EIN VERDAMMT GUTER SEELSORGER
„Bring dich um!“
„Was?“
Gott, ist die doof!
„Bring dich um, “ sage ich noch einmal, „Selbstmord! Schmeiß dich vor einen Zug! Mach dich weg! Schluck ne Packung Schlaftabletten. Beende deine weltliche Qual. Bring dich um!
„Aber…?“
„Nix aber. Tu es einfach. Du hast ein
ernsthaftes Problem, wie Du sagtest. Oder hättest Du mich zu so später Stunde angerufen wenn Du einen Ohrring verloren hättest? Sicher nicht! Also vermute ich etwas schwerwiegendes, wie Liebeskummer, Mobbing, sexuelle Belästigung oder die Reue nach dem Fremdvögeln hat dich zum Telefon greifen lassen. Und ich sage: Bring dich um!“
„Ich wollte doch nur…“
„Dafür ist es zu spät. Bring dich um!“
Sie schluchzt nun, weint bitterlich und hemmungslos. Ich kann sie hören. Nach allerlei Minuten fängt sie sich und sagt:
„Es ist doch nur wegen dem ganzen Stress. Der Schule, dem Sportverein,
dem Chor, und wegen meinen Eltern die mir solchen Druck machen mit den guten Zensuren… Ich dachte ich bekäme einen guten Rat. Und Hilfe.“
„Bring dich um ist ein guter Rat. Und eine eindeutige Hilfe, “ sage ich, „Also mach es gut und schnell und gründlich.“
Sie fängt wieder mit der Heulerei an.
„Hör zu, “ sage ich, „eines musst Du dir klarmachen. Dein Leben wird nicht besser, oder schöner, geschweige denn interessanter in der Zukunft. Du wirst immer unter Stress stehen. In deinem späteren Job, mit deinen zukünftigen Kindern, dem Haushalt, den angeblichen Freunden, den bitteren Entscheidungen die Du treffen musst. Und das ohne
wirkliche Anerkennung oder Lob oder seelische Erfüllung. Da ist es doch besser diesem ganzen Mist schon vorher aus dem Weg zu gehen. Also bring dich um!“
Ein letzter verzweifelter Schluchzer dringt an mein Ohr. Dann legt sie auf.
Ich stehe in meiner Küche, lege den Hörer sanft auf den Tisch und widme meine Aufmerksamkeit nun wieder den Kartoffeln zu die in meiner Pfanne vor sich hin braten. Ich schiebe die Spalten ein wenig rum, wende sie.
Ich denke an die letzte Anruferin. Ihr offensichtlich lächerliches Problem. Vielleicht bringt sie sich tatsächlich um. Gerade jetzt. Vielleicht lässt sie es auch
bleiben. Ist mir egal. Ich bin nicht ihr Priester, ihr Sozialarbeiter, ihr Psychologe. Ich bin nur ein Typ an einem Telefon. Der versucht sich die Langeweile zu vertreiben. Denn das ist mein Problem. Ja, genau. Pure Langeweile treibt mich dazu mir die Probleme von mir unbekannten Personen anzuhören. Personen mit denen ich im persönlichen Umgang nie ein Wort reden würde.
Doch jetzt rufen sie mich an.
Sicher, das liegt an den zahlreichen Flyern die ich vor einigen Wochen überall in der Stadt verteilt habe; den Aufklebern, die ich an etliche Hauswände, Ampelmasten und Autos
geklebt habe: DU SUCHST TROST? DU BRAUCHST HILFE? PROFESSIONELLE SEELSORGE! UNTER DIESER NUMMER WIRD DIR GEHOLFEN… Vorzugsweise an strategisch günstigen Plätzen platziert. Vor Schulen, Arztpraxen, Kneipen und Bordellen.
Der erste Anrufer ließ nicht lange auf sich warten. Schon am selben Abend schilderte mir ein junger Mann sein unermesslich heikles Problem. Er, so sagte er, habe schwere Schuld auf seine schwachen Schultern geladen. Er, und er schilderte es recht plastisch, ist ein Junkie; obendrein ein Lügner, Betrüger, Dieb und Räuber. Und er brauche sofort und jetzt gleich einen wirklich guten
Tipp wie er in am besten und möglichst sofort clean wird. Denn er hat es wirklich satt sein Leben den Drogen unterzuordnen. Nichts wünscht er sich sehnlicher als ein nützliches und Gewinn bringendes Mitglied unserer Gesellschaft zu sein.
Bring dich um, hab ich zu ihm gesagt.
Bitte? Fragte er ungläubig.
Bring dich um! Hau dir ne Überdosis rein. Bescheiß deinen Ticker und lass dich abknallen, oder häng dich einfach auf. Aber mach es. Bring dich um.
Aber ich wollte doch nur…
Ich weiß was du willst. Doch dafür ist es zu spät. Es gibt in diesem Leben keinen Neuanfang, kein Vergeben und
Vergessen. Bring dich um.
Aber es wird doch wohl eine nicht ganz so drastische Methode des Entzugs geben? Fragte er, und ich hörte geradezu die Funken der Hoffnung.
Nein, sagte ich, du wirst dein Leben lang allen möglichen Leuten mit deiner Sucht zur Last fallen. Da ist es wohl nicht zu viel verlangt wenn er sich sofort das schwach flackernde Lebenslicht ausbläst. Also bring dich um.
Auch er fing sogleich ungehemmt zu weinen an. Dann legte er auf.
Das war mein Erster.
Bring dich um.
Die Menschen die mich anrufen haben
alle dasselbe Problem. Ihren persönlichen Wahnsinn. Sie verlangen nicht nach Hilfe, oder nach Trost. Sie wollen gar keine Lösung ihrer permanenten Probleme. Denn was bleibt ihnen dann noch? Eine höchst kümmerliche Aussicht auf ein profanes Leben. Wenn sie mich anrufen ist der Würfel schon gefallen, die Entscheidung getroffen. Was ihnen fehlt ist ein leichter Schubs in die gewünschte Richtung, ein wenig Ermunterung.
Bring dich um.
Das ist für mich nicht sonderlich leicht, noch besonders schwer. Nur störend. Denn diese Leute rufen zu den
unmöglichsten Zeiten an. Zeiten in denen ich anderweitig beschäftigt bin. Denn wer kocht für mich? Wer rasiert mich? Wer geht für mich aufs Klo? Wer onaniert an meiner Stelle? Eben. Ich muss diese Dinge alle selber erledigen. Und noch viel mehr.
Doch ich will mich nicht beklagen.
Ich habe mich frei entschieden.
Und es ist weitaus unterhaltsamer als mein Tagesjob.
Der darin bes teht andere Menschen davon zu überzeugen, dass ihr Leben ohne eine adäquate Versicherung vollkommen Wertlos ist. Es ist eine leichte Arbeit. Denn die Menschen die ich in ihren Behausungen aufsuche sind
durch das Anschauen unzähliger Werbespots der Versicherungsbranche bereits so verängstigt das sie Bedenkenlos alles unterschreiben was ich ihnen vorlege. Lebensversicherungen, Hausratsversicherung, Glasbruch, Überschwemmungen, Feuer und Erdbeben. Die Menschen haben vor allem Angst.
Bei der Aussicht, die mich stets überfällt wenn ich bei den Leuten in der Stube sitze, diese Arbeit für die nächsten 40 Jahre zu tun, wird mir vor Langeweile ganz schwindlig. Der Kopf schwirrt mir, mein Herz pocht laut und der kalte Schweiß rinnt mir den Rücken
runter.
Also musste eine neue Perspektive her. Etwas Zerstreuung, die wieder Spannung in mein tristes Leben treibt.
Moment bitte…
Da ruft jemand an.
Ich gehe besser mal ans Telefon.
Text: harryaltona
Cover: Rainer Brückner/www. pixelio.de