Kurzgeschichte
Im Zuge

0
"Im Zuge"
Veröffentlicht am 04. November 2014, 26 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Auf die Betrachtungsweise kommt es an, ob man es nur sehen oder gar verstehen kann!
Im Zuge

Im Zuge

Der Koffer

Schwungvoll wuchtete Sie ihren handlichen Reisekoffer vom Fußboden auf die die Oberkannte der Sessellehne. Ohne dabei die Würde und Haltung ihres gereiften Alters zu verlieren, jedoch schien die Kraft nicht auszureichen, den Koffer weiter bis zur Gepäckablage an der Decke des Zugabteils hoch zu heben. Einen Augenblick wartend, verharrte sie in dieser Stellung. Ihr Blick schweifte über die Ablage, welche teilweise mit Gepäck anderer Reisenden belegt war. Ein Ausdruck von Hilflosigkeit trotz klarem Ziel, gleichzeitig die eigenen Grenzen kennend und wohl wissend über

das sichere Scheitern eines Versuches, den Koffer aus eigener Kraft hoch in die Gepäckablage zu stemmen, huschte über ihr Gesicht. Wo sind sie denn, die genten Männer von früher, die zuvorkommenden Jünglinge, strotzend vor Kraft und Selbstüberzeugung, voller Stolz einer alten Dame helfend zur Seite zu stehen? All die Alltagshelden, die eine bunt zusammen gewürfelte Gesellschaft zu einer Gemeinschaft werden ließen, wie der Kitt in der Fuge? Hatte sich der moderne Mensch durch seine Unabhängigkeit von seinen Nächsten dermaßen entfremdet? Im nächsten Augenblick nahm ihr ein junger Mann den Koffer aus der Hand,

hob ihn scheinbar mühelos über den Kopf und ließ ihn in die Gepäckablage gleiten. Als wäre nichts weiter geschehen. Und weiter geschah auch nichts.

Die Armlehne

Wie oft ich schon im Zug gesessen, hab ringsherum die Welt vergessen. Neben mir der Platz noch frei, ob vor- oder rückwärts einerlei. Doch sogleich beim nächste Halt, entwächst dem Platz eine fremde Gestalt. So nah, obwohl man sich nicht kennt, die Armlehne nur, ist was uns trennt. Doch als das Unbehagen ist verflogen, fühl ich mich recht privat betrogen. Auf dem was zwischen uns gepflogen, liegt des Fremden Ellenbogen! Auch ein stupfen, drücken, quengeln, lässt den Eindringling nicht drängeln.

Er missachtet das Gesetz, die Armlehne gehört, wer sie erst besetzt! Nur schwer ist es zu akzeptieren, dies klein Stück Freiheit zu verlieren. Erlösung bringt erst spätes Los, der langersehnte Zielbahnhof. Über Freiheit braucht wohl keiner Klagen und doch bleibt leises Unbehagen. Denn was des einen Freiheit ist, ist diese eines anderen nicht!

Die Reise

Der Anlass der Reise mag geschäftlicher oder privater Natur sein. Was jeden Reisenden aufbrechen lässt, ist ein Ziel und den ungewissen Weg dahin. Am Bahnhof Mitsamt Gepäck, den Reiseplan vor Augen, im Geiste bereits weit weg, steht man am Bahnhof. Angespannt wartend auf die Einfahrt des Zuges, der einem zu seinem Ziel, oder Zwischenziel, bringen soll. Der Bahnsteig ist voller Pendler, die zur Arbeit kommen wollen. Denn diese kommt ja nicht zu einem nach Hause,

also macht man sich jeden Morgen auf den Weg. Sie gehen weg, geben den Schutz der gewohnten Umgebung auf und machen sich auf die Reise. Jeden Tag, als ob es gar keine Reise mehr wäre. Selber wiederum geht man weg, gibt den Schutz der gewohnten Umgebung auf und steht plötzlich inmitten geschäftig wirkender Leuten, die alle genau wissen wohin sie wollen. Sein eigen Ziel wirkt dagegen wie ein Spaziergang im Wald, völlig unanspruchsvoll, unwichtig, gar fast bedeutungslos, schon bald nicht mehr die Reise wert. Doch sie ist es und nicht nur des Reisens

willen. Im Zug Nach dem Warten auf dem Bahnsteig, das einem beinahe den Mut genommen hatte, gibt einem der Sitzplatz am Fenster einem Stück Geborgenheit zurück. Mit einem sanften Ruck beginnt die Fahrt. Der Zug wird schneller und schneller und bald fliegt die Landschaft am Fenster vorbei, wie ein unwirklicher Traum. Scheinbar schwerelos gleitet man dahin, Zeit scheint keine Rolle mehr zu spielen. Der Halt an einem Bahnhof ist

wie das beinahe Aufwachen nach einem Traum, wobei sicher ist, dass man gleich wieder sanft einschläft. Selbst das Ziel der Reise erscheint in anderen Perspektiven, ein Teil der Planung hatte sich bereits bewährt und die nächsten Schritte muss man abwarten. Einfach abwarten. Oftmals setzt sich jemanden auf den Platz neben einem, oder gegenüber. Manchmal kommt man sogar miteinander ins Gespräch, nur flüchtig und oberflächlich. Alle scheinen freundlich, zuvorkommend und zugänglich, schliesslich sitzt man im selben

Zug! In der Stadt Und plötzlich ist man da. In einem fremden Bahnhof, umringt von Häuser die man noch nie gesehen, inmitten von Menschen die man nicht kennt. Der erste Versuch sich zu orientieren scheitert meistens daran, dass man das was man sucht nicht findet. Instinktiv geht man in eine Richtung, ohne zu wissen warum und ohne es hinterher zu verstehen. Erst nach einigen Minuten scheint das Bewusstsein ebenfalls anzukommen, man wird klarer, überdenkt

nochmals den ersten Impuls, orientiert sich neu und geht nun sicheren Weges zum geplanten Ziel. Die Zeit kehrt zurück, oder wenigsten der Druck derjenigen, um den Termin nicht zu verpassen. Danach macht man sich Zielstrebig auf zum Treffpunkt. Man weiss genau, wo’s lang geht, als ob man hier aufgewachsen währe. Man hat noch Zeit, schlendert durch die Strassen, schaut auf die Uhr und zählt im Kopf die Minuten bis zum nächsten Treffen. Es ist noch Zeit genug für einen

Zwischenhalt. Im Kaffee Es ist angenehm warm, man zieht die Jacke aus, legt die Tasche auf den Stuhl nebenan, bestellt ein Getränk und was zu essen für Zwischendurch. Die Geräusche der Stadt dringen nur gedämpft in den Raum, man fühlt sich dadurch mit dem Draussen verbunden, jedoch an einem sicheren Ort. Man ist mittendrin und doch nur dabei. Im Geiste orientiert man sich wieder neu. Schaut, ob eine Nachricht gekommen ist, führt Telefongespräche, erledigt kurze

Angelegenheiten. Andere Gäste im Kaffee tun es gleich, mit einer Selbstverständlichkeit als ob bewusst. In einer Lebendigkeit, jeder für sich selbst, denn man sitzt nicht im selben Zug. Noch fünf Minuten, bezahlen, seine Sachen wieder ordnen, einpacken, sich aufmachen, es geht weiter. Man verlässt das Kaffee, ohne was da gelassen zu haben und ohne was mitgenommen zu haben. Es war nur eine kurze Zeit in Geborgenheit. Im

Auto Die Tür schlägt zu. Der Tumult der Stadt bleibt draussen, abgetrennt durch die glänzende, luftwiederstandsarme Karosserie des PKWs. Scheinbar reibungslos beginnt sich das Fahrzeug dem grauen Weg entlang zu bewegen, nur mit flüchtigem Kontakt der Reifen zum Asphalt. Fast unnatürlich nah und langsam bewegt man sich entlang der Strassen an Schildern, Pfosten, Gebäuden, anderen Fahrzeugen und Menschen vorbei, als könnte man jeder Zeit die Hand danach ausstrecken und damit interagieren. Doch dies geht nur mittels Blinkzeichen oder notfalls

hupend. Als Teil des aktiven Geschehens auf der Strasse sind mannigfaltige Regeln zu befolgen, um sich und andere nicht zu gefährden. Gleichzeitig möchte man auf seinem Wege zum Ziel, was nicht selten im Wiederspruch zueinander steht. Die Freiheit der Bewegung wird gleichzeitig zur Bedrängnis des Charakters, seines Selbst. Auf dem Land Die Landschaft entlang der Autobahn ist monoton, langweilig, manchmal sogar abstossend. Das Auto saust dahin, bloss ein schummriges Zeitgefühl umgibt die vom Radio durchsäuselte, klimatisierte

Luft. Irgendwie unwirklich, der Weg zwischen zwei Zielen. Die Hauptstrasse schlängelt sich durch sanfte Hügel, vorbei an Seen und Bergen, Dörfern und Bauernhöfen. Langsam scheint der klare Geist zurück zu kehren, das Grün der Wiesen und Wälder gibt Halt und die Sonne erhellt das Gemüt. Die Umgebung erscheint nicht mehr so abstrakt zum Raum im inneren des Autos. Man könnte aussteigen, ein paar Schritte spazieren gehen und einfach weiter fahren. Oder noch ein bisschen bleiben. Die Zeit scheint wieder in Ordnung, Hektik gibt es nicht und von der Ferne

erklingt eine Kirchenglocke. Es ist fünf Uhr nachmittags. Und das ist gut so. Im Hotel Das Zimmer ist wohnlich, mit allem ausgestattet was man braucht, zumindest für die kurze Zeit die man hier verweilt. Weder schäbig noch stielvoll, höchstens einfach und zweckmässig. Beim Eintreten schlägt einem die saubere, unpersönliche Atmosphäre ins Gesicht. Das Bett an der Wand, der Fernseher daneben, im Bücherregal die Bibel und das Klopapier hängt sorgsam gefaltet im glänzenden Halter. Schon viele mögen hier ein- und ausgegangen sein, doch keiner hat was da

gelassen. Höchstens ein bisschen seiner Zeit und etwas Geld, was für manche zum Vertauschen ähnlich sein soll. Erst bei einem Besuch an der Bar, lässt die Aufregung der Reise nach. Doch so richtig ankommen, will nicht gelingen. Vielleicht auch besser so, denn Morgen, nach nur einer Nacht, geht es wieder weiter. Wieder Zuhause Viel gesehen, viel erlebt, noch ganz Sturm im Kopf, von den Terminen, den Eindrücken und Erlebnissen. Die neuen Perspektiven beflügeln neuen Tatendrang und machen es möglich, früher oder später wieder zu

verreisen. Doch jetzt ist man erst wieder zurück, auf vertrautem Boden, in vertrauten Wänden bei vertrauten Menschen. Es scheint als bestehe eine Mauer zwischen der Reise und Zuhause. Entweder man ist weg, oder man ist da. Dazwischen ist die Haustür, als letztes Ziel der Reise, oder als deren Ende. Doch fällt die Tür hinter einem ins Schloss, bleibt alles von der Reise draussen. Nur der Teil, der einen verändert hat bleibt für eine gewisse Zeit. Manches auch für immer.

Das Mädchen und die Rolltreppe

Es ist spätabends, nur wenige Reisende tummeln sich auf dem Bahnsteig. Ein schwachbeleuchteter Güterzug passiert im Schneckentempo den internationalen Bahnhof, kurz danach kehrt wieder geisterhafte Ruhe ein. Die Rolltreppe, die vom Inneren des Bahnhofs zum oberirdisch gelegenen Bahnsteig führt, befördert unentwegt die leeren Stufen nach oben. Dort verschwinden sie scheinbar reibungslos und ohne Übergang im Fußboden, ebenso wie die beiden matt schwarzen, mitlaufenden Handläufe links und rechts der Rolltreppe. Alles verschwindet da

oben auf nimmer Wiedersehen. Nicht so die einzelnen Passagiere, die kurz vor dem Verschwinden den Absprung schaffen. Wer weiß, wo sie sonst landen würden! Langsam entwächst dem Schlund zwischen den Handläufen einen Kopf, der stetig mit Hals und Schultern zur Gestalt eines Mädchens anwächst. Nur schwer ist ihre wahre Größe zu erahnen, der Rest ist noch für einen Augenblick durch die Oberkante der Rolltreppe verdeckt. Je weiter sich das Mädchen dem Ende der Treppe nähert, je mehr erkennbar wird ihre wahre Größe. Kurz bevor diese jedoch mit derjenigen

aus der Vorstellung des Betrachters überein stimmt, erreicht das Mädchen den Zenit der Rolltreppe und ihr Wachstum findet ein abruptes Ende. Etwas zu früh, gemäß der Vorstellung und doch fertig, denn nun sind auch die Füße zu sehen. Auch sie schafft den Absprung von der Rolltreppe und geht nun auf festem Boden zielstrebig ihres Weges. Wer ähnliches bereits erlebte, kennt den schlussfolgenden Blick nach innen: traue nie deinem voreiligen Bilde! Die Realität wird sich zu gegebener Zeit von selbst zu erkennen geben

0

Hörbuch

Über den Autor

Zwiebel
Auf die Betrachtungsweise kommt es an,
ob man es nur sehen oder gar verstehen kann!

Leser-Statistik
9

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeichen Sehr gut !
Vor langer Zeit - Antworten
Zwiebel Danke, wird hoffentlich noch besser! Soll noch weiter gehen...
Vor langer Zeit - Antworten
Zeichen :)
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
3
0
Senden

120729
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung