Kurzgeschichte
Eines Nachts (oder auch nie)

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"Eines Nachts (oder auch nie)"
Veröffentlicht am 02. März 2015, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Eines Nachts (oder auch nie)

Eines Nachts (oder auch nie)

Ich hing in der Lobby eines Hotels herum und wusste nicht, wie ich dort hin gekommen war. Neben mir saßen zwei Mädchen anfang zwanzig, die sich unterhielten und das Gelächter, das sie von Zeit zu Zeit von sich gaben, klang für mich so farbenfroh als wäre ich Synästhetiker. Eines der Mädchen nickte mir zu, fragte: "Wer bist Du eigentlich?", und ich dachte darüber nach. "I'm a negative creep and i'm stoned", sagte ich nach einer Weile. Sie streckte mir die Hand hin; ich ergriff sie. "Oh", sprach das Mädchen und fragte mich, ob wir zusammen irgendwohin gehen wollten. Wortlos verließ ich das Hotel und das Mädchen folgte mir. Die Sonne war schon lange untergegangen. "The tiny island sags downstream", sagte sie zu mir als wir durch die Straßen liefen. "So ist das oft", erwiderte ich. Sie nickte nur stumm, die Lippen zu einem Schmollmund verzerrt. Ihre Mimik war ein Verwirrspiel, dessen Regeln ich noch nicht begriff. "Take it easy girl and tell me a story",

sagte ich im bunten Neonlicht. Betrunkene Passanten rüpelten an uns vorbei. "Na gut. Eine Frau reist ohne Gepäck nach China; dort angekommen geht sie zum Bahnhof und steigt in einen beliebigen Zug ein. Als sie sich hinsetzt, sitzen neben ihr zwei junge Männer, die sich auf Deutsch miteinander unterhalten. Sie spricht die Beiden an, fragt, wo sie mal hinfahren könnte. Am liebsten in eine Großstadt, fügt sie hinzu, aber bloß nicht nach Peking. Schließlich fährt sie nach Xi’an. Ende." Innerlich schmunzelte ich. Dunkle Schatten, die sich bei Tagesanbruch vermutlich in Bäume verwandeln würden lungerten am Straßenrand herum. Ich zündete mir einen Joint an, zog zwei mal daran und reichte ihn dem Mädchen. Weiße Wölkchen umrahmten ihr Husten. Ich nahm den Joint wieder an mich und betrachtete sie."Look into my eyes", sagte ich. "Don't you trust me?" Ihre braunen Augen blickten mich nur fragend an. Häuser kamen und gingen. "The traffic lights, they turn blue

tomorrow", sagte sie als wir eine Kreuzung passierten. Ich stimmte zu. Fortwährend gingen mir elektrische Impulse durch den Kopf; sie ergaben Bilder, Geräusche, Gefühle und Gerüche, ergaben Symbiosen oder koexistierten, waren konkret, waren abstrakt, beständig und flüchtig, ein wirrer Strom von Gedanken, der aufgrund seiner Geschwindigkeit und Quantität für mich unbegreifbar erschien. Das Hupen eines Autos warf unzählige Fragen auf. Jemand schmiegte sich an mich, ein angenehmes Gefühl. Wieder hupte ein Auto. - "Und nun?", fragte das Mädchen, den Kopf an meine Schulter gelehnt. Wir waren stehen geblieben, ich hatte es nicht bemerkt. Eine Seitengasse umdunkelte uns. Ich nahm einen letzten Zug, warf den Stummel weg und sagte: "Keine Ahnung. Manchmal denke ich, dass ich mir mein ganzes Leben nur einbilde und immer komme ich irgendwann zu dem Punkt, an dem ich nicht mehr weiter weiß." Die Stadt rauschte. Mit

einer sanften Handbewegung strich mir das Mädchen überflüssige Gedanken aus dem Gesicht und lächelte. Ohne darüber nachzudenken legte ich einen Arm um ihre Taille. Über uns mondete es. "Take the highway to the end of the night", sagte ich. Sie nickte. Schattige Muster bedeckten unsere Körper als wir an Stellen vorbei gingen, zu denen wir nie wieder zurück finden würden. Straßen lösten Straßen ab und wurden zu Kieswegen. Laternen schwanden, Wiesen erschienen; ein leichter Wind bewegte schemenhafte Bäume und Pflanzen und kühlte unsere Gesichter. Ich stellte mir vor, wie eine Blume im blonden Haar des Mädchens aussehen würde. Schweigend legten wir uns ins Gras und blickten zu den Sternen. Zunehmend verschmolz ich mit meiner Umgebung; ich war die Wiese, war die Bäume, ich war die Pflanzen, war das Land, war die Stadt, war das Licht, war die Dunkelheit, ich war die Nacht und ich war der Mond, ich war die Sterne, war das All, ich war verschwunden.

"The Killer awoke before dawn", hörte ich meine Stimme sagen. Das Mädchen wandte sich mir zu, stützte den Kopf auf den Arm und sah mich an. Sie lächelte.

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22922 Wow eine sehr gut geschrieben Geschichte. :-) Viel Spaß noch beim weiterschreiben, ich hoffe du schreibst noch weiter. ;-)
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Drollibaer Danke!
Gruß
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AnniSorglos Gefällt mir sehr!!
Geht es noch weiter? :)
Lieben Gruß
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Drollibaer Danke!
Ne, ist so eigentlich abgeschlossen für mich, bzw. ich sah es eher als kurze Stimmungs-Szene, nicht wirklich als eine Geschichte im herkömmlichen Sinne wohl
Gruß
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Herbsttag Welch eine außergewöhnliche Geschichte, die zum Lesen richtig eingeladen hat. Herbsttag
Übrigens: Was für ein niedlicher Welpe:-D
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Drollibaer Hey,
danke!
Der Hund auf dem Bild ist nur ein gefundenes Bild, das ich niedlich fand. :e

Gruß
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