Kapitel 106 In die Tiefe
Eden konzentrierte sich nur darauf, einen Schritt nach dem anderen auf den steilen Bergpfad zu setzen. Zu ihrer Rechten gab es nur ein endloses Geröllfeld, das bis zu den fernen, schneebedeckten Gipfeln anstieg. Einzelne Flocken tanzten durch die Luft und legten sich in einer feinen Schicht auf ihre Kleidung. Hinter und vor ihr liefen jeweils drei mit Musketen und Schwertern bewaffnete Soldaten. Selbst wenn sie es irgendwie geschafft hätte, einen der Männer zu entwaffnen, dachte sie düster, würde das wohl bestenfalls
dazu führen, das die übrigen sie rasch in die Enge treiben und töten würden… und dann säße Zachary erst Recht in Silberstedt fest. Sie musste einen anderen Weg finden, zu entkommen.
Zu ihrer linken fiel das Land fast senkrecht zu einer Talsenke ab, in die sich die traditionellen Holzhäuser schmiegten, die Silberstedt zu großen Teilen prägten. Direkt am Tor der Stadtmauer, die sich in einem Halbkreis um die Stadt zog und an den steilen Berghängen endete, standen die ärmlicheren Gebäude. Je weiter man jedoch in die Stadt hinein gelangt und sich dem nördlichen Ortsende näherte, desto prächtiger wurden die Häuser. Die
Bauten der Silberschmiede und Händler schließlich wurden nur noch dem dem düster über allem thronenden Anwesen in den Schatten gestellt, das sie vor wenigen Stunden verlassen hatte.
Die einzige Absicherung gegen einen langen Sturz in die Tiefe war ein modriges Seil das, zwischen mehreren ebenfalls nicht sehr stabil wirkenden, Pfosten aufgespannt war. Vor ihnen jedoch, weitete sich der Pfad schließlich zu einem Plateau, das genau zwischen zwei Berggipfeln lag. Hier oben schien es kein Leben mehr zu geben. Selbst die Gräser, die auf dem Pfad hinauf immer wieder durch den Schnee zu sehen waren, waren verschwunden. Stattdessen
konnte Eden nichts, außer grauen Felsen erkennen, zwischen denen sich Pfützen mit Eis sammelten. Und dann war da noch der gewaltige Schlund, der sich direkt vor ihnen öffnete. Der dunkle Abgrund war so hoch, wie ein Stadttor und wurde von Fackeln erleuchtet, die trotz des Tageslichts kaum alle Schatten vertreiben konnten.
Und war der Pfad noch verlassen gewesen, herrschte hier geschäftiges Treiben. Dutzende von Wächtern standen herum und wärmten sich die Hände an Kohlebecken, die man unter dem schützenden Felsüberhang des Minenzugangs aufgebaut hatte.
Andere gingen Listen durch, vermutlich
Aufzeichnungen über Fördermengen und Qualität, sprachen mit Händlern und Schmieden, die herauf gekommen waren um das eine zu erwerben, vom dem ganz Silberstedt lebte: Edelmetalle und Roherze.
Die wenigen bezahlten Arbeiter und Aufseher brachten das Gestein in großen Körben nach oben oder holten es von einem weiteren Trümmerfeld, direkt neben den Minen ab. Dort standen weitere Soldaten wache und behielten eine Gruppe Gestalten im Auge, die trotz der Kälte mit kaum mehr als Lumpen bekleidet waren und zwischen dem Tauben Gestein noch nach den letzten Resten Silber suchten, das die Arbeiter
unten übersehen haben mochten. Sklaven…
Eden hatte einen Moment nur Mitleid mit ihnen bis ihr wieder bewusst wurde, dass sie ihr Schicksal bald teilen würde… Früher, als ihr lieb war.
Ihre Bewacher trieben sie rasch an den Händlern Wachen und Arbeiten vorbei und hinein in den schlecht ausgeleuchteten Abgrund. Bisher hatte sie immer nur Gerüchte über diesen Ort gehört. Und das hätte eigentlich auch so bleiben sollen, dachte sie bitter. Götter, sie war wieder genau da, wo sie angefangen hatte. Nur das es diesmal sogar noch schlimmer kam…
Vor ihnen öffnete sich der
Höhleneingang noch einmal zu einer großen Kammer, in der man wohl ohne Probleme einen Flügel des Kaiserpalastest hätte unterbringen können. Und trotzdem stand die Höhle fast leer. Lediglich das ferne Licht einer Glaslaterne zeigte, dass jemand hier war. Neben der Laterne jedoch gab es hier praktisch kein Licht und Eden musste sich bald darauf verlassen, das ihre Bewacher schon wussten, wo es lang ging, während sich ihre Augen noch an die ewige Finsternis gewöhnten. Das stetige Plätschern von Wasser drang an ihr Ohr und spätestens jetzt verstand sie auch, wieso die Kammer so leer war. Sie standen am Rand eines gewaltigen Sees,
der auf drei Seiten von massivem Fels eingefasst wurde. Weiter vorne jedoch, dort wo das Ufer etwas abfiel und zu einem weiteren Tunneleingang führte, gab es eine große, hölzerne Barriere. Die Lampe, die Eden schon zuvor bemerkt hatte, hing direkt an einem Haken im Damm und beleuchtete eine seltsame Konstruktion aus Getrieberädern und Schläuchen, die über eine große Winde angetrieben wurde. Mindestens vierzig Menschen und Gejarn arbeiteten schweigend an den Hebeln, sorgsam beobachtet von mehreren bewaffneten Söldnern.
Langsam verstand Eden, was sie vor sich sah. Das hier war eine Wasserpumpe, die
die tieferen Ebenen der Mine trocken hielt. Aber… normalerweise würde da Wasser aus den Schächten heraus geleitet und nicht irgendwo gesammelt. Noch schlimmer, direkt am Eingang zu den eigentlichen Minen gestaut. Vermutlich gab es eine zweite Pumpe, die regelmäßig Wasser nach draußen schaffte, sonst würde hier schon alles überflutet sein. Tatsächlich kam ein hoher Stahlkessel in Sicht, als sie weiter gingen. Eine Dampfmaschine, jedoch offenbar nicht in Betrieb. Schwere Kohlesäcke waren in einer Felsnische auf einem kleinen Podest aufgestapelt, so dass sie nicht nass wurden.
Der Zweck des ganzen war nur teilweise
der, zu verhindern, dass die Schächte vollliefen, wie Eden langsam klar wurde. Es hatte durchaus noch eine perfidere Seite. Nur der Holzdamm verhinderte, dass die komplette Minenanlage wieder geflutet wurde. Und ein Damm ließ sich schnell einreißen wenn nötig. Bei einem Aufstand würden Andres Leute sich nicht die Mühe machen, den Wiederstand zu brechen. Sie brauchten nur die Barriere zu entfernen und jeder, der nicht rechtzeitig an die Oberfläche kam ertrank unweigerlich. Simpler Mord.
Wie oft Andre genau das wohl schon getan hatte? Eden wollte nicht darüber nachdenken, während sie gezwungenermaßen weiter in die
Dunkelheit hinab stieg, nach wie vor ihre Bewacher im Nacken.
Die Felsgänge wurden beständig niedriger, so dass sie stellenweise nur Gebückt gehen konnte. Die Gejarn meinte, die Felslasten, die über ihr lag spüren zu können. Besonders wenn sie sich die in regelmäßigen Abständen angebrachten Stützbaken ansah. Zwar wirkte das Holz stabil, Andre mochte sie alle ertränken, wenn es ihm gefiel, die Minen selber gefährden würde er wohl nicht, aber das änderte wenig daran, dass sie sich bereits wie lebendig begraben fühlte. Die Gänge erschienen zu eng, die Luft stickig… Es war, als wäre sie in einem Käfig aus Stein
gefangen.
Ruhig blieben, sagte sie sich. Wenn sie jetzt die Nerven verlor, wäre alles vorbei. Eden konnte ihre Bewacher mittlerweile gut erkennen, wohingegen diese wohl nach wie vor mit der Dunkelheit kämpften. Die Männer hatten die Finger bereits an den Abzügen der Gewehre liegen. Wenn sie einen Fehler machte, würde sie sterben. Den gefallen würde sie Andre nicht tun. Alleine schon wegen Zachary.
Als sie schon glaubte, der Tunnel würde einfach ewig so weitergehen, weiteten sich die Felswände zu einer dritten, überraschend gut beleuchteten Kammer. Größer, als selbst das Sammelbecken
weiter oben, hätte man einem Moment sogar glauben können, sich an der Oberfläche zu befinden, wäre da nicht die gewaltige Steinsäule im Zentrum des etwa kreisförmigen Raums. Im Licht hunderter Fackeln, die sich auf den glitzernden Silberadern im Gestein wiederspiegelten, zweigte eine unübersichtliche Anzahl weiterer Tunnel und Schächte in alle Richtungen ab. Schienen für Loren führten über den von tausenden Füßen glatt geschliffenen Boden der Kammer und zu einem großen Schmelzofen hin, aus dem sich ein stetiger Strom aus geschmolzenem Metall in Formen für Barren ergoss. Ein gutes Dutzend Aufseher beaufsichtigten die
Arbeit der Silberschmiede dort. Wohl einige der wenigen Arbeiten, die man nicht den Sklaven anvertrauen wollte.
Eine endlose Kolonne derselben zog entweder Karrenladungen Erz aus den Tunneln heraus oder mache sich unter den Rufen und vereinzelten Hieben der Aufseher wieder schnellstmöglich dorthin zurück. Eden ballte eine Hand zur Faust. Sie ermahnte sich erneut, dass es sinnlos wäre, jetzt die Nerven zu verlieren. Es würde niemanden helfen. Aber Ahnen, sie würde sich besser fühlen.
Ihre Bewacher trieben sie derweil auf die Schmiede zu. Neben den Arbeitern und Aufsehern fiel ihr Blick auf eine
weitere Gestalt dort, die an einem heruntergekommenen Holztisch saß. Ein rundlicher Mann mit einem vernarbten Gesicht und einem kahlen Schädel. Trotz seines rauen Aussehens trug er jedoch hochwertige Kleidung. Vor sich auf dem Tisch stapelten sich mehrere Barren, die noch leicht glühten und damit frisch aus den Gussformen stammten. Der Mann nahm sich jeweils einen und besah ihn sich einen Moment, bevor er ihn bei Seite legte, in einen großen Wagen, in dem bereits Dutzende weitere Warteten.
Während sie sich näherten, zog der Mann jedoch einen Barren zu sich, der ihm wohl nicht ganz gefiel. Eden konnte auf die Entfernung nichts entdecken, aber er
wohl schon, denn plötzlich sprang er auf, das schwere Stück Silber noch immer in der Hand.
,, Es ist wohl noch zu viel erwartet, das man von euch für euer Leben ordentliche Arbeit erwartet !“ Er holte aus und schleuderte den Metallblock nach einem unglücklichen Sklaven, der zufällig in der Nähe stand. Das Geschoss traf ihn direkt am Schädel und das widerliche Geräusch, mit dem sich Knochen verschoben und brachen, sorgte dafür, das Eden leicht schlecht wurde. Der Sklave war tot, bevor er auf dem Boden aufschlug, der Barren Silber, nun Blutverschmiert, schlug einige Schritte neben ihm auf dem Fels
auf.
Es schien jedoch niemanden zu kümmern. Lediglich einige der Schmieden-Arbeiter drehten kurz den Kopf. Allerdings auch nur, bis der Mann am Tisch den Blick in ihre Richtung drehte.
,, Jetzt muss ich auch noch Ersatz anfordern.“ , brummte er ungehalten. Irgendwie bezweifelte Eden, das er das Silber meinte… Für diese Leute hier warn ein Leben nichts wert.
,, Oberster Aufseher…“ Selbst ihren Bewachern hatte es wohl beinahe die Sprache verschlagen, denn der Sprecher klang nach wie vor unsicher.
,, Was ? Hat Andre nichts Besseres zu
tun, als mir euch Pappnasen hier runter zu schicken? Er bekommt sein Silber. Jede Unze. Und jetzt verschwindet.“
,, Malik. Wir…“
Der Blick des als Malik angesprochenen verfinsterte sich wieder. ,, Spuckt es endlich aus. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
,, Andre überstellt euch einen neuen Sklaven.“ , brachte einer von Endens Bewachern schließlich hervor.
,, Und das kümmert mich in wie fern ?“ Sein Blick wanderte zu Eden. ,, Schafft sie halt zu den anderen, dann kann sie sich gleich an die Arbeit machen. Sieht ja gar nicht so schlecht aus, wie der Rest, den ihr immer hier runter schleift.
Vielleicht überlebt sie sogar ein paar Wochen. Wobei vielleicht wäre es auch besser für sie wenn sie hässlich und halbtot wäre.“
,, Malik, Andre hat einige besondere Anweisungen, was sie angeht. Sie soll nicht…“
,, Dann kann er mir das selber sagen.“ Malik machte eine ausholende Geste. ,, Glaubt ihr Hohlköpfe wirklich ich kümmere mich um einzelne Sklaven ? Hier unten sind fast tausend davon.“ Er sah erneut in Edens Richtung, dann zu der Stelle wo der tote Sklave und der Silberbarren lagen. Mittlerweile hatte sich eine kleine Blutpfütze um den Körper gebildet. ,,
Aufheben.“
,, Und wenn nicht ?“ Eden wusste, dass sie diese Worte früher oder später bezahlen würde. Der Mann hatte schon klar gemacht, was er von der Idee hielt, sie hier unten zu haben. Ob Andre noch Pläne mit ihr hatte oder nicht würde ihm nichts bedeuten. Was der Herr Silberstedts oben war, das war dieser Kerl offenbar hier unten. Grund genug für Eden, sich gegen ihn aufzulehnen. Ihre Wächter rückten nervös von ihr ab, als der Mann erneut von seinem Tisch aufstand.
,, Normalerweise wärst du jetzt schon tot. Aber ich will mir nicht die Mühe machen, Andre das erklären zu müssen.
Noch nicht. Also… Lord Andre mag oben seine Kriege führen und Ränke schmieden, aber hier unten bin ich das Gesetz. Und dieses Gesetz kennt nur eine Strafe. Also noch einmal : Aufheben. Das Silber. Den Kerl könnt ihr verrotten lassen. Vielleicht sammeln ihn nachher ein paar der anderen ein. Aber an dem ist ja kaum was dran…“
Eden lief ein Schauer über den Rücken, als ihr klar wurde, worauf der Mann anspielte. Dafür allerdings, war sie selbst in ihren schlimmsten Tagen nie hungrig genug gewesen. Götter, was machte dieser Ort aus den Leuten?
Eigentlich sollte sie wohl in Panik ausbrechen, aber ihr Geist war ganz
ruhig, als sie auf den Toten zutrat und die Hand nach dem Silber ausstreckte. Was geschah, geschah. Es war einfacher nicht darüber nachzudenken. Nüchterne Objektivität über die eigene Situation war das einzige, was einen vor dem Wahnsinn retten konnte.
Der Barren war schwer und das Blut färbte das Fell an ihren Armen Dunkel. Mit wenigen Schritten war sie wieder am Tisch und ließ das Silber auf seine Oberfläche fallen.
,, Offenbar kannst du ja doch hören.“ Malik wendete sich an ihre Bewacher.. Gebt ihr ne Hacke und schafft sie in einen der Tunnel. Und wenn ihr es wagt, Andre Bescheid zu geben, sagt ihm auch
gleich, er soll sich beeilen mir seine… Anweisungen schriftlich zu geben. . Mit dem Auftreten macht die es keinen Monat. Vielleicht auch keine Woche…“