In einem kleinen Ardennenstädtchen nahe der Grenze zu Frankreich stand einst ein altmodisches Warenhaus. Es hieß Das Paradies der Damen und man sagt, es habe eine ungeheure Reihe von Geschichten zu erzählen gewusst.
Die Bewohner von *** machten diese eigentümliche Besonderheit weit über die Grenzen ihres Städtchens publik, und so kam es, dass bald bekannte wie unbekannte Autoren in hellen Scharen herbei strömten, und diese schrieben begierig alle die großen und kleinen Dramen des Alltags auf, von welchen das alte Kaufhaus ihnen bisweilen erzählte. Wenn es denn in guter
Stimmung war, denn es war ein gar launisches Ding. Die Autoren verschwanden aber allesamt, sobald sie meinten, genug erfahren zu haben, und machten sich hurtig auf die Heimreise, und ein jeder wollte der Erste sein, der eine neue und noch nie erzählte Geschichte veröffentlichte, denn sie waren eitel und gierig und süchtig nach Ruhm und Ehre und Geld.
Und aus der Unzahl all dieser Federfüchse sollen gar fünf Nobelpreisträger hervorgegangen sein, der Stolz ihrer jeweiligen Vaterländer. Und in den Schulen dieser Länder wurden die flüchtigen Werke der
solchermaßen Geehrten gelesen und stundenlang hin und her gewendet, wurden die Perioden abgeklopft und die Metaphern gewogen, und es herrschte fortan ein reges geistiges Leben. Die Präsidenten der fünf Länder wurden nicht müde, ihre Staatsdichter zu preisen, und sie ließen sich von ihnen wunderschön klingende Reden schreiben, denen zu lauschen die Wähler nicht müde wurden.
Denn in diesen Vorträgen sprachen fünf Präsidenten einschmeichelnd-eindringlich von reiner klarer Luft, die sanft den Kopf streichelt, von frischem und mineralhaltigem Wasser, das jeden
Durst zu löschen vermag, von Verkehrsmitteln, die preiswert, leise und vor allem zuverlässig sind, und von reichlich vorhandener und gut bezahlter Arbeit, die einen jeden zufrieden und körperlich wie geistig gesund erhält. Auch wurden zur Freude der älteren Generationen zahlreiche Kinder in diesen Ländern geboren und von zärtlichen Pädagogen angeleitet und zu ihrer schönsten Blüte entfaltet.
So halfen die fünf Staatsdichter, allesamt den Lorbeer der hohen Dichtkunst um die Stirn gewunden tragend, das jeweilige Staatswesen zu ungeahnter Blüte zu treiben, und die
Präsidenten der übrigen, nicht so gesegneten Länder kamen zuhauf herbei und besuchten Einrichtungen, Haushalte und Wirtschaftsunternehmen dieser glücklichen Nationen. Und die reformwütigen Präsidenten schrieben eifrig alles auf, was sie hörten und sahen, denn ihre Reise sollte sich schließlich lohnen, und sie fotografierten alles heimlich.
Aber hinter das Geheimnis dieser Erfolge drangen sie dennoch nie, denn ihre blinde Nachahmungswut ließ sie das Schöne, das sie gesehen, übertreiben und somit verlor es seinen ursprünglichen und natürlichen Zauber
und wurde zu wertlosem Talmi. Von all diesen Ereignissen und Wirkungen erfuhren die Bewohner des kleinen Ardennenstädtchens *** allerdings kein Sterbenswörtlein, aber das machte auch nichts, denn sie gingen wie schon ihre Väter und Vorväter ihren Geschäften nach, verursachten und erlebten kleine und große Dramen des Alltags und tranken abends in geselliger Runde ein paar Gläser Trappistenbier.
Das altmodische Warenhaus aber verlor eines Tages auch seinen letzten Stammkunden und musste schließen. Ein kleines vorwitziges Mädchen fand, nachdem das alte Kaufhaus schon längst
abgerissen und an selbiger Stelle ein bald europaweit bekanntes Internationales Biermuseum mit 700 Biersorten im Ausschank!!! errichtet worden war, hinter den Müllcontainern ein altes Schild, auf welches vor mehr als hundert Jahren ein verliebter junger Schildermaler einst Das Paradies der Damen geschrieben hatte.
Epilog
In Langnau im Emmental gab es ein
Warenhaus. Das hieß Zur Stadt Paris.
Ob das eine Geschichte ist? (P.Bichsel)
Dieser kleine Text gab den Anschub, der Rest ist Imagination, Erlebtes,
Vermutung, Erinnerung…