Gedanken in Gedichten und Prosa einer kleinen tapferen aufrechten Facebook-Literaten-Gruppe über die Vorweihnachtszeit und Weihnachten an sich von heiter bis kritisch oder total ablehnend
Inhalt: Seite
Otto Lenk: Weihnacht 7
Widmar Puhl: Lob der brotlosen Künste 8
Simon Raab: Geschenkt 10
Ralf Eisenhardt: Besinnung 12
Volk Er Rubin:
Kindheitserinnerungen 16
Martin Gehring : Knecht Ruprecht ( nach Storm) 20
Rene F. Violo: Noel 24
Walli Mio Madicken:
Sie kommen 26
Dagmar Herrmann:
Adventskekse 30
Ursula Kötz-Tintelnot
Nie wieder Weihnachten 42
Dark Xperience:
Die Plätzchendose 50
Lilly Fischer: Eine Begegnung 80
Eurelia Schmidt
Die Weihnachtsversuchung 88
Hans-Dieter Heun
Karl-Heinz, der Weihnachtshund 96
Mottobild, was die armen Poeten wochenlang anschauen mussten.
Otto Lenk
Weihnacht
Merkwürdig
Diese Stille
Zwischen all dem Leben
Merkwürdig
Dieser Stillstand in der Zeitenreise Alles eines Kindes wegen
Das die Sehnsucht stillt
Merkwürdig Diese Menschen
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Widmar Puhl
Lob der Brotlosen Künste
Der Glaube an einen Menschen
Ein Lied ein Gedicht
ein Bild ein Gefühl
An einen Sonnenuntergang
Ein Morgen danach
Die Liebe
Seit wann ernährt sie ihren Mann
Die Frau noch weniger
Vielleicht ein Kind (das isst weniger) Die Hoffnung auf bessere Zeiten
Auf Dichter Maler Musiker Tänzer
Auf Gerechtigkeit auch Verzeihung
Erst im Jenseits
Das Verstehen mit Worten
Ohne Worte gleichviel
Die ungleiche Sehnsucht nach Verständnis und ihre Erfüllung Schönheit die flüchtige
Das Gehör für die Zeit
Der Sinn für den Unsinn
Das gekonnte Sterben
Jeder sollte einmal im Leben
Ins Krankenhaus in Kloster
Oder ins Gefängnis für einige Zeit
Bei Wasser und Spinatsuppe oder so
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Simon Raab Geschenkt Brachial verschüchtern Hausfassaden. Heute bricht sie warmes Licht. Hinter dunklen Backsteinwänden sitzt ein altes Kind und spricht: „Lass die schöne Zeit vergehen. Ich komme mir so schäbig vor. Ich kann doch durch das Fenster sehen: Es sitzt ein Mensch vorm Gartentor.“ (S.T.)
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Bild Walli MM
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Ralf Eisenhardt
BESINNUNG
Monat und Tag vollenden das Jahr
erwarten Hoffnung und LIcht,
schauen auf jenes was war
nur die Hoffnung erfüllte sich nicht.
Und doch hat sich der Dom gefüllt
erhellt vom Schein der Kerzen,
Weihnacht uns`re Sehnsucht stillt
verdrängend alle Schmerzen.
Diese wundersanften lichten Tage
die der Friedensfürst gesandt,
sind stets Antwort, niemals Frage
nach dem unentdeckten Land.
Nach jenem Ort der Fantasie
am Horizont der Harmonie
alle Herzen sehnen viel,
so soll begleiten unser Leben
das angemahnte Streben
nach dem allerhöchsten Ziel.
Nur dieser Abend kann erwählen kurzer Zauber, heilig Glück, daß die Kinder einst erzählen noch fanden sie den Weg zurück.Im weihnachtlichen sich besinnen wird erneut der Traum beginnen der in jedem Herzen ist, das all das Schöne, all das Gute den steten Wahnsinn überflute und Hoffnung sich am Ziele mißt.
So laßt uns jetzt nach Hause geh`n
laßt uns SEINE Wahrheit seh`n
entzünden wir die Lichter,
und LIEBE die den Hass ersetzt
die noch niemanden verletzt
ist der miltätigste Richter...
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Volk Er Rubin Kindheitserinnerungen
In meinen Träumen öffne ich die Pforte,
ein schmaler Weg führt mich zurück nach Haus.
In mir erklingen wohlvertraute Worte,
wie früher eilt die Freude mir voraus.
Die stolze Eiche meiner Kindertage
streckt ihre kahlen Arme grüßend aus.
Ich schau zum hellen Eingang und ich wage
trotz meiner Sehnsucht nicht hindurch zu gehn.
Ich hebe eine Hand und löse zage
das Spinngewebe, um hinein zu sehn.
Wie damals wärmt der Weihnachtsbaum die Herzen,
mir ist, als würde Vater dort noch stehn,
und Mutter schmückt den Baum mit roten Kerzen.
Ein Blinzeln später ist das Bild verpufft.
Ich weich zurück mit wohligen Gefühlen
und hinter mir verfliegt der Weihnachtsduft.
Ein Sonnenstrahl weist mir den Weg zur Pforte,
ein Hauch von Wehmut schwingt noch in der Luft.
„Ich war zu Haus“, sind meine ersten Worte.
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Bild Martin Gehring
Martin Gehring
Knecht Ruprecht
(nach Theodor Storm)
Von drauß' von der Shopping Mall komm ich her;
Ich muss euch sagen, es grauset mich sehr!
Allüberall hinter Schaufensterscheiben
Sieht man des Konsumirrsinns Blüten treiben;
Für Stille Nacht und Besinnlichkeit
Bleibt heute im Kaufrausch keine Zeit;
Und wie ich so strolcht' durch erleuchtete Gänge, Da rief mich wer an, durch Menschengedränge: "Knecht Ruprecht", rief er, "alter Gesell, "Komm' hier herein und kaufe ganz schnell! Sieh doch nur, all die schönen Gaben, Gib zu, Du willst sie alle
haben,
Alt und Jung sollen fröhlich verprassen
Das Geld bitte in den Geschäften lassen;
Viel, groß und teuer muss es heut‘ sein,
Die Weihnachtsbotschaft, die schert kein Schwein.
Schau hin, die Menschen, sie wollen kaufen, In Abfall und Müll soll die Welt ersaufen; So war es ja stets, ein Jeder tut es. Mit Eurem Geld beschert Ihr uns Gutes. Sag an, was soll das Säcklein hier?" Ich sprach: "Das trage ich mit mir. Denn Äpfel, Nüsse, Mandelkern, das mögen brave Kinder gern." "Ich hör nicht recht, was soll der
Mist? Bist wohl am Ende Kommunist? Die Kinder wollen and're Sachen, Die sie zu Konsumenten machen. Alter, Nüsse? Du bist echt komisch. Schick muss es sein und elektronisch!" Von drauß' von der Shopping Mall komm ich her; Ich muss euch sagen, ich mag es nicht mehr! Nun sprecht, mir klingelt's in den Ohren: Für uns ist die Weihnacht auf ewig verloren. °°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°
René F. Violo
Noël
In unseren Mittelerdebreiten wird es zu Noël so gegen drei am Nachmittag schon wohlig dunkel.
Schickt die Sonne dann ihre letzten schrägen Strahlen und beleuchtet damit beiläufig wie zwei Menschen
sich vorm heiligen Fest einfach nur innig und bescheiden umarmen, so wirft das lange, ja riesenhafte Schatten.
Früge mich jemand nach dem Kern von Heiligabend,ich zeigte still lächelnd auf diesen kleinen Textund sagte dann:
für Claudschi hab ich den geschrieben.
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Dagmar Hermann
Adventskekse
Sie kramte die alte Keksdose vom Vorjahr hervor, der Muff von tausend Jahren aus den Talaren war es gerade nicht was der Nase entgegenströmte, doch besonders verlockend, das konnte ohne Umschweife behauptet werden, roch es nicht.
Egal, sie hatte ja den Adventskranz schon heute morgen auf dem Markt besorgt, pflichtschuldigst, wie sie selbst einräumte, wie dumm, dass man nicht zu seinen Überzeugungen stehen kann: Aber sollte sie die alte Dame von nebenan enttäuschen, jetzt wo grad ihr Mann verstorben war, und sie sie aus Mitleid eingeladen hatte, sie war so einsam und verstört. Sie beide, und wenn sie daran dachte, drehte sich noch der Magen um, im Nachhinein wunderte sie sich, dass sie dazu in der Lage gewesen war, hatten ihn im Badezimmer vom Fliesenboden aufgehoben. Auf einmal war es ganz still gewesen, sagte
Frau Lehmig, gerade noch habe er gerufen, ob sie ihm ein neues Badetuch reichen könne, und dann ein dumpfer Aufprall, und sie wusste gleich, da war etwas Schlimmes passiert. Dann hatten sie den dünnen nackten Körper ins Bett geschafft, und den Notarzt gerufen, aber dass er tot war, das konnte ein Blinder mit dem Krückstock sehen, so bleich und eingefallen waren die Wangen, und kein Atem mehr. Nun ja, er war ja schon lange krank, und die ganze Nachbarschaft hatte sich gewundert, wie lange der Mann schon durchgehalten hatte, und sie Frau Lena Lehmig, immer treu und brav für ihn gesorgt, aufgeopfert hat sie sich, haben
alle gesagt, so was findet man heute nicht mehr, so eine Ehe, durch dick unddünn, in guten wie in schlechten Tagen. Claire legte die weiße Decke auf, sie wusste wie alte Frauen so sind, so wie ihre Mutter, wie sie es auch von ihr erwartet hätte, es musste alles seine Ordnung haben, wenn Besuch kam, die weiße Tischdecke mit dem Lochmuster und das gute Kaffeegeschirr. Gerade hatte sie das blauweiße klassische Service im Recyclinghof gefunden, Claire war wild auf altes Geschirr, das passte immer, und dazu die lindgrünen Servietten, sie faltete sie sorgfältig zu
einem Hütchen.Wie konnte sie nur so leichtsinnig sein, die Nachbarin und zu allem Überdruss auch noch die Schwester, ein Besen, eine hochnäsige Patrizierin aus dem Vornehmenviertel einladen, die war nebenan zu Besuch, um Frau Lehmig zu trösten, dass ich nicht lache, dachte Claire. Aber das mit den Keksen machte ihr Sorgen. Warum war sie nicht noch eben zum Bäcker gelaufen, waren ja nur ein paar Schritte, aber sie dachte die Kekse wären noch in Ordnung so weit, also ansehen konnte man ihnen nichts; Es waren Kokosplätzchen und Mandelkekse, Cantuccini oder so ähnlich heißen sie, die waren als sehr
haltbar verschrien, aber es war ja Adventszeit, und sie hätte ruhig etwas frisches vorweihnachtliches Angemessenes besorgen können.Backen war ja schon lange nicht mehr drin, da er ja immer meinte, es schmecke zwar recht gut, aber für sie beide zu backen, das wäre zu aufwendig und ökologischer Wahnsinn, so redete er ja gerne, da hatte sich ihr der Verdacht aufgedrängt, er wolle ihr durch die Blume mitteilen, dass es nichts taugt, ihr Gebackenes, und sie hatte es unterlassen. Claire rückte den Adventskranz in die Mitte des Tisches, zündete eine der roten Kerzen an, gelbe wären feiner gewesen, fiel ihr jetzt auf, die Kekse ordnete sie
stufenförmig auf dem Servierteller, und legte ein paar Schokoladentäfelchen drumherum, nun sah es wenigstens ein bisschen nach was aus, dachte sie, da läutete auch schon die Haustürglocke. Schnell noch einen Blick in den Wandspiegel: Hmmh ja, okay, sie sah adrett aus, das Haar hinter die Ohren gestrichen und die Perlenohrringe, und die schwarzen enge Hose, der burgunderfarbene Pullover mit dem V-ausschnitt und einer antiken Amethyst-Brosche, Erbstück einer Ururoma, weitergereicht an die weiblichen, jeweils ältesten Nachkommene, sie grinste in die blanke Fläche des Spiegels, sonst war auch nichts zu
vererben gewesen. Es klopfte ungeduldig, typisch, die alten Frauen, keine Zeit mehr, war ja auch was dran, schnell öffnete sie die Windfangtür: „Herzlich willkommen, wie freu ich mich, Frau Lehmig und ...äh, Frau ...“, die Frau half ihr aus der Bredouille: „Rosenboom“, alles klar, ja wie hatte sie das vergessen können, aus der Linie der hanseatischen Bürgermeister. „Bitte einzutreten.“Frau Lehmig sah sie schelmisch aus ihren klugen braunen Augen an und sprach alsdann an ihre Schwester gewandt: „Die Claire, liebste
Schwester“, und das wusste sogar Claire, dass das Liebste gelogen war, „ist eine so gute und hilfsbereite Nachbarin. Du glaubst nicht, wie sie mir beigestanden hat, jetzt in der schweren Zeit.“ Damit war Frau Rosenboom zunächst einmal entwaffnet. Frau Lehmig hatte einen großen brauen Pappkarton in der Hand, aus dem es köstlich duftete, nach Zimt und Mandeln und Spekulatius. Frau Lehmig drängte Claire durch die Diele in die Küche und rief ihrem Schwesterherz zu: „Setz dich doch schon, da wo es dir am
bequemsten ist“, und die ließ sich nicht lange bitten, konnte sie doch auf diese Weise ungestört einen abschätzenden Blick in die Wohnstube werfen. In der Küche drückte Frau Lehmig Claire die braune Schachtel in die Hand: „Ich dachte mir“, sagte sie, „es könnte nicht verkehrt sein, ein bisschen Selbstgebackenes mitzubringen, ich weiß doch, wie knapp sie immer mit der Zeit, sind“, obwohl das gar nicht stimmte, Claires Schuldbewusstsein diesbezüglich meldete sich sogleich, sie war jedoch so erleichtert, dass sie Frau Lehmig alle Konventionen außer Acht lassend umarmte und ihr sogar ein
Küsschen auf die faltige Wange drückte.
Frau Lehmig strahlte ... deutete mit dem Finger in Richtung Wohnzimmerund flüsterte: „und sie kann dannhinterher nicht lästern.“
Beide lächelten sich an wie zwei Verschwörerinnen, als sie die Stube betraten, wo Frau Rosenboom am Fenster stand, die Gardine beiseite geschoben hatte und missbilligend in den Garten auf Jade, Claires schwarze Katze, starrte.© dherrmann
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Bild:Ursula Kötz Ursula Kötz Tintelnot Autorin Nie wieder Weihnachten Schneewittchen war ein sehr glückliches Mädchen. Sie liebte den Winter die glitzernde Kälte und den Schnee. So rein wie frisch gefallener Schnee waren auch ihre Gedanken. Sie liebte sieben Männer und war ihnen so treu wie es bei sieben Liebhabern eben möglich war. Manchmal wünschte sie sich eine Gefährtin. Denn die Sieben waren nicht unanstrengend. Die Tannen dufteten nach Tanne und auf ihren Spitzen saßen
silberne Sterne und glitzerten um die Wette. Ein kleines Mädchen, fast noch ein Kind, bot Streichhölzer zum Verkauf. Es fror ganz entsetzlich. „Komm mit“, sagte Schneewittchen. „Hier um die Ecke bewohnt eine alte Frau ein Haus aus Lebkuchen. Sie hat ein Herz für Kinder, Lebkuchen und immer ein warmes Feuerchen im Ofen.“ Sie ging mit der Kleinen an der Hand weiter und wich einer offenen Kutsche aus, die von einigen Huftieren mit reichlich Gehörn auf dem Kopf gezogen wurde. Der rotnasige betrunkene Kutscher schrie HOHOHOHO, setzte die Flasche an und trank. "Heidschi Bumbeidschi" brüllte er und zog die
Mütze über die Ohren. Die Weiber, die lasziv auf dem Kutschbock lümmelten, intonierten "Heidschi Bum(p)ei(t)schi." Sie trugen obszöne durchsichtige Gewänder und schwarze Lederstiefel. Alle hatten merkwürdig blinkende Reifen auf dem Kopf und schrien „wir sind Freudenengel.“ Schneewittchen war empört und hielt der Kleinen neben sich die Augen zu. Über den nächtlichen Himmel zogen sieben herrliche weiße Schwäne und sangen. Sie sangen ein wunderschönes zu Herzen gehendes Weihnachtslied. „Es ist ein Ross entsprungen.“ Und da Schwäne sterben wenn sie singen, fiel einer nach dem anderen tot vom Himmel. Da erschien
aus dem Nichts eine Dame von fülliger Figur und forderte die Menge, die sich die Unfallopfer anschauen wollte auf, die Vögel zu entfedern. „Mein Name“, sagte sie, „ist Holle, Edeltraut Holle.“ Die Leute gehorchten ihr, da sie eine Walther PPK. bei sich trug. Sie nahm einen Kissenbezug aus ihrem Rucksack und stopfte die Federn hinein. Plötzlich begann es zu schneien. Die Schneekönigin saß mit arroganter Miene in einem Riesenkürbis aus Eis. Sie winkte nachlässig aus ihrem Gefährt und die Schlampe achtete nicht auf Schneeweißchen und Rosenkohl, die den schmalen Waldweg vor ihr überquerten. Rosenkohl rollte einen Abhang hinunter.
Schneeweißchen rannte kreischend hinter dem rollenden Kohl, den sie so sehr geliebt hatte, her. Oben zwischen Tausenden von goldenen Sternen öffnete sich das Himmelstor, daraus sah mit leuchtenden Augen das Christkindlein hervor. Schneewittchen sah Schneeweißchen um ihren Rosenkohl trauern. Meine Chance, dachte das halbkeusche reizende Ding und ließ die Hand des kleinen Mädchens los. „Du solltest Feuerzeuge verkaufen, keine Schwefelhölzer“, sagte sie im Weggehen. Dann ging sie zu Schneeweißchen und Rosenkohl. Sie strich Schneeweißchen übers Haar. „Aus dem Rosenkohl lassen wir einen leckeren
Eintopf machen, mit gebratenem Schwan“, tröstete sie, „ich kenne da eine Frauensperson, eine Witwe mit Namen Bolte. Sie kann wunderbar kochen.“ „Und dann?“ Die Trauernde schluchzte auf und drückte den Rosenkohl an ihre Brust. Dann kommst du mit mir. Dort warten sieben Liebhaber auf uns. Schneeweißchens Augen strahlten, „nicht mehr jeden Tag Kohl. Ein Weihnachtsmärchen“, lachte sie. Über ihnen, oben am sternenübersäten Himmel, schloss sich das Himmelstor vor Christkindleins enttäuschten Augen. Ein weißbärtiger älterer Herr sagte, „das ist noch kein Anblick für dich, mein Kind. Und so
sahen weder er noch das heilige Kindlein wie ein kleines Mädchen mit dem letzten Hölzelein, das ihm geblieben war, die Welt in Flammen aufgehen ließ. °°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°
Bild Dark Xperience
Dark Xperience
Die Plätzchen-Dose Lautstark schallte es "Alle Mann aufstehen!" durch die Flure, als es auch schon an seiner Zimmertür klopfte. Schlaftrunken öffnete Christopher die Augen und tastete nach dem Schalter seiner Nachttischlampe. Die plötzliche Helligkeit blendete ihn so sehr, dass er die Augen zukneifen und sich die Bettecke wieder übers Gesicht werfen musste. Nein, ein Frühaufsteher war er definitiv nicht, aber das Waisenhaus hatte nun einmal seine Regeln und die
galten auch samstags. Zumindest hatte er keine Schule. Gähnend streckte und reckte er sich, bevor er die wärmende Decke zur Seite warf und sich mit einem Ruck erhob. „Wenn er sich jetzt beeilen würde...“, ging es ihm durch den Kopf, doch dann vernahm er schon das Gepolter der anderen Kinder, die in die Bäder stürmten. Jeden Früh das gleiche. Seufzend fiel sein Blick auf den Adventskalender, der auf seinem Nachtschrank stand. Vierzehn Türchen waren bereits geöffnet und heute würde er das fünfzehnte öffnen können.
Nur noch neun Tage bis Heiligabend. Neun Tage, in denen alles möglich war. Ja, er spürte es, dieses Jahr würde er es nicht nur still schweigend im Fernsehen verfolgen. Nein, dieses Jahr würde er sein eigenes kleines Weihnachtswunder erleben, denn dieses Jahr würden seine neuen Eltern kommen und sie würden ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Er würde mit ihnen vor dem warmen Kamin sitzen und das Haus wäre erfüllt
vom Duft frisch gebackener Plätzchen. Leise würden die Melodien seiner liebsten Weihnachtslieder durch die Zimmer schweben und ein ganzer Berg Geschenke würde unter dem riesigem bunt geschmücktem Weihnachtsbaum nur darauf warten, von ihm ausgepackt zu werden. Gähnend erhob er sich vom Bett, tauschte seinen Schlafanzug gegen bequeme Trainingsklamotten ein und zog die Jalousie nach oben. Über Nacht hatte es geschneit und die Welt lag nun in ihrem flauschigem Winterkleid vor ihm. Freudig warf er einen Blick nach
draußen und erkannte Frau Bank, die durch die weiße Decke stiefelte und etwas blau funkelndes unter ihrem Arm trug. Lächelnd winkte er ihr zu, als sie ihn bemerkte und lächelnd winkte sie ihm zurück. Christoph wand sich vom Fenster ab, öffnete das Türchen seines Kalenders, steckte sich das kleine Täfelchen Vollmilch-Schokolade in den Mund und ging langsam in Richtung Gemeinschaftsraum. Ja, dieses Jahr würde sein Wunsch nach Familie in Erfüllung gehen. Er konnte es mit jeder Faser seines Körpers spüren. Immerhin hatte er sich auch Schnee gewünscht und dieser Wunsch
war bereits in Erfüllung gegangen. Ja, in diesem Jahr würde alles ganz anders werden. Hatte er doch erst letztens zufällig eine Unterhaltung zwischen Frau Bank und Frau Schmidt belauschen können, dass keines der Heimkinder jemals älter als dreizehn Jahre gewesen wäre. Und in paar Wochen würde er seinen vierzehnten Geburtstag feiern. Das musste einfach bedeuteten, dass es jemanden gab, der ihn noch vor Weihnachten adoptieren würde. Mit einem breiten Grinsen versuchte der Junge sich seine zukünftigen Eltern vorzustellen. Nach dem Frühstück trat Frau Schmidt
vor die versammelte Kinderschar und begann eine der üblichen Reden, die sie jeden Dezember mehrmals zum Besten gab. Sie erzählte von Träumen, Hoffnungen und Wünschen, aber auch von Verantwortung und Pflichten. Christopher hörte nur mit einem halben Ohr zu, denn er kannte ihre Reden bereits auswendig. Stattdessen lies er seine Blicke durch den Raum gleiten. Zuerst fiel sein Blick auf das erwartungsvolle Leuchten der Zuversicht in den Augen einiger der jüngeren Kinder und dann auf das blaue Etwas, dass Frau Bank auf ihren Schenkeln abgestellt hatte, während sie den Worten ihrer euphorisch sprechenden
Kollegin lauschte. Was es wohl damit auf sich hatte? Alle applaudierten als Frau Schmidt mit ihrer Rede am Ende war und einige Kinder wischten sich sogar kleine Tränen der Rührung aus dem Gesicht. Dankend verließ sie den Raum und Frau Liane Bank, Herr Edwin Nuss und Frau Tina Gorn traten an ihre Stelle, teilten sämtliche Kinder in drei Gruppen auf und erklärten ihnen, welche vorweihnachtlichen Aufgaben am heutigen Tage jeweils auf sie warteten. Die Kleinsten bekamen den Auftrag Weihnachtsbilder und Wunschzettel zu
malen, die man an die Fensterscheiben hängen könnte, die etwas größeren Kinder bekamen die Aufgabe weihnachtliche Dekorationen zu basteln und Julian, Markus und er wurden für die Weihnachtsbäckerei eingeteilt, um Plätzchen zu backen. Darüber war er sehr erfreut, denn Christopher liebte Plätzchen über alles. Frau Bank geleitete die drei Jungen in die Gemeinschaftsküche, während sie noch immer das seltsame blaue Ding mit sich herum schleppte. Jetzt, aus der Nähe betrachtet erkannte Christopher, dass es sich um eine metallene Plätzchen-Dose handelte. In der Küche
angekommen händigte sie ihnen das diesjährige Plätzchen-Rezept aus und erklärte den Dreien, was sie zu tun hätten. Christopher kannte das alles schon, denn immerhin war er bereits das dritte Jahr in Folge für die Weihnachts-Plätzchen verantwortlich. Naja, okay, nicht ganz. Im letzten Winter war der ein Jahr ältere Sebastian der Chef-Plätzchen-Bäcker und Christopher war "nur" sein Gehilfe, aber trotzdem hatten sie sich gut verstanden gehabt und zusammen leckere Plätzchen gebacken. Doch in diesem Jahr war Christopher wieder der Chef-Bäcker und während
Frau Bank sich in eine Ecke der Küche verzog, in ihrem Frauen-Magazin blätterte und die Jungs gewähren ließ, teilten sich diese die Aufgaben untereinander auf. Markus, der elfjährige, braunhaarige Bub mit der Narbe auf der Wange, rührte den Teig an, während Julian, der schmächtige, zwölfjährige Brillenträger, ihn zu einem Teppich ausrollte, damit er, Christopher, gewissenhaft die Plätzchen ausstechen konnte. Es gab Sterne, Herzen, Weihnachtsbäume, Glocken und Sternschnuppen. Von den letzteren ganz besonders viel, damit sich auch die ganzen anderen Kinder etwas wünschen konnten. Die Zeit verflog und Blech um
Blech ausgestanzter Teig verschwand im Ofen, um Minuten später als Plätzchen wieder aufzutauchen und ihr süßlich verlockender Geruch durchströmte das ganze Waisenhaus. Frau Bank hatte ihr Magazin zu Ende gelesen und schaute den Kindern nun über die Schultern. "Das sieht ja lecker aus." sprach sie und Christopher jagte beim Klang ihrer Stimme ein kalter Schauer über den Rücken. Sie griff sich ein paar der goldfarbenen Plätzchen, schob sie schnell in die blaue Plätzchen-Dose, die sie keine einzige Sekunde aus den Händen gelegt hatte und wand sich zum Gehen. "Ich sehe
schon, dass ihr alleine klar kommt. Dann kann Ich euch ja auch getrost ein paar Minuten alleine lassen. Ich bin gleich wieder da, also macht keinen Unsinn." Mit diesen Worten und der unter dem Arm geklemmten Dose verließ sie die Küche, doch erst als die Tür wieder ins Schloss gefallen war, konnte Christopher dieses ungute Gefühl abschütteln. Er wusste nicht, was für ein seltsames Kribbeln das gewesen war, war aber überaus dankbar dafür, als es endlich aus seinem Körper und seinen Gedanken verschwunden war und sie weiter in Ruhe Plätzchen backen
konnten. Die Ruhe sollte allerdings nicht lange währen, denn irgendwie schaffte es Julian sich die rechte Hand am heißen Gitterrost zu verbrennen. Er schrie auf vor Schmerz, jammerte und winselte wie ein geschlagener Hund und wasserfallartig liefen Tränen an seinen Wangen hinab. Geistesgegenwärtig schob Christopher den jüngeren zum Waschbecken und ließ ihn seine Hand unter das eiskalte Wasser halten. Dann rannte er los, um Frau Bank zu suchen, die ihnen helfen musste. Er rannte so schnell durch die vertäfelten Gänge, dass er sich am Türrahmen ihres Büros
festhalten musste, um die Kurve noch zu kriegen. Schwungvoll warf er sich gegen die angelehnte Zimmertür, hinter der er ihre Stimme hörte, und sie flog mit einem lauten Knall auf. Erschrocken blickte ihm Frau Bank ins Gesicht, als er so unvermittelt in ihr Zimmer herein platzte. Noch immer hielt sie die etwa suppentellergroße Blechdose zwischen ihren Händen, doch dieses Mal war der Deckel leicht geöffnet. Führte sie etwa Selbstgespräche mit einer Plätzchen-Dose? Verwundert blickte der Junge zwischen seiner Erzieherin und der blauen Blechdose hin und her, während er versuchte wieder zu Atem zu kommen und wusste nicht so recht, was
er sagen sollte. Mit so einer Situation hatte er nicht gerechnet und es dauerte einen Moment, eh ihm wieder einfiel, weswegen er eigentlich gekommen war. "Frau Bank. Hilfe. Schnell. Julian. Am Herd verbrannt." kamen die abgehackten Worte endlich aus dem Mund des Jungen. Und auch die gute Frau gewann ihre Fassung zurück und löste sich aus ihrer Starre. "Ist gut Christopher, Ich komme sofort." gab sie ihm zur Antwort: "Geh schon mal vor, Ich komme sofort nach." "Okay." sprach der schnaufende Knabe und wandte sich wieder der Tür zu, um zurück in die Küche zu eilen, doch nicht ohne noch
einen letzten Blick auf die metallene Dose in ihren Händen zu werfen. Irgendwas an diesem Blechding zog seine Aufmerksamkeit an. Wie ein Plätzchen, dass nur darauf wartete, von ihm gegessen zu werden. Blitzschnell verschloss Frau Bank die blaue Dose, als ihr bewusst wurde, dass deren Deckel noch offen stand und sein Blick wie hypnotisiert an ihr hing. Das metallische Klacken des Deckels weckte ihn aus seiner Traumwelt und hastig spurtete er zurück. Sie versteckte die Dose wieder an ihrem Platz und eilte ihm dann nach. Julians Verbrennungen waren Gott sei
Dank nicht so schlimm, wie sie zuerst befürchtet hatte und dank Christophers schneller Reaktion waren noch nicht einmal Brandblasen zu sehen. Frau Bank versorgte Julians Hand mit Wund- und Heilsalbe, bevor sie ihm einen Verband anlegte. Als sie damit fertig war zog sie Christopher zur Seite, wo sie niemand belauschen konnte. "Es war gut von Dir, dass Du mich sofort gerufen hast. Auch wie Du reagiert hast. Du kannst wirklich stolz auf Dich sein." begann sie die Unterhaltung. "Ich möchte nur wissen, was Du gesehen oder gehört hast, als Du in meinem Zimmer gewesen bist?" "Ich,
also, ähm..." stotterte er. Etwas in ihrer Stimme klang bedrohlich. Hatte er etwas falsches gemacht? "Nun sag schon." forderte sie ihn noch einmal mit Nachdruck auf. Dieses Mal war der Klang in ihrer Stimme noch einen Zacken schärfer und eingeschüchtert antwortete Christopher wahrheitsgemäß: "Ich habe nichts gesehen oder gehört Nur sie, wie sie die blaue Dose in den Händen hielten." Dass er für einen kurzen Moment das Gefühl verspürt hatte, die Dose würde ihn zu sich rufen, das verschwieg er wohl besser. "Gut." sprach Frau Bank und streichelte ihm fast mütterlich über den Kopf. Die Schärfe war mit einem Schlag aus ihrem
Tonfall verschwunden. "Macht sauber, wenn ihr mit allem fertig seid und wascht alles ab." Dann wand sie sich wieder zum Gehen, doch dieses Mal drehte sie sich noch einmal um, bevor sie die Küche verließ, sah ihn mit kalten Augen an und sprach mit ebenso kalter Stimme: "Und Christopher, vergiss meine Plätzchen-Dose und halt Dich fern von ihr." Abgesehen von den üblichen kleinen Streitereien verlief der restliche Tag ohne nennenswerte Vorkommnisse ab und mehr oder weniger waren alle gut drauf und in vorweihnachtlicher
Stimmung. Abends lag Christopher in seinem Bett und las im Schein der Nachttischlampe eines der Bücher aus der hauseigenen Bibliothek, doch heute konnte er sich nicht so recht aufs Lesen konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu der geheimnisvollen Plätzchen-Dose ab. Warum machte Frau Bank nur so ein Geheimnis aus dem blauen Ding, obwohl sie es den ganzen Tag mit sich herum schleppte? Und warum zum Teufel sollte er sich bloß von ihr fern halten und sie vergessen? Je länger er darüber nachdachte, desto
unruhiger wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Bis schließlich die Neugier die Oberhand gewann und er sich dazu entschloss der Sache auf den Grund zu gehen. Es war ihnen eigentlich nicht gestattet nach zwanzig Uhr auf den Gängen herum zu schleichen und normalerweise war er nicht der Typ, der sich freiwillig Ärger einhandelte, doch diese Mal war seine Neugier größer als seine Angst davor erwischt zu werden. Es würde ja nur bei diesem einem Mal bleiben. Vorsichtig warf er einen Blick auf den Flur, in dem nur die grünen Fluchtweg-Leuchten ihren stummen Dienst leisteten.
Es war so ruhig, dass man meinen könnte, das ganze Haus würde bereits schlafen. Auf Zehenspitzen schleichend bewegte sich Christopher durch die Flure und versuchte so wenig Geräusche wie nur möglich zu machen, doch es blieb auch weiterhin ruhig. Selbst nachdem die Treppe so laut geknarrt hatte, dass er schon befürchtete durch die Treppenstufe zu brechen. Es war, als wäre er ganz allein in dem riesigem Haus unterwegs. Nach einer schier endlos erscheinenden Zeit erreichte er endlich das Büro von
Frau Bank und drückte vorsichtig die Klinke hinab. Sie war nicht wie üblich verschlossen. Die Scharniere der Tür quietschten leise, als er sie öffnete und sich hinein schob. Hier drinnen war es noch dunkler als in den Gängen und hätte nicht der Mond in das kleine Zimmer hinein geleuchtet, hätte er wahrscheinlich überhaupt nichts sehen können. So dauerte es jedoch nicht lange und seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Der Knabe schlich zum Schreibtisch und betätigte den Schalter der Leselampe, die die nussfarbene Fläche in ein warmes Licht tauchte. Christopher ging um den Tisch herum und begann nach der blauen
Blechdose zu suchen. Vorsichtig öffnete er eine Schublade nach der anderen, konnte ihrer jedoch nicht habhaft werden. Nach einer halben Stunde ergebnisloser Suche wollte er sein Unterfangen schon abbrechen, als sein Blick auf ein blaues Funkeln fiel, dass von einem der hohen Schränke zu kommen schien. Er schob ihren schwarzen Schreibtischstuhl an den Schrank heran, stieg hinauf und begann die Oberseite nach der verborgenen Dose abzutasten. Die Schrankkante schnitt sich bereits in das Fleisch seiner Unterarme, als er sie endlich mit den Fingerspitzen zu fassen
bekam. Millimeter für Millimeter zog er das Objekt seiner Begierde näher an sich heran, bis er es richtig greifen und vom Schrank heben konnte. Stolz über seinen Erfolg sprang Christopher vom Stuhl herab und stellte seine Errungenschaft wie eine Jagdtrophäe in den warmen Schein der Schreibtischlampe. Sie sah aus wie eine gewöhnliche blaue Plätzchen-Dose aus gewöhnlichem Blech und war mit gewöhnlichen weihnachtlichen Motiven versehen. Aber trotzdem war etwas anders an dieser hier. Er wusste zwar nicht was, aber er spürte einfach, dass etwas mit ihr nicht stimmte und heute
Nacht würde er ihr ihr Geheimnis entlocken. Mit einer Mischung aus mahnender Vorsicht und ungeduldiger Neugier schob er seine Fingernägel unter den Rand des metallenen Deckels, um ihn öffnen zu können. Er hörte noch, wie der Deckel leise zischte, als Metall an Metall schabte, dann wurde er ohne Vorwarnung in die Dose hinein gezogen und der Deckel verschloss sich selbstständig. Am nächsten Morgen war das Waisenhaus in heller Aufregung, als sich herumsprach, dass Christopher über
Nacht verschwunden wäre, auch wenn es nicht ungewöhnlich war, dass hin und wieder eines der Kinder für ein paar Tage verschwand. Nur Frau Bank saß ganz entspannt auf ihrem Schreibtischstuhl und griff sich ein Plätzchen aus der blauen Blechdose. „Ach Christopher...“ seufzte sie leise und biss genüsslich von dem zart schmeckenden Gebäck ab, während sie daran dachte, dass Julian im nächsten Jahr seinen dreizehnten Geburtstag feiern würde... © Dark Xperience
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Lilly Fischer Eine Begegnung, die mich berührte………….. Dezember 2013-lf Es war Samstag, einen Tag nach Nikolaus. Ein bisschen Sonne machte diesen Morgen freundlich. Wie so oft am Samstagmorgen fuhr ich mit dem Auto zum Einkaufen in den
nächst gelegenen Discounter . Dort kaufte ich also an diesem Morgen meine Schrippen, packte sie in meine Tasche und wollte gehen, als ich neben mir ein Mädchen, ca. 13 Jahre, bemerkte. Sie plagte sich mit vollen Brötchentüten und zwei Baguettebroten ab und versuchte, alles in ihre ohnehin schon übervolle und riesige, nicht sehr stabile Plastiktüte zu packen. Ich frage sie, ob ich ihr helfen kann und bot ihr an, sie mit all diesen vielen Sachen nach Haus zu fahren. „Nein, nein, sagte sie, ich schaffe das
schon, ich bin doch mit dem Rad da.“. OK, sagte ich und ging. Packte meine Sachen ins ‚Auto und brachte den Einkaufswagen zurück. Da sah ich das Mädchen wieder, sie versuchte mit großer Mühe, diese riesige Plastiktüte in ihren Fahrradkorb zu hieven. Ich ging auf sie zu, sagte sehr lieb zur ihr, „Das kriegst du so nicht hin.“ Sie blickte auf, Ihr Blick zeigte, wie verzweifelt sie war. Sie sah mich mit ihren großen Augen ganz traurig an. „Aber, ich schiebe mein Rad doch, ich wohne nicht weit von
hier.“ Jetzt sah ich, dass sie mongoloid war. Gleichzeitig war ich über die Selbstständigkeit erstaunt, mein Herz umarmte sie still, sie hatte es unbewusst schon erobert. „Wir müssen die Sachen umpacken“, sagte ich zu ihr. „Ich habe noch stabile Taschen und Tüten im Auto.“ Ich holte eine rote, stabile Einkaufstasche und eine stabile Plastiktüte aus meinem Auto und wollte ihre Sachen umpacken. Sie riss die Augen weit auf und sagte entsetzt und gleichzeitig traurig: „Das
geht nicht, das kannst du nicht machen, das soll doch der Nikolaussack sein (ihre große, dünne Plastiktüte), das ist eine Überraschung für meine Eltern, weil doch gestern Nikolaus war, ich habe doch für sie eingekauft.“ Sie war den Tränen nahe. Es brach mir fast das Herz, als ich sie so verzweifelt sah. Als sie meine rote Tasche sah, in die ich nun ein paar Sachen umpackte, schaute sie mich ganz glücklich an und fragte, ob sie die Tasche behalten kann. „Natürlich, sagte ich, das darfst
du“.. Sie freute sich so unendlich, dass ich ganz gerührt daneben stand. Gemeinsam packten wir den Rest ihrer Einkäufe in den Fahrradkorb. „Du musst deine Jacke zumachen, es ist kalt,“ sagte ich. „Ja ich weiß“, meinte sie. Ich machte Ihre Jacke zu. Sie sah mich glücklich und zufrieden an, umarmte mich mit ihren Kinderarmen und sagte immer wieder: „Ich danke dir vielmals, dass du mir geholfen hast, du bist so nett, und dass ich die rote Tasche behalten darf ist so toll, ich freue mich so sehr und danke dir
vielmals………..du bist so nett…“
Ich drückte und umarmte sie zum Abschied, dann schob sie mit ihrem Rad davon.
Eine Weile stand ich noch auf dem Parkplatz und sah ihr gedankenverloren nach. In diesem Moment kam ich mir vor wie ein Weihnachtsengel mit Gänsehaut.
Ich stieg in mein Auto und fuhr mit sehr berührten Gefühlen vom Parkplatz. Sie winkte mir noch einmal zu. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie sie über den Zebrastreifen ging und hinter den Häusern verschwand.
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Julie-Eurelia Schmidt Die Weihnachtsversuchung Als die Menschen noch ihre Träume lebten und auch an die Erfüllung ihrer Wünsche glaubten, da saßen zwei
geflügelte Wesen, - hier Engel genannt- auf einer Wolke. Der Eine stützte seinen Kopf auf die Hand und sah staunend herab, dass auf der Wiese unter „Wolke Nummer 7“, auf der er lag, eine Kuh spazieren ging. Jemand hatte sie auf den Namen Milka – Kuh getauft, denn große Lettern zierten das Fell. Immerhin, der Engel hatte das Lesen gelernt, weil sie täglich im Himmel die Bibel nach Versen der Liebe durchbuchstabierten, um den Menschen etwas auf die Erde zu senden. Die lila Schönheit aber fraß friedlich das Gras ab und ließ es sich Wohlsein. Das andere Englein auf der Wolke dachte fortwährend daran, dass, gleich
der Werbung aus dem Fernseher via Satellit den sie manchmal mit Gottes Genehmigung ansehen durften, Milka - Schokolade – so ganz in lila – „die zarteste Versuchung“ im Leben überhaupt sein soll. Da Engel jedoch im Himmel wohnen und bestenfalls für die Menschen da sind, um ihre Wünsche zu empfangen und zu erfüllen- doch sich selbst nicht mal vor Weihnachten auf Erden nur ein winziges Stückchen Schokolade kaufen können, sahen beide sehr verdrießlich hinunter auf die reale „Milka-Kuh“ und dessen Wiese. Aber, wie traurig wäre eigentlich unsere Geschichte, wenn sich selbst die Engel
zum Weihnachtsfest nichts wünschen dürften und auch an deren Erfüllung glauben würden? So sehr ersehnten sich beide, nur ein einziges Mal in den Genuss der überall angepriesenen Versuchung von Milka Schokolade zu gelangen. Gott konnte doch nur ein einziges Mal auch für sie ein Auge zudrücken und zaubern- wenigstens zum Weihnachtsfest, wo er für die Menschen tausendfache Augen hatte zum
Zudrücken. Engelsgedanken. Natürlich wussten unsere beiden Gestalten nicht, dass sie weder einen Mund zum Schokolade essen, noch eine Zunge zum Schmecken haben. Diese Dinge sind den Menschen vorbehalten
und nicht „Jahresendflügelfiguren“ – wie sie auch schon sehr unschön genannt wurden. Aber die zwei Engel besaßen große Unterscheidungsfähigkeiten. So zählte der Linke eifrig auf: Entweder gibt es: gut oder böse - reich oder arm- bunt oder einfarbig - langweilig oder cool. Schwarz oder ? Der Monologisierende auf Wolke 7 stieß abrupt seinen fast eingeschlafenen Engelsbruder an, welcher auch sofort in die Engelstrompete blies: lila! Bei seinem Ausruf schwirrte ein kleines Etwas vor die Nase der beiden. Da! - ein Würmchen und auch noch blinkend…Sie jubelten vor Freude und bestaunten das lila Glühwürmchen,
welches sich bis in ihre Engelshöhe verirrt haben musste. Sie waren sich schnell einig: Das Würmchen konnte nur so toll strahlen, weil es zuvor an der zartesten Versuchung, Milka- seit es Schokolade gibt, geschleckt haben musste. Das Wünschen hatte sich nun doch noch für unsere Engel ganz wirklich gelohnt. Sie genossen den lila Anblick und konnten „sich nicht satt sehen“, wie es von den Staunenden in der biblischen Weihnachtsgeschichte erzählt wird. Endlich wussten auch die himmlischen Heerscharen, was es mit der zartesten Versuchung, die Menschen kennen, auf sich hat. Freilich eine versuchte
Bescherung der Götter- es müssen nicht immer geflügelte Wesen und Worte im Munde sein, die uns zum Fest der Liebe erfreuen- manchmal reicht selbst etwas wunderbar Zerschmelzendes auf der Zunge… Für ein kleines Glück!
Doch wenn jemand auf der Erde demnächst die Engel jubeln hören sollte, dann kann das nur den Grund haben, dass es im Himmel wieder eine Extraportion Schokolade gab!
Julie-Eurelia 2014
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Von Hans-Dieter Heun
Bild: Dagmar Herrmann
Es war einmal ein uralter Weihnachtshund, der trottete müde, fast schon vor Schwäche torkelnd auf dem winterlichen Trottoir. Der Weihnachtshund trug eine zerschlissene rote Zipfelmütze, sein Bart war silbern und eisig hart vom bitteren Frost. Auch stand sein kurzer Atem weiß in der klirrend kalten Winterluft, denn der schwere Sack, voll mit Nüssen und Hundekuchen, drückte Lunge und Rücken. Seine Pfoten schmerzten darüber hinaus von dem Viehsalz, dass der Schnee Räumungspflicht bewusste Bürger auf ihren Bürgersteig gestreut.
Ja, es war wahrhaft keine gute Zeit,
diese Adventszeit für einen in vielen kalten Arbeitsjahren ergrauten Weihnachtshund: Die Nase triefte, der Alte spürte die Grippe, sein Weihnachtsbellen war rau, und verzweifelt versuchte er sich der Verse von „Oh du fröliche..." zu erinnern.
Die Weihnachtslaune war wahrhaft im Hundearsch, und die Pflicht, bei diesem Sauwetter zu bescheren, drückte auf sein Gemüt. Der Weihnachtshund dachte doch tatsächlich für einen kurzen Augenblick: Ach, wäre ich doch nur der Osterhund! Wie viel schöner müsste es wohl sein, auf einer grünen Wiese Millionen bunte Eier zu legen.
Auf einmal, in seiner allertiefsten
Depression, hörte er ein glockenhelles Stimmchen: „Schau mal, Mama, schau, da läuft ein echter Weihnachtshund!“
„Oh ja", antwortete die Mutter verzückt. „Endlich mal ein Köter, dessen Kacke auf dem Bürgersteig einzig und allein nach Tannennadeln und Lebkuchen duftet. Und schon denkt man doch gleich viel lieber ans Christkind."
Da aber wurde es dem alten Hund richtig warm ums Herz. War doch nicht alles so grau, wie es ihm seine farbenblinden Augen vorgegaukelt hatten? Gab es wirklich noch Hoffnung und Liebe in dieser tristen Welt?
Gerade wollte er auf die freundlichen Menschen zuwanken, ihnen mit seiner eiskalten Schnauze die Knie reiben und sie mit seinen Nüssen erfreuen, als plötzlich ...
Ein durchdringendes Sirren von unbarmherzigem Stahl zerschnitt die Nacht, bohrte sich schmerzhaft in sein rechtes halbtaubes Ohr. Doch die Reflexe des Weinachthunds funktionierten. Immer noch, trotz des Alters, trotz der Kälte, trotz der Grippe. Gedankenschnell wich Karl-Heinz - jawohl, in voller winterlicher Wahrheit, so lautete der Name unseres Weihnachtshundes - der Schlinge des fiesen städtischen
Tierfängers aus, sprang los, rutschte jedoch aus und schlitterte auf dem Eis der nächstbesten gefrorenen Pfütze auf die freundliche Mutter und das liebliche Kind zu, landete mit Sack und Pack ...
Jan Philipp Rabenhorn senkte das Blatt, in dem er gelesen hatte und legte es dann so eilig, als habe er sich die Hand daran verbrannt, zu den anderen Seiten des Computerausdrucks. Er seufzte. Dann nahm er seine Lesebrille ab und rieb sich mit der freien Hand über die Augen.
"Karl-Heinz, der Weihnachtshund ...", murmelte er, den Titel des fetten Manuskripts, das er zu bearbeiten hatte,
zitierend. Rabenhorn drehte sich im Sessel von seinem Schreibtisch weg und sah aus dem Fenster seines Büros, das sich im 8. Stockwerk des Kinbauer-Verlagshauses befand und allein schon durch die Höhe der Etage seine Stellung als leitender Lektor unterstrich. Über ihm, direkt unter dem Dach, waren nur noch die Tagungsräume des Verwaltungsrats und die ausgedehnte Zimmerflucht von Marie-Theres Kinbauer, der Witwe des großen Hubert Emanuel Kinbauer, die im Gegensatz zu ihrem Mann zwar die wirtschaftlichen Belange des Verlages leitete, das literarische Programm aber ihrem Cheflektor überließ.
Während Rabenhorn in den amorphen grauen Himmel starrte, überlegte er, was wohl der alte Kinbauer zu dieser Geschichte gesagt hätte, die heute der erfolgreichste Autor des Verlages als langerwartetes Meisterwerk per E-Mail geschickt hatte. Wahrscheinlich hätte er sie sofort im Ofen verbrannt und seinen Autor, Egon M. Friederbusch, gleich mit dazu.
"Karl-Heinz, der Weihnachtshund ..." wiederholte Rabenhorn, "ein Weihnachtsmärchen von Egon M. Friederbusch, dem Autor von „Edwin Egart und die Last des Schweigens“ und „Edwin Egart und Alwins Zaubergarten."
Egon M. Friederbusch, der ganz allein mit seinen Büchern um den Zauberlehrling Edwin Egart für den Verlagserfolg verantwortlich zeichnete ...
Egon M. Friederbusch, auf dessen dritten Egart-Roman ganz Deutschland voller Ungeduld wartete, hatte nichts besseres zu tun, als ein grauenhaftes 264-Seiten-Machwerk über Weihnachtshunde zu verfassen ...
Egon M. Friederbusch, der Geliebte von Marie-Theres Kinbauer ...
Egon M. Friederbusch, der nicht einmal "Oh, du fröhliche" richtig schreiben konnte ...
Rabenhorn starrte weiter zum Fenster
hinaus, entschlossen, sich erst zu bewegen, wenn es zu schneien begann.
Da klingelte das Telefon.
Marie Kinbauer am Apparat, er hasste dieses Weib aus ganzem Herzen, das kaum verwitwet bereits die Geliebte eines Hundeschriftstellers geworden war. Nebenbei bemerkt war sie eine grauenhafte Hobbyköchin, die so etwas Unsägliches wie Schichtkohl fabrizierte. Einmal hatte sie ihn zum Abendessen geladen, wohl in lüsterner Absicht. Er, ein Rabenhorn und bekannter Feinschmecker, konnte es nicht verhindern, hatte ihr nach dem Kohl auf das teure Designersofa gekotzt. Nun ja
...
"Rabenhorn!" Ihre aufgeregte Stimme schrillte in seine trüben Erinnerungen an zermantschten Schichtkohl. "Rabenhorn, haben Sie schon das Manuskript von Friederbusch "Karl-Heinz, der Weihnachtshund" gelesen? Ehrlich, ich bin überwältigt. Ich sage Ihnen, das ist schlichtweg ein Hammer!"
Friederbusch musste wahrhaft ein As im Bett sein, Rabenhorn räusperte sich: "Wenn ich ehrlich bin, nur bis zu der Stelle, wo der Hundefänger aufgetaucht ist."
"Sie müssen weiterlesen, Rabenhorn! Unbedingt! Das ist Weltliteratur, die Friedi da geschrieben hat. Nun machen
Sie schon, und ich erwarte eine ausführliche Stellungnahme von Ihnen. Bald!"
Was war denn das, die Kinbauer mischte sich in seine Kompetenzen? So ging das nicht, er war der Cheflektor. Vorbei mit dem Vorsatz, sich nicht zu rühren. Nun war Machtkampf angesagt!
Andererseits, die Zeiten waren schlecht, gute Lektoren gab es wie Sand am Meer. Seufzend nahm sich Rabenhorn erneut das Elaborat über den Weihnachtshund und suchte die Stelle mit dem Hundefänger. Und auf einmal bannte ihn die Handlung, denn es wurde dramatisch. Doch ein echter Friederbusch?
... und landete mit Sack und Pack, sich fast überschlagend, auf einem roten Plastikschlitten, den das Kind hinter sich herzog. Erschrocken ließ die Kleine los. Durch den ungestümen Sprung des alten Weihnachtshundes schoss der Schlitten, ungebremst von der Bürgersteigkante, auf die eisglatte Straße. Zorniges Hupen, ein Möbelwagen - Aufschrift: Sicher von Heim zu Heim - versuchte noch zu bremsen.
Karl-Heinz, machtlos auf dem Schlitten, sah das Weiße in den Augen des Möbelwagenfahrers, das Weiße und sein eigen Ende. Aus, vorbei! Die ihm vom
Christkind selbst gestellte Aufgabe, nach vielen Jahren des Ruhestands erneut herrenlose Hunde mit Nüssen und Hundekuchen unter dem großen Pinkelbaum zu bescheren, wurde durch einen simplen Möbelwagen verhindert. Nur noch Sekundenbruchteile im Advent, und der Hundetod durfte Weihnachten feiern. Versagt, eindeutig, er hatte es verdient, in der Hölle für stinknormale Köter zu braten. Ergeben senkte der Alte sein Haupt.
Urplötzlich: „Iiaah, Iiaah und Iiooh!" sang eine mächtige Stimme gegen sein Verderben an. Ein Freund in allerhöchster Not?
Es war so, denn eine kräftige Zunge
wickelte sich um Karl-Heinzens Lenden, wischte ihn von dem Schlitten und zog ihn unwiderstehlich in die warme Sicherheit einer rauchigen Kneipe. Uff, das war gerade noch einmal gut gegangen. Karl-Heinz wagte zu blinzeln, und Freudentränen quollen, als er den Freund erkannte: Kein Zweifel möglich, es war Singing Sam, der singende Kuschelesel.
Rabenhorn blickte wieder versonnen aus dem Fenster. Er seufzte. Diesen Schmarren von 264 Seiten sollte er noch weiter lesen? Musste er sich das wirklich antun? Er, der Cheflektor des Kinbauer-Imperiums, nur weil der
vertrottelte Friederbusch ein Weihnachtsmärchen geschrieben hatte und sich einbildete, es auch publizieren zu müssen? Und einzig und allein, weil die Kinbauer auf Friedi flog?
Er, Horst Jan Philipp Rabenhorn, der Klassiker lektoriert hatte wie „Die Schwalbe“ oder gar „Wie das Schwarz in den Himmel kam“. Andererseits: Er war fünfundfünfzig und die Zeiten schlecht. Abertausende jobsuchende Germanisten und Germanistinnen lagerten vor den Toren der Verlage und waren bereit für einen Pappenstiel zu arbeiten. Selbstredend hatten die keine Ahnung, aber das zählte doch heute nicht mehr, wo das Fastbook den Markt
überschwemmte wie die fetten Buletten der Burgerketten die Mägen der Schnellhungrigen.
Horst Jan Philipp Rabenhorn seufzte erneut, diesmal lauter und länger. Dann wandte er sich wieder dem verhassten Manuskript zu.
„Hey, das war aber knapp, Alter“, Sams Eselsohren wackelten vorweihnachtlich. Nur gut, dass ich mich gerade rein zufällig in meiner Stammkneipe befand. Dieser Möbelwagen hätte dich doch glatt ins Aus befördert.“ Sams Eselsaugen glänzten verdächtig, selbstverständlich nur aus reinem Zufall.
Karl-Heinz musste sich erst den Schleim aus der brennenden Kehle räuspern, ehe er antworten konnte: „Danke Sam! Man sollte alte Hunde wie mich nicht mehr bei so einem Sauwetter vor die Türe jagen. Ich weiß überhaupt nicht, warum man mich ausgerechnet diesmal noch auf die Tour geschickt hat, wo ich doch seit dreiundneunzig Jahren nicht mehr auf der Erde war. Ehrlich, ich find mich hier gar nicht mehr zurecht.'
„Schlag ein Weihnachtsei drüber, Charly, und dann trinkst du erst mal einen Pott von meinem „Sams Eselstraum“. Ich sag dir was: Das ist wahrhaft der heißeste Punsch unter der Mondsichel, den jemals ein Esel gebraut.
Da hebst du glatt ab und es geht dir so gut, als ob dir Lassie persönlich an deinen Nüssen knabbert.“ Ja, Singing Sam war schon ein wahrer Freund.
Rabenhorst hustete rau. Das war starker Tobak! Hätte jemand anders als Friederbusch solch einen Text geliefert, das Manu wäre längst im Altpapier gelandet. Frieder musste ja schon völlig schwachsinnig sein, so etwas Unausgegorenes aus der Hand zu geben. Hingegen die Kinbauer? Es gefiel ihr! „Ich bin überwältigt, ich sage Ihnen, das ist schlichtweg ein Hammer!“ Ein Schafscheiß war das!
Allerdings, es war schon ein Hammer.
Und es sollte noch toller kommen, denn Rabenhorn war erst auf Seite 37.
Der Weihnachtshund trank, schmatzte Eselstraum und spürte in seinen Gliedern die aufsteigende Wärme eines sanften Feuers. In allen Gliedern! Seitdem er einmal in einer Sakristei Messwein aufgeschlürft, den ein völlig besoffener Pfarrer auf dem Boden verschüttet, hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Vergessen die Gabenverteilung unter dem großen Pinkelbaum, vergessen die Beschwerden seines weit über hundertjährigen Körpers, er fühlte sich schlichtweg pudelwohl.
Karl-Heinz betrachtete den Kuschelesel mit neuen Augen, der gerade hingebungsvoll den Schlager sang, welcher ihn bei allen Damen rund um den Erdball berühmt gemacht hatte:
„Iiaah, Iiaah und auch Iiooh!
Will dein Stecher nicht mehr kuscheln,
Selbst nach Penne mit viel Muscheln,
Sind sie leer, des Typen Eier,
Hol zum Teufel ihn der Geier!
Denn du brauchst ihn wahrhaft nicht,
Du kennst ja schließlich Sam!“
(Letzterer Reim leise, fast flüsternd vorgetragen)
„Iiaah, Iiaah und auch Iiooh
Sam, der Esel, macht dich froh.
Das beste Grauohr für die Liebe,
Seitensprung und Seitenhiebe.
Iiaah, Iiaah und Yeah, Yeah, Yeah!”
Ehrlich, nicht übel der Song und auch der Typ selbst. Wenn er richtig überlegte, schon ein bisschen Kuscheln wert. Es störte Karl-Heinz nicht, dass Sam ausgesprochen männlichen Geschlechts. In seinem runzligen Hundealter nahm er doch alles, was sich bot. Im Himmel wie auf Erden. Er winkte dem Kellner, einem ausgesprochen depressiv wirkenden
Schankroboter: „Hey, noch einen Liter von dem Stoff!" und blinzelte Sam etliches versprechend zu.
Rabenhorn wurde schlecht, dieses blödsinnige Lied eines kuschelnden Esels schmerzte ungeheuer das onomatopoetisch geschulte Gehör. Und was zu viel, das wirklich zu viel! Gut, Friederbusch war Hausautor, noch dazu der erfolgreichste, und es war in allen ihm bekannten Verlagen gute Politik, die Geld bringenden Hausautoren mit Samthandschuhen zu streicheln. Doch wie weit sollte diese Übung gehen, musste er, ein Rabenhorn, Germanist und Philosoph, sich aus reiner Existenzangst diesem Schwachsinn
beugen? Er besaß doch noch seinen Stolz ... Und an Weihnachtshunde und singende Kuschelesel glaubte er schon gar nicht.
Aber Rabenhorn sollte eines besseren belehrt werden, schließlich herrschte die Gnaden bringende Weihnachtszeit.
Ein Piepen seines Notebooks ließ ihn auffahren. Eine E-Mail war angelangt. Als Absender prangte unübersehbar Marie-Theres Kienbauer. „Öffnen Sie die Anlage!“ war der bündige Text.
Er tat wie ihm angeordnet wurde, und auf dem Display entrollte sich ein Farbenteppich in Rot-Grün-Gold. Daraus schälte sich ein zotteliger Hund
in einem roten Mantel. Gleich daneben entstieg ein Esel mit Schlitten im Schlepptau einer grauen Wolke, aus der es fortwährend schneite. Der Schlitten barg als einziges Weihnachtspräsent ein Buch auf deren rotbrauner Frontpage eine goldene Schrift blinkte: „Karl-Heinz, der Weihnachtshund“. Jetzt erst bemerkte er die Laufschrift am unteren Rand des Bildes: „Nur bei Kinbauer: Das neue Weihnachtsmärchen von Egon M. Friederbusch, dem Autor der erfolgreichen Egart-Serie.“
Rabenhorn konnte nicht länger hinsehen. Die schreienden Farben und die grelle Aufmachung taten ihm körperlich weh. Wenigstens passt das
Bild zum Text, murmelte er und schloss das Fenster auf dem Display des Notebooks. Dann blickte er hinaus in den grauen Adventshimmel, legte sich in seinem Sessel zurück.
Er war gerade eingenickt, da klopfte es kurz und bestimmt an der Tür. Als sie sich öffnete, glaubte er zu träumen.
Rabenhorns Mundwinkel klappten nach unten - nicht vor Erstaunen, eher schon aus purem Entsetzen. Durch die Tür schob sich ein riesiger schwarzer, zotteliger Hund. Falsch, das war kein Hund mehr: Das war ein Kalb, ein Bär, ein Minotaurus, ein Oger!
Eine Woge muffigen Gestanks nach
nassem, ungepflegtem Fell schlug dem Lektor entgegen, der sich keine andere Hilfe wusste, als eiligst auf seinen Schreibtisch zu steigen. Rabenhorn hatte Angst vor großen bösen Hunden, und dieser hier war bestimmt der größte und böseste Hund, den er jemals gesehen. Da half es auch nicht, dass das Tier eine Nikolausmütze trug und einen grün-rotgestreiften Schal.
Der Hund jedenfalls trottete näher, legte seine riesige Hundeschnauze auf den Tisch, sah treuherzig nach oben zu dem panischen Lektor und sabberte genussvoll dessen Tischkalender voll.
„FRAU WIESENGARD!“ schrie Rabenhorn nach seiner Vorzimmerdame.
„FRAU WIESENGARD! Hier steht ein gar schrecklicher Hund! Sie haben einen Hund in mein Büro gelassen!“
„Wuff“, machte der Hund.
Frau Wiesengard jedoch antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte das gigantische Vieh die gute Frau Wiesengard gefressen. Rabenhorn sah sich vorsichtig um. Vom Schreibtisch auf die Fensterbank und aus demselben springen? Das war im 8. Stock keine gute Idee. Telefonieren? Das konnte vielleicht diesen Mörderhund reizen. Ihn mit Friederbuschs fettem Manuskript in die Flucht schlagen? Das wäre mutig, aber Rabenhorn war nicht mutig und keinesfalls schon lebensmüde.
In diesem Augenblick öffnete sich wieder die Tür. Der leibhaftige Friederbusch stand im Rahmen und lachte sich schief. „Komm, Karl-Heinz, sei lieb“, rief er endlich, „der Onkel will nicht mit dir spielen. Karl-Heinz!“ Er klopfte auffordernd auf seine Oberschenkel, doch der Hund ignorierte ihn völlig.
Friederbusch zuckte bedauernd mit den Schultern. „Schlecht erzogen, tut mir leid.“
Rabenhorn sah von oben auf den Schriftsteller, dann auf den Hund. Langsam wich die Panik. Er wäre jetzt nur zu gerne von seinem Schreibtisch herunter gestiegen.
„Das ist Ihr Hund, Frieder? Ja, sind Sie denn völlig wahnsinnig geworden?“ forderte er keine Antwort, mehr Trost. Dabei bemüht, leise und ruhig zu sprechen, damit der Hund bloß nicht nervös wurde. „Den Esel haben Sie hoffentlich nicht dabei“, fügte er noch mit Galgenhumor hinzu.
„Das nicht, aber etwas besseres ...“ erwiderte der Autor.
Überraschung: Ein Schneefrau, blond, blauäugig blinkend, grell geschminkte Lippen und mit einem langen Nerz bekleidet, der in der Farbe des Winters war: Marie Kinbauer, und sie schwebte. Rabenhorns Kinnlade klappte nach unten,
fast wäre er von seinem Schreibtisch gefallen, auf dem er immer noch hockte als Unwürde in Person.
Die Schneefrau Marie, Hure dieses verdammten Dichters, schwebte nicht einem Flöckchen gleich zu Boden, nein, Schwerkraft spielte für sie keine Rolle. Geradezu mühelos flog Marie zur Decke empor und nahm Platz auf der Hängelampe. Dort entrollte sie ein Spruchband, Lettern in Book Antiqua: „Einladung zu meiner Weihnachtsparty mit Schichtkohl, anschließend menage a trois".
Solches nahm des Lektors geschultes Auge noch wahr, bevor er vom Schreibtisch auf den Sisalteppich
stürzte, mit all seinen verbliebenen Kräften gleich ohnmächtig werden wollte, aber von Karl-Heinzens feuchter Zunge und seinem widerlichen Mundgeruch daran gehindert wurde.
"Ja, ja, mein Lieber!" Egon M. Friederbusch grinste sardonisch. "Sie stecken jetzt wohl mitten in einem, meinem Weihnachtsmärchen. Kommen Sie, genießen Sie das Wunder!"
Und aus weiter Ferne sang dazu ein besoffener Esel: „Wenn zur Weihnacht die rote Sonne im Meer versinkt, dir Sam, dein Esel, vom Ufer noch liebevoll zum Abschied winkt ...“
Menage a deux: Und Marie kam über
ihn, und sie wurden geschichtet wie Kohl, und im Fass gärte ihr Saft zu Weiniges. Während sie Karl-Heinzes Zunge englisch brieten und im Rosarot seines Innern lustvoll schwelgten, klang draußen das Jingle Bells wie die Glocken einer Nikolausverschwörung über ihre Leiber hinweg. Und dunstvoll roch ihr Gebäck nach Zimt, gepaart mit dem Rosmarinmus der holden Marie zu lustvollen Gaumenfreuden. Des Riesenhundes raues Bellen verhaucht in der Kehle des Genießers, sein Schwanzwedeln würzt die Suppe der Begehrlichkeit, und sein Fell, getrocknet und gepulvert, lindert Husten und Schleim. Doch wenn er
kommt, lindert er ihre Dürre, und Wasser füllt die Abendmahlschale und ...
Rabenhorn applaudierte: Was für ein Text! Endlich gehobene, erhabene Literatur!
... und Halleluja tanzten Engel gleich Schimären aus platzenden Ringen um die Welt.
Hart schlug Rabenhorns Kopf auf dem Sisalboden seines Büros auf.
Genau in dem Augenblick, in welchem Rabenhorn vor den erstaunten Augen von Friederbusch und dessen Bettgenossin Marie mit brünstigen
Fieberphantasien von seinem Schreibtisch hernieder und gen Sisalboden stürzte, während sich ihm die Zeit dehnte und er in einem Weihnachtsrausch befangen, der jedoch nur ein Schwächeanfall aufgrund eines überraschenden grippalen Infektes war, und er von einer Himmelsleiter der Glückseligkeit ins Antlitz der Herrn blickte, der ihm mit seiner großen, feuchten Zunge ableckte - selbstverständlich Karl-Heinz, welcher solches tat -, eben da begab sich am anderen Ende der Stadt, jenseits des Flusses, dort, wo der soziale Wohnungsbau scheußliche Sumpfblüten wachsen ließ und sich nur Lebensmüde
des Nachts aus den Häusern trauten, ein Ereignis, das, obgleich daran Personen beteiligt waren, die ihm vollkommen unbekannt, auf das Leben des Lektors einen bedeutenden, um nicht zu sagen, den bedeutendsten Einfluss nahm:
Es öffnete sich mitten auf dem Bürgersteig vor einer Döner-Bude ein Kanaldeckel knirschend, kippte dann langsam in die Senkrechte, um darauf mit der Wucht der Schwerkraft scheppernd auf den Beton zu klatschen. Anschließend stieg ein Mann aus dem rauchenden und stinkenden Untergrund, sich nicht im Geringsten an den Blicken der Fußgänger störend, die einen weiten Bogen um ihn machten.
Ömer Üzgür, schnauzbärtiger Ostanatolier und stolzer Besitzer des Bosporus-Imbiss, träumte sich gerade fröstelnd aus seinem Straßenverkaufsfenster in ein Restaurant am Strand des sonnenüberfluteten Bodrum, als sich der Mann aus dem Untergrund wie der leibhaftige Scheitan vor ihm aufrichtete. Ömer war zwar einige seltsame Aufzüge gewöhnt, schließlich wohnten einige seiner besten Kunden in der nächsten Straße im Männerasyl, aber solch einen Menschen hatte er noch nie gesehen.
Er sah aus, wie sich der theaterbegeisterte Türke den shakespearischen Hamlet vorstellte: Ein
großer, hagerer, dabei kräftiger, in Gliedern und Muskeln stark gebauter Mann - scheinbar in den Fünfzigern. Sein Gesicht mochte einmal gutaussehend gewesen sein, denn noch funkelten die großen Augen unter den schwarzen buschigen Augenbrauen mit jugendlichem Feuer hervor. Jedoch seine Kleidung, Mantel, Barett, gekräuselter Kragen, kurze, aufgeplusterte Hosen, darunter ein dunkelgrüner Strumpf - hing da nicht etwa auch ein Schwert an seiner Seite? - schienen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen. Erstaunlicherweise hatte die seltsame Kleidung jedoch nicht unter dem Abwasserkanal gelitten, dem der Mann
eben entsprungen war.
„Bin ich hier richtig im bildhübschen Bromberg an der Fiesel, der edlen Fürstenstadt mit ihren wohlgenährten Pfeffersäcken und den liebreizenden Töchtern? Sprich, Muselmann!", deklamierte der Fremde zu Ömer mit schöner, gleichwohl schon lange nicht mehr geübt klingender Bassstimme. Und Ömer konnte nur nicken.
„Dann, o Sohn des Propheten, sage mir: Wo kann ich den edlen Herrn Johann Emanuel Kienbauer finden, der allhier ein angesehen Buchgeschäft führet? Sieh, Abgesandter der Pforte, ich war einige Jahre nicht mehr im Lande und will einem Freund die Hände reichen",
fuhr der Fremde fort und lächelte. Ömer hingegen staunte und schwieg, während er für sich die Sätze des Unbekannten übersetzte.
„Aber verzeihe mir meine Ungeduld, rechtgläubiger Herr der Töpfe und Fleischspieße, deren sottene Wohlgerüche gar lecker in meine Nase stechen. Ich vergaß, meine Wenigkeit vorzustellen."
Er machte eine dramatische Pause.
„Ich bin ...", und der Fremde in den Pluderhosen schlug sich mit Macht auf die Brust, vollführte dann plötzlich einige seltsame Koboldsprünge, schrumpfte dabei ein wenig und bekam
einen Buckel, „also mein Name ist Karlnalrumpelstilzchen, der Echte! Aber eigentlich, Sohn des Kalifen, ist das nicht nur mein Name, sondern auch meine Berufung. Denn seit Jahrtausenden schon züchte ich Karlnickel ich in den Abwässern dieser schönen Stadt, eure Gerüche erlauben ihnen nämlich ein besonders langes Leben. Verstehst du?"
„Klar doch, krass!" Ömer verstand ... Bahnhof.
„Musst du auch, denn wir sind uns gar nicht so fremd. Du betreibst deinen Stand, und nun höre er mir einfach mal zu: Heute koch ich, morgen brau ich und übermorgen mache ich der Kinbauer
ein Kind. Kommt dir das nicht türkisch vor?"
Ostanatolier Üzgür konnte nur nicken.
„Jedoch", erneut zwei Sprünge, das Schwert schlug Funken auf der Straße, furchteinflößend, „vor fünfhundert Jahren wurde mir langweilig, ewig nur Karlnickel zu produzieren. Folglich verlegte ich mich auf die Aufzucht von Weihnachtshunden. Und was soll ich dir sagen, mein Freund aus der aufgehenden Sonne, nach unerheblichen Anfangsschwierigkeiten - einige Nachgeburten entwickelten ein Eigenleben und mutierten zu singenden Schmuseeseln - glückten mir die besten, langlebigsten Weihnachtshunde, die
unser Himmel je gesehen. Ich bin wahrhaft stolz auf sie, und jeder von ihnen trägt auch meinen Namen: Karl-Ludwig, Karl-Friedrich, Karl der Große und Karl-Heinz. Letzterer jedoch ist nun in eurem lieblichen Bromberg in geheimer Mission für mich unterwegs. Ganz geheim! Aber du, Sohn eine Esels, bloß nix verraten!"
„Und Marie kam über ihn, wurde geschichtet wie Kohl und im Fass gärte ihr Saft zu Weiniges, während sie Karl Heinzens Zunge englisch brieten ..."
So hätte Friederbusch schreiben müssen, so wird zeitgemäß gedichtet! Selbst in den Gedanken seiner Ohnmacht erfüllte
Rabenhorn noch seinen Job. So und nicht anders, und Frieder wäre ein Großer. Mit einem Weihnachtshund jedoch, mit Singing Sam, einem Schmuseesel und mit Karlnickeln aus dem Abgrund würde dieser Schreiberling zugrunde gehen ... An sich in Bezug auf sein schamloses Verhalten an Marie sogar wünschenswert!
Rabenhorn erschrak, erwachte fast aus bunten Bildern. Moment, hatte er gerade von langlebigen Karlnickeln geträumt?
Und es ging ein Raunen durch die Straßen. Ein Flüstern durch die Gassen. Er war auferstanden aus den
Eingeweiden der Stadt. Wo er seit Jahrhunderten rumorte wie schwerverdaulicher Schichtkohl. Karl, der Kanalgroßfürst, genannt Karnalkaiser und im Volksmund Karnalrumpelstilz. Doch jetzt war er leibhaftig erschienen.
Mitten unter ihnen. Mitten im Advent. Angekommen wie angekündigt in den Archiven der Stadt. Wo die geheimgehaltene Weissagung hinter sieben Türen ängstlich verborgen gehalten wurde. Er, der Herr der Weihnachtshunde und Karlnickelbaron.
Und ein Schauern fegte durch die kalten Schluchten aus Schichtbeton und Schichtkohl, durch Nachtschichten und
Tagschichten, durch alle Schichten der schlichten Bevölkerung. Aber nur das feine, ahndungsdralle Gemüt des Lektors Rabenhorn erfasste den Ernst der Gegenwart mit einem visionären Blick: Karl war adveniert! Friederbusch hatte sein opus magnum vollendet, und Karl-Heinz leckte ihm über die schweißnasse Stirn.
Rabenhorn sprang auf. Die blinkende Kinbauer stand ziellos in ihrer halben Nacktheit herum. „Marie-Theres, schnell weg von hier! Er kömmt über dich! Er wird dich nehmen, füllen, schichten wie Kohl. Karl, der inkarnalische, der untergründige, er ist
aufgefahren aus den Katakomben. Nichts wie weg hier! Sonst bist du dran!
Mit diesen Worten fasste er Marie-Theres Kinbauer, die Herrin des Kinbauer-Imperiums beim Schweifstern und schleifte sie zur Tür hinaus. Friederbusch und Karl-Heinz blickten ihnen fassungslos nach. Da, endlich, ging Karl-Heinz ein Licht auf. Das war es! Nur so konnte er die Situation retten. Er packte Friederbusch am Hosenboden und stob dem Rabenhorn hinterher.
*****
Der Lektor erwachte, griff in die rechte Betthälfte, suchte, fand Leere und grinste. Das war wohl noch einmal gutgegangen: Das fette Vieh Karl-Heinz war zu keinem blonden Drachen mutiert und seine Muse der Schreibkunst hockte sicherlich, wie immer verträumt, in ihrem Käfig, dessen Stäbe er nur zu putzen brauchte, um sie zu wecken. Jener Käfig, dessen Türchen heute vielleicht zu öffnen sei, heute, am Heiligabend.
„Ach, wie liebe ich diese Adventszeit!" rief er sich rekelnd aus, schwang die ansonsten schweren Beine leicht aus dem Bett und hüpfte wie ein Tänzer ins Bad.
Als er bald darauf mit einer Tasse seines Lieblingskaffees vor seiner privaten Flimmerkiste saß, um incomming Mails durchzusehen, überlegte er, ob er nicht längst wüsste, was sich heute wieder alles bei ihm auf dem Bildschirm tummeln würde - in seiner eigenen kleinen Welt war es schließlich recht übersichtlich. Und das sollte auch zumindest so bleiben!
Es war so, wie nicht anders zu erwarten: Über Nacht waren sie wieder aus ihren Löchern gekrochen, hatten sich in ihren literarischen Schweißausbrüchen gesuhlt, sich verkrampft über die Sprache hergemacht und ihn als Unschuldigen mit allem
überschüttet, was eigentlich Dinghaft auslösen müsste - immer und ewig auf und über ihn, den seinem Selbstverständnis nach weltbesten Lektor.
War das seine Qual, musste er wirklich über diese Schatten springen? Auch heute, am Heiligabend, da es wieder mal zu kalt war, um überhaupt irgendwo einkehren zu können, es sei denn unter einer warmen Decke? Werke, pseudoliterarische, nein, danke!
Eine Hundegeschichte! Nein, danke!
Ein Engelsgesicht mit Spitzhackenbrüsten! Nein, danke!
Eine verkochte Tomate mit
ausfließendem Gelbwasser. Nein, danke!
Aber das war alles zu erwarten gewesen. Er stellte die Flimmerkiste ruhig, nahm sich seinen Brenner und schabte an der Badtür die Farbe ab. Solch händische Tätigkeit war wenigstens etwas für ihn. Konstruktivität. Dieses wohltuende Entfernen des Altangebrachten. Und Farbe stinkt! Holz nicht. Also weg mit der Farbe! Tod der Farbe und dem Altangebrachten, das sich einzig und allein modern nennt!
Doch hatte er tatsächlich vierzig Jahre über Holzfällerlatein gesessen, um jetzt, nach dem Traktat über einen Weihnachtshund endlich zu erkennen,
dass er an sich nur ein Abbrenner und Anstreicher werden wollte?
„Wenn das keine Weihnachtsbotschaft ist“, dachte er euphorisch. „Arbeitet im Schweiße eures Angesichts, Leute, Möchtegernschriftsteller, nicht im Geiste! Vornehm ist das Handwerk, sinnentehrend nur das Geistwerk!“
Und da er das dachte, lächelte er und verbrannte sich glatt die Hand am heißen Brenner.
Rabenhorn ließ das Heißluftgerät auf den Boden fallen. Es schmorte ein Loch in den Berberteppich. Wütend riss der Lektor das Kabel aus der Steckdose.
Das war er doch, der Unterschied
zwischen der Literatur und dem wahren Leben: Das Leben schmerzt! Und es geht immer weiter. Man muss sich ständig auf Neues einstellen, kann nicht nachschlagen, wenn man etwas nicht versteht.
Rabenhorn rieb sich über die brennende rote Stelle an seiner Hand und überlegte, was zu tun war.
„Kaltes Wasser“, fiel ihm ein, „ eine Brandblase muss man kühlen. Und dann eine Salbe drauf.“
Das war kein vollständiger Satz: „Und dann muss man eine Salbe über die Wunde streichen.“
Jetzt hatte er eine „muss man“ Wiederholung: „Und dann sollte er
besser eine Brandsalbe über die Wunde streichen.“
Gut so. Rabenhorn trat also ins Badezimmer, wo er kurz die Vision eines in Fett und Filz eingewickelten Beuys hatte, der auf dem festgetrampelten Erdboden eines russischen Bauernhauses seine Brandwunden überlebte. Doch es war nur ein schlafender Hund, über den er beinahe stolperte.
Was heißt „nur"? Das war ein Riesenvieh, das Untier so entsetzlich groß, dass Rabenhorn nicht ans Waschbecken konnte. Und der Hund, so fiel ihm siedend heiß ein, hieß Karl-Heinz! Jetzt kam die Erinnerung
wieder mit voller Wucht, und er bekam weiche Knie. Rabenhorn trat einen Schritt zurück, setzte sich schwer auf die hölzerne Klobrille.
Von wegen Traum! Alles kam zurück, kristallklar schälte sich die Erinnerung an den gestrigen Tag aus seinem Gedächtnis, als wäre der Anblick des Hundes ein heißer Küstenwind, der den Nebel verjagt.
Er konnte das furchtbare Manuskript von Friederbusch geradezu vor sich sehen, die halbnackte Witwe seines ehemaligen geliebten Verlegers und einen Kalbshund, der ihm das Gesicht abschleckte. Auch der alte Familienfluch fiel ihm wieder ein, jener
Fluch, den ihm Herbert Emanuel Kinbauer in seiner Sterbestunde gebeichtet und an den er nie geglaubt hatte - gleichzeitig die Erkenntnis, dass Marie-Theres Kinbauer in höchster Gefahr war!
Gestern war der Schock des Begreifens wie ein Faustschlag gewesen, der ihn ohnmächtig niederstreckte. Dann, noch wie betäubt, hatte er handeln wollen, denn nur eine Person konnte noch helfen. Daher hatte er Marie-Theres gepackt und die Widerstrebende zum Aufzug gezerrt. Doch was dann geschah ...
Rabenhorn konnte sich nicht erinnern.
Ein unheimliches Loch war in seinem Gedächtnis. Der Aufzug öffnete sich, das wusste er noch. Aber dann? Und wie kam er in der Nacht in sein Bett, und wie dieser Hund in sein Badezimmer?
Der Lektor sackte auf der Toilette in sich zusammen, presste die Fäuste gegen seine Stirn, aber er vermochte keine Erinnerung hervor zu quetschen. Alles war schwarz. Das erste, was er wieder wusste, war sein Erwachen im Bett soeben mit dem niederdrückenden Gefühl, schlecht geträumt zu haben.
Da läutete es an seiner Wohnungstür. Rabenhorn stand auf, zog den Badschlüssel ab und sperrte so den noch immer schlafenden Hund ein. Er öffnete
die Tür. Vor ihm stand ein kleiner, untersetzter Türke mit imposantem Schnauzbart. Rabenhorn war sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Das war wahrscheinlich ein entlassener Strafgefangener, der ihm ein Abonnement des Readers Digest (entsetzliches Heft, Untergangsliteratur des Abendlandes) andrehen wollte.
„Ja, bitte, was wollen Sie?" fragte er unhöflich.
Der Türke hob überrascht die Augenbrauen. „Du dich wirklich nicht mehr erinnern, Rabenhorn? Du mich haben vergessen? Weißt nix mehr, wie wir gestern mit dem Scheitan gekämpft? Du mir an Seite und ich dir auch? Mit
Dönerspießen als Waffen? Du und ich?" Der Türke erkannte und nickte. „Tatsächlich, du hast vergessen. Ömer Üzgür bin ich, dein guter Freund. Und ich kann kommen rein?"
Damit schob er den verdutzten Lektor beiseite und trat ein. Aus seinem übervollen Orientalenherzen rieselten jetzt die Worte wie der Sand der Wüste oder der Schnee im Winter Ostanatoliens. „Rabenhorn, mein Freund, Kämpfer, krass, wie wir ihn in die Flucht geschlagen. Fürsten von Hölle. Wir beide! Aber dann sein Höllenhund gekommen und hinter ihm ein gar komisch Mann gelaufen. Der immer gerufen: „Karl-Heinz, du Hund
muss bleiben stehen, kommen bei Fuß, sitzen, halt, stopp!“ Nur der Hund weiter gelaufen, wie wenn wahrhaft Teufel hinter ihm her. Dann du warst weg. Ich nun bin froh, dass es dir gehen gut. Dass du sein sicher.“
„Wie haben Sie mich gefunden?“ Der Albtraum setzte sich anscheinend fort.
„Aber mein Freund, dich kennen doch jeder in Stadt. Ich nur fragen müssen und schon Leute reden. „Meinen vielleicht Herrn Rabenhorn, den Gelehrten?“ oder „Ach Herr Professor Rabenhorn, ja, der wohnen am Lärchengrund.“ Also kein Problem dich finden, lieber Freund.“
Rabenhorn wuchs um fünf Zentimeter. Er wusste, dass er angesehen und geachtet war. Doch dieser Beweis seiner landesweiten Dominanz als Kulturmensch kam zwar überraschend, tat seiner verletzlichen Künstlerseele jedoch gut. „Aber was ist mit Marie-Theres Kienbauer? Die Frau mit dem Stern. Du weißt schon.“
Ömer lachte verschmitzt. „Ah, schöne Miriam, die Sternenbraut. Ja, also ...“ ,dann wurde er ganz kleinlaut und drehte sich zur Seite.
Rabenhorn packte ihn bei den Schultern. „Sprich, verdammter Dönerbrater, was ist mit meiner Theres?“
Ömer zuckte zusammen. „Der Böse,
Fürst von Hölle, er sie nehmen mit, hinab ins Innere von Erde, wo die Feuer brennen viel. Sie verloren und es mir tuen leid. Ich da nix machen gekonnt, nix dagegen. Und du, mein Freund, echt krass weggetreten sein.“
Rabenhorn wankte. Sollten alle Kämpfe vergebens gewesen sein? Alle Angst, alle Anstrengung, die Wunden an Seele und Körper, alles umsonst? Aber just an diesen Punkt seiner Verzweiflung regte sich der Trutz des ererbten germanischen Geblüths in ihm.
Niemals! Und wenn er dem Scheusal bis in die städtische Kanalisation folgen müsste, er würde Marie-Theres retten.
„Los Ömer, wir müssen sie befreien. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Und mit einer Kaltschnäuzigkeit, die er sich selber niemals zugetraut hätte, lief er ins Bad, packte den völlig verdutzten und tranigen Karl-Heinz-Hund bei den Ohren und schleifte ihn zur Tür hinaus.
„Ömer, auf gehts! Auf in den Kampf! Wir retten das ehrbare Weib aus den Fängen des Untiers!“ Mit diesem theatralischen Aufruf zogen sie von dannen, öffneten den nächstgelegenen Kanaldeckel und verschwanden in die Unterwelt.
Karl-Heinz, der Weihnachtshund, war daheim. Die städtische Unterwelt mit den
Kanälen, Ort seiner Aufzucht und der ersten Trottversuche, war im vertraut. Aufgeregt hechelte, zog - fast vermochten Rabenhorn und Üzgür nicht zu folgen -, schnüffelte er durch die nach Kloake stinkenden Windungen und fand einen Schuh.
Ein Unterschenkel, ein Knie und die blutige abgerissene Hälfte eines Oberschenkels hingen an der englischen Maßarbeit. Rabenhorn kannte das Schuhwerk und auch das Stück Anzughose, Armani, das sich nass um einen Unterschenkel wickelte. Friederbusch, falls er noch lebte, würde hinfort wohl eine Prothese brauchen.
„Schönes Knie das, könnte glatt noch
einige Jährchen gut gehen!" Üzgür schrie gegen einen Abwasserschwall.
Hinfort ist ein feines Wort, und der Türke redet ungewollt doppelsinnig, dachte der Lektor, wurde aber selbst schizophren: Was tu ich hier... und ich auch? Den Gral retten aus den Händen des Islams, mit einem Muselmann an unserer Seite, Sohn eines schmusenden Esels? Nein, wir folgen nur dem Schweifstern, wir vier Weisen aus dem Morgenland, denn siehe, der Stern verkündet die mögliche Entbindung Marie-Theres.
Oh Himmel hilf, Marie wohl möglich die Mutter eines Überliteraten! Ein Kind, und von wem bei Schichtkohl
gezeugt?
Ömer rette ihn vor dem totalen Wahnsinn: "Guck mal vorn da, fettes Licht!" Aufgeregt schwenkte er das blutige Bein von Friederbusch.
Die rote Mütze fiel Karl-Heinz vom Kopf, er sprang nach vorn, und die Nüsse in seinem Sack schaukelten mächtig. Rabenhorn, dem Weihnachtshund durch die Leine verbunden, flog hinterher.
An einem Krampen unter lodernder Fackel hing Egon M. Friederbusch. Er lächelte, in seine Brust genagelt ein Schild: „Advent, Advent, ne Fackel brennt, erst eine, dann zwei, aus drei
mach vier, du stehst beim Christkind vor der Tür!" Merkwürdiger Humor. Und Friederbusch lächelte auch huldvoll darüber … in Ewigkeit, Amen.
Eine grüne Woge der Übelkeit schwappte über Rabenhorn zusammen. Üzgür legte noch eine Schaufel drauf. „Dieses Mann muss nicht mehr sorgen für geschriebene Wort. Echt krass das! Aber Botschaft gut. Du mir glauben nun, mein Freund: Christkind hat echt Pluderhosen an, ist sich auch nur ein Scheitan?"
„Bloß weg hier!" Der Inhalt seines Magens kletterte Rabenhorns Kehle empor. Schichtkohl?
Der verdammte Türke jedoch blieb die Ruhe selbst. "Gut, suchen zweite Fackel, bin schon gespannt, was hängen da."
Seltsam, wieder einmal bewies sich, dass ein simpler Handwerker - und sei es nur ein ausländischer Bratspießdreher - in einer Krise dem empfindsamen Intellektuellen weit überlegen ist. Mühsam folgte der Lektor dem flinkfüßigen Türken, schwor sich: In meinem nächsten Leben werde ich Hühner ... nein, Weihnachtshundebrater. Denn der Köter ließ ihn ständig stolpern.
Üzgür dagegen lief leicht und locker, und Karl-Heinz zog Rabenhorn durch die
nach Schwefel stinkende, klebrigen Schweiß treibende Luft.
Irrsinn: Ich kenne das, Höllendämpfe, die Schläfen schlagen machen und Lungenflügel in den Rachen stülpen. Dantes Inferno! Augen flattern, Haare jucken, und alles für Marie. Marieh, Marieeh! War das die Hure wirklich wert? Ja, schon … nein … doch!
Irre im Sinn? Karl-Heinz wedelte zustimmend mit seinem Schwanz.
„Schau, meine gute Freund, zweite Fackel, und hängt sich schmusender Esel!"
Rabenhorn sah den Schmuseesel an: mit den langen Ohren an einer Eisenstange
aufgeknüpft, die Beine in die Kanalbrühe hängend, blöde grinsend - wohl vom Rauch der Fackel völlig benebelt -, mit der langen Zunge den Schwefeldampf durchlallend, wie ein Wesen aus jenseitigen Tiefen. Der Philosoph in ihm erstarrte. Das war wahrlich Teufelswerk!
Der höllische Klumpfuß war bereits hier gewesen!
Wieder musste er an Marie-Theres denken. Ihn schauderte. Wäre er doch nur nicht Lektor geworden. Er hätte sich all das erspart. Als Dachdecker oder Pflasterer wäre er garantiert nie mit
Friederbusch, Karl-Heinz oder auch der Kinbauer in Tuchfühlung gekommen.
„Warum musste ich auch Germanistik studieren? Zu welchem Zwecke?“ Fragen über Fragen, doch leider keine Antworten.
„Ay, mein Freund, müssen gehen!“ Der praktische Orientalenspießer riss ihn aus seinen Gedanken. „Miriam-Theresa müssen nun gerettet werden.“ Damit lief Üzgür weiter und Karl-Heinz hintendrein, den noch immer sinnierenden Intellektuellen an der Leine hinter sich her schleifend.
Zweitausend Liter stinkende Brühe, vier
Kanaldeckel und einen Schacht weiter, der den unbeholfenen Rabenhorn beinahe verschluckt hätte, sahen sie das Unaussprechliche. Karl-Heinz verging das Sabbern. Selbst Ömer blieb der Mund offen stehen und die Sprache verschlagen. Fackel Nummer drei!
Kanalratten hatten seine Zehen abgefressen, weiße Maden gingen auf ihm spazieren, der Gestank seines in Auflösung begriffenen Skeletts überlagerte selbst den Schwefel der Hölle.
„Es wird hoffentlich bald dunkel, es wird schon bald Nacht ..." Mehr Weihnachtslieder fielen Rabenhorn beim
Anblick des exhumierten Verlegers Hubert Emanuel Kinbauer und seines ewigen Begleiters nicht mehr ein. Neben der bis auf grünlich schimmernde Knochen abgepolkten Leiche - nur für den gut Vertrauten kenntlich an der gewohnten rotgetupften Fliege um ein paar Wirbel, die sich ehemals Hals genannt - stand nämlich ein äußerst depressiv wirkender Schankroboter.
Selbst das wäre noch für den Lektor, einen gläubigen Türken und einen treu sorgenden Weihnachtshund erträglich gewesen, hätte nicht jener angerostete Schankkellner mit blechern-mechanischer Stimme ständig gefragt: "Sir, noch ein Gläschen Eselstraum?"
und dabei mit einem Ruck seiner eisernen Faust dem größten Verleger dieses Landes, Träger des Verdienstkreuzes erster Klasse, einen Becher Red Bull in das selbst in der Verwesung angewiderte Gesicht geschüttet. Emanuel, der stets ein überzeugter Burgunderfreund gewesen.
„Scheint nicht zu schmecken, diesem ehemalig Mann!" Üzgür hatte sich gefangen. Naturvölker sind halt so.
Da, ein entsetzliches Donnern schreckte das Trio aus der Betrachtung. Karl-Heinz ahnte etwas, heulte langgezogen seine Hundeangst. Wind kam auf, wurde stärker und stärker, ein Sturm, der floh.
Flucht vor heißer Flut, der Boden bebte. Eine Woge vom Heizwerk, alles Leben vernichtend, raste heran, füllte den engen Kanal, trieb stinkende Hitze vor sich her, die dem Ätna selbst entsprungen schien.
Was mag noch schlimmer sein, dachte Rabenhorn, der das letzte Stündlein wähnte. Schlimmer? Schichtkohl! Der Gedanke an Kohl und Marie rette ihn vor dem endgültigen Aufgeben. Er schüttelte sich zehn Sekunden Klarheit in den Kopf. „Rasch, macht schnell!“, schrie er seine völlig verstörten Gefährten an. „Nun kommt schon, wir müssen zur letzten Fackel! Und hilf, Christkind, hilf, dass wir Marie noch
retten!"
Nun zog er den Weihnachtshund hinter sich her.
Erneut eine Windung und die nächste, letzte Fackel, befestigt an einer Pforte, die halb offen und schwärzen gähnte. Doch der Fackel Schein vermochte nicht die Schwärze der anschließenden riesigen Höhle zu durchdringen, die sich allein durch das Echo von mannigfachem Plätschern bewies. Dämpfe von Ammoniak wehten herbei, und Rabenhorn schauderte es, in diese Dunkelheit zu treten.
Dann, auf einmal, Dämmerung, und aus der Finsternis schälten sich die Konturen
eines mächtigen Baumes, der sich viele Klafter in noch ungeahnte Höhen hob. Nach und nach erblickte der ängstlich staunende Lektor Unmengen von Bächlein, die sich von Blatt zu Blatt, von Zweig zu Zweig und von Ast zu Ast ihre Wege zu Boden suchten. Das war abstrus: Bäume wurzeln an Bächen und werden normalerweise nicht von ihnen begossen … Außer die Phantasie geht mit dem Betrachter durch.
„Komisch Baum, das“, der Türke staunte ebenfalls, „wie aus Märchen mit tausend und eins Nacht.“
So war es: Ein Licht ging an, das Licht von Rabenhorns Erkenntnis: „Genau, mein lieber Üzgür! Ich glaube nämlich,
das ist ...“
„Das ist der große Pinkelbaum“, vollendete Karl-Heinz.
„Nein, du Weihnachtshund!“ Rabenhorn schüttelte heftig die Locken. „Dieses da sind die Quellen der Inspiration, aus welchen Friederbusch seine unsäglichen Geschichten sog. Ich bin mir da ziemlich sicher, sie stinken!“
„Wetten, dass nicht!“ Und zur Unterstreichung, sie stünden nahe dem großen Pinkelbaum, bellte Karl-Heinz einmal rau auf.
Kein Widerhall, eine lange Weile. Dann ein trockenes Hüsteln, dreimaliges Klopfen die Bächlein leuchteten auf
einmal mit güldenem Glanz. Und in ihrem Schein schaute Horst Jan Philipp Rabenhorn ein wundersames Männchen in weiten Pluderhosen, das einen Taktstock hob.
„Ist sich Karnalrumpelstilzchen, der Echte“, sagte Ömer, völlig unbeeindruckt von der Erscheinung und den vielen tausend Tölen mit erwartungsfrohen Augen, die um das Pluderstilzchen versammelt waren.
„Mmmmhhh“, machte der Echte.
„Mmmmhhh“, machten die Köter.
Erneut ein scharfer Schlag mit dem Taktstock, und aus abertausend Hundekehlen scholl „O Pinkelbaum, o Pinkelbaum, wie grün sind deine Blätter
...“ zu der Höhlendecke empor.
Karl-Heinz, ziemlich aufgeregt, nestelte an seinem Rucksack. „Wau, das ist der Chor der jungen Weihnachtshunde, sie warten wohl auf die Bescherung.“
„Nein, das ist einzig die ungeheure Macht meiner Literatur: Erdachtes durch Lesen zum Leben erwecken“, widersprach Egon M. Friederbusch, wie durch ein Weihnachtswunder völlig genesen auf Sam, dem singenden Kuschelesel, zu Rabenhorns kleiner Gruppe reitend. „Und wenn Sie mir nicht glauben, mein lieber Jan Philipp, schauen Sie ganz einfach nach oben und danach kümmern Sie sich um sich
selbst!“ Zu allem Unglück - oder gar Lebensglück? - noch einen Satz von Michel Foucault zitierend, den er jüngst an seinem philosophischen Stammtisch gehört.
Wie unter Zwang folgte Rabenhorn und wandte seinen Blick zur Decke. Wieder schwebte die holde Marie Theres Kinbauer, soeben erst von einem jungen Hund entbunden.
„Bitte, Marie, wer war der Erzeuger?“.
Erneut keine Antwort, doch Marie glitt für dieses Mal langsam herab, derweil sie mit den vielen Weihnachtshunden und Sam das uralte Lied anstimmte:
„Vom Himmel hoch da komm ich her, verlege eine neue Mär.“ Und während sie an den güldenen Bächlein des großen Pinkelbaums entlang nach unten schwebte, wandelten sich diese in strahlende Lichterketten, bunte Kugeln, Strohsterne, in rote Äpfel und Nüsse. Ein wunderschöner Weihnachtsbaum.
„Auch Marie ist wunderschön, das Haar aus Seide, ihr Leib so weich und selbst der Schichtkohl war gar nicht so übel.“ Rabenhorn gestand sich ein, er hatte sie schon immer geliebt. Aber leider war auch er ein Philosoph: Versäumte Sünden sind nun mal die Schulden der alten Männer.
Traurig, aber wahr, er durfte sie
weiterhin nur in seinen Träumen besitzen.
Es war wohl dies das unrühmliche Ende. Und während Ömer Üzgür sich unbekümmert daran machte, für die ganze, nun nur noch weihnachtlich gestimmte Sippschaft des Kinbauer Verlages selbst der alte, schon verstorbene Emanuel sang fröhlich mit aus seiner Gruft , nebst den vielen Weihnachtshunden, Singing Sam und auch Karnik-kelrumpelstilzchen zur Feier des Tages leckere Döner zu braten (und auch zu kassieren), wandte sich Rabenhorn mit Tränen in den erfahrenen Augen ab.
Er wollte nur noch heim, zurück in seine
Wohnung, die Badezimmertür vollenden. Allein. Enttäuscht. Verlassen. Und verflucht von der uralten Kinbauer-Saga: Unsere Weiber sind stets Erfüllung, aber auch die Pforte zu jedermanns Verdammnis!
Doch der Chor der Sänger schwoll an, eine feuchte Nase stupste die schwere Hand, und Karl-Heinzens Augen blickten voller Liebe zu ihm empor. Hundetreue eben ... alle Jahre wieder.
Mit höllischem weihnachtlichem Gelächter verfasst von Hans-Dieter Heun.