Der Sprayer
Das ist die Geschichte eines jungen Mannes, der nie ein Rebell sein wollte. Das ist die Geschichte eines jungen Mannes, der so vieles und trotzdem nichts hatte.
Dem als eine der wenigen Dinge im Leben das illegale sprayen von Graffiti noch so etwas wie Zufriedenheit geben konnte. Dem grauen Alltag entfliehen durch den nÀchtlichen Kick.
Ein Anfang 20-jĂ€hriger, der aufgrund seiner roten Cap von den meisten nur Red Cap genannt wurde. Sein Tag, sein unverwechselbares Markenzeichen jedoch, war ein MP in Wildstyle mit einer goldenen Krone darĂŒber, er nannte es selbst âCrownded MPâ, oder einfach nurâCrownedâ.
Erst vor kurzem war er vom SĂŒdteil der
Stadt, welche hauptsĂ€chlich aus EinfamilienhĂ€usern und Vorstadtidylle bestand, in den Norden gezogen, ĂŒbersĂ€t mit Plattenbauten, alten HĂ€usern und dreckigen, mit Graffiti ĂŒbersĂ€ten StraĂen.
Es war nicht er selbst, dass ihm zu dem
machte, was er war, sondern die RealitÀt und die damit einhergehenden EnttÀuschungen und die TrÀume, die er zugunsten der RealitÀt aufgeben musste.
Diese Welt war dunkel, kalt und erbarmungslos. Vor allem jetzt schien dies nur noch offensichtlicher, da sich schon seit Monaten nicht ein einziger Sonnenstrahl zu zeigen schien. Hier im Norden war jeder fĂŒr sich selbst, denn hier musste jeder selber irgendwie durchkommen. All das lieĂ Red Cap natĂŒrlich nicht auf sich sitzen.
Es war nicht sein GefÀngnis, dass sich die Gesellschaft aus Leistungsdruck und Anpassungszwang selbst erbaute.
Nein, noch konnte er ihm entfliehen und diese Welt, die nicht seine Welt war, bunt fÀrben. Farbe bringen in den grauen Beton des Alltags, Abwechslung erschaffen in dem endlosen Meer von HÀusern, die doch alle so eintönig und gleich aussahen.
Mit zahlreichen âCrownded MPâ- Tags und Stencils hatte er bereits seine Umgebung verziert. WĂŒrde man seine Umgebung nicht verĂ€ndern, dann Ă€ndert einem die Umgebung, das wusste er.
Oft zog er alleine los, dann sprĂŒhte er meist nur Stencils, manchmal auch mit Freunden oder seiner Crew, erwischt wurden sie jedoch noch nie, dank seiner
vorsichtigen, fast schon paranoiden Art, Gefahren bereits im Vorfeld zu wittern. AuĂer in dieser Nacht. Diese Nacht, die doch so vieles verĂ€ndern sollte. Heute juckte es ihm besonders in den Fingern. Schnell textete er seinen Kumpel an: âEy yo, lass heute mal nen âCrownedâ setzen.â Eine Stunde spĂ€ter klingelte er bei ihm.
Diese Nacht hatten sie sich vorgenommen, ein extra groĂes âCrowned MPâ an einer Hauswand mitten an einer belebten Kreuzung anzubringen, wo alle es sehen konnten, sozusagen sein bestes Kunstwerk.
Obwohl die ganze Stadt zu schlafen schien, zitterten ihre Knie und das Adrenalin schoss ihnen in den Kopf. Nach kurzer Zeit fanden sie eine Wand, die noch nicht bemalt war und von wo aus man eine gute Ăbersicht ĂŒber die Kreuzung hatte. NatĂŒrlich wollte er hier sein KĂŒrzel, das MP mit Krone in Wildstyle anbringen. Sogleich setzte er die Can zum Sprayen an und sein Freund schob Wache. Nach einer Weile zuckte sein Kumpel auf: âScheiĂe, da kommt jemand.â Schnell versteckten sie sich hinter der nĂ€chsten HĂ€userwand. Sie wussten, dass zu dieser Zeit mitten in der Woche nur noch die Polizei unterwegs war. Sie
warteten ein paar Minuten, bis das Licht des Wagens wieder verschwand.
Doch anstatt sich nach Hause zu schleichen, war Red Cap so sehr vom Enthusiasmus und Adrenalin gepackt, dass er das Graffiti unbedingt beenden musste.
Ein groĂer Fehler. Denn gerade, als er begann, seinem Tag die Krone aufzusetzen, fĂ€rbte sich die Nacht blau durch das Licht der Sirenen. Ein ohrenbetĂ€ubendes Heulen zerriss die Stille der Nacht. âFuckâ dachte sich Red Cap nur, sein Kumpel schrie laut: âWeg hierâ. Sie rannten, versuchten sich wieder hinter der nĂ€chsten HĂ€userecke zu
verstecken, doch diesmal hatten die Bullen sie entdeckt.
Das Polizeiauto raste in vollem Tempo auf sie zu, ein Mann stieg aus: âSofort stehenbleiben.â Beide dachten daran, nun in die andere Richtung zu entfliehen, doch sie bemerkten den kalten Lauf, der nun geradewegs auf sie gerichtet war, jederzeit bereit, abgefeuert zu werden.
Vor Schreck rissen sie die HĂ€nde in die Luft und lieĂen den Rucksack mit den SprĂŒhdosen und Stencils fallen. Am liebsten wĂ€ren sie nun im Boden versunken, doch der Asphalt war kalt und hart. Unter tosendem Geheul wurden sie auf das Polizeirevier gebracht.
Dort wurden sie verhört und wie Verbrecher behandelt, folgten sie doch nur der Kunst ihres Herzens. Es war ihre Kultur, ihr Lifestyle, doch sie wussten, dass die Erwachsenen dies nie verstehen wĂŒrden.
GLOSSAR
Cap - Basecap
Can - SprĂŒhdose
Crowned MP - Tag des Protganonisten
Tag - SignaturkĂŒrzel des Writers
Stencil - Schablone
Wildstyle - kompliziert aufgebautes Graffiti mit hoher KomplexitÀt