Romane & Erzählungen
Der Sohn der Klavierspielerin

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"Der Sohn der Klavierspielerin"
Veröffentlicht am 21. August 2014, 36 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
© Umschlag Bildmaterial: xiebiyun - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich bin eine leidenschaftliche Schreiberin, habe aber meine Texte bisher unter Verschluss gehalten und würde mich daher über jede Kritik von Anderen freuen :) Ansonsten arbeite ich selbst in einem Verlag ( leider kein Buchverlag ;) ), mache gerne Sport und bin ein Serienjunkie :)
Der Sohn der Klavierspielerin

Der Sohn der Klavierspielerin

Kapitel 1


Leon leckte sich über die rauen Lippen, die Augen starr gen Boden gerichtet, damit er die Menschen um ihn herum vergessen konnte. Er musste sie vergessen, musste einen freien Kopf bekommen, all die unwichtigen Dinge ausklammern. Seine Welt stand Kopf und er hatte nichts in der Hand, um dem etwas entgegen zu setzen. Die Flucht die sein Vater geplant hatte, war am späten Morgen gesittet vorangegangen. Mitten am Tag, wandelnd unter den Blicken der Öffentlichkeit, hatte sein Vater einen Juden zu sich geholt. Eine kurze Fahrt mit der Bahn, dann noch ein Stück Weg, eine Abzweigung in die Straße ihres Geschäfts und schon waren sie hinter der schweren Tür von Lavals Spirituosen verschwunden. Der Mann den sein Vater zu ihnen brachte, würde ihr Haus nicht mehr

verlassen, fort, weggesperrt und somit fern des Treibens seines normalen Lebens. Der Jude sollte nicht gefunden werden. Leons Mund stieß stoßweise weißen Dampf aus, wie eine angetriebene Lokomotive, während er sich seinen Weg durch die Gassen Berlins suchte. Er fühlte sich durch die Anonymität auf der Straße geschützt, doch wann immer er einen Blick auf eine Uniform er-haschte, bemerkte er den klebenden Schweiß auf seinem Rücken und ein Schauer des Unbehagens ließ die Haare auf seinen Armen zu Berge stehen. Es schneite nicht mehr, aber weiße Schneereste der vergangenen Tage lagen in matschigen Haufen an den Seitenstraßen. Wie kam es, dass der Schnee erst so rein wirkte und dann nur noch Dreck aufsog? Die Straßen waren glatt und voller Eiskristalle, sodass es Leon Mühe kostete sich auf den Beinen zu halten und nicht auszurutschen. Als er aufblickte sah er Menschen mit den

Unannehmlichkeiten des Winters kämpfen; sie schnieften in ihre Taschentücher, rieben sich die Hände und zogen ihre Kinder hinter sich her, die unter all den Schichten Kleidung kaum noch als solche zu erkennen waren. Eine Leine um ihren Hals und sie würden kleine, bunte Kugeln abgeben, die ihre Eltern Gassi führten. Leon schnaufte als seine Füße auf einer gefrorenen Fläche fast den Halt verloren. Ein paar Autofahrer fuhren fluchend vorbei, es quietsche, es wurde gebremst und Matsch flog umher, der an den Wänden der umstehenden Häuser kleben blieb. Trotz alle dem zog Leon es vor, seinen Kragen hochzustecken und sein Gesicht vor dem Wind zu schützen, um auf der Straße zu bleiben. Eher würde er hier ausharren als nach Hause zu gehen, wo sein Vater mit dem Juden auf ihn wartete. So gut sein Vater die Flucht des Mannes auch geplant hatte, so wenig war er darauf gefasst gewesen, dass Leon ganz und gar nicht damit einverstanden war den

Mann bei ihnen aufzunehmen. Der Gehweg endete bei einer Haltestelle, die er nun ansteuerte. Seine in viel zu dünne Handschuhe gepackten Hände waren taub vor Kälte und um wieder ein Gefühl in seinen Fingern zu bekommen rieb er sie aneinander bis sie schmerzten. Selbst Schmerz konnte ihn nicht vor dem was Zuhause auf ihn wartete ablenken. Bedrohung, Unsicherheit, Beklommenheit. Ein fieser Stein lag in seinem Magen und traktierte seine Eingeweide. Ihm war schrecklich übel. An der Haltestellte kaufte er sich mechanisch ein Ticket für die Straßenbahn. Keine fünf Minuten später fuhr eine Linie ein, in die er sich hastig drängte, um noch einen Platz zu bekommen. Drinnen war es kaum wärmer als draußen, aber er fand einen Platz und presste die Beine zusammen sobald er saß. Schließlich rieb er sich mit den Händen über seine Oberschenkel und versuchte mit bloßer Sturheit die Kälte zu vergessen.

Leon wollte fahren, einfach eine Strecke zurücklegen ohne ein Ziel zu bestimmen. Wo sollte er auch hin? Resigniert stand ihm das Ende dieses Tages bereits vor Augen; er würde sich betrinken. Die anderen Fahrenden in der Straßenbahn nahm er kaum noch wahr, sie kamen und gingen, wie Vogelschwärme die in der Luft herumzogen. Leon schenkte ihnen keine Beachtung, sondern starrte vehement in die verschmutze Fensterscheibe, um sich selbst in die nach Verzweiflung schreienden blauen Augen zu blicken. Draußen sah es einfach nur grau und erdrückend aus, während sein Spiegelbild immer wieder aufblitzte, um ihn zu verhöhnen. Äußerlich glich er einem fast perfekten, arischen Sprössling. Seine dunkelblonden Haare standen ihm wild vom Kopf ab und seine scharfen Wangenknochen und die blauen Augen gaben ihm etwas von einem aristokratischen

Heerführer, der seine Männer in die Schlacht befehligte. Er wirkte wie ein wilder Anführer, der statt mit Worten mit den Fäusten sprach. Natürlich hatte man ihn für die SS angeworben, doch der Totenkopf-verein widerte ihn mit seinen schwarzen Hampelmännern zutiefst an. Nicht selten ging er mit den Töchtern und Ehefrauen ranghoher SS Führer ins Bett, hatte seinen Spaß und verließ sie wieder. Ein Nervenkitzel der nun zu riskant war. Viel mehr aber interessierten ihn die Nazis nicht. Generell lebte er eher nach einem orgiastischen Prinzip. Warum auch Zeit verschwenden? Als er vor Zwanzig Jahren mit seinem Vater aus Paris nach Berlin kam, war er ein grimmiger, hungriger Junge gewesen und es hatte einiges an Kraft und Zeit gekostet bis sein Vater ihren Spirituosenladen hatte aufbauen können. Damals hatten sie in ärmlichen Verhältnissen leben müssen, immer in Angst, dass ihre falschen Identitäten aufgedeckt wurden. Heute

ahnte niemand, dass sein Vater nicht Luce Runné war, sondern sein jüdischer Stiefbruder Theodor. Leon versuchte die Wut die er empfand zu bändigen, aber wie sollten sie ihr Geheimnis bewahren wenn in ihrem Haus ein Jude lebte, der sie alle den Tod kosten konnte? Leon hatte den Juden von Anfang an nicht gemocht, da er weder verängstigt noch sorgevoll wirkte oder wie in seiner Vorstellung Schweiß gebadet, hilfesuchend um Mitgefühl gebeten hatte. Im Gegenteil er hatte heute Morgen eine gelassene, fast spöttische Selbstsicherheit ausgestrahlt. Das Streitgespräch mit seinem Vater war fürchterlich gewesen und immer wieder rief Leon es sich ins Gedächtnis: 5 Stunden zuvor Luce Runné führte den Mann am Oberarm gepackt in das obere Stockwerk, an Leon und dessen verwunderter Miene

vorbei. "Wieso bringst du den Mann nach oben?", fragte Leon, als sein Vater wieder herunter kam. Leon bückte sich nach einem Karton, der unweit der Theke darauf wartete ausgepackt zu werden. "Das war mein Vater.", antwortete Luce Runné ohne auf die Frage einzugehen und zog an seinem ergrauten Schnurrbart. "Was meinst du mit mein Vater?", fragte Leon und ließ den gerade angehobenen Karton laut auf den Boden zurückfallen. "Sei vorsichtig! Du zerbrichst die Flaschen. Die Lieferung war bereits teuer genug, auch ohne dass du die Hälfte davon zerstörst“ Leon ignorierte die Zurechtweisung und gestikulierte wild. "Was bedeutet das Ganze? Wer ist dieser Mann und was will er bei uns?" "Er hat Probleme. Schwierigkeiten aus denen er keinen Ausweg mehr findet." Luce Runné neigte zu einem puterroten Kopf,

wann immer er die Geduld verlor, doch anders als sonst, war er blass um seine lange, gerade Nase. "Ich habe diesen Mann in meinem Leben noch nie gesehen." "Das rührt daher, dass ich den Kontakt zu ihm vermieden habe. Die letzten dreißig Jahre um exakt zu sein." "So? Du hast ihn nach dreißig Jahren dann aber augenblicklich erkannt? Wo bist du ihm begegnet? Erzähl es mir von Anfang an. Habt ihr euch verabredet? Hat er dich kontaktiert? Woher kommt dieser plötzliche Verwandte?“ "Er ist in Schwierigkeiten. Die Gestapo sucht ihn.", gab sein Vater kurz zurück, wobei seine geröteten Augen vor Müdigkeit tränten. "Und du hast es nicht für nötig gehalten mir zu sagen, dass ich einen Großvater in Berlin habe? Wusstest du es nicht oder wolltest du es für dich behalten? Was wird hier gespielt?" Indigniert schüttelte sein Vater den Kopf, was

Leon kaum verwunderte, denn sein alter Herr neigte zum verdrängen von Ereignissen, die seine Vergangenheit betrafen. Er war ein Meister im lavieren, um allen drängenden Fragen auszuweichen. Schweigen konnte das Geschehene nicht ändern und doch verharrte Leon Runné still und gab so viel preis wie eine Skulptur aus Marmor oder Stein. Nicht zum ersten Mal hatte Leon das Verlangen auf seinen Vater einzuschlagen und ihn zu schütteln, um die Informationen nicht wie üblich in sukzessiven Häppchen zu erhalten. "Was hat es mit diesen Schwierigkeiten auf sich? Ich verlange mehr Details, wenn du planst ihn bei uns einzuquartieren." "Ich habe nicht den leisesten Schimmer.“ "Du schaffst uns diesen ominösen Mann her, der dir übrigens nicht einmal ähnlich sieht, ohne ihn einer Befragung zu unterziehen? Ich hoffe doch sehr, dass du das noch vorhast. Er ist

vielleicht ein Krimineller. Dir ist hoffentlich bewusst, welcher Gefahr du uns aussetzt. Auf verschwörerische Betriebsamkeit kann ich verzichten.", fügte Leon hinzu, da er keine Antwort erhielt. Sein Vater Luce presste die Lippen aufeinander und verharrte ihn angespannter Haltung. Leon konnte sich stundenlang mit seinem Vater streiten, führte aber dann doch nur einen Monolog, den er seit Jahren mehr als leid war. Statt Resignation stellte sich Wut ein. Die heuchlerische Attitüde seines Vaters brachte sie noch beide in ein feuchtes, tiefes Grab. "Als nächstes fällt mir meine totgeglaubte Mutter um die Arme oder wer weiß, ein paar andere unbekannte Verwandte? Wird das hier ein Flüchtlingslager? Müssen wir bald unsere Nachbarn bestechen damit sie schweigen? Soll ich Mitglied der SS werden um die Tarnung aufrecht zu erhalten und den Verdacht

abzulenken?" "Sei nicht albern.", sagte sein Vater unwirsch. " Er ist mein Vater. Ich musste ihm nach all den Jahren helfen. Halte mich für rührselig, aber ich überlasse diesen alten Mann nicht der Gestapo oder sonst wem in diesem Land, egal was man ihm vorwirft. Überhaupt hast du dich bei meinen Entscheidungen nicht einzumischen. Ich bin deine aufsässige, undankbare Art leid." "Du willst die Realität nicht wahrhaben oder? Es geht hier um unser Leben verdammt." "Hätte ich in meinem Leben nicht getan was ich getan hätte, wäre die Luft in unseren Lungen ständig in Gefahr. Ich habe alles geopfert, um dich zu schützen." "Nur weil niemand weiß, dass wir Juden sind, heißt das nicht, dass du damit all deine Entscheidungen legimitieren kannst. Ja, du hast dein Leben für mich geopfert, hast deine Identität aufgegeben, mitsamt deinem früheren Leben, aber erzähl mir nicht, dass du es nur

wegen mir getan hast. Du hast ebenso davon profitiert. Nach dem Tod meiner Mutter wolltest du nur fort aus Paris." Leons Hände zitterten als er an seinem Vater vorbeiging, wüst seine Jacke vom Kleiderständer riss und ihren Laden verließ. Die trockene, kalte Luft stach in seinen Lungen, die sich anfühlten wie Papier das jemand grausam zerriss, doch er ging unbeirrt in einem hastigen Tempo weiter. Der kalte Wind kühlte den Schweißfilm auf seiner Stirn. Alles was er jetzt wollte war fortzugehen, einfach zu flüchten. Umso weiter er von seinem Vater kam, umso besser. Wo sollte er hin? Sein Vater konnte sich weigern über seine tote Mutter zu sprechen, über seine Herkunft, und auch gerne über alles was er tat wenn Leon nicht anwesend war. Aber hier handelte es sich um einen angeblichen Verwandten, der ihr Leben riskierte. Das konnte seine Verschwiegenheit über die Vergangenheit nicht

aufwiegen. Ja, er hatte seine Identität geändert, um zu verbergen, dass sie Juden waren, na und? Das war über zwanzig Jahre her und rechtfertigte nicht, einen hergelaufen Mann, bei ihnen aufzunehmen, der höchst wahrscheinlich nicht sein Großvater war – darauf hätte er zu gerne gewettet. Das selbstzufriedene Gesicht des Mannes hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Sein Vater rannte ins Verderben. Er liebte ihn, aber er musste ihn vor sich selbst schützen. Das zumindest stand fest. Noch immer saß er in der Straßenbahn und seine Gedanken gaben keine Ruhe. Sein müdes Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe, als er bemerkte, dass es bereits dämmerte. Kaum Fünf Uhr und schon dunkel, dachte er, aber was spielte das jetzt schon für eine Rolle? Das Licht in seinem Abteil flackerte, als sie an einer Haltestelle hielten. Immer mehr Menschen stiegen ein, bis es Leon zu eng und zu laut

wurde. Verärgert verließ er die Straßenbahn bei der nächsten Gelegenheit. Er konnte noch nicht nach Hause zurückfahren als wäre nichts geschehen, also wanderte er weiter herum auf der Suche nach einer Kneipe, als er plötzlich stehen blieb. Ein Gedanke kam ihm: Johan Peters, ihr Anwalt und ein guter Freund seines Vaters besaß eine Kanzlei in Berlin Mitte. Es wäre nicht weit zu ihm, nur ein paar Straßen weiter. Wäre es Verrat, wenn er sich an einen fast Fremden wenden würde? Wer wusste schon besser, wie gefährlich die Situation werden konnte als ein Anwalt dieser Zeit? Außerdem waren der Anwalt Peters, der sich nicht für, aber auch nicht gegen die Nazis aussprach und sein Vater Freunde und hassten nicht alle die Gestapo für ihr gewaltsames Auftreten? Für ihre Rücksichtslosigkeit? Ein gebildeter Mann wie Peters würde sich von einem Haufen Uniformierter nicht hinreißen lassen. Das hoffte er

zumindest. Peters kannte Leon nur als den aggressiven Jugendlichen, der wie-der und wieder in Prügeleien verstrickt war. Glücklicherweise hatte der Anwalt ihn seit Jahren nicht sehen müssen. Vielleicht würde sein Vater auf den Mann hören. Die Fenster der Kanzlei waren noch beleuchtet, als er die Straße verschwitzt erreichte. Ungeduldig war er gerannt. Leon blickte durch die Scheibe ins Innere und fühlte sich wie ein Junge der in das Fenster eines Spielzeuggeschäftes blickte. Überwältigt vom Angebot, aufgeregt und ein bisschen ängstlich, weil man sich am Ende ja doch nur für ein Stück entscheiden durfte. Sein Schal kratze und er lockerte ihn, wobei er sich albern vorkam. Doch er hatte jeden Grund nervös zu sein. Sollte er einfach hinein-gehen, Peters alles erzählen und ihn um Hilfe bitten? Es wirkte so unreal auf

ihn. Mittlerweile war es vollständig dunkel. Leons Beine wirkten plötzlich schwer. Als er sie bewegte brach ihm der Schweiß aus. Zwar hatte er sich eine Formulierung für Peters überlegt, um ihm die Situation zu erklären, aber jetzt überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf wie ein verhedderter Wollknäuel. Leon legte seine eisigen Hände an seine glühenden Wangen, um sich selbst zu beruhigen, dann ging er in die Kanzlei, in der seine Nase unangenehm anfing zu triefen. Möglichst leise versuchte er in ein Taschentuch zu schniefen. Erst dann ging er auf die Sekretärin am Empfangstresen zu, die ihn uninteressiert musterte. Das war nicht dieselbe Frau, wie noch vor ein paar Jahren. Sie war jünger, vielleicht Anfang Zwanzig. Ihr langes braunes Haar fiel in leichten Wellen ihren Rücken hinunter und umrahmte ihr blasses Gesicht. Ihre Augen besaßen eine Mischung aus

Gold und sanftem hellbraun. Sie lächelte leicht und ihre Züge kamen ihm fast elfenhaft vor. Sein Herz raste, aber nicht wegen des schönen Mädchens. Es schlug bereits eine Weile so fürchterlich in seiner Brust. Auch die Hitzewelle wollte nicht nachlassen. Er musste verkrampft wirken, was ihn nur störte, da er der Meinung war, dass er beinahe jede Frau für sich gewinnen konnte, doch in diesem Moment fühlte er sich wie von Sinnen. "Sie wünschen?", fragte die Frau, scheinbar nicht zum ersten Mal. "Ich möchte mit Herrn Peters sprechen?" Auf seine Frage hin, sah sie ihn schräg an. Dann deutete sie mit einer Handbewegung auf das offen stehende Büro. Am liebsten wäre Leon wieder gegangen, aber dafür war es schon zu spät. Er ging mit bleiernen Beinen in das leere Büro und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Peters Schreibtisch. Warum wünschte er sich nichts sehnlicher als nicht hier zu sein? Ein

Blick über die Schulter und sein Hals schnürte sich zu, als er Peters sah, der kurz mit seiner Sekretärin sprach, ihn erblickte und zu ihm eilte. Freudig, wie Leon feststellte. Peters reichte ihm die Hand. "Ich hoffe du bist nicht wieder in Schwierigkeiten?" "Nein, also eigentlich...", er konnte den Satz nicht beenden. Fast glaubte er sich übergeben zu müssen und schwieg. "Ich bin wegen des Mädchens hier.", sagte er schließlich, wobei er es schaffte einen Blick über seine Schulter zu werfen, ohne dass er sich übergab. Peters sah ihn verwundert an und betrachtete seine Sekretärin ebenfalls eine Weile. "Dann bist du in meinem Büro aber falsch." "Ich bin etwas überfordert.", gestand er, was der Wahrheit entsprach. "Sie wird dir sowieso einen Korb geben." "Mir?", fragte er und schaffte ein halbwegs

amüsiertes Lächeln zustande zu bringen. "Versuch dein Glück.", sagte Peters. Leon versuchte sich die Erleichterung mit der er sich abwand nicht anmerken zu lassen und nicht zu hastig von seinem Stuhl zu springen. Bereits im Vorraum der Kanzlei fiel es ihm leichter regelmäßig zu atmen. Um sich wieder zu beruhigen sah er sich um. Bilder von Schiffen hingen an den Wänden, historische Dreimaster, ein großer Strauß Blumen stand im Wartebereich, dessen teure Korbstühle zum längeren Sitzen einluden. Die Zeitung von heute lag zerknittert auf einem niedrigen Tisch. Es wirkte gemütlich wie in einem Hotel. Peters schloss seine Bürotür geräuschvoll, der ergraute Anwalt wollte offenbar keine weiteren Klienten mehr empfangen, doch Leon rührte sich nach zwei wackeligen Schritten nicht mehr vom Fleck. Er erblickte die Frau, die ihm angeblich einen Korb geben würde und beobachtete sie kurz. Sie

starrte auf eine Mappe auf dem Empfangstresen, kritzelte etwas mit einem Bleistift hinein und schlug sie dann zu. Leons Hände zitterten als er Handschuhe aus seiner Manteltasche zog. Er hatte seinen Vater nicht verraten, doch die Erleichterung die er empfand, wandelte sich in plötzlich aufkeimende Übelkeit. Schmerzhaft zog sich sein Magen zusammen, er krümmte sich und eilte hinaus, ehe er überhaupt "Auf wiedersehen" zu der Sekretärin sagen konnte. Dann erbrach er sich geräuschvoll vor der Kanzlei, die elfenhaften Augen der Frau im Rücken. Was für ein guter erster Eindruck, dachte er sich und spuckte Schleim. Alles drehte sich und erst als er sicher war, dass sein Magen nicht mehr rebellieren würde, wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Übelkeit war noch nicht weg, aber ehe die Frau noch zu ihm kommen und ihn versorgen würde, wollte er lieber in die nächste Ecke kotzen, wo

sie ihn nicht sehen konnte. Als er noch kurz aufblickte, sah er bereits ihren zögernden Blick, ob sie ihm helfen solle, doch ehe sie sich entscheiden konnte, ging er gekrümmt davon. Die Blöße wollte er sich nicht geben. Schließlich musste er sich nicht noch einmal übergeben. Stattdessen rumorte sein Bauch und ihm wurde bewusst, dass es Stunden her war, das er etwas gegessen hatte. Würde er nicht nach Schweiß stinken, hätte er die Frau in Peters Kanzlei vielleicht um eine Verabredung gebeten, aber seine Gedanken schwappten ebenso unruhig umher wie sein eigentlich leerer Magen. Wie auf stürmischer See, watschelt er von einem Fuß auf den anderen. Warum hatte er nichts sagen können? Warum hatte er über die Situation geschwiegen? Er war wütend und erleichtert zugleich. Was für ein Glück, dass er eine Ausrede hatte finden können. Das Bild der Frau stieg vor seinem inneren Auge auf. Dass er selbst jetzt noch an Frauen denken konnte! So

schlimm konnte die Situation also nicht sein, dachte er und schleppte sich am Ende doch wieder nach Hause. Er benutzte den Seiteneingang um unentdeckt zu bleiben, fragte sich aber gleichzeitig, wo sein Vater den Mann eigentlich genau verstecken wollte. Wohl kaum unter seinem Bett. In dem Haus war es ruhig. Ihr Kater lag zusammengerollt in einem leeren Weinkarton und schlief, wobei er seinen weißen Bauch provokant freilegte. Für einen Augenblick beneidete Leon den Kater, dann ging er in sein Zimmer, wohlwissend, dass er endlich ausziehen sollte. Mit Fünfundzwanzig hielt ihn nur seine Bequemlichkeit bei seinem Vater. Sein Bett sah in der Dunkelheit aus wie eine rettende Insel, auf die er sich im nächsten Moment fallen ließ. Das behagliche Gefühl überwältigte ihn kurz, dann schloss er die Augen und dachte an das Gesicht der Frau. Es hatte so ernst, und schön gewirkt, so

perfekt. Ein Rumpeln ließ ihn zusammenfahren und vernichtete jeden schönen Gedanken trotz weiterer Bemühungen die Geräusche zu ignorieren. Er würde morgen wieder auf seinen Vater einreden. Wenn nötig, auch den Tag darauf und darauf, bis er ihm zumindest erklären würde, was hier eigentlich vor sich ging. Bei genauerer Betrachtungsweise war der Mann wirklich alt. Der höhnische Ausdruck vom Vortag war gänzlich verschwunden. Dafür schwieg der Alte und ignorierte Leon stur, wie es tatsächlich nur sein eigener Vater geschafft hätte. Leon hatte sich keineswegs mit der Situation arrangiert. Im Grunde, sah er nicht einmal ein, dem Mann etwas zu Essen zu bringen, aber momentan wurde er ihn nicht los, auch wenn er ihm hungern ließ, also schob er einen Teller

ihres Frühstücks auf den Dachboden und knallte die Luke derart laut zu, dass sein Vater ihn wütend anblickte. „Benimmst du dich jetzt wieder wie ein Kind?“ „Ich schätze mal für dein Benehmen gibt es überhaupt kein bestimmtes Alter. Es ist einfach nur unglaublich dumm und gefährlich.“ „Ich weiß, dass du das Ganze nicht einordnen kannst. Es ist schwierig…“ „Schwierig?“, unterbrach Leon ihn. „Ist dir eigentlich klar, dass du alles, wofür du damals gekämpft hast, indem du eine falsche Identität aufgenommen hast, für diesen alten Sack riskierst?“ „Er ist mein Vater.“ „Er hat dich die letzten Jahre nicht interessiert. Wahrscheinlich weil er nicht unbedingt fürsorglich war, oder? Du hast ihm den Rücken gekehrt, warum auch immer. Aber du hast nicht das Recht ihn jetzt hier anzuschleppen.“ „Ist es weil du Angst

hast?“ „Ich kann einfach nicht begreifen, warum du mir nie die Wahrheit erzählst.“, sagte Leon und ignorierte die ihm überflüssig erscheinende Frage. „Ich lüge dich nicht an. Das habe ich auch nie.“ „Du erzählst mir aber auch nie etwas. Als wäre alles ein großes, schreckliches Geheimnis, nur weil wir Juden sind.“ „Das hat nichts damit zu tun.“ „Womit dann?“ „Es ist….“ Dann schweig sein Vater und Leon war kurz davor die Teller vom Tisch zu schlagen. Er würde sich beherrschen sagte er sich, und atmete schwer aus und ein. „Ich muss den Laden aufschließen.“, sagte Leon schließlich. Momentan würde er nicht weiter kommen, sein Vater war stur. Der Schlüssel für die Ladentür hing an einem Haken neben dem Küchenschrank. Er nahm ihn sich und war einen

letzten Blick auf seinen Vater, der ihren Kater Champagner fütterte. Dann ging er mit eiligen Schritten die Treppe hinunter. Draußen war es noch immer grau, und leichter Regen prasselte auf die Straßen. Zumindest würde das die dreckigen Schneeberge reduzieren, dachte er. Wie hässlich diese Stadt sein konnte! Den Vormittag über kam kaum ein Kunde. Leon saß hinter dem Tresen und starrte in Gedanken versunken auf die Maserung im Holz. Seine Wut wollte einfach nicht verschwinden. Trotzdem tauchte immer wieder das Gesicht der Frau auf, die er gestern in der Kanzlei getroffen hatte. Sie hatte kaum gelächelt, sich kaum für ihn interessiert. Es erschien ihm als wäre sie aus dem Wald gekommen, hatte sich in der Menschenwelt verirrt und war in der Kanzlei gelandet. Sie wirkte einfach nicht ganz normal wie andere Frauen und es reizte ihn in den Fingern sie einzuladen. Zumindest wäre es eine

Ablenkung von seinem Vater. Für gewöhnlich war Leon sehr zuverlässig, aber seine heutige Rücksichtslosigkeit überraschte ihn selbst, und ohne ein Wort, zog er sich eine Jacke über und verließ das Geschäft. Es war bisher kein Kunde gekommen, und wenn doch einer kommen sollte, war es ihm gleichgültig. Die Diskussion um seine Arbeitsschicht, wollte er sich ersparen und überhaupt, tat sein Vater ja auch was er wollte. Der Regen störte ihn erst in dem Augenblick als er vor der Kanzlei stand und ihm bewusst wurde, dass nasse Haare nicht unbedingt attraktiv wirken, sondern eher an einen nassen Hund erinnerten. Leon zuckte mit den Schultern, wie als würde er sich selbst einen Ruck geben. Was machten schon nasse Haare? Tatsächlich sehnte er sich nach Ablenkung. Seine letzte Nacht in weiblicher Begleitung war noch nicht lange her, aber es verlangte ihn nach der weichen, warmen Haut einer Frau. Bei dem

Gedanken an eine sich rekelnde Frau fühlte er sich wie ein Künstler der ein Portrait in Augenschein nahm. Seine Wangen glühten als er in die Kanzlei eintrat. Von der Frau war nichts zu sehen, statt ihrer saß die ihm bereits bekannte Sekretärin von Peters an ihrem Schreibtisch und blickte ihn aus strengen Altweiberaugen an. Diese Frau kannte er von früher! Sie steckte in einem hochgeschlossenem Kostüm, trug einen strengen Dutt und ihre Brille verunstaltete sie zur Lehrerin. Wo war die elbengleiche Frau die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging? In dem Moment kam sie aus einem Nebenzimmer. Ihre Absätze waren auf dem Parkettboden kaum zu überhören und als er den Blick zu ihr wandern ließ, fand er sie noch schöner als am Tag zuvor. Ihr weißes Gesicht wirkte noch blasser in dem dunkelgrünen Kleid das sie an hatte. Sie trug einen dunklen Lippenstift und hatte ihre Wimpern getuscht.

Leon starrte sie dümmlich an. Wo war seine Selbstsicherheit eigentlich geblieben? Er schickte sich an zu ihr zu gehen, wobei er ihr ein charmantes Lächeln schenkte. „Sie schon wieder.“, stellte sie fest, ohne die Spur einer Emotion. Eigentlich hatte er ihr erzählen wollen, dass er sie nicht aus dem Kopf bekam, ihre Augen nicht vergessen konnte, doch plötzlich fühlte er sich schrecklich einfältig. „Geht es Ihnen besser?“, fragte sie schließlich, weil er kein Wort über die Lippen brachte. „Gestern war eine Ausnahme. Wahrscheinlich habe ich etwas falsches gegessen.“, sagte er und fühlte wie ihm Röte ins Gesicht stieg. Lächerlich, wieso brachte sie ihn so aus der Fassung? „Dann übergeben Sie sich normalerweise nicht vor Haustüren?“ Die ältere Sekretärin von Peters gab ein glucksendes Geräusch von sich das ein Lachen

hätte sein können. Als er sie ansah bewahrte sie jedoch jegliche Contenance. Sein Vater huschte durch seine Gedanken. All die aufwühlenden Gefühle machten ihn doch tatsächlich in der Gegenwart von Frauen unsicher! „Normalerweise ist das nicht meine Art, doch Sie haben mich so nervös gemacht…“ Er lächelte leicht schräg, weil er wusste, dass es ihn attraktiv machte. „ Also hat mein Anblick in Ihnen Übelkeit ausgelöst?“ „Nein!“, entfuhr es ihm. „Ich mache Menschen für gewöhnlich nicht nervös.“, entgegnete sie, und er war sich unsicher ob sie ein Kompliment von ihm erwartete. „Das kann ich mir kaum vorstellen, so hübsch wie Sie sind.“ Etwas Besseres war ihm auf die schnelle nicht eingefallen, doch sie starrte ihn nur seltsam an. Nicht sehr beeindruckend gestand er sich ein,

aber zumindest einen Dank konnte er doch erwarten. Langsam verstand Leon, was Peters gemeint hatte, als er ihm gesagt hatte, er würde sowieso einen Korb bekommen. „Wer sind Sie denn überhaupt?“, fragte die Frau nach einer peinlichen Schweigeminute. „Mein Name ist Leon Runné. Es freut mich Sie kenne zu lernen.“ „An Sie erinnere ich mich aber noch.“, sagte die ältere Frau, und er hoffte innständig, sie würde es dabei belassen. Sie zog die Augen-brauen hoch, hielt aber ihren Mund geschlossen. „Würden Sie mir gestatten, dass ich Sie als Entschuldigung für Gestern zum Essen einlade?“ „Es war ja nicht meine Haustür.“, entfuhr es ihr. „Ja, aber ich war sicherlich kein schöner Anblick.“ „Sie sahen wirklich nicht sehr gut aus.“ Entweder nahm sie ihn nicht ernst, oder sie

veralberte ihn, was bei-des nicht sehr schmeichelhaft für ihn war. „Also, was sagen Sie zu einem Essen?“ „Ach, das meinten Sie ernst?“ Oh Gott, womöglich war sie schon verheiratet, fiel ihm ein, und bestürzt sah er auf ihre Finger, um einen Ring zu entdecken. Sie über-legte und ihre goldenen Augen verdunkelten sich, als sie sagte: „Wenn Ihnen so viel daran liegt.“ Es klang als würde sie ihm einen Gefallen tun. Was sollte er darauf antworten? „Gleich heute Abend? Wäre es Ihnen recht? Wo kann ich Sie abholen?“ „Das ist nicht nötig. Lassen Sie uns heute Abend hier treffen, dann können wir uns entscheiden wohin wir gehen.“, sagte sie nach kurzem Überlegen. „Fräulein?“ Sie sah ihn verständnislos an, und die ältere Sekretärin antworte ihm: „Fräulein Ruth Kniesel. Von den

Kniesel-Werken.“ In ihren Augen sah er Spott und Leon wusste auch warum. Scheiße, dachte er. Er hatte so eben die Tochter des reichsten Idustriellen von Berlin, und gönnerhaften SS Befürworter Martin Kniesel nach einer Verabredung gefragt.

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Blackbelle
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