Darf ein Buch mit einer Frage beginnen? Vielleicht sogar mit einer gesellschaftlich bedeutenden? Mit einer grundlegenden? Noch dazu ein Buch, dessen Thema nicht Wissenschaft ist? Wir können dies nicht wissen. Versuchen wir es trotzdem.
Die Frage soll heißen: was ist eine Stadt? Genauer sollte gefragt werden: wie wird der Begriff Stadt? Worin unterscheidet sich eine Stadt von einem Städtchen, ein Städtchen von einem Dorf und ein Dorf von einem Weiler? Ist eine
Stadt eine Anzahl von Häusern, gerade eine Hand voll mehr als dass sich alle Menschen, die darin leben, gegenseitig kennen? Ist es das Umfeld, das die Häuser, die Menschen begleitet - Märkte, Geschäfte, Kultur? Oder zeichnet eine Stadt die Anzahl der Gebäude aus, die keine Wohnhäuser sind – Theater, Bibliotheken, Museen?
Ein anderer Ansatz: definiert jeder selbst, was eine Stadt ist? Seine ganz private Stadtdefinition? Entscheidet ein jeder selbst, was er oder auch sie unter Stadt versteht?
Ist Eberstadt, gelegen im schönen Odenwald, knapp außerhalb der Zeitzonen, eine Stadt? Nur weil Eberstadt Eberstadt heißt und bald auch ein Museum haben wird – bevor es nochmals passieren kann, das Ausländer – wie schrecklich ! – in die gemeideeigene Wohnung, die bald Museum sein wird -eingewiesen werden könnten. Mit nicht ganz fünfhundert Einwohnern vielleicht eher nicht. Ohne Märkte, ohne Geschäfte, ohne Kultur. Dafür kennt jeder jeden und jede jede, sicher auch jede jeden und jeder jede. Über letzteres spricht man nicht. Auch wenn man gerne drüber spricht.
Selbstverständlich gehören dort auch die auf dem Friedhof Ruhenden zum Leben im Ort. Man kennt sie eben. Über sie gibt jedoch es wenig Neues. Aus deren Geschichten wurde Geschichte. Eberbach am Neckar dürfte eine Stadt sein, wenn auch eine kleine. Ein Städtchen. Fünfzehntausend Einwohner kennen sich sicher nicht alle gegenseitig. Es gibt Märkte, wenn auch nur einen. Geschäfte, wenn auch immer weniger. Kultur von außen, wenn hin und wieder die Badische Staatsbühne die Räuber gibt oder weniger bekannte Coverbands im ehemaligen Kursaal Pink Floyd proben oder
Lindenberg. Auch wenn Max Weber eine Stadt nicht hinreichend definiert, so wäre er doch sicher der Ansicht, Mannheim sei eine solche. 32o.ooo Einwohner, manche sprechen von 3oo.ooo, aus einhundertsiebzig verschiedenen Nationen. Märkte, Geschäfte, Kultur. Macht das aber die Stadt aus? Sind es nicht vielmehr die Geschichten einer Stadt? Die Geschichten der Menschen? Zusammengewebt bilden sie ein dichtes Netz, gewebt von Generationen, gewebt durch Straßen, gewebt über Dächer. Sie bilden das Fundament und das Dach, den
Keller und die Erker. Sie erst verbinden Menschen und Häuser zur Stadt, zur lebendigen Gemeinschaft. Geschichten definieren den Städter, den urbanen Menschen. Auch wenn Max Weber dies so nicht beschreiben würde. Folgen wir den Geschichten einer Stadt, meiner Stadt. Wenn auch nur einiger weniger. Menschen dieser Stadt dürften sie erkennen. Es spielt jedoch keine Rolle. Es könnte jede Stadt sein. Vielleicht ein Stück weit sogar Eberstadt.
Mimi war ein aufgeweckter Junge, fünfzehn Jahre und ein paar Monate alt. Früh begann Mimi sich für Raumfahrt zu interessieren. Selbst zu den Sternen fliegen wollte er nie. Dies würde ihm im Einsteinuniversum zu lange dauern. Alleine zum Mars brauchte es mehr als fünfhundert Tage für die einfache Strecke. Die Entwicklung und Serienreifen von Antriebe, die die fünfte Dimension nutzten, Warpantrieb, Transitionstriebwerke oder ähnliches, wenn physikalisch durchaus möglich, war zu seinen Lebzeiten nicht zu
erwarten. Das wusste Mimi. Auch schon mit fünfzehn Jahre und ein paar Monate. Fünfhundert Tage und mehr in einem Raumschiff verbringen, nein. Eher nicht. Aber Forschen, Entwickeln, Bauen, das wollte er. Mimi wollte Raketen bauen. Oder zumindest Teile davon. Um sein Ziel zu erreichen, sollte er Luft- und Raumfahrt studieren. In Hamburg, in Stuttgart oder in Zürich. Hier wurden nur die Besten zugelassen. Eher weniger die am besten Geeigneten, vielmehr die mit den besten Abiturnoten. Das wurde ihm früh klar. Bei all den zu erwartenden
Schwierigkeiten zwischen jetzt und dem Raketenbau dürfte das Abi die geringste sein. Mathe, Physik, Chemie, das stellte für Mimi keine Probleme dar. Das lag ihm sehr. Englisch und Französisch gingen auch ganz gut. Fremdsprachen waren gerade in solch einem Umfeld wichtig. Schwieriger waren die Lernfächer ohne Bezug für Mimi. Biologie, Geschichte, Religion. Aber auch hier hatte er gute Noten. Dafür gab es regelmäßige Buchpreise am Schuljahresende. Leider war nie ein Titel dabei, der ihn wirklich interessiert hätte. Die Eltern waren stolz auf ihren Sohn.
Zwar glaubten sie nicht an Mimis Ideen. Kindliche Träumereien. Wer will nicht Lokführer oder LKW-Fahrer werden, nicht Topmodell oder Friseurin. Die guten Noten, klar - das hatte er vom Vater und dieser vom Großvater. Wobei heute alles viel einfacher sei. Nicht zu vergleichen mit der Schule 1981 oder gar 1953. Mimi war’s egal Mimi beschäftigte sichausgiebig mit Wasserraketen. Diese waren einfach zu bauen, flogen aber schon recht hoch und kamen elegant an Fallschirmen zur Erde zurück. So er sich öffnete. Wenn nicht, passierte auch
wenig. Interessanter aber waren motorengetriebene Modellraketen. Mit dem Geld, das ihm Papa und Opa für seine guten Noten immer wieder mal zusteckten, konnte er Teile für diese Modellraketen kaufen. Modellraketen durften maximal dreihundert Gramm Startgewicht haben und nicht mehr als neun Newton Schub entwickeln. So sagte es der Gesetzgeber. Die verwendeten Motoren hatten mit „richtigen“ Raketenmotoren wenig zu tun. Sie sahen eher nach Feuerwerkskörpern aus. Aber es waren
jetzt mehrstufige Raketen machbar. Die Motoren gab es einzeln und günstig im Versandhandel. So waren die Raketen wiederverwendbar. Nach und nach rüstete Mimi seine Raketen mit mehreren Motoren aus, so dass er bald deutlich über den neun Newton Schub lag und wohl auch über dem Startgewicht von dreihundert Gramm. Mehr Motoren, mehr Schub, mehr Stabilität, mehr Gewicht. Dass er damit gegen eine ganze Reihe von Gesetzen verstieß, u.a. das Luftfahrtgesetz, soweit dachte Mimi nicht. Juristerei war nicht Thema der gymnasialen
Schulausbildung. Es kam der Herbst, es kam der Winter, Weihnachten und Silvester. Seit Wochen skizzierte, entwarf und rechnete Mimi in seinem Zimmer und arbeitete in seiner Werkstatt im Gartenhaus. Der ganz große Wurf sollte es werden. Gestartet zu Silvester. Aus dem Garten. Mimi hatte viel gerechnet, gebaut, probiert, neu gerechnet, umgebaut wieder probiert. Dafür hatte er sogar eine Bio-Arbeit und fast das Chemiereferat versaut, weil er einfach nicht zum Lernen kam. Motoren in dieser Anzahl hatte er noch nie genutzt.
Vor allem die synchrone Zündung bereitete ihm immer wieder Schwierigkeiten. Irgendwann war es soweit. Die kleinere Ausgabe seiner Silvesterrakete, gebaut zu Testzwecken, flog sauber. Ausprobiert vor der Stadt auf „seinem“ Flugfeld, einem Acker, mit dem Rad eine gute halbe Stunde von zuhause entfernt. Problematisch war einzig der nahe Rhein, wo er die eine oder andere Rakete bei ihrer Landung unwiederbringlich versenkt hatte. Silvester kam, die Rakete war fertig, die Startvorrichtung im Garten installiert.
Seine Mutter schaute etwas kritisch. Der Vater nichts sagte. So wollte sie auch darüber hinweg sehen. Wo der Junge doch immer so vernünftig war und sehr gut in der Schule. Die Stunden bis Mitternacht zogen sich endlos in die Länge. Und noch eine Minute und noch eine. Dann war Neujahr. Wenig später durfte Mimi raus. Rundum krachten die Böller. Die Feuerwerksraketen rasten mit Getöse in den Himmel, um in bunten Lichtern zu zerlegen. Mimi kontrollierte ein letztes Mal mit seiner Taschenlampe die Starteinrichtung - augenscheinlich war alles bereit. Die zentrale Zündschnur
angebrannt, dann nichts wie weg, ein Stück die Außentreppe zum Keller runter und über den Treppenrand geschaut. Mit lautem Zischen zündeten die Motoren der ersten Stufe. Die Rakete hob vom Launcher ab, erst ein klein wenig, um dann innerhalb von Sekundenbruchteile in den Himmel zu jagen. Die erste Stufe brannte wie erwartet. Bei Brennende verschwand der helle Punkt am Nachthimmel, um nach Zündung der zweiten Stufe wieder zu leuchten. Jetzt aber nicht mehr so hell. Die Zündsynchronisation versagte, zumindest teilweise. Mit leicht
einseitigem Schub beschrieb die Rakete einen weiten Bogen, der sie am Zenit nach unten trieb. Eine Steuerung, die in diesem Fall die Rakete zur Explosion gebracht hätte, hatte Mimi nicht realisiert. So weit war er einfach noch nicht. Am Äckerplatz stand ein Altenheim. Ein mächtiger Bau, der bereits in den 1920er Jahren als Heim konzipiert wurde. Über dem Eingangsbereich saß ein Turm mit einer Uhr, auf diesem ruhte einen kupferne Kugel mit sicher einem Meter Durchmesser. Mit Zündung der dritten Stufe schlug die Rakete in die Kugel ein. Oder besser, die Rundung der Kugel
lenkte die Rakete in eine neue Flugbahn. Dabei sorgte ihr Gewichtin Verbindung mit ihrer enormen Geschwindigkeit für eine mächtige Delle im Kupfer der Kugel. Sie platzte an ihren Lötstellen auf und wurde aus der Verankerung gerissen. Diese war nach mehr als neunzig Jahren nicht mehr so stabil wie am ersten Tag. Eben passend zum einem Altenheim. Beim Aufprall auf dem Asphalt des Äckerplatzes flog die Kugel ganz auseinander. Die Rakete, nun auf ihrer neuen Bahn in Richtung Süden, bekam aus der korrekt arbeitenden dritten Stufe erneut anständig Schub und verschwand rasend
schnell in einer leichten Aufwärtsbahn. Nach dem endgültigen Brennende aller Motoren wenige Sekunden später senkte sich Mimis Sylvesterrakete nach unten und platschte wenig später in einen gut fünfzehn Meter tiefen Weiher, der auf Grundwasserniveau lag und somit von außen nicht einsehbar war. Um diese Jahres- und auch Uhrzeit gab es weder Schwimmer im Wasser noch Angler am Ufer. Die Rakete dümpelte noch ein paar Minuten auf dem Wasser, bis sie vollgesogen war, um lautlos in der Tiefe zu versinken. Hätte einer diesen Flug so berechnen
sollen, schwierig. Sehr schwierig. Mit dem vorhandenen Material wohl nicht lösbar. War der Treffer der kupfernen Kugel schon unwahrscheinlich, die Wasserung und somit Beseitigung der Rakete auf einem 150 mal 600 Meter großem Gewässer scheint es ganz und gar. Die lokale Tageszeitung berichtete ausführlich über den Vandalismus. Es wurden die tollsten Vermutungen angestellt. Einen jungen, raketenbegeisteten Bastler mit fünfzehn Jahren und ein paar Monaten hatte dagegen kaum jemand auf dem Tableau. Die ganz wenigen, die es ahnten, blieben
still. Dafür aber war an Raketenmotoren für Mimi kaum noch zu kommen. Hier hatte seine Mutter einen Riegel vorgeschoben. So kümmerte er sich eben mit der gleichen Leidenschaft wieder um seine Wasserraketen. Ein paar Tage später kurz nach Ende der Weihnachtsferien nahm Mimis Physiklehrer ihn zur Seite. „Wenn Du mit ja antworten musst, dann sag nichts. Das warst doch Du mit der Kugel.“ Mimi sah zu Boden, sagte nichts. „Dachte ich mir. Und jetzt hau ab“. Damit war die Geschichte vergessen. Fast zumindest. Eine von ansässigen
Geschäftsleuten initiierte Sammlung ergab zusammen mit einem Zuschuss der Stadt genügend Geld für eine neue Kugel. Die Installation Anfang Mai wurde mit einem Fest begangen, das zukünftig jährlich wiederholt wurde. Getreu der Devise: „dreimal wiederholt ist Tradition“ wurde das Kugelfest zu einem beliebten Höhepunkt im bunten Kalender städtischer Ereignisse.
Ob der braungebrannte Mann mit Stoppelbart und pechschwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren wirklich Sire hießt, oder ob er sich den Namen nur ausgedacht hatte, blieb ungewiss. Wer aber hieß schon Sire Ballu? Auch wusste niemand, woher Sire stammte. Manche hielten ihn für einen Russe, andere für einen Polen Er mochte aber auch ein wenig indianisch oder zumindest südamerikanisch aussehen. Vielleicht, so einzelne Stimmen, könnte er sogar aus dem Odenwald stammen. Dort, wo es nicht
mal Zeitzonen gegeben haben sollte. Andererseits, wie aus der Hölle gekommen, so beschrieb die FAS diese Gegend, so wirkte Sire nicht. Woher er wirklich stammte, wir können es nicht wissen. Über Sire, „Saier“ gesprochen, war wenig bekannt. Kaum einer kannten seine Wohnung, eine Einraumwohnung im fünften OG Altbau, Fenster zum Hinterhof, Etagenheizung, ein sehr kleiner Balkon, dafür keinen Fahrstuhl im Treppenhaus. Als Wohnklo mit Kochdusche wurde dies in unserem Sprachraum beschrieben.
Sire war Stammgast im Stövchen, das vielleicht einen und einen halben Kilometer oder zwei Haltestellen von der Stelle, wo Mimis Rakete ihre Kursänderung durch die kupferne Kugel des Altenheimes erfuhr, im Erdgeschoss eines Stadthauses lag. Manche nannten die Lokalität auch Stöffschen und fanden den Namen passend oder zumindest lustig. Das Stövchen hätte der Prototyp der typische Vorstadtkneipe sein können, wie sie einem im Lied ‚die kleine Kneipe‘ vor dem inneren Augen stehen mag. Weit weg von den heute üblichen Alkidissen, ebenso wenig aber
Speiselokal alter Prägung. So wie es Kneipen in früheren Zeiten zu Duzenden gab, heute aber fast ausgestorben sind. Trinken, Rauchen, Spielautomaten, fast ausschließlich Gäste der Mittelschicht oder solchen, die sich dazu zählten. Gesoxe, so die Wirtin, kam hier nicht rein. Eine Kneipe für diejenigen, die nach täglicher Arbeit ihr Feierabendbier auf dem Nachhauseweg nahmen, gerne auch einen Korn, Wodka oder Weinbrand dazu. Betrieb zwischen fünf und acht Uhr am Abend Meist war zwischen neun und zehn Uhr Feierabend, wenn eben der letzte gegangen war. Nur freitags und samstags wurde gerne bis Mitternacht oder um drei Uhr in der Früh gefeiert. Zu
einer solchen Kneipe gehörte ein Fernseher für Fußballspiele, so diese öffentlich-rechtlich übertragen wurden. Ein Drittel der Fläche nahm die achteckige Theke ein, dazu im Schankraum eine Hand voll quadratischer Holztische, umgeben von einer langen Bank entlang der Wand, die den Ecken folgte. Dazu mehrere Stühle, alle in der gleichen Art, kaum aber zwei wirklich gleiche. Die Gäste saßen auf den Barhockern an der achteckige Theke, mit der jeweiligen Bedienung hinter ihren Zapfhähnen als Mittelpunkt. Tischgäste, wenn welche da waren, warteten, bis ein Platz an der Theke frei wurde, um dann schnell zu wechseln. Ein
Engländer beschrieb den Unterscheid zwischen Gaststätte und Kneipe so, dass unter der Bar Harken für Taschen oder Jacken angebracht sind. Nach dieser Definition war das Stövchen eine Kneipe. Überwiegend verkehrten hier Stammgäste. Selten, dass Fremde kam. Außer ab und an ein paar Studenten von den Wohnheimen der nahen Hochschulen. Verirrte sich ein neuer Gast ins Stövchen, wurde er bald schon Stammgast. Einmal Stövchen, immer Stövchen. Wer ein weiteres Getränk, sei es Bier, Schorle oder Sekt wollte, sagte „noch“. Meist aber wurde ein neues
gereicht, bevor man bestellen musste. Wer nichts mehr wollte, sagte „Aus“. „Noch“ ging bei Sire leicht, „Aus“ war schwierig. So war sein Heimweg aufgrund der vielen Bogen und Schlenker gerne mal doppelt so lange wie der Weg ins Stövchen. Dieses Silvester verbrachte Sire wie jedes Silvester zuhause. Im fünften Stock Altbau, Fenster hinten raus. Das Jahr Revue passieren lassen, wie er es nannte. Eine Angewohnheit mit Tradition, von seinem Vater übernommen. Kurz nach Mitternacht, Neujahr, verließ er seine Wohnung auf dem Weg ins Stövchen. Wenig später am
Äckerplatz angekommen wackelte Sire schnurstracks auf die Haltestelle der Stadtbahn zu, wo er seinen Tabakbeutel auf einem fast mannshohen grauen Schaltkasten ablegte und drehte eine Zigarette. Das Papierblättchen zwischen Daumen und Zeigefinger gelegt, Tabak darauf gesteut, mit den Zeigefingern und Daumen seiner beiden Hände ein paar Mal vor und zurück gedreht. Die Klebestelle kurz abgeleckt, fertig. Ab der dritten Flasche Wein funktionierte das Drehen mit einer Hand, wie immer Sire dies anstellen mochte. Ein lautes Zischen, ein metallisches Geräusch erfüllte den Nachthimmel. Sire,
die Zigarette mit seinem viele Jahre alten Benzinfeuerzeug gerade angebrannt, sah nach oben. Im selben Augenblick nahm er ganz in seiner Nähe ein lautes, metallisches Scheppern wahr. Dass eine kupferne Kugel herunter kam, abgeschossen durch Mimis Rakete, sah Sire nicht. Nicht nach zwei Flaschen Wein. Er nahm aber den Aufschlag wahr und sah aus dem Augenwinkel einige wenige kupferne Metallfetzen fliegen. Die Reste der Kugel trudelnden auf dem Asphalt im Kreis, blieben scheppernd liegen, schaukelten noch ein wenig aus. Zum großen Glück wurde niemand getroffen. Nicht Sire und auch nicht die wenigen Menschen, die, manchen mit
Sektglas in der Hand, auf dem Platz das neue Jahr begrüßten. Die meisten der älteren Herrschaften des Heims waren vermutlich wegen der Kälte im Inneren geblieben. Ein paar standen auf dem großen Balkon im zweiten OG, vermutlich um einen besseren Blick auf das Feuerwerk zu haben. Sire packte seinen Tabaksbeutel in eine Außentasche seiner US-Parkas und stolperte los, die Aufregung der wenigen Menschen um ihn herum interessierte ihn nicht. Fast trat er auf ein Päckchen. Wäre es nicht direkt neben einer Pfütze gelegen, in der sich eine Straßenlaterne spiegelte wäre es ihm sicher nicht
aufgefallen. Wie ein Geldbeutel, den jemand verloren hätt sah es nicht aus. Flach, klein, vielleicht wie eine der hölzernen Zigarilloschachteln, in modriges Leinen verpackt. Musste uralt sein, wie Sire auch im diffusen Licht erkannte. Ihm wurde kalt. Stehen bleiben wollte er nicht. Er hatte je eh nichts gesehen. Bücken, Päckchen aufnehmen, wieder hoch. Sire hatte Übung, dies mit zwei Flaschen Wein zu tun. Mit drei wäre auch noch gegangen, mit vier vielleicht nicht mehr. Mimis Silvesterrakete wechselte ihre Richtung nach Süden, Sire wackelte nach Norden, nur eben bedeutend langsamer. Auch wenn Sire es noch nicht wusste, eine
weitere Gemeinsamkeit ergab sich darin, dass beide, er und die Rakete, an diesem Abend absaufen sollten. Auch hierbei war die Rakete schneller. Sie lag bereits am Grund des Sees, lange bevor Sire im Stövchen sein erstes Bier des Jahres trank. Im Stövchen angekommen wurde Sires Stammplatz freigegeben. Der dort Sitzende rückte eins weiter nach rechts, wo kurz zuvor Uschi aufgestanden war. Es würde wohl ein schönes Theater geben, wenn sie von der Toilette zurückkommen würde. Was aber sollte Sire dies angehen, der sich als Premiumgast verstand und als solcher auf
seinen eigenen Platz Anrecht hatte. Bis er saß, die Jacke mühsam auf den kleinen Haken unter der Theke eingehängt war, stand sein Bier vor ihm. Das erste des neuen Jahres, daneben einen leeren Aschenbecher. Wie es eben sein musste. Das am Äckerplatz gefundene Päckchen legte er neben sich auf die Theke. Was er denn da habe, fragte die Wirtin, die zu solchen Terminen immer selbst hinter der Theke stand. Hätte er eben gefunden. Mehr sagt Sire nicht. Nichts vom Äckerplatz, nicht von der Zigarettendrehpause. Das Zischen hatte er eh nicht richtig mitbekommen oder unterwegs vergessen. Von Blechteile zu erzählen, die kupferne
Bruchstücke aus einer Kugel waren, hätte zu viel Aufmerksamkeit gegeben. Das war nicht Sires Ding. Niemand brachte ihn mit dem Kugelabschuss, der die lokale Presse zwei Tage später und dann wochenlang beschäftigen sollte, in Verbindung. Besser noch, außer der Wirtin bekam wohl kaum einer die Existenz des alten, verwahrlosten Päckchens mit. Wer schaute schon hin, was Sire auf den Tresen oder andernorts platzierte. Solange er sich nicht selbst hinlegte. Aber auch die Wirtin sollte das Päckchen sehr schnell wieder vergessen. Die Nacht wurde doch noch sehr heftig. Wenig später rutschte das Päckchen, von Sires Ellenbogen ungeschickt
angestoßen, von der Theke und fiel zu Boden. Beim Toilettengang beförderte es Sires Stiefelspitze in den dunklen Spalt zwischen den beiden Spielautomaten in ihren mannshohen Metallsicherungskästen. Sire bemerkte dies nicht. Nicht mehr.
Käthe Kandinskie, eine frohe Enddreißigerin, zwischenzeitlich Mitte 50, war im Stövchen für die Raumpflege zuständig. Ich bin dohin blos die Butzfraa, pflegte sie in ihrem kurpfälzischen Dialekt auf Fragen zu antworten. Allerdings kam dies eher selten vor. Sie putzte fast täglich vor dem Öffnen. Wer sollte in der geschlossenen Kneipe Fragen stellen? Zu ihrem Namen befragt antwortete sie: Käthe Kandinskie, awa ned mit dem Mola verwandt. Also keine verwandtschaftliche Nähe zu Wassily
Kandinsky, schon von der Namensschreibung nicht. Immerhin war es für eine eingeborene Kurpfälzerin im Allgemeinen, für eine Käthe im Speziellen schon eine kleine intellektuelle Sensation, den Namen Kandinsky zu kennen. Käthe war eine Lebenskünstlerin. Sie hatte immer genau so viel Geld, wie sie benötigte. Ihre kleine Wohnung über dem Stövchen war preisgünstig, auf Kleidung oder sonstigen Schnick-Schnack, wie sie es nannte, legte sie keinen wert. Ein paar Euro machte sie im Stövchen, woher der Rest kam wusste niemand so genau. Vermutlich von ihrem
zweiten Mann, der vor ein paar Jahren verstorben war. So alt war er aber auch nicht gewesen. Und reich schon gar nicht. Früher als Frisöse ausgebildet, hatte sie mit Geburt ihres Sohnes aufgehört zu arbeiten und auch nach der Scheidung von ihrem ersten Mann nicht wieder angefangen. Gut, gearbeitet hatte sie immer irgendwie und irgendwo. Nur eben nicht sozialversicherungspflichtig, wie dies im offiziellen Deutsch heißen mag. Aber das alles waren Vermutungen. Obwohl doch sonst jeder alles über Käthe wusste. Selbst der Gang zum Bäcker war für sie kaum unter zwei Stunden zu machen. Gab es doch immer
so viel zu erzählen, zu hören. Zum Wundern, zum Glauben oder nicht Glauben. Ja glabscht donn des?, oder eben: Des glabscht doch näd!, waren ihrer Lieblingsausrufe, vielfach am Tag genutzt. An diesem ersten Januar war Käthe nur kurz unten im Stövchen. Am Feiertag mal eben durchgehen, vor allem nach so einem Fest. Flaschen wegräumen, Gläser spülen, Aschenbecher leeren, schnell durchfegen und nass aufziehen. Nur eben da, wo der Herr Pfarrer läuft, wie hierzulande oberflächliches Putzen beschrieben wird. Dabei entdeckte Käthe das Päckchen, wie es tief im Spalt
zwischen den beiden Spielautomaten lag. Zuerst wollte sie es unter dem Tresen deponieren, sah es dann aber näher an. Das alte, vermoderte Leinen, sorgfältig mit einer Schnur zusammengehalten, wie früher Pakete verpackt wurden. Das muss jemand absichtlich positioniert haben. Zufällig oder freiwillig rutscht das Ding nicht genau zwischen die Automaten, gerade soweit rein, dass es nicht nur bei genauerem Hinsehen erkannt werden konnte. Das hätte bei anderen Wochen liegen können, bei Käthe sicher nicht. Drogen, Schwarzgeld? Aber dazu das
uralte Leinen, sicher vor Jahren schon verpackt. Das passte nicht wirklich zusammen. Nein, das kommt nicht auf die Theke. Diesem Geheimnis wollte sie selbst auf den Grund gehen. Schnell hoch damit in die Wohnung. Auf der Treppe kam ihr die Wirtin entgegen. Schon fertig? Nein, sie müsse mal und unten hätte sie die Klos, wie sie sich ausdrückte, noch nicht fertig. Wohin damit? Offen liegen sollte das Päckchen nicht. In einen ihrer Schränke wollte sie das alte Ding auch nicht haben, so schmutzig beziehungsweise vermodert es war. Also, wie unten, in die Ecke hinter einen Schrank. Dann
schnell wieder runter. Zuvor die Toilette gespült. Das Haus war etwas hellhörig und sie wollte ja nicht Lügen. Höchstens ein bisschen. Gemeinsam mit der Wirtin war Käthe schnell durch. Die letzten Flaschen in die Kisten, die Kisten runter in den Getränkekeller, ein paar volle wieder hoch. Die Wirtin war schon am Auffüllen der Kühlkästen unter der Theke. Noch schnell den Mülleimer in die große Tonne im Hof. Fertig. Zumindest notdürftig. Fa die, wo do röi kummä, langts, so war gerne von Käthe zu hören. Eben ein Original. Morgen früh dürfte das dann etwas länger dauern,
die gründliche Reinigung, dachte Käthe. Obwohl oberflächliches Putzen bei Käthe sicher sauberer war als alles, was manche Hausfrau als Putzkünste ablieferte. Das Stövchen konnte geöffnet werden. Die ersten Gäste standen schon in der Kälte. Gut, dass Du uf machscht. Ich war s gonze Joa noch näd ämol do, wurde die Wirtin von einem Ihrer Gäste im Rentenalter begrüßt, der in der Nacht nicht mit feierte. Käthe war auf dem Weg hoch in ihre kleine Wohnung. Oben angekommen nahm sie zuerst alte Zeitungen aus den
Papierkasten neben dem Kühlschrank, um damit den Küchentisch abzudecken. Darauf platzierte sie das Päckchen, das sie zuvor aus dem Versteck unter dem Schranke hervorholte. Daneben eine Schere, mit der sie gewöhnlich Tüten oder Kartoffelnetze öffnete. Hätte sie einen Altar zum Sonntagsgottesdienst gerichtet, das wäre sicher nicht mit mehr Sorgfalt erledigt worden. Kirche war aber nie Käthes Ding. Mit einer Haushaltsschere durchtrennte Käthe die Schnur um das Päckchen am Knoten, wickelte sie ab. Leicht ließ sich das eingeschlagene Leinen entfernen. Sorgsam gefaltet legte sie den im Laufe
der Jahre brüchig gewordene Stoff zur Seite. Zum Vorschein gekommen war eine Blechdose in rechteckiger Form mit abgerundeten Ecken, matt, blind, etliche Kratzer, Einkerbungen und Dellen, aber ohne Rost. Scheint Alu zu sein oder so etwas in der Art, dachte Käthe. Exclusive Rum & Plum Mixture stand in drei Zeilen auf dem gelben Deckel. Darüber eine Zeichnung eines englischen Wachsoldaten mit seiner Bärenmütze. Die Dose war silbern, zumindest früher mal. Das Öffnen war nicht leicht, als ob die Jahre den Deckel mit der Dose verklebt hätten. Ein bisschen mit ihrem breiten
Schraubenzieher nachgeholfen ging das schon. Dass dabei die Dose im Bereich des Deckels noch mehr verbeulte und neue Kratzer bekam, interessierte Käthe nicht. Den Deckel aufgeklappt war die Dose mit Leinen ausgefüllt, vermutlich der gleiche Stoff wie die Umhüllung. Käthe schüttete den Inhalt auf die Zeitungsunterlage des Tisches. Dazu musste sie die Dose ein wenig schütteln. Ob sie dazu ein Paar der den dünnen Plastikhandschuhen anziehen sollte, die sie im Stövchen zum Toilettenputzen benutzte? Fünfzig oder mehr waren davon in der Packung. Ach nee, jetzt war
es eh schon zu spät. Auf dem Tisch lag ein weiteres Leinenpaket, darin eingeschlagen ein Notizbuch. In Leder gebunden. Altes, brüchiges Leder. Etwas größer als der von Käthe genutzte Taschenkalender aber auch kleiner als es Schulhefte waren. Käthe öffnete das Büchlein, nicht auf Seite eins, sondern irgendwo zwischendrin. Zahlen. Sauber geschrieben, sehr zierlich. Im wahrsten Sinne des Wortes kaum zu entziffern.Jeweils zwei Ziffern zu einem Paar, dann einen kleinen Abstand. Acht dieser Paare nebeneinander in acht Reihen. Vierundsechzig Ziffern,
Einhundertachtundzwanzig Zahlen. Eine Seite wie die andere. Zusammenzählen wollte sie die Zahlen oder Ziffern oder beides nicht. Auch wenn Käthe im Kopfrechnen immer gut war. Die Schrift musste uralt sein, vermutlich mit der Feder gekratzt. Das erkannte Käthe an den mal kräftigeren, mal hauchfeinen Schriftlinien. Aber auch wieder so gleichmäßig, dass wohl ein Mann die Seiten gefüllt haben kann. Oder eine Frau? Wie kommt das Büchlein ins Stövchen? Wer hat das deponiert? Was soll das? Zu viele Fragen für Käthes sonst so übersichtliches Weltbild. Wer wird
Superstar im Fernsehen, wie stark wird morgen der Regen, was kostet die Butter im Herbst? Damit konnte sie etwas anfangen. Mit Zahlen in Büchern weniger. Wer hat dieses Buch zwischen die Spielautomaten gesteckt? Sollte etwa sie das finden? Käthe entschied sich entgegen ihrer Gewohnheit runter ins Stövchen zu gehen. Zum Putzen gerne, aber in eine Kneipe geht eine Frau nicht alleine. So war eben Ihr Weltbild. Du hier?, fragte die Wirtin Käthe? Hast Du was vergessen?
Neues Jahr, neue Sitten. Jetzt will ich auch mal was trinken., antwortete Käthe. Die Wirtin schenkte ihr kopfschüttelnd ein Glas Sekt ein. Das war so gar nicht Käthes Art. Andererseits, was soll‘s. Erlebte sie hier nicht ständig Dinge, die es gar nicht gab? Sag mal, hat einer was vermisst?, Käthe konnte ihre Neugier nicht länger im Zaum halten. Wieso fragst Du? Na es war doch richtig was los gestern
Nacht. Bis früh um fünf. Da kann doch einer was verlieren und ich bin heute Morgen nur mal schnell durch die Bude gegangen. Gut möglich, dass ich etwas hätte übersehen können., hoffentlich glaubt sie mit das, dachte Käthe. Die Wirtin schüttelte den Kopf. Obwohl noch keine sechzig wird das gute Käthchen doch so langsam alt, dachte sie. Die wo dohin sin, die hawwe all näd viel zu valierä. Un wenn doch, donn melde die sich schun. Kum her, noch än Sekt. Damit war das Thema für die Wirtin
erledigt. Wie schon einige andere im bisherigen Verlauf unserer Geschichten.
Käthe wartete ein paar Tage mit schlechtem Gewissen. Dann aber schien es ihr zuerst, später hatte sie Gewissheit, dass das Thema Büchlein vom Tisch war. In der Zwischenzeit hatte sie jede Seite umgeblättert. Kein Name, kein Hinweis. Nichts. Nur Zahlen, Zahlen, Zahlen.
Alsan Aygün war Käthes Ersatzkind. Oder Zweitkind oder Nebenkind, wie immer man es sehen wollte. Gerade so wie Erwin Kandinskie für die Aygüns Özlem war Senols Frau. Sie wohnten seit mehr als dreißig Jahren im dritten OG, eines unter Käthe. Senol war Meister beim Lanz, wie John Deere in Mannheim noch immer hieß und auf absehbare Zeit auch heißen würde. Schließlich war die Übernahme gerade mal etwas über fünfzig Jahre her. Senol arbeitete als Getriebefachmann, die bekanntlich nicht nur in der Formel 1,
sondern gerade auch bei Landmaschinen besonders wichtige Komponenten waren. So ganz genau verstanden hatte Käthe das nie, aber es muss etwas mit Schalten zu tun haben. Özlem und Käthe hatten Ihre Söhne etwa zur gleichen Zeit bekommen. Nichts war naheliegender in einem Haus, vor allem in unserem kommunikativen Lebensraum, als dass vieles gemeinsam geht, zusammen gemacht wird. So sind Aslan und Käthes Sohn Erwin mehr oder weniger in zwei Familien aufgewachsen. Dies wurde noch enger, als Erwins Vater vor Jahren sehr überraschend starb. Während Senol gut Deutsch sprach,
konnte es Özlem so leidlich. Vielleicht so, wie Erwin zwischenzeitlich Türkisch sprach. Zur Verständigung, zum Einkauf reichte es allemal. Aslan dagegen sprach reinen Straßendialekt, wie er schöner nicht sein konnte. Natürlich sprach er auch Hochdeutsch, zumindest die Art von Hochdeutsch, die hier dafür gehalten wurde. Die änzigscht, die blos ä Sproch konn, bin widda mol ich, sagte Käthe gerne, wenn sie über ihr nicht vorhandenes Leid klagte. Wer von den anderen Burschen konnte denn schon zwei Sprachen sprechen? Nur ihr Erwin. Aslan und Erwin verband von klein auf eine sehr enge Beziehung. Wie zwei
Brüder, nahezu unzertrennlich. Gemeinsam in der Grundschulklasse bei Frau Konrad und später Frau Stern erledigten die beide auch zusammen ihre Hausaufgaben. In aller Regel unten bei Aygüns, bei den „Däge“, wie Menschen mit türkischen Wurzeln hier im Allgemeinen, bei Käthe aber sowieso wurden. Dies war ganz sicher nicht böse gemeint, schon gar nicht rassistisch. Es war eben so in einer bunten Stadt mit einhundertsiebzig verschiedenen Staatsangehörigkeiten. Liebenswert eben. Ohne Aygün hätte Erwin seinen Weg über die Hauptschule in eine Lehre gefunden. So wie dies eben ist bei de
kläne Leit, wie Käthe gerne sagte. Erwin war jedoch ein intelligenter, aufgeweckter Bub. Einmal hatte Käthe im Rathaus zu tun und nahm Erwin mit. An der Wand im Flur hingen Bilder der Stadt, unter anderen einige aus einer Zeit der Stadt mit Stadtmauer uns Schloss und Schiffsbrücke und Lastenseglern auf Rhein und Neckar. Bei einem zeigte eine Vogelperspektive das Bild schräg von oben. Du Mama, wie wurde das denn gemacht, wunderte sich Erwin. Die hatten doch damals noch keine Flugzeuge. Da war Käthe sprachlos, was sehr selten vorkam, aber hier kaum einem auffiel. Wie kommt einer und vor allem Erwin auf solch eine
Frage? Später war sie stolz, dass ausgerechten ihr Erwin auf solch eine Frage kam und hunderte andere nicht. Erzählte es allen und jedem mindestens fünfmal. Da Käthe immer hier und da zu tun hatte, Özlem dagegen überwiegend Ihren Tag zuhause verbrachte, war Erwin nach der Schule meist unten, wie Käthe es beschrieb. Durch die intensive Hausaufgabenbetreuung durch Özlem, später auch durch Senol hatten die beiden schnell begriffen, wie man lernt. Man wollte ja auch raus auf die Straße. Hinzu kam, dass alle beide jeweils besser sein wollten wie der jeweils andere. Da sie nicht klein waren, dazu
straßenerfahren, wie die Jungs das nannten, kam es auch kaum zu Problemen auf dem Schulhof wegen ihrer vermeintlichen Streberei. Nahezu selbstverständlich waren beide nach der vierten Klasse auf das Gymnasium gewechselt. Käthe wusste nicht, wie ihr geschah. Das gab es in ihrer Familie bisher nicht. Am Ende hätte sie sogar einen Studierten im Haus! Sie wusste nicht so genau, ob es ihr recht wäre. Nachdem sie aber bemerkte hatte, dass viele hier Nachbarn sie bewunderten und die wenigen, die abfällig von besseren Leuten sprachen, doch eher neidvoll waren, genoss sie
dies. Ihr Sohn auf dem Gymnasium. Wie viele Ihrer Gespräche begannen die nächsten Jahre mit: moi Sohn, der wo ufm Gümnasium is, … Die Schulzeit ging zu Ende. Aslan mit seinem hervorragenden Abitur ging nach Freiburg an juristische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität. Erwin blieb zuhause an der Fachhochschule und beschäftigte sich mit Maschinenbau. Käthe war froh, dass es so kam. In manch schlafloser Nacht fragte sie sich, wie sie ein Studium finanzieren sollte. Allerdings verdiente Erwin durch clevere Jobs immer etwas dazu, ohne das Studium leiden zu lassen. So kam es,
dass Aslan und Erwin nicht mehr jeden Tag zusammen waren. Ihren engen Kontakt verloren sie jedoch nie. Erwin, der zwischenzeitlich eine eigene kleine Wohnung nicht weit entfernt hatte, besuchte ab und an Käthe und Özlem, beide immer gemeinsam, mal im dritten, mal im vierten Stock. So musste er nicht alles doppelt erzählen. Kaum war er gegangen, besprachen die beiden nochmal ganz genau, was sie da Neues erfahren und ob sie es auch richtig verstanden hatten und was beim nächsten Besuch nochmal nachzufragen wäre. Somit hatte Käthe dann auch wieder genügend Munition für ihre
nächsten Wege zum Bäcker, Metzger, Supermarkt oder wohin auch immer. Dieses Mal war es anders. Käthe sagte kaum etwas, hörte nicht zu, kratzte sich immer wieder am Kopf. Etwas war anders. Wollt Ihr beiden nicht hoch gehen, fragte Özlem. Wäre ganz lieb, antwortete Käthe. Hat auch nichts mit Dir zu tun. Natürlich war Özlem sehr beunruhigt. War Käthe nicht vor ein paar Tagen beim Arzt? Oben angekommen holte Käthe das Buch, das zwischenzeitlich in seiner
Blechdose, allerdings ohne das Leinen, in der Schublade des Küchenschranks lag. Das Leinen war in einer Plastiktüte verschlossen wieder unter dem Schrank. Erwin konnte mit dem Buch genauso wenig anfangen wie Käthe, obwohl er gleich an einen Code dachte. Und da das Ganze recht alt sein musste, konnte die Verschlüsselung auch sicher nicht schwer sein. Die hatten früher ja nicht viel drauf, wie viele heute noch immer meinten. In aller Ruhe, soweit dies bei Käthe möglich war, lies Erwin sich so genau wie möglich erklären, wie seine Mutter zu diesem Buch kam. Er kam zum selben Schluss: irgendwer musste die Leinenverpackte Dose im Stövchen
deponiert haben. Und da seine Mutter sehr gründlich war, konnte das nur in der Neujahrsnacht passiert sein. Wo aber, so die Auskunft der Wirtin zu Käthe, keine Fremden da waren. Auch nicht mal kurz um Mitternacht, wie es in Vorjahren durchaus vorkommen ist. Der Bauer sprach will selber sehn und just mal nach der Kammer gehen, dieses uralte Volkslied viel Erwin ein, als er die Treppen nach unten ging. Im Stövchen angekommen setzte er sich an den Thekenplatz in der Nähe der beiden Automaten. Obwohl er gerne in Kneipen verkehrte, war nicht oft hier. Es war ihm nicht recht, wenn seiner Mutter wusste,
dass er zu viel getrunken hatte, noch lange bevor er überhaupt zu viel getrunken hatte. Sein Revier war eher die Innenstadt. Aber ab und an war er auch mal im Stövchen. Vor allem, wenn Aslan da war, der eh nicht gerne trank und dann auch nicht weit gehen wollte. Heute alleine, fragte die Wirtin. Erwin zucke die Schultern. Er drehte sich um, lehnte mit dem Rücken an und den Ellenbogen auf der Theke, dass er zum Fenster hinaus sehen konnte. Dabei hatte er einen Bierdeckel in der rechten Hand. Eine Zigarettenschachtel wäre besser, von der Größe her, aber er rauchte nicht. Schnell war der Bierdeckel
gefallen, ein Stück weg vom Automaten. Uffhewe, erklang es von der Seite. Schnell hob Erwin den Deckel wieder auf. Sorry, murmelte er. So konnte es nicht gewesen sein. Per Zufall kam das Ding da nicht hin. So kam er nicht weiter. Müßig auch zu fragen, wo sicher keiner was wusste. Schlimmer noch, wer etwas wusste, wusste dann auch, das Käthe damit zu tun hatte. Es wäre sicher besser, wenn keiner das wusste. Außer ihm und Käthe. Ziemlich viel ‚wusste‘. Dafür das weder er noch seine Mutter überhaupt etwas wussten. So ginge das nicht, das wusste Erwin. Anderer Ansatz. Den Code knacken. Denn ein Code musste es sein.
Sparkasseneinzahlungen eher weniger. Erwin trank noch drei oder vier Bier, damit sein Besuch nicht auffiel, als ganz normaler Kneipenbesuch durchging. Zwei Stunden später schlenderte er nach Hause, vorbei am Lanz. Vielleicht bekam Aslan eine Stelle als Jurist, er in der Entwicklung. Das wäre was, träumte er. Am darauf folgenden Tag nach der Vorlesung machte Erwin sich die Mühe mit seiner Digitalkamera Seite für Seite abzufotografieren. Jeweils eine Doppelseite auf einmal. Das Buch hatte einhundertzwanzig Seiten, gut die Hälfte
war beschrieben. Mach vierundsechzig Seiten, also zweiunddreißig Aufnahmen. Auf den PC überspielt, den Kontrast verbessert, damit die Zahlen lesbar sich. Am nächsten Tag in der Hochschule ausgedruckt, gleich drei Mal. Kopien zum Arbeiten. Das Buch brachte er zu Käthe zurück. In der Bücherei stand ein Buch über geheime Botschaften, das sich vorrangig mit alter Kryptografie beschäftigte. Erwin lernte viel über das Thema, allerdings kam er nicht wirklich weiter. Erwin brauchte Unterstützung.
Rolf Schwierz war ein bemerkenswerter Mann. Unscheinbar, sehr unscheinbar. Schlanke Figur, nicht sehr groß. Gekleidet war er gerne in alten Jeans, unauffälligen Hemden, dezente Jacken, Jacketts oder Blousons. Immer sauber, immer ordentlich, nie verschlissen, aber auch nie ganz neu. Wer sich einen idealen Spion vorstellen wollte, würde mit Rolf sicher fündig. Zudem war er ein grundsympathischer Zeitgenosse. Einen Menschen, den man einfach mögen musste. Mit seinem ruhigen, zurückhaltenden Wesen, seiner Art zuzuhören und seiner leisen, angenehmen
Stimme könnte Rolf fast einem Roman entsprungen sein. Dies alleine war es nicht, das Rolf so bemerkenswert machte. Es unterstützte vielleicht etwas, weil dadurch kaum jemand seine Fähigkeiten vermutete. Rolf studierte in jungen Jahren. Da waren die Mathematik, die Philosophie, die Musik und vieles andere wie zum Beispiel wenige Semester Theologie. Immer, wenn ihn ein Fach langweilte, wenn es ihm nichts mehr sagte oder gab, wechselte er. Abschlüsse hatte er keine vorzuweisen. Er sah nie einen Sinn darin, sich im Rahmen einer Diplom- oder Magisterarbeit mit einem Thema zu
beschäftigen, dass er beherrschte. Rolf vergaß wenig und konnte Zusammenhänge bilden, die oft gebietsübergreifend phantastische Lösungen aufzeigten. Lösungen, auf die andere nie kämen. Vielleicht hatte Rolf etwas von einem Universalgelehrten, wenn dies auch etwas hoch gegriffen wäre. Rolf dies entschieden zurückgewiesen. Rolf hatte ein Problem: er kam mit dem Leben nicht zurecht. Nicht mit der realen Welt. Jobs hatte er immer mal wieder. Sie dauerten wenige Wochenoder auch ein paar Monate, vielleicht zwei Jahre. In einem Büro, wo Messreihen der
chemischen Industrie auswertete wurden. Bei einem Berater, um komplizierte Workflows auszuarbeiten. Aber auch als Kontrolleur bei der Stadtbahn. Da kommt man etwas in der Stadt herum und ist zugleich von der Straße weg, wie er es gerne beschrieb. Wenn die Tätigkeit ihn langweilte, ließ er es wieder bleiben. Dazwischen aber konnte es für die jeweilige Firma keinen besseren Mitarbeiter geben. So hatte Rolf immer etwas Geld für seinen Grundbedarf und für seine Kneipenbesuche. Mehr brauchte und wollte er nicht. Unweit des Neckars lag der blaue Hahn,
eine mehr als einhundert Jahre alte Kneipe, schon immer in Familienbesitz. Das Haus hatte den letzten Krieg überstanden. Gerüchte erzählen, dass den Engländern gute Kneipen heilig seien und die Amerikaner das Gebäude einfach nicht getroffen hätten. So überstand das Haus all die Bombennächte in der zerstörten Stadt, die Gaststube offen für Zecher. Heute erinnert daran nichts mehr. Die Zecher wurden zu Stammgäste. Immer die gleichen Leute, die an bestimmten Tagen oder zur bestimmten Stunde kamen. Manche hatten ihren festen Platz. Die Küche war seit Jahren geschlossen. Als der Betrieb einen Koch nicht mehr trug,
entsorgte die Wirtin die Speisekarte kurzerhand. In sogenannten Raucherkneipen waren Speisen auch nicht mehr zulässig. Es gab Bier, Wein, Schnaps, die üblichen alkoholfreie Getränke. Wer Essen wollte, bestellte Pizza oder holte Döner von nebenan. Die Papierreste der Verpackungen verschwanden im Winter im großen Kachelofen, wurden thermisch verwertet oder, besser gesagt, verheizt. Erwin kam über Studenten in den Gockel, wie die Kneipe von vielen genannt wurde. Bier und Schnaps war günstig, die Wirtin, weit in den Siebzigern und ihre Tochter waren immer
freundlich. Jeder wurde begrüßt, war willkommen, konnte auch anschreiben, sollte Geld knapp sein. Hier lernten sich Erwin und Rolf kennen. Erwins Freunde hatten Donnerstag vereinbart, er kam versehentlich am Mittwoch. An diesem Abend wurde Erwin aufgefordert sich an den runden Stammtisch mit dem Aschenbecher aus Schmiedeteilen zu setzen. In Kneipen in unserer Stadt sitzt keine alleine am Tisch. Das gehört sich nicht. Seitdem gehörte Erwin dazu. Bald war er vier oder fünf Mal die Woche da. So wurden er und Rolf gut miteinander bekannt. Jetzt rang Erwin mit sich, Rolf
einzuweihen. Was konnte er ihm erzählen, wie dieses Notizbuch in seinen Besitz gekommen war? Was konnte er preisgeben, was sollte er besser für sich behalten. Zumal er selbst nicht genau wusste, wie das Buch mit den Zahlenkolonnen in Käthes Hände kam. Rolf, ich muss mal mit Dir reden. Alleine. Wann hast Du Zeit?, fragte Erwin. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag in einem Kaffee in der Nähe zum Bahnhof. Rolf hatte mal wieder keinen Job. Erwin sollte die Vorlesung thermische Turbomaschinen 1 besuchen, ein Fach, das ihn nicht wirklich brennend interessierte. Vor der
Prüfung anständig lernen, das sparte machen Stunde in der Hochschule. Lernen, das konnte er. Hatte er von früh auf gelernt. Schnell brachte die Bedienung jeweils einen Pott Kaffee, zwei Brötchen, ein hart gekochtes Ei, dazu abgepackt Butter und Marmelade, Besteck dazu. City-Frühstück nannte sich dies. Einfach, sättigend, schnell, kostengünstig. Wie man es hier gerne hat. Man war eben keine besseren Leute. Erwin hatte zwei oder drei Seiten der Kopien mitgebracht. Er beschloss, Rolf nicht anzulügen, zumal dies schwierig gewesen wäre. Rolf würde dies mit zwei,
drei Fragen bemerken. Rolf, hier sind Kopien eines Notizbuches, Zahlenreihen, womöglich ein Code. Woher das Buch ist? Ich bitte Dich erst mal nicht zu fragen. Soviel: nicht gestohlen. Mein Wort drauf. Konnte Erwin sein Wort geben, dass das Notizbuch nicht gestohlen war? Er hatte es nicht gestohlen. Soviel stand fest. Seine Mutter fand es im Stövchen zwischen den Spielautomaten. Genauer: sie hatte ein in altes Leinen eingeschlagenes Paket gefunden. Hätte sie es nehmen dürfen? Hätte sie es nicht der Wirtin des Stövchens geben müssen?
Andererseits hatte sich bisher niemand nach dem Notizbuch erkundigt. Hier sollte er nochmals nachharken. Später. Rolf sah sich die Zahlenreihen an. Sauber geschrieben in kleiner Schrift. Jeweils zwei Ziffern zu einem Paar, dann einen kleinen Abstand. Acht dieser Paare nebeneinander in acht Reihen. Vierundsechzig Ziffern, einhundertachtundzwanzig Zahlen. Eine Seite wie die andere. Wozu Käthe doch ein bisschen gebraucht hatte, erfasste Rolf in einem Blick. Ziemlich sicher handelte es sich um einen Code. Zwei Stellen, alle Ziffern von 0 bis 9 mehr oder weniger gleichmäßig verteilt. Sorry,
kann ich hier nicht lösen., sprach Rolf nach kurzem Nachdenken mehr zu sich selbst. Diese Seiten, ob das alles sei?, fragt Rolf. Früher waren große Datenmengen schwierig zu verarbeiten. Heute gibt es Verfahren, die benötigen große Datenmengen. Je mehr, umso besser. Ist wie mit dem Bier im Gockel. Erwin beschrieb, wie er die Seiten fotografiert hatte, Scans im jpg-Format sozusagen. Vielleicht wäre kopieren besser gewesen. Die Kamera arbeitete kostenfrei. Erwin wollte nicht sagen, dass das Kopieren auch Dritte hätten sehen können. Öffentlich nutzbare Kopierer stehen nun mal nicht in kleinen
Räumen. Erwin zog seine Geldbörse aus seiner Jeans, öffnete das Münzfach und legte Rolf einen Stick hin, auf dem alle Scans gespeichert waren. Rolf war schon ganz in Gedanken, fast nicht mehr ansprechbar. Mit den Worten - kann ein bisschen dauern – verabschiedeten sie sich. Und ward erst mal nicht mehr gesehen. Erwin unterquerte den Bahnhof durch den Fußgängertunnel, der auch die Gleise miteinander verband. Eine beliebte Verbindung, um den südlichen Stadtteil, wo Erwin wohnte, an die Innenstadt anzubinden. Ein paar hundert Meter weiter den Schienen der Stadtbahn
entlang lag das Stövchen. Zwei älteren Stammgästen saßen an der Theke. Sie tranken die jeden Morgen. Die Bedienung bediente zwei der Spielautomaten gleichzeitig. Der eine lief alleine, die Spiele des anderen stoppte oder startete sie, wie es ihr in den Sinn kam. Der Automat erhöhte den Geldzähler um achtzig Cent oder auch fünf Euro. In aller Regel aber arbeiteten die Maschinen die Geldscheine ab und warteten auf neue. Erwin kannte die Bedienung vom Sehen, wusste aber ihren Namen nicht oder nicht mehr. Karo, machst Du mir noch einen, fragte einer der beiden Älteren. Ok, dachte Erwin, wäre das auch geklärt. Karo kam hinter
die Theke, wenn auch nicht wirklich gerne. Sag mal, Karo, bis wann gehen Euch denn die Stammgäste oder die Gäste allgemein aus? Biologisch meine ich. Karo lächelte: Kann leicht passieren. Kommen denn keine neuen nach? In diesem Jahr noch keiner. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber es ist ja noch Januar. Somit wusste Erwin, dass keine Fremden da waren. Fremde, die Fragen stellten schon gar nicht. Das hätte Karo sicher gewusst. Und ganz sicher erzählt. Das Notizbuch wurde nicht vermisst. Oder, wenn doch, war niemanden auf die Idee gekommen, es im Stövchen zu vermuten.
Gut so, eine Sorge weniger. Nur, woher kam das Päckchen mit der in Leinen eingewickelten Metallschachtel und den Notizbuch? Auf der Theke lagen gelesene Tageszeitungen, für den Papiermüll bestimmt, obenauf der Lokalteil von 2. Januar mit einem Bild der zerstörten Kugel auf dem Äckerplatz. Erwins Blick fiel kurz darauf, er nahm es aber nicht bewusst war. Noch ein Bier weiter, war er wieder weg. Es war noch früh am Tag. Sicher dürfte es nicht lange dauern, bis Käthe anrufen würde. Was er im Stövchen machte, was er so früh in der Kneipe machte, warum er vor Mittag zwei Bier
trank.
Frau Arnhäuser legte größten Wert darauf, ihre Tochter zu jeder Zeit Ina Selina zu rufen. Niemals Ina, niemals Selina und schon gar nicht Inchen oder Selinchen. Ina Selina in einem Wort, das musste sein. Isa war das von früh auf unangenehm, wohl weil sie von Emi, Sabse, Sue oder Lottchen fortwährend gehänselt wurde. Irgendwann hieß Ina Selina Isa, vermutlich das Kürzel ihrer drei Anfangsbuchstaben. Der Rufname Isa war der Mutter nie recht, bis zum heutigen Tage nicht. Fragten Freunde nach Isa, pflegte sie zu antworten: Ina Selina ist in ihrem Zimmer oder im
Garten, nicht da oder sonst wo, das I von Ina und das A von Selina besonders betonend. Vielleicht darauf hin zurückzuführen machte Isa nicht grundsätzlich, sondern außschließlich alles anders als sie sollte oder ihre Mutter wollte, was oft auf das gleiche hinaus lief. Wir können es nicht wissen, die Vermutung allerdings liegt nahe. Dabei schadete sich Isa regelmäßig und sehr, was sie aber nie bemerkte und wenn, dann schon gar nicht wahr haben wollte. Von den erste zwei, drei vielversprechenden Klassen der gymnasialen Ausbildung landete Isa bald auf der Realschule und wäre sicher
auch auf die Hauptschule abgerutscht, hätte sie nicht gerade so die neunte Klasse der Realschule erreicht. Ihr Abschluss allerdings schwebte irgendwo zwischen verheerend und katastrophal mit einer Tendenz zum Massaker. Isa sollte viele Bewerbungen schreiben, sagte ihre Mutter. Dafür wurde eigens ein Drucker für Isas Rechner angeschafft mit einem besonders schönen Druckbild. Dass dies kaum Wert haben dürfte wusste sie jedoch selbst. Zur IHK musste sie. Zum Test. Ihre Mutter schleppte sie in das sehr repräsentable Gebäude am Schloss. Interessant, dachte Isa, was mit
Mitgliedsbeiträgern von Handwerkern zu bauen ist. Handwerk muss doch goldenen Boden haben, ging ihr durch den Kopf. Der Test entsprach den Schlechtleistungen, die ihr Zeugnis beschrieb. Wobei wir nicht wissen konnten, ob Isa nicht wollte oder schlicht und einfach nicht konnte. Was Textaufgaben mit Rechnen zu tun haben, war ihr nicht begreiflich. Wer wissen will, was fünf geteilt durch drei sei, solle sie dies auch direkt fragen. Und nicht mit einem Bäcker anfangen, der verschiedenen kg-Anteilen Mehl und Zucker und sonst was zusammenschüttet und dann wissen soll, wieviel zwei Prozent davon für Salz in Gewicht sind.
Nicht so und nicht mit Isa, dachte Isa und handelte danach. Oder besser, sie handelte nicht. Es kam, wie es in diesen Fällen immer kam: für Isa begann ein Jahr, wo man für vier oder sechs Wochen in verschiedene Berufe geschoben wurde, bis einer dabei war, wo Lehrbereich und zukünftiger Azubi zusammenpassen. Bei Isa war es zur Überraschung aller schon die dritte Stelle nach Kindergarten und Altenheim. Krankenschwester oder Krankenpflegerin, wie es heute hieß, in einem Krankenhaus in der Innenstadt, am Neckar, unweit des
Gockels. Isa wusste zu Beginn nicht, ob es ihr gefallen sollte. Schlecht waren die Arbeitszeiten. Sie musste jeden Tag kommen, musste tun, was andere ihr sagten und es gab kaum etwas Bleibendes. Kaum war ein Bett sauber, am nächsten Tag, manchmal auch noch am gleichen, war es wieder zu machen. Patienten blieben zwei oder drei Tage, waren dann wieder weg. Andererseits hatte Isa auch Macht über Menschen. Sie konnte ihnen beim Spritzen wehtun oder auch nicht. Gleiches galt für den Verbandwechsel und viele andere Tätigkeiten. Besonders Gefallen fand sie
am Umgang der Oberschwester mit den Schwestern und Azubis. Schnell ging sie genauso mit den Mitazubis um, die sich dies gefallen ließen. Bald konnte sie auch manche jüngere Schwester kommandieren. Zwar nur verhalten und eher vorsichtig, aber es ging. Aus: kannst Du mal für mich das Mittagessen zu Herrn Maier bringen, wurde bald: Mittagessen zu Maier, Zimmer drei null acht, ich kann grad nicht, und sofort umdrehen und weg. Die Oberschwester beobachtete dies mit stiller Freude. Personal mit Führungsqualität, wie sie Isas kommandierenden Ton interpretierte, war rar gesät. Ist viel zu selten bei den jungen Dingern, freute sie
sich. So gab es gute Beurteilungen. Den Ausschlag gab, wie so oft in Isas Leben, ihre Mutter. Isa belauschte ein Gespräch zwischen ihr und ihrer besten Freundin, von Isa Tante Karin genannt. Obwohl sie nicht ihre Tante war. Tante Karin hatte nicht mal einen Bruder, die ihr Vater hätte sein können. Jedenfalls beschwerte sich ihre Mutter bitterlich bei Tante Karin über Ina Selina, die Ärztin hätte werden können, jetzt Bettpfannen und –enten leert, was einer familiären Schande gleich kam. Jetzt wusste Isa, das wird ihr Beruf. Exakt auf den Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstags fiel ihr
Lehrabschluss. Jetzt war Isa Krankenpflegerin, wie es offiziell hieß. Ihr Gehalt erhöhte sich von Eintausend auf Zweitausendzweihundert, was sie für viel hielt. Brutto natürlich. Keine zwei Jahr später kommandierte sie die Abteilung. Der Oberschwester war es recht, lies Isa doch alles erledigen oder ausführen, was sie anordnete, ohne ihr jemals zu wiedersprechen. Den Ärzten, denen dies auffiel, ignorierten Isas verhalten. War es doch das Reich der Oberschwester. Das sich die Versetzungsanträge häuften, was soll’s. Dies kommt immer wieder vor. Ist Sache der Oberschwester. Sie wiederum brauchte ein Telefonat oder einen Kaffee
mit der Oberschwester des Zielbereiches des Versetzungsantrags. Somit war die Sache geregelt. Diejenigen, die kündigte, die Klinik wechselten, die wäre auch so gegangen oder schwanger geworden. Kurz und knapp, der Laden lief. Patientenbeschwerden gab es wenige bei durchschnittlichen Liegezeiten von unter drei Tagen. Jetzt geschah es aber, dass Rolf an Erwins Aufgabe doch sehr knabberte. Das Scannen und Übertragen der Daten war einfach. Doppelt gescannt, gegenübergestellt, um Fehler der Schrifterkennung zu finden und zu bereinigen war eine eher kleine
Fleißaufgabe. Könnte jeder lösen, der nicht aus dem Kinderwagen gefallen ist., so sagte Rolf gerne, um Lösungen zu relativieren. Die saubere und exakte Schrift half dabei. Als ob der damalige Schreiber schon an Rechner des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts gedacht hätte. Aber was mit den Daten anfangen? Wie das Rätsel lösen? Womit die Kryptographie auflösen. Dass die Buchstabenhäufigkeit eine statistische Größe war, war seit mehr als einhundert Jahren ein alter Hut. Im Deutschen kommt das A zu sechseinhalb Prozent vor, das E zu siebzehneinhalb, das X aber nur zu drei Hundertstel Prozent. Also etwa so viel wie Schalke Meister
werden kann, würde ein Bayernfan behaupten. dreiundachzig Seiten à vierundsechzig Buchstaben, wenn jedes Ziffernpaar einen Buchstabe bedeutet, mach zweitausendsechshundertzweiunddreißig Buchstaben. Mit diesen Grübeleien saß Rolf am Stammtisch im Gockel und trank, gut eine Woche nach dem Erhalt des Sticks von Erwin. And when I'm drinking, I'm always thinking, duldelte es aus dem Transistor aus den Sechzigern, der den Lieblingssender der Wirtin dudelte. Vielleicht dachte Rolf an diesem Abend etwas viel, vielleicht trank er auch nur
zu stark. Beides kam häufig vor. Jedenfalls kam es wie es kommen musste. Rolf erlitt an diesem Abend einen seiner ab und an vorkommenden Getränkeunfällen. Dieses Mal wickelte er sich in ein an der Hauswand angelehntes Fahrrad. Irgendwie war er so mit dem Rahmen verknotet, dass die drei Jungs des Rettungswagens Schwierigkeiten hatten, ihn vom Rad zu trennen. Kurzzeitig dachte man darüber nach, die Feuerwehr zu rufen, um den Rahmen auftrennen zu lassen. Dann war Rolf frei, allerdings noch immer bewusstlos, wie ihn Passanten aufgefunden hatten. Der Treffer der Hauswand an seinem Schädel war doch
sehr heftig. Wie immer bei Getränkeunfällen war auch hier nicht viel passiert außer einer starken Gehirnerschütterung und einem erneut gebrochenen linken Unterarm. Also nichts Neues bei Rolf, sagten alle, die ihn kannten. Irgendwann kam Rolf in der Notaufnahme zu sich, Schmerzen im Kopf, Schmerzen im Arm, Schmerzen überall. Du schon wieder, begrüßte ihn ein junger Blaukittel, vermutlich ein Arzt. Ja, kennst mich nicht, was. Ich sehe Dich ja auch immer nur voll hier. Komm doch mal übermorgen nüchtern runter, dass wir uns vorstellen. Bald war
Rolf beim Röntgen, Arm und Kopf. Der Arm wurde geschient und ab nach oben auf Station. In dieser Nacht war kein Platz in einem der Zimmer frei. Rolf stand auf dem Gang oder besser, seit Bett stand auf dem Gang und er lag drin. Am nächsten Morgen, Rolf noch in den Kleidern, war seine Bettente zu weiten Teilen gefüllt. Da er nicht nur den Arm gebrochen, sondern auch eine heftige Prellung an der Hüfte hatte, sollte er nicht aufstehen. Seine Gehirnerschütterung kam hinzu. So stand sein Bett im Flur, direkt an den Aufzügen, wo lebhafter Verkehr war. Besucher kamen vor
Geschäftsbeginn zu ihren Angehörigen, Ärzte und Schwestern kreuzten zwischen den drei Stationen auf diesem Stockwerk. Rolf versuchte seine Notdurft in die beschriebene Ente zu füllen, noch immer in den Jeans des Vortages. Da es keine Paravents gab, beobachteten nicht wenige der frühen Besucher interessiert, was Rolf den da gerade verrichtete. In dieser Situation kam Isa an Rolfs Bett vorbei. Schwester, rief Rolf sie, kannst Du mich auf den Paradeplatz schieben? Damit noch ein paar mehr Leute zusehen können?, rief Rolf ihr nach. Ja das ging mal gar nicht. Was erlaubte dieser Unbekannte sich, so mit Isa zu reden? Wenn das eine ihrer –
vermeintlichen – Untergebenen mitkriegte? Oder gar die Oberschwester. In der Schwesternkammer sah sie zornig auf den Plan. Zimmer drei null vier, da wurde was frei, nein, sogar beide Plätze. Müsste schon leer sein. Isa kam zu Rolf, löste wortlos die Bremsen und schob das Bett Richtung drei null vier. Nicht jedoch ohne mehrfach mit dem Bett an die Holzleisten zu donnern, die die Wände in diesen Fällen schützen sollten. Die Gummirollen an den Bettecken dämpften zwar, da musste man eben ein wenig fester anstoßen. Jeder Treffer war schmerzhaft für Rolf. Für die Hüfte, für den Arm, für seinen verkaterten Kopf sowieso.
Im Zimmer angekommen, stellte Isa Rolfs Bett an die Wandseite. Bitte ans Fenster, ja? fragte Rolf. Isa gab ein Geräusch von sich, als solle sie Rolf auf ihrer Schulter zurück in den Gockel tragen. Das Bett ans Fenster geschoben, nicht ohne noch zwei Mal anzustoßen, dann wollte Isa Zimmer drei null vier verlassen. Ach bitte, fragte Rolf, geht noch einer neue Ente? Ich schicke jemand, antwortete Isa patzig, pampig, noch immer voller Zorn. Stehen die nicht hier im Zimmer im Schrank neben dem Klo?, fragte Rolf verwundert. Das war zu viel. Wer war sie denn, dass so
einer ihr vorgab, was sie zu tun hatte. In diesem Moment stand Julia, eine Kollegin Isas, an der noch offenen Zimmertür, wollte etwas von Isa wissen. Isa sah sie in ihrem Rücken nicht. Wenn ich sage, ich schicke jemand, dann schicke ich jemand. Wo die Dinger stehen, geht Sie gar nichts an, nicht mal einen feuchten Kehricht, begann Isa zu keifen, so wie sie auch mit ihren Kolleginnen pflegte. Die junge Schwester an der Tür blieb still stehen und zog den Kopf ein. Junge Dame, was bilden Sie sich denn hier ein, begann Rolf. Alleine mich so auf dem Gang bei Publikumsverkehr liegen zu lassen dürfte
Euch viel Ärger machen. Ihre private Boxautofahrt mit meinem Bett dürfte Ihnen eine Anzeige nach zwo zwo drei StGB bringen und wenn nicht, dann doch sicher eine Versetzung in eine Abteilung, wo sich nicht wirklich hinwollen, dazu eine Abmahnung, wie sie Joseph selten gesehen hatte. Joseph sorry, ich meinte Prof. Meierling. Schon mal gehört, den Namen, oder? Das Telefon hier, das ist doch für interne Gespräche freigeschaltet. Ach Sie an der Tür, könnten Sie mit die Durchwahl von Joseph, ich meine Meierling, ähh, Entschuldigung, Prof. Meierling besorgen. Ihre Kollegin mit dem hochroten Kopf traue ich das heute doch
nicht mehr so zu. Isa wusste nicht, was sie mehr erschrecken sollte. Dass Rolf so mit ihr geredet hatte, dass Rolf den obersten Chef kannte – wie gut auch immer oder das Julia dies mitgekriegt hatte. Während Isas Zorn noch heftig kochte und dabei war, ihren Rückzug zu strukturieren, wie ein Militär dies beschreiben würde, war Julia schnell zurück. Zweiunddreißig dreiundfünfzig, rief Julia zuckersüß. Als ob es ihr ein Fest wäre. Das Rolf weder Joseph noch Meierling und schon gar nicht Prof. Meierling
kannte, wussten beide nicht. Vor allem Isa wusste nicht, dass man bei Rolf innen mit außen nicht verwechseln durfte. Die Oberschwester aber nahm verwundert zur Kenntnis, dass Isa in der Folgezeit sehr ruhig war. Sie ließ die Azubis in Ruhe, die Schwestern sowieso. Wohl doch nicht so die Führungskraft. Gut, für den Kurs, wo sie Isa vorschlagen wollte, war sie wohl doch noch etwas zu jung. Dank Julia drehte die Geschichte schnell ihre Runde. Sie war so gestrickt, dass nicht viel dazu kam. Es war so schon schwer zu glaubten, das es einen gab, der Isa einzubremsen vermochte. Das
ging doch gar nicht, eigentlich. Rolf wurde umsorgt, gepflegt und gehegt, als hätte er seine Verletzungen bei der Rettung einer Schule abbekommen, nicht bei einem Getränkeunfall. Würden Sie mir noch einen Kaffee bringen, fragte er zwei Tage später Julia, die sich besonders kümmerte. Ihnen gerne auch drei, wenn sie wollen. Drei. Drei hintereinander? In Reihenfolge? Das war‘s. Danke Julia, Danke. Ich würde sie Küssen oder Rosen kaufen. Wenn ich Geld hätte. Danke. Rolf sank glücklich in die Kissen. Jetzt konnte er in Ruhe gesund werden und dann den Code knacken. Und dann ab in
den Gockel. Um die Sache abzuschließen, nein, nicht die Erzählung, sondern Isas Geschichte: sie blieb noch zwei oder drei Jahre, war dann aber mehr oder weniger, eher mehr als weniger untragbar geworden. Die Nachfolgerin der zwischenzeitlich pensionierten Oberschwester bekam das Thema Isa schnell in Griff. Zwei Abmahnungen in drei Monaten, danach ein Personalgespräch, ob sie nicht doch besser gehen wolle, auf eigenen Wunsch und mit gutem Zeugnis. Somit war dieses Kapitel abgeschlossen.
Rolf war aus dem Krankenhaus entlassen worden. Noch schmerzte seine Hüfte. Der Kopf war wieder in Ordnung, die Platzwunde im Begriff zu heilen. Der Armbruch würde etwas länger ausheilen, aber ein Armbruch war für ihn nicht wirklich von Bedeutung. Zuhause angekommen in einem Haus, das zwischenzeitlich einem modernen Bürogebäude weichen musste, sortierte Rolf die Post im überquellenden Briefkasten. Umschläge, die auch nur entfernt nach Werbung aussah, wurden in der zerrissen und in die Papiertonne entsorgt. Dabei ging auch manches
Interessante oder auch Wichtige verloren. Übrig blieben Rechnungen, eine Mahnung und die Postkarte einer Freundin, die zur Studienreise in Riga weilte. Rolf erstellte eine Code-Tabelle, wie er sie sich vorstellte. Da der Code sehr alt war, sollte diese zuerst einfach strukturiert sein. Nur das Alphabet von A bis Z und das Leerzeichen zur Worttrennung. Das Ganze von 01 bis 99, wo wie die Zahlen im Notizbuch. Die Werte 01 bis 28 verschlüsselten die Buchstaben A bis Z und das Leerzeichen, bei 29 wiederholen sich die Buchstaben, erneut mit A beginnend.
Ende war bei O, das den Schlüssel 99 bekam. Unschlüssig war Rolf, ob auch Zahlen und Satzzeichen aufgenommen waren. Zuerst, entschied er, sollte der Scanner mit dieser einfachen Tabelle arbeiten. Aus seinen Vorlesungsunterlagen, Ordnerwiese über alle seine begonnenen Studien archiviert, suchte er diejenigen über sein Mathematikstudium heraus und da wiederum den Statistikordner. Schnell fand er eine Tabelle mit der Buchstabenhäufigkeit in deutschsprachigen Texten. Vielleicht ist der Text ja deutsch, dachte Rolf, sonst müsse er eben entsprechende Tabellen für Englisch, Französisch und weiter
Sprachen suchen. Rolf fiel auf, dass in der Tabelle aus der Statistikvorlesung auch der Buchstabe ß angegeben war, den er nicht berücksichtigt hatte. Das Schöne an Rechnern ist jedoch, dass man Programme immer und immer wieder laufen lassen kann. Einfach nur die Grunddaten modifizieren. Rolf schrieb Programme, Dreizeiler-Progrämmchen, wie er es nannte. Hierzu wählte er die Programmiersprache Perl, die ursprünglich als Werkzeug zur Verarbeitung von Textdateien geschrieben worden war. Passend zur Aufgabe, die er vor sich liegen hatte. Zu Rolfs berühmten
Dreizeiler-Progrämmchen musste erläutert werden, dass diese durchaus ansehnliche Anwendungen sein konnten. Wie Rolf so war, interessierte ihn das Ergebnis. Ausgeklügelte Fehlerbehandlungen, die den Anwender weitgehend vor selbstverschuldeter Fehlbedienung schützen sollten, waren ihm fremd. Darin sah er keinen Sinn. Dies war sicher einer der Gründe, warum Rolf selten als Programmierer für Firmen arbeitete. Zuerst wurde gesucht, mit welcher Häufigkeit ein Wert im kodierten Text vorkam. Im nächsten Schritt wurden die Summen den Buchstaben zugeordnet. Beispielsweise hatte A die Codes 01, 29
und 57, K die Werte 11, 39 und 67. In einem weiteren Programm ersetzte Rolf die Codes durch die jeweiligen Buchstaben, deren Anzahl denen der Buchstabenhäufigkeit zuzuordnen waren. Dies erforderte mehrere Durchläufe, bis etwas Lesbares herauskam. Während der Buchstabe E zu siebzehn Prozent, N zu zehn und R zu sieben Prozent vorkamen, lagen andere deutlich enger beieinander, mussten mehrfach in der Buchstabenhäufigkeitstabelle vertauscht werden. Aber nicht allzu lange und Rolf hatte ein halbwegs vernünftiges Ergebnis. Tatsächlich hatte der erste Codetabellenversuch geklappt. Keine
Zahlen, keine Satzzeichen, nur Buchstaben. Und in deutscher Sprache. Vermutlich sollte der Text so verschlüsselt werden, dass er durchaus zu dekodieren war, aber eben nicht von jedem. Oder aber der Autor konnte es nicht besser. Wie auch immer. Rolf musste aber auch zugeben, dass ohne Rechnerhilfe, was bei dem vermutlichen Alter des Notizbuches nicht vorhersehbar war, die Lösung wesentlich schwieriger gewesen wäre. Nein, schwieriger nicht. Nur eben mit nächtelanger Fleißarbeit und jeder Menge Papier verbunden. Jetzt ging es darum, den Text lesbar zu gestalten. Rolf las Wort für Wort. Wo er ein
Satzende zu erkennen glaubte, setzte er einen Umbruch. Somit stand Satz für Satz der vollständige Text zum Ausdruck bereit. Ein paar kleinere Fehler, durch sein Programm oder vielleicht auch schon bei der Verschlüsslung entstanden, bereinigte Rolf. ‚ULD‘ zu ‚UND‘ oder ‚UNTERBRGCHUNGEN‘ zu ‚UNTERBRECHUNGEN‘. Was er las, erschütterte ihn sehr. Kannst Du gleich vorbei kommen, rief Rolf Erwin an. Hast Du sie noch alle?, fragte Erwin verschlafen zurück. Es ist drei Uhr mitten in der Nacht. Als Erwin hörte, warum Rolf anrief, stand er schon
halb in seiner Jeans. In rekordverdächtigem Tempo trat er sein altes Dreigangrad aus Schülerzeiten durch die Vorstadt in die Innenstadt zu Rolf. Vorbei am Wasserturm quer über den um diese Zeit kaum befahrenen Ring und entgegen der Einbahnstraßen der Innenstadt, was damals Radfahrern noch nicht erlaubt war. Aber – wie beschrieben – kein Verkehr um drei Uhr. In Rolfs Wohnung angekommen, ausgeschnauft, das Baustellenbier, wie Erwin Rolfs geliebte Billigmarke gerne nannte, auf einen Zug zur Hälfte gelehrt, so ließ er sich in den verschlissenen Zweisitzer an der Wand gegenüber Rolfs Schreibtisch
fallen.
Vor Erwin auf dem niederen Holztisch lag ein unscheinbares Blatt Papier in der Größe DIN A4, bedruckt in Times New Roman Schriftgröße 11 mit schwarzen Großbuchstaben.
MEIN NAME IST ARON BAER
ICH BIN ACHZEHN JAHRE ALT
ICH FREUE MICH DASS SIE MEIN NOTIZBUCH GEFUNDEN HABEN UND DEN CODE ENTSCHLÜSSELN KONNTEN
WIR HABEN IM MATHEUNTERRICHT BEI STATISTIK DAMIT GEARBEITET
ALS ICH NOCH ZUR SCHULE DURFTE
WIE OFT KOMMEN BUCHSTABEN STATISTISCH VOR
SPAETER ZUHAUSE ALS ICH BESSER NICHT MEHR AUF DIE STRASSE SOLLTE HABE ICH AUS LANGEWEILE DIE TABELLE EINFACH BIS NEUNUNDNEUNZIG WERTE ERHOEHT UND EIN LEERZEICHEN EINGEFUEGT UM ES ETWAS KNIFFLIGER ZU GESTALTEN
ABER KEINE SATZZEICHEN UND ZAHLEN UM IM CODE KEINE UNTERBRECHUNGEN ZU ERKENNEN
WIE LANGE ES WOHL GEDAUERT HAT
IN WELCHEM JAHR SIE DIES WOHL LESEN
HEUTE SCHREIBEN WIR DEN SIEBTEB SEPTEMBER NEUNZEHNHUNDERTDREIUNDVIERZIG
ICH HABE ZEIT UND PAPIER GENUG UM IHNEN AUSFUEHRLICH ZU SCHREIBEN WAS ICH SAGEN WILL
BESSER ICH SAGE DU
MEINE ELTERN SIND WEG
WURDEN VOR SECHS TAGEN ABGEHOLT
FRUEH AM MORGEN
ICH WAR AM ABEND ZUVOR BEI MEINEM LETZTEN VERBLIEBENEN FREUND
WIR HABEN ZU VIEL BRANDWEIN GETRUNKEN
ALS ICH AM MORGEN NACH HAUSE KAM WAR KEINER MEHR DA
MEIN VATER SAGT SCHNAPS BRINGT
DIE MENSCHEN UM
MIR HAT ER VORERST DAS LEBEN GERETTET
ICH VERSTECKE MICH IM HINTEREN KELLER VON HERR ROSSER DER IM ERDGESCHOSS EINE SCHMIEDE HAT
WIE LANGE DAS NOCH GEHEN WIRD WEISS ICH NICHT
WAS ICH DIR ABER MITTEILEN WILL
DIE RESTE UNSERES VERMOEGENS HABE ICH IN DER LETZTEN NACHT AUS DEM VERSTECK IN UNSERER
WOHNUNG GEHOLT
WAERE FAST VON FRAU MAIWALD DIE RECHTS IM ZWEITEN WOHNT GESEHEN WORDEN
DIE IST AUCH IMMER SO NEUGIERIG
ES HANDELT SICH UM DEN VERBLIEBENEN SCHMUCK MEINER MUTTER UND DER MUENZENSAMMLUNG MEINES VATERS DAZU EINIGES AN GELD
WAS IMMER DAS IN DEINER ZEIT WERT SEIN WIRD
DIESES BUCH KOMMT IN EINE VON VATERS TABAKSCHACHTELN
SCHMUCK GELD UND MUENZEN FINDEST DU IN EINER METALLKISTE SCHUHKARTONGROESSE IM HINTEREN KELLER IM LINKEN DER BEIDEN RAUME IN DER RECHTEN ECKE GEGENUEBER DER EINGANGSTUER
KOMPLIZIERT
DIE KISTE IST NICHT TIEF VERGRABEN
EINE HOLZKISTE STEHT DARÜBER
HERR ROSSER HAT IN DIESEM KELLERRAUM METALLTEILE VON HAEUSER GELAGERT DIE IN DEN BOMBEN NICHT KAPUTT GEHEN SOLLEN
DABEI SIND AUCH KUGELN IN DIE ICH DAS BUCH LEGEN KANN
DIE LASSEN SICH LEICHT AN DER KANTE AUF UND WIEDER ZUBOERDELN OHNE DASS ES BEMERKT WIRD
WERKZEUG IST GENUG DA
HABE EIN HANDTUCH ZUM EINSCHLAGEN DIESES BUCHES DAMIT ES BEIM TRANSPORT DER KUGEL NICHT SCHLAEGT UND DAS BUCH NICHT VERRAET
DIE LEUTE DIE DEN KRIEG UEBERLEBEN SOLLEN UNSEREN SCHMUCK NICHT BEKOMMEN
HABEN JA ALLE MITGEMACHT
ICH WERDE WEG GEHEN
IN DER NAECHSTEN BOMBENNACHT
VERSUCHE ICH AUS DER STADT RAUS ZUKOMMEN
FINDEST DU DIE KISTE NICHT BIN ICH ZURUECKGEKOMMEN ODER EIN ANDERER FAND SIE PER ZUFALL
GRUESSE IN DIE ZUKUNFT
ARON
Christopher Pauel, zwischenzeitlich etwas über fünfzig Jahre, war das lebende Archiv im Stadtarchiv. Das Archiv der Archive oder das Archivarchv, wenn man so wollte. Wann immer er Zeit hatte, vertiefte er sich in alten Ratsprotokollen, Akten, Folianten und was sonst in den kilometerlangen Aktenregalen ruhte. Kaum eine Frage, die Paule, wie er aufgrund seiner Vorliebe für Schiebermützen genannt wurde, nicht beantworten konnte oder deren Antwort er nicht binnen angemessener Zeit finden würde. Erwin und Rolf kannten nun den
Aron-Text auswendig. Nach anfänglicher Erschütterung, die mit den Restflaschen des Kastens Baustellenbiers auf ein erträgliches Maß verdünnt werden konnte, fanden sie schnell den Fehler im Text: keine Adresse. Die erste Frage, die sich stellte, war die nach der Vertrauenswürdigkeit des Textes. Es war an der Zeit, dass Erwin Rolf ausführlich erklärte, wie er zu dem Notizbuch gekommen war. Rolf, bekannt für schnelles Querdenken, erinnerte sich an das aktuelle Aufhebens der lokalen Presse wegen der Kupferkugel des Altenheims am Äckerplatz. In deren Inneren hätte das Notizbuch versteckt sein können. Äckerplatz und Stövchen
waren nicht weit entfernt. Er behielt diesen Gedanken für sich. Vielleicht käme Erwin von selbst drauf. Wenn nicht, spielt es auch keine große Rolle. Außer, man fände die Kiste mit Inhalt von Wert, wenn dies überhaupt wahrscheinlich war. Dann würde sich schon jemand melden. Zu Rolfs bemerkenswerten Gaben gehörte auch jene, Sachverhalte, die nicht direkt sein aktuelles Tun betrafen, auszublenden. Die beiden einigten sich, dass der Aufwand den vorliegenden Text zu verschlüsseln für einen billigen Scherz zu hoch sei. Einem Schlossergesellen oder auch –lehrling hätten die beiden dies nicht zugetraut. Das waren damals
doch grobe Gesellen, der Mathematik eher weniger zugänglich. Auch war das Thema viel zu ernst für einen Scherz. Die zweite Frage stellte sich nach dem Fehler im Text. Es fehlte jeglicher Hinweis auf die Adresse. Bär der Nachname der Familie, Einundvierzig das Jahr, im Erdgeschoss eine Schlosserei namens Rossler. Hatte Aron die Adresse bewusst weggelassen? Um seiner Verschlüsselung noch einen draufzusetzen, wie Erwin vermutete. Rolf hätte lieber den Code schwieriger gemacht. Was sehr einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre. Zumindest für ihn. Auch mit damaligen
Papier- und Bleistift-Hilfsmittel. Wie auch immer, im Ergebnis spielte es keine Rolle, warum die Adresse fehlte. Sie fehlte und nur das war wichtig. Setzen wir bei den Schlossern an, schlug Erwin vor. In den Gelben Seiten waren schnell die Mannheimer Schlossereien gefunden. Achtundzwanzig an der Zahl. Jeder bekam vierzehn. In einer Stunde war es sieben Uhr. Da könnte man anrufen. Die Frage war einfach. Man war auf der Suche nach einer Schlosserei Rossler, die es in den vierziger in Mannheim gegeben hatte. Rolf warf jedoch ein, dass man zuvor schlafen solle. Nach einem knappen
Kasten Bier, wenn auch zu zweit, käme die Anrufaktion vielleicht nicht bei jedem gut an. Man verabredete sich auf Übermorgen. Jeder solle zwischenzeitlich seine vierzehn Telefonnummern anrufen. Zwei Tage später trafen sie sich im Gockel. Der Kachelofen war angeheizt. Betrieben wurde er mit Kiefernholz von Paletten und Papier von Verpackungen sowie Zeitungen. Ab und an auch mal ein paar Holzscheite von umgeschlagenen Bäumen aus dem Gästekreis. Meist eben Brennmaterial mit geringem Heizwert. Ständiges Nachfeuern war angesagt, das Material
war kostenfrei zu haben. Großer Vorteil. In der Ecke war es trotzdem kühl. Der Kachelofen hatte es schon vor Jahren aufgegeben, gegen die Fenster anzuheizen. Auf dem Tisch waren Papiere ausgebreitet. So fragte keiner, warum Rolf nicht am Stammtisch saß. Rolf arbeitete gerne im Gockel, zumindest bis er genug getrunken hatte. Dann wanderten Papiere und Bücher in die Tasche, er zum Stammtisch. Die Recherche war ergebnislos verlaufen. Alle achtundzwanzig Schlosser waren erreichbar. Keine geschlossen, keiner in Urlaub, keiner kannte Rossler. Jüngere Schlosser kannten keine Schosserei aus der Vorkriegszeit, ältere kannten keinen
Schlosser Rossler. Sackgasse. Ende Gelände. Chantal, so hieß die Tochter der Wirtin, brachte frisches Bier und nahm die leeren Flaschen aufs Tablett. Ihr seht nicht gut aus. Ja, antwortete Erwin, wir wissen nicht, wo das Haus wohne. Chantal lachte, als wäre dieser eine gute Witz gewesen. Sie kannte weder Inhalt noch Hintergrund unserer Geschichte. Es war schlicht und einfach ihre Freundlichkeit, die sie bei allen Gästen so beliebt machte. Die Papiere wurden zusammengepackt. Man müsse eben darüber nachtrinken, einen anderen Weg zu finden. Erwin und Rolf wechselten zum Stammtisch. Ein
paar Bier später arbeitete es noch immer in Rolf. ‚And when I’m drinking ….‘. Sag mal, Edelgard, so hieß die Wirtin und Chantals Mutter, seit wann habt Ihr nochmal den Gockel, fragte Rolf. In den zwanziger Jahren hätten Ihre Eltern die Kneipe übernommen, später das Haus samt Grundstück gekauft. Das weißt Du doch, schloss Edelgard ihre Ausführungen. Ob sie eine Schlosserei Rossler in der Stadt kannte. Edelgard dachte nach. Nee, sagte sie. Ist ihr nichts in Erinnerung. Irgendetwas klingelt bei dem Namen, aber sie könne es nicht fassen. Auch die anderen älteren Stammgäste kannten kein Schlosserei Rossler. Allerding gab es
jetzt das Thema, wer welche Schlosserei wo kannte und wo dieser Geselle und jener Meister verkehrt sind. Jeder wusste eine andere Geschichte über einen Schlosser. Meist handelten sie von Prügeleien oder Besäufnissen oder beides, wie eben die alten Zeiten waren oder in der Erinnerung vielleicht auch nur gewesen sein sollten. Ein Fest für die älteren Stammgäste. Rolf und Erwin wurde das dann bald zu viel. Sie verabschiedeten sich. Warte mal, rief Edelgard ihnen nach. Hier kommt doch ab und an der Paule rein. Kennt Ihr auch. Immer die Schiebermütze auf dem Kopf. Trinkt Rieslingschorle mit süßem Limo. Fragt doch den. Was der nicht
weiß, ist in der Stadt nie passiert. Erwin musste ab und an in die Vorlesung. Schlechte Noten bei den anstehenden Klausuren, das ging gar nicht. Aslan war eh besser als er, ein Grund mehr sich anzustrengen. So übernahm Rolf die Fragerei bei Paule. Die bewegten sich auf einer Wellenlänge. Nicht weil Rolf Archivwesen studiert hätte – warum nicht wusste Rolf auch nicht. Sondern weil Rolfs Auffassungsgabe und seine Gabe um die Ecke zu denken der von Paule sehr ähnlich war. Rolf marschierte am nächsten Tag durch die Stadt zum Neckar in Richtung des
Verwaltungscenters, in dessen Erdgeschoss das Stadtarchiv untergebracht war. Aufgrund des erheblichen Gewichts der gelagerten Akten war es nicht einfach gewesen einen geeigneten Ort für das Gedächtnis der Stadt, wie das Archiv genannt wurde, zu finden. Der Publikumsbereich bestand aus einem größeren Raum mit einer Reihe Tischen für Akten und Pläne. Vor allem Bauakten wurden hier von Architekten gerne eingesehen. Paule saß hinter einem Schreibtisch, von dem aus er den Raum überblicken konnte. Die beiden begrüßten sich freudig. Rolf musste über seinen gebrochenen Arm berichten, wie es dazu kam und was er
sonst so tue. Da waren die beiden schon mal zwei Kaffee lange beschäftigt. Warum bist Du denn eigentlich hier, Rolf? Nur um mir Deinen Gips zu zeigen? Du weißt doch, mich interessiert wenig in der aktuellen Welt. Nein, antwortete Rolf. Wir, also der Erwin und ich sind auf der Suche nach einer Schlosserei. Gelbe Seiten antwortete Paule. Wie schlau. Wäre ich nie drauf gekommen, scherzte Rolf. Nee, eine aus den frühen Vierzigern, vermutlich sogar eine uralte Firma. Rossler hieß die. Rossler, fragt Paule, nee, gab es nie. Einen Metzger Rossler gab es mal. Nein, kein Pferdemetzger. War in der Gegend, wo Du wohnst. Hat aber schon in den
frühen Fünfzigern geschlossen. Rosslers Sohn, selbst Metzgermeister, kam bei einem Bombenangriff ums Leben. Das hat die Alten fertig gemacht. Die habe es tatsächlich geschafft, im Wiederaufbau eine Metzgerei zu ruinieren. Sind dann auch bald gestorben. Aber eine Schlosserei? Nee, die gab es nicht. Wie kommst Du darauf?, fragte Paule. Es muss aber eine gegeben haben, antwortete Rolf mit gespieltem Trotz, so als wolle er andeuten, Paule hätte keine Ahnung. Da bin ich mir ziemlich sicher. Nach einer Pause wechselte das Thema zum Gockel, wo man sich sicher bald wieder sehen würde. Rolf spazierte zurück in seine
Wohnung. Zu früh für ein Bier. Zudem musste er diesen Monat auch ein wenig besser Haushalten. Mit einem neuen Job wollte er warten, bis der Gips weg war. Allerdings hatte er schon die Anfrage einer Firma, für die er vor zwei Jahren Messreihen aus der Industrie ausgewertet hatten. Nach ein paar Tagen zuhause war Rolf wieder Gast im Gockel. Kaum saß er, brachte Edelgard sein Bier mit den Worten: Paule war hier. Sollst mal bei ihm vorbei kommen. Er hätte diese Woche jeden Morgen Dienst im Publikumsraum. Am kommenden Morgen saßen beide bei Paule am Schreibtisch.
Wusste ich es doch, dass ich es wusste, begann Paule mit einem tiefgründigen Lächeln im Gesicht. Dann sagte er erst mal nichts. Was wusstest Du, dass Du wusstest, knüpfte Rolf das Spiel an. Das Rossler ein Metzger war, antwortete Paule und lehnte sich zurück. Das hilft mir wenig, Rolf kannte Paule und seine Spielchen gut genug Er wusste, dass da noch mehr kommen würde. Doch, das hilft Dir. Denn ein Metzger mag nicht nur totes, sondern auch lebendes Fleisch. Nur frisch muss es sein, grinste Paule. Die Metzgerei Rossler war nicht weit von der Schlosserei Schubert weg. Schuberts hatten nur ein Kind, eine Tochter und die war mit dem jungen
Rossler verlobt. Bilder habe ich leider keine gefunden. Oder anders, noch keine gefunden. Jedenfalls wurde der alte Schubert weggeräumt. Gestapo, KZ, weiß ich noch nicht. Das soll schon Ende der Dreißiger gewesen sein. Müsste ich genauer forschen. Die Tochter war mehr im Betrieb als sonst wer, durfte ihn aber nicht führen. Der junge Rossler hatte sich bei einem Schlachtunfall in seiner Lehre das halbe Bein durchtrennt und war somit wehruntauglich. Metzgerei und Schlosserei parallel zu führen kam denen damals gerade recht. In Kriegszeiten interessierte dann auch nicht, dass Rossler kein Schlosser war.
Somit war Deine gesuchte Schlosserei Rossler die Schlosserei Schubert. Hättest Du gleich richtig gefragt, hätte Dir die Hälfte im Gockel die Antwort geben können. Paule lehnte sich zufrieden in seinem Bürostuhl zurück, wissend dass da bald ein paar Biere fällig wären. Und wo war die Schlosserei Schubert? Weiß der Herr Prof. Dr. arsch. Paule das auch?, fragte Rolf, dem die Überraschung im Gesicht stand. Dazu brauche ich deinen Personalausweis. Wozu brauchst Du meinen Perso?, fragte Rolf verwundert, öffnete seinen Geldbeutel und legte seinen Ausweis auf den Schreibtisch. Paule nahm ihn auf und hielt ihn Rolf
hin. Da, sagt er. Da steht die Adresse drauf. Jetzt war es Rolf, dem die Luft ausging. So sprachlos war er lange nicht mehr. Ob ich vielleicht auch ein paar Semester Archivwesen studieren sollte, fragte er sich auf dem Weg nach Hause.
Elli, wie Ellenore seit Jahr und Tag gerufen wurde, war die wachsame Seele in Rolfs Haus. Oder besser ‚im Haus vom Rolf‘, wie man in unserem Sprachraum sagen würde. Der Genetiv war im Kurpfälzischen nicht überlebensfähig. Elli hatte ihren Henkelkorb immer startklar auf einem Stühlchen hinter der Abschlusstür ihrer Wohnung im zweiten OG stehen, gefüllt mit einer, zwei leeren Flaschen, etwas Altpapier oder was auch immer sonst hinein passte und nicht allzu schwer war. Kaum hörte Elli ein Geräusch im Flur, eine zuschlagende Tür, ein
Gespräch oder das Schellen einer Klingel, schwups, war sie auf dem Weg in den Keller. Wenn sich auch neue Mieter, was selten vorkam, zumindest zu Beginn sehr störte, war Ellis Neugierde doch von Vorteil. Menschen, die im Haus nichts zu suchen hatten, kamen nicht weit. Menschen, die gar Böses im Schilde führten, denen ihr Sinn nach Einbrechen, Stehlen oder Rauben stand, kamen schwer ins Haus. Da müsste Elli schon im Krankenhaus sein, was ihr niemand wünschte oder vielleicht schrecklich betrunken, was sich niemand vorstellen konnte. Durch die dauerhafte Bewegung schaffte sie mit ihren bald achtzig Jahren die drei Treppen ins
Erdgeschoss, dazu eine weitere in den Keller, im Rekordtempo. Da sie diesen Weg, der für sie ein leichter war, vielfach am Tag ging, war sie fit wie der oft zitierte Turnschuh. Was Elli von Rolf halten sollte, war ihr nicht so ganz klar. Einerseits mochte sie Menschen wie ihn nicht wirklich. Er arbeitete unregelmäßig, kam oft erst spät nachts ins Hause, war dann betrunken, oft auch sehr heftig. Einmal schlief er im Erdgeschoss auf der untersten Treppenstufe sitzend ei. Es war der Tag der Weihnachtsfeier der großen Stammtischrunde im Gockel, ein heftiges Fest. Elli schreckte aber auch
die Leute, mit denen Rolf verkehrte. Vor allem eine ganz bestimmte. Paule oder so musste er heißen. Rolf hatte den Namen im Treppenhaus gerufen. Ihm mitgeteilt, dass er wenige Minuten später unten wäre. Irgendetwas mit Computer und Fahren müsste er noch machen. Der Paule mit seiner Schiebermütze, der musste ein Undurchsichtiger sein. Womit der wohl sein Geld verdienen mochte, wollte Elli lieber nicht wissen. Andererseits war Rolf ein sehr netter Mensch. Er grüßte freundlich und zuvorkommend, war fast jederzeit anständig gekleidet. Gut, nicht mit Anzug und Krawatte, wie sich gehören sollte. Aber die Zeiten waren
eben anders geworden. Gerne trug Rolf Ellis Korb, wenn sie gemeinsam die Treppe rauf oder runter gingen. Was ja ständig vorkam. Treppauf, treppab ging er immer vor ihr, wie es in der alten Schule gelehrt wurde. Seiner Kehr- und Putzwoche kam Rolf immer gewissenhaft nach. So beschloss Elli eines Tages Rolf so zu nehmen wie er war. Ihr zweiter Mann, der alte Koziol, war ja auch so einer. Gewissenhaft bei der Arbeit, in der Kneipe der größte Hallodri. Rolf telefonierte mit Paule. Die Geschichte ließ ihn immer weniger los. Ob Paule eine Liste der Hausbewohner in
dieser Zeit beschaffen konnte. Das dürfte kein Problem sein, schließlich gab es ja die Adressbücher. Sicher gab es da auch welche, die nicht nach Namen, sondern nach Adressen sortiert waren. Man wollte vielleicht schon damals nicht nur wissen, wo alle Maiers wohnen, sondern wer alles in der Schlossallee 5 lebt. Auch seien die Unterlagen des Einwohnermelderegisters aus irgendwelchen wundersamen Gründen nicht zerstört worden. Zwei Stunden später hatte Rolf die Antwort in seiner E-Mail. Bär war klar, Arons Familie. Und da, tatsächlich. Maiwald. Die hatte Aron erwähnt. WAERE FAST VON FRAU MAIWALD DIE RECHTS IM
ZWEITEN WOHNT GESEHEN WORDEN So hatte Aron geschrieben. Eine Neugierige hatten sie heute auch im Haus. Frau Koziol. Die sollte er mal fragen. Abschlusstür auf, rausgehen und die Tür zugezogen. Schon ging eine Etage tiefer Ellis Tür auf. Warten sie bitte mal, Frau Koziol, rief Rolf und war mit drei Sprüngen unten. Sagen sie, Frau Koziol, wie lange wohnen Sie den hier im Haus? Oh, schon immer, antwortete sie. Meine Eltern sind in den Zwanzigern eingezogen, als das Haus neu gebaut war. Das war irgendwann zwischen vierundzwanzig und neunundzwanzig, als es gerade allen soweit gut ging. Die Inflation war rum,
die Depression noch nicht da. Setzen wir uns doch mal auf die Treppen, schlug Rolf vor, und erzählen Sie mir mehr. Nee, das ging aber gar nicht. Auf die Treppe setzen, wie es die Straßengören machten. Da sprang sie lieber über Ihren Schatten, was sehr selten vorkam. Nein, das geht nicht, antworte Elli, aber gerne lade ich Sie ein mit mir eine Tasse zu Tee zu trinken. Ich kann ihnen so einiges erzählen. Ellis Wohnung war so, wie Rolf es erwartete, ein Museum. Völlig überladene Zimmer mit uralten, aber sehr gepflegten Möbeln. Wo man hinsah, Deckchen und Kissen, an den Wände ein
paar Gemälden, auf einem Tisch in der Ecke eine Reihe von Bildern mit vergilbten Schwarz-Weiß-Aufnahmen in silbernen Rahmen. Dazu die Abwesenheit jeglichen Krümelchen Staubs. Rolf wartete, bis Elli ihm einen Platz anbot. Er hatte das Gefühl, sie würde zuvor mit prüfendem Blick seine Hose auf Sauberkeit inspizieren. Rolf versank im tiefen Sessel, während er draußen den Wasserkessel pfeifen hörte. Ein Geräusch aus der Vergangenheit. Elektrische Wasserkocher schien Elli nicht zu kennen. Für Rolf holte sie das feine Geschirr aus der Vitrine, sehr dünnes Porzellan. Sicher hatte sie zuvor überlegt, ob sie das wirklich tun solle.
Nicht auszudenken, wenn da etwas kaputt ginge! Aber mit ihrem Alltagsgeschirr wollte sie sich nicht blamieren. Wusste sie doch nicht, dass Rolf seinen Maschinenkaffee aus großen Tassen mit Werbeaufdruck trank, kaum eine die nicht angeschlagen gewesen wäre. Natürlich ohne Untertasse. Bekam Rolf die Tassen nicht irgendwo geschenkt, nahm er sie aus den jeweiligen Firmen mit. Rolf interessierte sich aber nicht für den Tee, Kaffee war im eh lieber, sondern für die Ereignisse im Jahr neunzehnhundertdreiundvierzig hier im Haus. Sagen Sie mal, wenn Sie schon immer
hier wohnen …. Schnell wurde Rolf unterbrochen. Ja, wie gesagt, meine Eltern zogen hier ein, ein paar Jahre bevor ich zur Welt kam. Mein Vater kam ziemlich zu Beginn des Kriegs um, gleich beim Polenfeldzug. Da war ich schon mit meinem ersten Mann verlobt. Dann kam meine Mutter bei einem Unfall ums Leben. Damals wurde Eis mit Pferdewagen ausgeliefert. Die Kühlschränke bekamen einmal pro Woche eine Stange Eis aus der Eisfabrik. Die wurden mit Pferdewagen durch die Straßen gefahren. Man kaufte sich eine halbe oder eine ganze. Der Eismann trug sie hoch. Vermutlich durch eine Autohupe waren das Pferd
aufgeschreckt und zog den Wagen an. Wie der Unfall ganz genau ablief, weiß ich nicht. Die Pferde waren eigentlich schon an den Lärm der Stadt gewöhnt. Jedenfalls kam meine Mutter unter den Wagen. Da wir bereits verlobt waren und mein Verlobter eine feste Stelle als Elektriker beim Benz hatte, konnte ich, also wir die Wohnung behalten. Allerdings durfte er erst Einziehen, nachdem wir geheitatet hatten und das sollte auch schnell gehen. Weil, ein junges Mädchen alleine in einer Wohnung, das schickte sich nicht. Gehört sich ja auch heute noch nicht, aber die jungen Dinger machen es halt mal so. Da eine Wohnung für ein frisch
verheiratetes Paar schwer zu finden war, sind wir dann hier geblieben,später dann auch mit meinem zweiten Mann. Kannten Sie eine Frau Maiwald, fragte Rolf. Jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen, fragte Elli verwundert. Das sind wir. Maiwald, mein Mädchenname. So langsam wird die Geschichte unglaubwürdig, dachte Rolf. Das gibt es doch gar nicht, wie die Dinge passen. Rolf nahm die dünne Tasse in zwei Hände und trank sehr langsam, Schluck für Schluck. Er musste sich sammeln. Die Schmiede im Erdgeschoß, … Ja, die Schuberts. Daran kann ich mich gut erinnern. Immer Lärm,
von früh bis spät. Hatte damals aber keinen gestört. Wo war denn die, fragte Rolf. Na unten, da wo jetzt die Wohnung von Schaffners ist. Elli nahm eines der Bilder vom Tischchen. Sehen Sie, hier, das ist unser Haus. Und da sind wir, Mama, Papa und ich. Auf dem Bild war das Haus gut zu erkennen. Wo heute die Wand mit den zwei Fenstern steht, war eine Tür, groß wie ein Scheunentor, die offen stand. Reinsehen konnte man kaum Auf dem alten Bild war der Innenraum schwarz. Da musste die Schmiede drin gewesen sein. Wissen Sie, der Schubert, der war in der SPD. Wie viele in unserer Stadt. Nach dreiunddreißig war es aber besser, nicht in der SPD zu sein. Wurde
ja auch sehr schnell verboten. Nur der Schubert und ein paar seiner Genossen, die trafen sich immer weiter. Was da genau war, weiß ich nicht. Ich war ja noch ein Kind. Eines Tages jedenfalls war er weg. Früh morgens holten sie ihn ab. Soviel ich weiß, wurde er nie wieder gesehen. Muss kurz vor dem Krieg gewesen sein. Zum Glück für die Familie arbeitete das Lehnchen gerne in der Schmiede. Die hätte wohl besser ein Junge gegeben. Das ging natürlich nicht so ohne weiteres, können sie sich denken. Dass mit dem in der Schmiede arbeiten, meine ich. Dann war da aber der junge Rossler, der von der Metzgerei. Konnte kaum laufen, war aber
in der Partei. Da kam man auf die Lösung, dass Lehnchen in der Schmiede fuhrwerken konnte, er aber der Chef war. Wie immer das er hingekriegt hat. Wenn allerdings die Partei entschied, war es entschieden. Dass er kein Schmied war und schon gar kein Schmiedemeister, zählte nicht. Der hat das Lehnchen dann auch geheiratet, kam aber bei einem Bombenangriff um. Das Lehnchen ist später mit einem Ami weggegangen, ihre Mutter zu einer Schwester in den Odenwald gezogen. Habe nie wieder von ihnen gehört. Elli war wie aufgezogen. Sie erzählte und erzählte, als sehe sie mit ihrem
Inneren Auge einen Film. Vielleicht war es ja auch so. Jetzt aber machte Sie eine kurze Pause. Umspulen, dachte Rolf. Elli schenkte ihm Tee nach. Bei der Gelegenheit, die Pause nutzend, fragte Rolf: kannten Sie auch die Bärs. Jetzt war Elli einen Moment still. Die Juden im dritten, gegenüber Ihrer Wohnung? Woher wissen sie von denen?, war Elli doch sehr überrascht. Aron, kannte sie den? Ja sicher, sagte Elli. Wir waren ja gleich alt, spielten auch oft zusammen. Später durften wir das nicht mehr. Er kam auch kaum noch aus der Wohnung. Dann waren sie verschwunden. Halt, da war noch was. Nee, Moment, das war anders. Die Juden wurden ja umgesiedelt.
Hatte man uns gesagt. Das mit Ausschwitz, das konnte ja keiner wissen. Wirklich nicht. Wenn es nur so gewesen wäre, dachte Rolf für sich. Wie schreib Aron: DIE LEUTE DIE DEN KRIEG UEBERLEBEN SOLLEN UNSEREN SCHMUCK NICHT BEKOMMEN und weiter HABEN JA ALLE MITGEMACHT. Elli, die Rolfs Gedanken sicher nicht folgen konnte, erzählte weiter. Ja, sagte sie, das war seltsam. Eines Morgens, sehr früh, wurden die Bärs abgeholt. Jeder hatte einen kleinen Koffer in der Hand. Ich schlief um diese Zeit noch, aber meine Mutter hatte es gesehen. Nachdem nur die Eltern da waren, durchsuchten die
Männer die Wohnung. Meine Mutter wachte durch das Poltern auf, sonst hätte sie dies nicht mitgekriegt. Der Aron war nicht dabei, die Eltern schienen nicht zu wissen wo er war. Auch als sie den Vater mit dem Gewehrkolben niederschlugen, wussten sie es nicht. Ein paar Tage später kam der Rossler aus dem Keller und zog Aron an seinem Ohr neben sich her. Der Bengel hatte sich an den Arbeiten seiner Werkstatt, die Schubert im Keller eingelagert hatte, zu schaffen gemacht. Schnell war die Polizei da und nahm Aron mit. Danach haben wir auch von ihm nichts mehr gehört. Hat sich ja auch keiner für interessiert. Wir hatte weiß
Gott genügend eigene Probleme. Wobei wir großes Glück hatten. Unser Haus blieb stehen. Fast ohne Schäden. Elli war noch immer wie aufgezogen. Rolf musste warten bis die Feder abgelaufen war. Irgendwo in den Sechzigern angekommen war Ende. Rolf hörte kaum noch zu. Elli musste Kochen. Auch wenn sie alleine lebte, Ordnung musste sein und zur Ordnung gehört ein geregelter Lebenswandel. Nicht wahr, Herr Schwierz, fragte sie. Rolf klang das fast ein wenig provozierend. Sind Sie doch sicher auch der Meinung, fragte Sie
Rolf.
Erwin, Du glaubst nicht, was ich jetzt weiß, sprach Rolf auf Erwins Mailbox. Der war um diese Zeit in irgendeiner Vorlesung. Ruf mich zurück. Oder besser, heute Abend nach achtzehn Uhr bin ich im Gockel. Aber nicht am Stammtisch, sondern in der Ecke am Arbeitstisch, wie Edelgard immer sagt.