Kurzgeschichte
Tote Tauben

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"Tote Tauben"
Veröffentlicht am 31. Oktober 2008, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Tote Tauben

Tote Tauben

Tote Tauben
Die Sonne schien und der Himmel war blau. Die Vögel zwitscherten wie verrückt, denn es war Sommer. Adrian lag mit ausgestreckten Gliedern und offenen Augen auf der Wiese und fühlte sich, als hätte er gerade Sex gehabt. Hinter ihm lag ein halber Tag sinnloser Arbeit, gespickt mit Vorhaltungen seines Chefs und dem Bewusstsein der Nutzlosigkeit seines Daseins. Vor ihm lag noch eine kurze Strecke Freiheit, die jäh bei ihm zu Hause enden würde, wo Brigitte ihn erwartete. Die Frau, die ihm an jedem Tag klarzumachen versuchte, dass sie etwas Besseres verdient hatte als einen langweiligen Fabrikarbeiter, womit sie absolut Unrecht hatte, denn sie selbst war ein vollkommen verkommenes, großmäuliges Miststück.
Adrian hatte sich auf halbem Wege ausgeklinkt, war ausgestiegen aus diesem Zug der Verantwortung, der ihn jeden Tag von dem einen schrecklichen Ort zum anderen transportierte. Er hatte den strahlend blauen Himmel gesehen und ihn als Zeichen erkannt. Was auch immer schlimmer war, hier war er vor beidem sicher. Der Wiese unter ihm war es egal, wie viel er am Ende des Monats auf sein Konto überwiesen bekam und die Vögel, deren Gezwitscher wie sanfte Wellen über ihm wogten, scherten sich einen Dreck darum, welche Quoten er nicht in der Lage war zu erfüllen. Sie sangen nur für ihn und er dankte ihnen mit voller Aufmerksamkeit. Im Moment war er glücklich. Er befand sich im Zentrum zweier Gravitationsfelder, die tagaus tagein an ihm zerrten. Zwischen seiner Arbeitstelle und seinem schrecklichen, trostlosen Zuhause. Hier war er schwerelos, wie die Cumuluswölkchen über ihm. Die Last seines Lebens schien für Augenblicke wie ausgetilgt.

In seiner Nähe warfen ein paar Kinder ihrem Hund einen Ball zu und ein bisschen weiter unten gab es sicherlich ein paar Rentner, die Enten fütterten oder andere Dinge taten, die in Filmen und Literatur für harmlosen, glücklichen Alltag standen. Hier schien das Leben noch in Ordnung. Hoffnungsvoll und dankbar, nicht wie seine Frau.
Er fragte sich, selbstverständlich nicht zum ersten Mal, warum er sie nicht einfach verließ.
Das war immerhin besser als sie irgendwann im Schlaf mit der Axt zu zerteilen, was durchaus eines schönen Abends passieren könnte. Aber für eine Trennung war er zu feige. Brigitte war eine fürchterlich brutale Frau und ihm war klar, im Falle eines Falles würde alles nur noch schlimmer werden, sie würde ihm das nicht so einfach durchgehen lassen. Sie würde ihm das letzte Hemd ausziehen und ihn damit erwürgen. Er hätte keine Chance gegen sie. Ihm blieb nur übrig auf Zeit zu spielen. Vielleicht würde sie ja unerwartet von selbst verschwinden. Adrian konnte es nur hoffen.
Von der wärmenden Vorstellung, dass er sein Leben irgendwann wieder selbst unter Kontrolle haben könnte, getragen, glitt er hinein in einen sanften Schlaf. Hinüber in die Welt, die ausschließlich die seine war. Eine Welt, in der Herr Heller, sein Chef, nicht existierte, ebenso wenig wie Fuhrmann, dessen Stellvertreter, von dem Adrian immer noch glaubte, dass Heller ihn in irgendeinem unterirdischen Labor selbst gezüchtet hatte, aus Hautzellen seiner Hämorriden. Brigitte existierte zwar noch in dieser Welt, doch sie sah aus wie vor fünfzehn Jahren und war taubstumm und sie las ihm alle Wünsche von den Lippen und von anderen Körperteilen ab. Es war eine Welt, in der es keine Fließbänder gab, keine Stechuhren und keine überfüllten Autobahnen. Es gab nur diesen kleinen, unbedeutenden Park, die Sonne, die Vögel und die sanfte Brise, die Adrians geschundenen Körper umwehte.
Als Adrian eine halbe Stunde später erwachte und auf die Uhr sah, wurde ihm klar, dass er längst wieder zu Hause sein müsste. Brigitte würde mit ihren Beschwerden, ihrer Unzufriedenheit und all ihrem unterdrückten Hass dort bereits auf ihn warten. Wie eine Katze auf der Lauer würde sie auf der Couch sitzen und nervös in den Fernseher starren, wo wahrscheinlich irgendeine ihrer hirnlosen Soaps lief. Bereit zu explodieren, sobald die Haustüre sich öffnen würde. Adrian beschloss, sie noch ein wenig länger warten zu lassen. Es war Urlaubszeit und einen Stau würde sie als Ausrede wahrscheinlich durchgehen lassen. Adrian schloss seine Augen wieder und lauschte den Vögeln, wie sie ihre Freiheit besangen. Er wünschte sich genau wie sie im Einklang mit sich selbst zu sein, einfach ein Teil dieser Welt und kein Teil mehr dieser kranken, verkommen Gesellschaft, in der er sich befand. Kein Pickel mehr am Arsch der Natur.
Er ließ seine Gedanken noch ein bisschen schweifen und stellte sich vor, wie er nach Hause kommen würde. Er würde die Tür hinter sich zuknallen, ins Wohnzimmer marschieren und Brigitte, bevor sie auch nur einen Mucks von sich geben konnte, seine Lunch-Box über den Schädel ziehen. Dann würde er sie an den Haaren ins Badezimmer schleifen, ihr mit Seife das verkommene Maul ausspülen, aus dem bereits so viel Gift gekommen war, und anschließend würde er sie mit all ihren Sachen in ein Taxi setzten und irgendwo hinbringen lassen, wo es keine Telefone und keine Anwälte gab.
Etwas riss ihn aus seinen Gedanken, die gerade im Begriff waren sich zu einem Plan zu formieren. Zuerst dachte er, die Kinder hätten ihn beim Spielen mit dem Ball getroffen, doch die Kinder waren mittlerweile verschwunden. Er öffnete die Augen und blickte in zwei schwarze Punkte, auf Höhe seiner Brust. Eine tote Taube starrte ihn von dort aus an. Der Blick vorwurfsvoll und gleichzeitig seltsam ausdruckslos, dem seiner Frau nicht unähnlich. Angewidert sprang Adrian auf und der tote Vogel fiel ins Gras. Selbst jetzt schien die Taube ihn immer noch anzuschauen, aus ihren schwarzen, glasigen Vogelaugen. Halb stehend, halb kniend, war er unfähig seinen Blick abzuwenden. Die Taube schien ihm etwas mitteilen zu wollen, wie ein mittelalterlicher Bote, der mit einem Pfeil in der Brust die letzten Meter bezwingt, um seine Pflicht zu erledigen. Die Augen sagten ihm alles und auch nichts.
Plötzlich, immer noch halb kniend, bemerkte Adrian, dass kein Gezwitscher mehr zu hören war. Es klang wie Dunkelheit und doch war es taghell. Die Taube schien zu wissen was geschehen war. Eine weitere Taube kam angeflattert, sie flog, als wäre sie betrunken und wenige Meter vor Adrian gab sie endgültig auf und stürzte ab. Mit einem dumpfen Geräusch, das lauter klang, als es eigentlich sollte, landete sie im Gras. Bevor Adrian an irgendetwas denken konnte, setzte der Wind ein. Der Wind, der eine neue Zeit ankündigte.

ENDE
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zellhaufen

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zellhaufen Re: ... - Ich glaube, nicht nur die Tauben in seiner Nähe sterben. Der arme Kerl hat sich einfach einen scheiß Zeitpunkt ausgesucht, um ein neues Leben beginnen zu wollen...
Vor langer Zeit - Antworten
zellhaufen Danke... - für´s Lesen der Geschichte und die netten Kommentare.
LG
Vor langer Zeit - Antworten
FSBlaireau Perfekt geschrieben - ist richtig gut geworden. VG Falk
Vor langer Zeit - Antworten
Nera200 interessant - wirklich interessant geschrieben zellhaufen
hat mir gut gefallen mach weiter so hoffe noch mehr von dir zu lesen
Vor langer Zeit - Antworten
LadyLy Derzeit scheint es mir öfters zu passieren, - dass ich fröstele, wenn ich Kurzgeschichten lese. Hier jedoch ist es noch schlimmer, als wolle das Herz kurz aus der Brust springen. Du schreibst so nachvollziehbar und dicht an der Realität und löst dann so bedrohlich auf.

Absolut perfekt.
Ly
Vor langer Zeit - Antworten
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