bekam

er nicht viel von seiner Umwelt mit, so gefesselt war er noch immer von ihrem Anblick. Inzwischen hatte sie die Augen geschlossen, doch sie wollte sich nicht zum Schlafen hinlegen. So verharrte er also schweigend an ihrer Seite in der Hoffnung, dass seine Gegenwart ihr Trost spenden konnte. * Ich will nicht! Du musst! Aber er hat doch...! Schweig! Er hätte mich dalassen sollen. Hat er aber nicht. Wieso kann ich nicht einfach gehen? Weil du hungrig bist.

Er hat mir zu Essen gegeben. Eigennutz. Er will mich beschützen. Auch vor sich selbst? Ich will nicht mehr, lasst mich gehen! Du wusstest, worauf du dich einlässt. Ihr könnt mir nicht befehlen. Das müssen wir auch gar nicht. Ich hasse euch. Bewahre dir das für sie auf. Sie haben mir doch nichts getan, wollen nur helfen. Niemand will dir helfen. Du bist allein. Du warst allein, wärst noch immer allein, hättest du uns nicht gefunden. Wir sind für dich da, beschützen dich, wachen über deinen Schlaf. Die Menschen sind grausam. Sie

haben dich geschlagen, vergewaltigt, verstoßen. Erwarte keine Hilfe von ihnen. Du musst dir selbst helfen, wie du es immer musstest und wir unterstützen dich dabei. Wir sind für dich da bei Tag und Nacht. Wir schlafen nicht, wir ruhen nicht. Wir sind für dich da. Ich will das nicht mehr. Du hast dich bereits entschieden. Dann entscheide ich nun eben anders. Das kannst du nicht. Ich will nicht! Du musst! * Im roten Licht der aufgehenden Sonne starb die Nacht, doch der Wald schien

nicht erwachen zu wollen. Lia zwängte sich zwischen den letzten Zweigen hindurch und blieb schockiert stehen. Das Feuer war herabgebrannt. Nur noch glühende Asche war davon übrig. Nichts lebte mehr. Inmitten der Toten stand sie. Ihr schwarzes Haar zerzaust, die Wangen gerötet, die weiße Haut mit frischem Blut beschmiert. Ihre dunklen Augen blickten dem Mädchen ausdruckslos entgegen. „Nein!“, schrie Lia in die Stille. Mit diesem einen Wort brüllte sie all die Angst, all den Schmerz, der in ihr tobte aus sich hinaus. In wilder Raserei stürzte sie sich diesem Monster entgegen. Als sie nur noch wenige Schritte von ihr

entfernt war, griff sie nach der Armbrust ihres Vaters, die neben dessen Leiche lag. Der Bolzen war noch eingelegt. In unheimlicher Ruhe sah die Mörderin ihrer Familie mit an, wie das Mädchen die Waffe hob, den Bolzen richtete, sich auf einen Baumstumpf setzte und auf sie anlegte. Sie machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Sie wehrte sich nicht. Unaufhaltsam flossen Tränen Lias Wangen hinab, doch als sie den Bolzen abschoss, wusste sie, dass er sein Ziel nicht verfehlen würde. Mit einem dumpfen Geräusch drang er in die linke Schulter der Frau ein, die auch dabei keine Miene verzog. „Stirb!“, brüllte Lia ihr entgegen und in

eben diesem Moment zerstob die blutbeschmierte, weißhäutige Gestalt in tausende von Einzelteilen. Wie Asche hingen sie eine Weile in der Luft, ehe der Wind sie erfasste und forttrug, als wäre dies alles nur ein böser Albtraum gewesen. * Ich lebe? Wir leben. Aber ich wollte den Tod. Wir nicht. Ihr seid grausam. Wir haben dich gerettet. Niemand kann mich retten. Wir können. Ich bin auf ewig verloren. Für immer gefunden.

© Fianna 04/03/2015

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Fianna
Ich
...bin Österreicherin
...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte
...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist
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silberfunke Gänsehaut und mystisches Feeling dank farblicher und bildhafter Wortwahl. Mir hat gefallen.

LG Siberfunke
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Fianna Das freut mich!

Danke dir für's Lesen und Kommentieren!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Oconoger Gänsehautfeeling ... Gruselig ... und vor allem Gelungen.
Aber es gibt noch ein paar wenige Stellen an denen an die Geschichte besser formulieren hätte können, aber die fallen nicht groß ins Gewicht.

Gruß
dein Oco
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass dir meine Geschichte im Großen und Ganzen gefällt!

Dankeschön für's Lesen, den Kommentar, die Coins und den Favo!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Eine mystische Geschichte mit einem offenen Ende. Spannend geschrieben, flüssig zu lesen. Gelungen!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass sie dir gefällt!

Dankesehr für's Lesen, Kommentieren und die Coins!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
erato 
Ja, das ist sie wohl - hat aber die dir eigenen Aspekte,
mystisch märchenhaft gruftiger Sequenzen..........
Hat was.
GghG Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Danke dir für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
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Terazuma Hallo Fianna!
Eine wirklich gruslige, kleine Geschichte, die du wieder einmal ausnehmend gut geschrieben hast.
Irgendwie ahnte man schon, dass Lia die Einzige ist, die die Wahrheit erahnen kann. Das Ende finde ich auch sehr gut, dass es offen bleibt, was diese Wesen sind, die sich der Schwarzhaarigen angenommen haben.
LG Tera
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass sie dir gefällt! :-)

Dankeschön für's Lesen, den Kommentar und den Favo!

Liebe Grüße
Anna
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