Kurzgeschichte
Das Haus

Gestern hatte Mama zwanzig Euro auf den Küchentisch gelegt. Da bin ich erstmal losgelaufen und habe mir Süßigkeiten gekauft. Lukas hat so viele gegessen und dann tat ihm der Bauch weh. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen und weinte nach Mama. Als sie am nächsten Morgen kam, da hat sie mich angeschrieen. Ich war nur traurig, als ich die roten Bonbons in Lukas Kotze schwimmen sah.
Mama hat mich raus geschickt. Wir sind in den Wald gegangen und Lukas ist auf einen Baum geklettert. "So groß will ich mal sein. Wenn ich so groß bin, dann kann ich alles. Dann kauf ich uns ein riesiges Haus. Wir haben ein großes Spielzimmer. Mit einem Kickertisch, und Autos, und auch ein paar Puppen für dich. Und in dem Haus ist ein Schlafzimmer. Da schlafen wir alle zusammen."
Heute Nacht habe ich ihn schreien gehört. Er stand vor Mamas Schlafzimmertür und hat dagegen gehämmert."Mama, ich kann nicht schlafen! Ich habe Angst!" Ich bin aufgestanden, habe seinen Arm gegriffen und ihn in mein Zimmer gezerrt. Dann hat er sich zu mir ins Bett gelegt. "Das Schlafzimmer, das wird ganz viele dicke Kissen haben. In allen Farben. Und ganz viele kuschelige Decken. Es wird so schön sein, das alle dort schlafen wollen."
Mama ist schon drei Tage nicht mehr da gewesen. In der Abstellkammer habe ich alte Farbe gefunden. Lukas und ich haben damit die Wände vom Wohnzimmer angestrichen. Aber es war eine große Sauerei! Als Mama nach Hause gekommen ist, hat sie uns nicht verprügelt. Sie hatte einen Mann dabei. Der Mann war groß und hatte eine Glatze. Er hat mir durch die Haare gestreichelt und gesagt, dass ich hübsch bin. Mama hat sich gefreut und gesagt, dass ich ein gutes Mädchen bin. Sie ist dann mit dem Mann ins Schlafzimmer gegangen.
Einmal sind wir in den Wald gegangen. Wir sind um die Bäume gelaufen und haben fangen gespielt. "Sieh mal!", sagte Lukas und zeigte auf ein schwarzes Bündel. Ich nahm den Ast der neben mir auf dem Boden lag und stupste es an. "Das ist eine Krähe!", schrie Lukas. "Vielleicht hat sie sich den Flügel gebrochen?" Sie versuchte sich zu bewegen, mit weit aufgerissenen Augen. "Wie kann man nur so doof sein!", sagte ich. Ich drückte ihm den Stock noch tiefer in den Bauch. Ich hockte mich hin und zupfte der Krähe eine Feder raus, dann noch eine und immer mehr. "Nadine, was machst du da? Du tust ihr weh! Hör auf damit!" Mein Kopf tat höllisch weh. Die Vögel sangen, obwohl ich einem ihrer Kameraden die Federn heraus zog. Sie saßen auf ihren Ästen und sie kümmerten sich nicht um die Krähe, die wild am Boden zappelte. Sie sangen fröhlich weiter. Auch als ich ihr den Stock tief in den Körper bohrte. Sie hörten nicht auf zu singen, als wenn sie es nicht sahen, als wenn sie es nicht wahrnehmen wollten.
Heute morgen sind wir durch die Straßen gelaufen. Lukas zeigte auf die großen Häuser. "Das Haus ist so winzig. Da kann ich nur lachen. Freust du dich schon darauf? Auf unsere Villa. Nein, auf unseren Palast?" Er grinste. Ich schlug ihm hart auf den Kopf. Dann fing er an zu weinen.
In der Küche hängt ein Foto von dem Mann mit der Glatze. Mama schaut es sich den ganzen Tag an, dann lächelt sie und tanzt pfeifend durchs Haus. Ich habe dem Mann einen Schnurrbart gemalt und ihm die Augen ausgeschnitten.
Nachts steht Lukas wieder vor Mamas Zimmer. Er weint und schreit. Ich hole ihn wieder zu mir ins Bett. "Du bist so doof! Du bist echt doof!" Als ich das sage, schlage ich ihm wieder auf den Kopf. Mir laufen die Tränen herunter. Sie kommen einfach aus meinen Augen heraus. "Nadine, wenn ich groß bin, dann baue ich uns ein Haus. Da wohnen wir alle zusammen. Und sind glücklich."