Kurzgeschichte
Die Flucht #1

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"Die Flucht #1"
Veröffentlicht am 26. Januar 2017, 28 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Schreiben macht mir Freude
Die Flucht #1

Die Flucht #1

Seit zwei Stunden saß ich schon in der Bahn und hatte nichts zu tun. Ich war gerade auf dem Weg zu einer Bekannten, die letztes Jahr in ein anderes Bundesland gezogen war, weswegen ich nun immer mehrere Stunden mit dem Zug fahren musste, wenn wir uns mal wieder sehen wollten. Sarah, so war der Name meiner Bekannten, und ich waren schon seit der Grundschule befreundet gewesen, sehr zum Spott meiner damaligen Mitschüler, die nichts mit Mädchen anfangen konnten. Nach der Schule hatte ich Sarah oft bis zu ihr nach Hause begleitet; wohl auch deswegen, da ich eine Weile irgendwie verliebt in sie gewesen war. Da waren wir beide sieben Jahre alt gewesen, gerade im zweiten Schuljahr. Das mit der Verliebtheit war irgendwann vorüber gegangen, nach einigen gescheiterten Versuchen der Annäherung. Später hatte Sarah Psychologie studiert. Ein Umstand, der mich eine Weile lang eingeschüchtert hatte. Wir hatten damals, ähnlich wie heute, drei oder vier Jahre lang fast

ausschließlich telefonischen Kontakt gehabt, und ich hatte mich irgendwann gefragt, wie man sich gegenüber einer angehenden Psychologin verhielt, die jemanden meiner Befürchtung nach komplett durchschauen konnte. Wovor genau ich mich gefürchtet hatte, wusste ich nicht; eigentlich kannten wir uns Beide ja sowieso in- und auswendig. Aber Sarah blieb so, wie sie schon immer gewesen war; der Umgang mit ihr war genauso unkompliziert gewesen, wie schon damals zur Grundschulzeit. Und heute war sie Psychologin. Was mich anging: Mein Lebensweg verlief weit weniger imposant. Mehr gab's darüber auch gar nicht zu sagen. Mir gegenüber im Zugabteil saß eine ältere Frau, die ihre Handtasche auf ihrem Schoß hielt, die Hände darüber gefaltet; sie war die ganze Fahrt über meinem Blick ausgewichen, wenn ich einmal zufällig in ihre Richtung gesehen hatte, und sie schaute die meiste Zeit über abwechselnd auf ihre Handtasche und aus dem Fenster. Irgendwie hatte

ich Zugfahren schon immer gehasst. Schon als Kind war es mir schwer gefallen, mich währenddessen zu beschäftigen; ich konnte während der Fahrt weder schlafen, noch ein Buch lesen, irgendwie fehlte mir dafür die Konzentration oder der Wille, und einfach nur tatenlos herumzusitzen, war auf Dauer auch keine Lösung. Also hatte ich irgendwann damit angefangen, mir Geschichten auszudenken. Diese Angewohnheit hatte ich mir bis heute beibehalten; wann immer ich aus irgendeinem Grund irgendwo warten musste, driftete ich ab in eine Art Parallelwelt, in der ich mit wechselnder Besetzung und vor wechselnder Kulisse irgendwelche abstrusen Geschichten ablaufen ließ. In der letzten Stunde war ein Mann, dem ich inzwischen den Namen Arne Brickmann gegeben hatte, in meiner Vorstellung aufgetaucht. Brickmann leidet unter chronischer Schlaflosigkeit und geht keinem festen Beruf nach; wovon er lebt, weiß niemand, doch hat er

anscheinend ausreichende Geldreserven, um sich keine Sorgen um Essen und Unterkunft machen zu müssen. Er lebt alleine in einer Einzimmerwohnung in einer namenlosen Großstadt, in der es immer Nacht zu sein scheint. Obwohl er bereits anfang dreißig ist, hat er keine Kinder und ist ledig. Freunde scheint er keine zu haben. Sein unscheinbares Äußeres passt zu seinem Charakter, und das ermöglicht es ihm, von den meisten Menschen nicht bemerkt zu werden, was auch seiner Absicht zu entsprechen scheint. Das hatte ich bereits über ihn herausgefunden. Nun betritt Brickmann eine Bar, schaut sich um, und setzt sich auf einen Hocker am Tresen. Neben ihm sitzt eine blonde Frau, die einzige Frau im ganzen Laden, wie er nebenbei bemerkt, ohne sich darüber zu wundern, und nippt an ihrem Glas. Brickmann bestellt einen Whiskey und klopft beim Warten unruhig mit den Fingerknöcheln einen Rhythmus auf den Tresen. Die Frau dreht sich zu ihm um und fragt:

"Schlagzeuger?" -- Nein, diese Stelle verwarf ich wieder. Die Frau dreht sich zu ihm um, mustert ihn, und wendet sich wieder ihrem Getränk zu. Kurz haben sich ihre Blicke getroffen und er hat bemerkt, dass sie nicht mehr ganz nüchtern ist. Der Whiskey wird serviert, und Brickmann nimmt einen Schluck. In der Bar geht es geräuschvoll zu; an einem der Tische streiten sich ein paar Leute, an einem anderen Tisch lacht eine Gruppe alter Männer in periodischen Abständen laut auf, und irgendwo im Hintergrund spielt Musik, die kaum zu hören ist zwischen all dem Lärm. Brickmann nimmt noch einen Schluck von seinem Whiskey, dann lehnt er sich auf den Tresen, den Kopf auf den Arm gestützt, und sitzt einfach nur da. Unvermittelt muss die blonde Frau neben ihm niesen. "Gesundheit", sagt Brickmann und dreht den Kopf zu ihr hin. "Danke", sagt sie, während sie noch die Hand vor

ihren Mund hält. Brickmann entscheidet, dass dies eine günstige Gelegenheit für einen Gesprächseinstieg ist, und dass er gerade Lust auf eine Unterhaltung hat. "Was macht eine Frau nachts alleine in einer schäbigen Bar?", sagt er. -- Obwohl dieser Satz wie aus einem schlechten Film klang, ließ ich die Szene so weiterlaufen. Die Frau lächelt. "Trinken. Und was macht ein Mann nachts alleine in einer schäbigen Bar?" "Trinken. Da haben wir ja schonmal was gemeinsam." "Ja, erstaunlich." Sie nippt an ihrem Glas und stellt es wieder hin. "Eine Person schwimmt im Schwimmbad neben einer anderen Person und fragt diese: 'Was machen Sie gerade?', und die andere Person antwortet: 'Schwimmen. Und Sie?'" Brickmann lacht auf, die Frau ist ihm sofort sympathisch; dann sagt er: "Okay, das war schon eine blöde Frage von mir. Ich dachte mir halt, ich spreche Dich einfach mal

an." "Und da wähltest Du dann einen Spruch wie aus einem schlechten Film", sagt sie und versucht dabei abweisend zu klingen. Es gelingt ihr nicht. "Naja, schon. Mir fiel eben nichts besseres ein. Ich bin kein Profi im Frauen ansprechen." Er kratzt sich am Kinn. "Aber wenn Du in diesem Film mitspielst, dann kann es doch gar kein schlechter Film sein." "Da, schon wieder." "Was?" "Schon wieder so ein lahmer Spruch", sagt sie nicht unfreundlich. "Ich habe wohl wirklich zuviele schlechte Filme gesehen. Ich bin seit einiger Zeit auch selten unter Menschen gewesen. Vielleicht habe ich vergessen, wie echte Menschen sich unterhalten." "Sind wir denn echte Menschen?" Brickmann überlegt. Die Gruppe alter Männer lacht im Hintergrund wieder auf. "Keine Ahnung", sagt er. "Manchmal kommt es

mir jedenfalls nicht so vor, dass ich ein echter Mensch bin." "Sondern?" "Ich weiß es nicht. Mit einer flüchtigen Handbewegung streicht die Frau sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Angenommen, Du wärst nur eine Figur in einer ausgedachten Geschichte, würde Dir das etwas ausmachen?" Brickmann lächelt. "Das denke ich schon." "Warum?" "Das würde ja unter anderem bedeuten, dass ich keinen freien Willen hätte." -- Ständiger Harndrang war ein Problem, über das wenige Leute gerne sprachen. Auf dem Weg zum Zugklo dachte ich darüber nach, wie die Geschichte weitergehen könnte; für eine ernsthafte Diskussion über den freien Willen fehlte mir eigentlich die notwendige Bildung; davon abgesehen, dass ein solches Gespräch nachts in einer Bar wohl auch nicht sonderlich

plausibel gewesen wäre. Ich setzte mich auf die Toilette und überlegte mir, dass die Frau Brickmann fragen könnte, woran er denn erkennen konnte, ob er einen freien Willen hatte. Ich verwarf die Idee wieder und spülte sie mitsamt des Urins die Toilettenschüssel hinunter. "Ich habe wohl wirklich zuviele schlechte Filme gesehen. Ich bin seit einiger Zeit auch selten unter Menschen gewesen. Vielleicht habe ich vergessen, wie echte Menschen sich unterhalten." "Für gewöhnlich jedenfalls nicht mithilfe von klischeehaften Filmsprüchen." Brickmann schweigt. Die Gruppe alter Männer lacht im Hintergrund wieder auf. Der Streit am anderen Tisch hat sich inzwischen gelegt, und man kann die Musik im Hintergrund nun deutlich vernehmen; es läuft Can't Seem to Make You Mine von The Seeds. Ungewöhnliche Musikwahl, denkt Brickmann und leert seinen Whiskey. "Nun ist uns wohl der Gesprächsstoff

ausgegangen", sagt die Frau. "Scheint so", sagt Brickmann. "Eine Diskussion über den freien Willen dürfen wir ja nicht führen." Eine Augenbraue der Frau hebt sich kaum merklich. "Ziemlich schade, was?" "Es geht so. Mir fehlt dafür sowieso die notwendige Bildung." Mit einem Zwinkern wendet die Frau sich ab um sich noch ein Getränk zu bestellen. "Für Dich auch noch was?", unterbricht sie sich, als sie sein leeres Glas sieht "Noch einen Whiskey vielleicht?" "Aber immer doch." Sie bestellt, die Getränke werden serviert. "Sag mal, wie heißt Du eigentlich", fragt die Frau und schnippt mit dem Finger gegen das Glas ihres Cocktails. "Arne. Und Du?" Die Frau trinkt einen Schluck, dann wischt sie sich den Mund mit der Hand ab. "Mal so, mal so." "Was soll das denn heißen, mal so, mal

so?" "Das soll heißen, das kommt ganz darauf an, wie ich mich gerade fühle." Brickmann runzelt die Stirn. Sein Blick wandert zu seinem Whiskey, den er bisher noch nicht angerührt hat. "Aha.", sagt er und hebt das Glas zum Mund. "Ich glaube, gerade fühle ich mich am ehsten wie eine Nora." "Nora also. Okay, Nora, freut mich, Dich kennenzulernen." Nora lächelt nur rätselhaft. -- Der Zug hielt gerade und ein Mann im Anzug mit Aktenkoffer betrat das Abteil. Stumm nickte er der älteren Frau und mir zu; ich erwiderte sein Nicken, die Frau blickte nur auf ihre Handtasche. Der Mann setzte sich, und der Zug fuhr wieder an. Am liebsten hätte ich das ganze Abteil für mich alleine gehabt, sodass ich nicht ständig aus meiner Geschichte gerissen wurde. Manchmal vergaß ich nach so einer Störung, was genau ich

gerade gedacht hatte, manche Details gingen verloren, und oft veränderte das den Verlauf der Geschichte. Nora lächelt nur rätselhaft. Brickmann denkt sich nichts dabei, blickt ins Leere, und trinkt weiter. Die Gruppe alter Männer lacht wieder, ohne dass jemand einen Gedanken daran verschwendet, dass diese Redundanz einem Beobachter einfallslos vorkommen könnte. Brickmann bemerkt zunehmend die Wirkung des Alkohols, die anfängt, ihn schläfrig zu machen. Wieviel Uhr es inzwischen ist, weiß er nicht, er besitzt weder eine Armbanduhr, noch ein Mobiltelefon, und so kann er nur grob schätzen; zwei Uhr früh schätzt er und leert seinen zweiten und letzten Whiskey für diese Nacht. Er verabschiedet sich von Nora, vergisst, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen, was er seit einer Weile vorgehabt hatte, und verlässt die Bar. Auf direktem Wege geht er nach Hause -- er wohnt nur ein paar Häuserblocks entfernt --, betritt seine Wohnung, schließt die

Tür, und legt sich noch angezogen aufs Bett. -- "Entschuldigen Sie", sagte eine Männerstimme. Ich war in Gedanken noch bei Arne Brickmann, und brauchte einen Augenblick, bis ich merkte, dass der vor Kurzem zugestiegene Fahrgast im Anzug mich angesprochen hatte. "Ja?", antwortete ich. "Hätten Sie vielleicht ein Taschentuch?" "Nein, tut mir leid. Ich benutze nie Taschentücher." Der Mann nickte wieder stumm und wandte sich dann von mir ab. Anscheinend hatte er die ältere Frau schon darauf angesprochen, ohne dass ich es mitgekommen hatte, denn nun frage er sie nicht danach. Brickmann liegt angezogen auf dem Bett und dabei fällt ihm ein, dass er vergessen hat, Nora nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Fast wäre er aufgestanden, um zur Bar zurückzugehen, und dies nachzuholen, doch dann überlegt er es sich anders. Während er sich auf dem Bett aufrichtet

bemerkt er nämlich, dass er tatsächlich viel zu müde und zu angetrunken dafür ist. Nachdem er sich wieder hingelegt hat, schläft er nach kurzer Zeit ein. -- An dieser Stelle stoppte meine Geschichte vorerst; einerseits, weil mir die Ideen ausgingen, andererseits, weil der Zug endlich den Bestimmungsort erreicht hatte. Ich nahm mein Gepäck und stieg aus. Vom Bahnhof bis zu Sarahs Wohnung waren es nur einige wenige Kilometer, und so verzichtete ich darauf, mir ein Taxi zu nehmen und fuhr mit dem Bus. Ihre Wohnung lag in einem ruhigen Viertel am Rande der Stadt. Wie schon bei meinem letzten Besuch hatte ich einige Romane dabei, die ich Sarah ans Herz legen wollte. Darunter war unter Anderem ein Buch von Karl Wilke, einem Autor, der heute größtenteils in Vergessenheit geraten war, und der ein paar wenige seltsame Bücher geschrieben hatte. Das Buch, das ich Sarah zeigen wollte, fand ich weniger gut, als viel mehr kurios. Der

Titel lautete "Die Frauenstädte", und es war eine Art Dystopie. Darin erzählt Wilke von einem fiktiven Land, in der alle erwachsenen unverheirateten Frauen in eigens dafür errichteten Städten leben, in denen es keine Männer gibt. Sobald eine Frau heiratet -- ob sie als Ehefrau zugelassen wird, darüber entscheidet ein Gremium, das sowohl aus Männern, wie auch aus Frauen besteht --, zieht sie gemeinsam mit dem Mann, der ihr vom selben Gremium zugewiesen wird, in eine der anderen Städte. Keine unverheiratete Frau besitzt einen Nachnamen; erst bei der Hochzeit bekommt sie diesen, nämlich den ihres Mannes. Es kommt wie es kommen muss, eine Junge Frau namens Elene bekommt Zweifel an der Richtigkeit dieses Systems und entwickelt nach und nach eine ganz eigene Sicht der Dinge; heimlich besorgt sie sich -- einige Bücher sind vom Staat verboten -- Literatur zu Themen wie Geschichte, Feminismus, Philosophie und so weiter, und

entwickelt sich, zunächst noch unbemerkt von ihrem Umfeld, zu einer Rebellin. Elena macht Bekanntschaft mit Gleichgesinnten, wird Teil einer geheimen Widerstandsgruppe, und erfährt immer mehr über die Hintergründe des herrschenden Systems. Diese Gruppe ist weit vernetzt; auch ein paar wenige Männer aus umliegenden Städten sind involviert. Mittendrin in dieser Entwicklung trifft Elena zufällig einen jungen Mann namens Kasper Hauck und verliebt sich in ihn. Irritiert von ihren Gefühlen versucht sie zunächst, ihre Zuneigung zu verstecken. Kasper Hauck bemerkt es jedoch, und hegt die gleichen Gefühle für sie. Nach einer Weile beginnen sie damit, sich heimlich zu treffen, und entwickeln eine Liebesbeziehung, in deren Verlauf sich für Beide herausstellt, dass sie den Wunsch haben, einander zu heiraten. Natürlich ist Elena inzwischen schwanger von ihm -- ein Umstand, der in dieser Art von Geschichte wohl unvermeidlich war --, und

irgendwann wird es unmöglich, die ganze Sache länger zu verheimlichen. Die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe halten sie schließlich für eine Verräterin; sie bedrohen Elena -- Kasper Hauck hingegen hat keine Konsequenzen zu befürchten --, und erklären sie praktisch für vogelfrei. Elena überlegt nicht lange und entscheidet sich, zu flüchten. Wohin, das weiß sie nicht. Natürlich will sie, dass Kasper Hauck mit ihr kommt, doch er weigert sich, stellt sich plötzlich gegen sie, und droht ihr zudem, sie zu verraten und damit ihren Plan zu sabotieren, sollte sie nicht augenblicklich zur Vernunft kommen. Das Schicksal des ungeborenen Kindes scheint ihm gleichgültig zu zu sein. Verzweifelt vor Wut und Enttäuschung ersticht Elena Kasper Hauck im Laufe des unvermeidlichen Streits mit einer Schere. Dann flüchtet sie panisch in einen nahegelegenen Wald. Und hier endet auch die Geschichte. -- Ich war gespannt, was Sarah dazu sagte.

Der Bus hielt, und ich stieg aus; mit meiner Tasche, in der ich nur das Nötigste verstaut hatte in der Hand ging ich zu ihrem Haus. Ich betätigte die Klingel, wartete eine Minute, und klingelte dann erneut. Keine Reaktion. Eigentlich wusste Sarah, dass ich heute um diese Zeit kommen wollte. Wahrscheinlich war sie gerade Einkaufen. Ich setzte mich auf eine Bank vor dem Haus, stellte meine Tasche ab, und zündete mir eine Zigarette an. Auf der Straße vor mir fuhr gerade ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift "Brückner & Gerlach" vorbei und blieb dann vor einem der Wohnblocks stehen; es stieg jedoch niemand aus. Ich aschte auf den Boden und dachte darüber nach, was Arne Brickmann wohl gerade machte. Brickmann erwacht in seinem Bett, öffnet die Augen, und fragt sich, wieviel Uhr es wohl ist. Im Zimmer ist es dunkel, und als er zur beleuchteten Anzeige seines Radioweckers blickt,

stellt er fest, dass er fünfzehn Stunden geschlafen hat. Wann er das letzte Mal etwas gegessen hat, weiß er nicht. Hungrig entscheidet er sich, dass er sich gleich auf den Weg zum Supermarkt machen wird, da er momentan nichts Essbares im Haus hat. Brickmann steht auf, verlässt sofort das Haus -- er trägt noch dieselbe Kleidung, mit der er sich am Tag zuvor ins Bett gelegt hatte --, geht zu Fuß zum Laden, und nimmt sich dort mehrere Fertiggerichte aus einem Regal. Als er die Kasse erreicht, an der schon ein paar Kunden stehen, bemerkt er, dass ihm die dunkelhaarige Kassiererin bekannt vorkommmt. Sie sieht ihn flüchtig an, scheint ihm zuzublinzeln, und schaut wieder weg. Erst einen Augenblick später wird ihm bewusst, dass die Frau, die dort an Kasse sitzt, Nora ist. Nora mit braunem, statt blondem Haar. Als Brickmann an der Reihe ist, spricht er sie an, sagt ihr, dass es ja ein ziemlicher Zufall sei, dass sie sich heute hier wiedertreffen, woraufhin ihn die Kassiererin

nur stirnrunzelnd anschaut und sagt, sie wisse nicht, wovon er rede, sie kenne ihn nicht. Verwirrt bezahlt Brickmann seine Fertiggerichte, und wünscht ihr trotzdem noch einen schönen Tag. Beim Verlassen dreht er sich noch einmal zu ihr um und sieht das Namensschild auf ihrer Brust, auf dem nur der Name Astrid zu lesen ist. -- Ich drückte die Zigarette aus. Der weiße Lieferwagen stand noch immer vor dem Wohnblock herum. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an. Langsam könnte Sarah mal komme, dachte ich. Brickmann verlässt den Supermarkt und eilt nach Hause. Dort angekommen wärmt er sich ein Mikrowellenericht auf und wartet. Nora geht ihm nicht aus dem Kopf, Nora, die eigentlich Astrid heißt, oder vielleicht auch nicht. Um sich abzulenken setzt er sich auf das Sofa im Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Es läuft ein alter Film, den er schon einmal gesehen

hat. Er erinnert sich daran, dass Jane, die Hauptdarstellerin in diesem Film, bei einem Autounnfall ihr Gedächtnis verloren hat und sich nicht an ihr früheres Leben, an ihren Mann, an ihre Kinder, erinnert; sie kehrt aus dem Krankenhaus nach Hause zurück und sieht sich Fremden gegenüber, mit denen sie nun leben muss; unfähig, mit dieser Tatsache klarzukommen, geht sie schließlich daran zugrunde und als Jack, ihr Mann, eines Abends von seiner Arbeit nach Hause kommt, findet er Jane leblos auf der Couch vor. Die Mikrowelle piept. Brickmann steht auf und geht in die Küche. Nachdem er gegessen hat, verlässt er erneut seine Wohnung und geht in die Bar, die er am Tag zuvor schon besucht hat, in der Hoffnung, er trifft Nora, oder Astrid, dort wieder. Und tatsächlich, als er sich dem Tresen nähert sitzt sie dort, auf dem selben Platz, an dem sie schon am Tag zuvor gesessen hat. Brickmann setzt sich neben sie, bestellt seinen

Whiskey, und dreht sich zu ihr um. Heute hat sie also wieder blondes Haar, denkt er. Der Whiskey wird serviert und Brickmann trinkt. Nora, oder Astrid, mustert ihn. "Da bist Du ja endlich", sagt sie. Brickmann setzt das Glas ab, runzelt die Stirn und sagt: "Wieso endlich?" "Na, ich hab' schon auf Dich gewartet. Hab' aber schon einigen Vorsprung." "Du meinst, Du bist schon betrunken?" Sie lächelt. "Naja, so würde ich das nicht sagen. Aber nüchtern bin ich auch nicht mehr." Brickmann trinkt. Dann sagt er: "Ist ja nicht schlimm. Vorhin ist mir übrigens etwas komisches passiert." "Was denn?" "Ich war im Supermarkt und an der Kasse saß eine Frau, die genauso aussah wie Du. Nur hatte sie braune Haare, keine blonden. Hab' sie angesprochen, aber sie hat gemeint, sie kennt mich

nicht." "Merkwürdig. Die Frau sah wirklich genauso aus wie ich?" "Ja, sie hatte nur eine andere Haarfarbe." "Und, fandest Du das gut?" "Was?" "Die Haarfarbe." Brickmann überlegte. "Ja, sah gut aus." "Und blond sieht nicht so gut aus?" "Doch. Beides sieht gut aus." Die Frau lächelt. -- "Hey", rief eine Frauenstimme. Sarah. Ich stand auf, nahm meine Tasche und lief ihr entgegen. Gut sah sie aus, dachte ich, voller Leben und voller Energie. Ihr Haar war länger geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten; nun reichte ihr es bis auf die Schultern, was ihr ausgezeichnet stand, wie ich meinte. "Hast Du lange gewartet?", fragte sie. "Nein, ich hatte mich gerade erst hingesetzt. Ist ja auch egal

eigentlich." Sarah lächelte. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Einkauftüte. Wir gingen nach oben. Als wir es uns gemütlich gemacht hatten, zeigte ich ihr die Bücher, die ich ihr mitgebracht hatte. "Die Frauenstädte? Komischer Titel", sagte sie. "Ja, schon. Ist auch ein komisches Buch. Irgendwie feministisch wohl. Aber auch eine Dystopie." "Klingt ja toll." "Naja, wirklich gut ist es nicht. Aber irgendwie seltsam. Lies es halt mal." Sarah schlug das Buch auf. "Elena erwachte in ihrem kargen Zimmer, in dem sich nichts befand, außer einem Tisch, einem Stuhl und einem Kleiderschrank", las sie vor. "Kein besonders spannender Anfang." "Das stimmt. Spannende Anfangssätze waren wohl nicht Karl Wilkes Stärke." Sie klappte das Buch zu. "Nie von diesem Typ

gehört." "Ich entdeckte ihn auch nur durch Zufall. Scheint nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein, glaub ich. Aber lies es mal, ich fand's irgendwie ganz cool." Den Rest des Tages vebrachten wir mit reichlich sinnlosen Gesprächen, so wie wir es immer getan hatten; wir konnten stundenlang über nichts bestimmtes reden, uns verlieren in albernen Hypothesen und was-wäre-wenn Spielchen, und am Ende hatten wir beide dennoch das Gefühl, uns vernünftig unterhalten zu haben, vernünftiger zumindest, als andere Menschen sich unterhielten, so erschien es uns jedenfalls, und das war alles, was für uns zählte. Wir hatten Rotwein getrunken, und so verliefen unsere Gespräche noch einen Tick alberner als sonst, noch absurder, als sie für gewöhnlich waren, und als ich mich irgendwann kaum mehr richtig artikulieren konnte, musste sie lachen und meinte, dass wir nun besser ins Bett gehen

sollten, bevor wir uns nur noch mit Zeichensprache verständigen konnten. Als ich im Bett lag, schlief ich sofort ein und erwachte erst am Vormittag des nächsten

Tages.

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monalisa592107 Super gern gelesen glg monika
Vor langer Zeit - Antworten
Drollibaer Danke!
Gruß
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Chaos_Valentin Oi!
du hast echt n coolen schreibstyle und auch die idee für die story ist nice...gibt es ne fortsetzung?
Chaos
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Drollibaer Danke,
bisher gibt es noch keine Fortsetzung :/
Gruß
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