Biografien & Erinnerungen
Ich, Bürger der DDR - Anekdoten eines aufregenden Lebens

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"Mein Leben in der DDR, humoristisch bis dramatisch betrachtet"
Veröffentlicht am 04. Februar 2014, 132 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Ich schreibe hauptsächlich um zu unterhalten. Dabei möchte ich Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts und egal welcher Herkunft unterhalten. Meine Ambitionen liegen bei den spannenden und aufregenden Romanen. Jedoch experimentiere ich hin und wieder auch mal an anderen Genres herum. Mehr über mich: www.porterthomson.de.tl sowie bei Facebook: "Porter Thomson, Autor aus Cuxhaven" und bei Google+ unter der web-Adresse: ...
Mein Leben in der DDR, humoristisch bis dramatisch betrachtet

Ich, Bürger der DDR - Anekdoten eines aufregenden Lebens

Alle Jahre wieder

Ne ne! Nicht was Ihr jetzt vielleicht denkt! Es war noch viel aufregender als Weihnachten!

Einmal im Jahr traf sich die gesamte Sippschaft bei uns zu Hause, und zwar genau an dem Wochenende zu oder nach meinem Geburtstag, also Mitte September. Meine Sippe ist übrigens groß, hatte doch meine Mutter drei Schwestern und mein Vater sage und schreibe elf Geschwister!! Viele Kinder zu haben war wohl damals vor, während und nach dem Krieg, weit verbreitet.

Aber ich lenke vom Thema ab.

Wie schon gesagt, trafen sich diese

gefühlten hunderttausend Menschen an meinem Geburtstag bei mir zu Hause. Waren schließlich alle da, setzte sich eine gewaltige Kolonne aus Trabis, Wartburgs, Ladas, Skodas und Dacias in Bewegung.

Diese gefühlten hunderttausend Menschen fielen dann am frühen Morgen über die brandenburgischen Kiefernwälder bei Buckow her, um diese von wirklich allen Maronen, Pfifferlingen, hin und wieder einmal ein paar Steinpilzen, Ziegenlippen, Samtkappen und als absolute Rarität vielleicht einer Krause Glucke zu befreien! Die Heerscharen verteilten sich, schon fast militärisch präzise, in

den Wäldern und ernteten Pilze was das Zeug hielt! Waren die Spankörbe voll wurden die Kinder zurück ins „Basislager“, also die im Wald geparkten Autos, geschickt um die Körbe in großen mitgebrachten Kinderbadewannen zu entleeren.

Am späten Nachmittag, die Kinderbadewannen waren tatsächlich alle voll, trafen sich dann die Truppenteile im „Basislager“. Angesichts der fetten Beute waren Alle gut gelaunt. So ließ man sich zu einer munteren Kaffee- und Kuchenrunde nieder.

Die Frauen der Verwandtschaft hatten den Kuchen schon Tage zuvor gebacken

und diesen nun mitgebracht! Es waren Unmengen an Kuchen!

„Oh mein Gott!“, sage ich da noch heute, denke ich an Damals zurück.

War der letzte Kuchen vernichtet und die letzte Tasse Kaffee ausgetrunken, zogen sich die Heerscharen aus den Buckower Wäldern zurück. Geschlossen fuhr die Kolonne aus Trabis, Wartburgs, Ladas, Skodas und Dacias wieder zu uns nach Hause.

Wer aber nun glaubt das war´s, der irrt sich gewaltig!

Jetzt ging der Zauber erst mal richtig los! Drei oder vier Kinderbadewannen voller Pilze wollten geputzt, gespült, nicht gebadet, und eingekocht werden!

Die Menschenmassen verteilten sich in unserer viereinhalb Zimmer großen Altbauwohnung. Generalstabsmäßig wurden alle für diverse Tätigkeiten eingeteilt. Viele Leute putzten die Pilze, zeitgleich spülten zwei oder drei Personen die Einweckgläser. Sobald genug Pilze geputzt waren, beschickten zwei oder drei Frauen die gereinigten Gläser mit den geputzten und vorher gespülten Pilzen und wieder andere hatten den Einkocher unter ihren Fittichen. Jeder wurde mit eingespannt. Die großen Kinder spielten an diesem Tag Babysitter für die Kleinen.

Der Abend wurde lang, sehr, sehr lang! Erst wenn das letzte Glas Pilze

eingeweckt und die komplette Küche mit Pilzgläsern zu gestellt war, wurde es gestattet sich zur Ruhe zu begeben.

Und dieser Spaß wiederholte sich jedes Jahr an meinem Geburtstag! Hurra, super, Klasse, toll!! Ich habe es bereits nach dem dritten mal gehasst! Andere Kinder feiern schön Kindergeburtstag, so mit Topf schlagen, Blinde Kuh und Süßigkeiten bis zum Abwinken und so! Aber bei mir? Bei mir gab es Großkampftag in den Pilzen! Vielen Dank!

Das ging so bis ich ungefähr 12 oder 13 Jahre alt war. Dann endlich schlief das mit den Pilzen zum Glück ein wenig ein und ich konnte irgendwann auch mal so

richtig Geburtstag feiern.

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aus der not eine tugend machen

Jedem ehemaligen DDR-Bürger ist es bestimmt noch in bleibender Erinnerung, dass es damals nicht immer so einfach war mal eben in den Konsum oder den HO zu gehen, um sich den Kühlschrank immer genau mit dem zu befüllen wonach einem gerade der Sinn stand. Oftmals war es doch so, dass man sich seinen Kühlschrank mit dem befüllte was es gerade zu kaufen gab! Und der dem die Möglichkeit gegeben war, legte fleißig Vorräte an, von Dingen die es ab und an mal gab und nicht gerade zugeteilt wurden.

Bei einigen von uns gab es den

glücklichen Umstand, dass es Freunde oder Verwandte gab die daheim bei sich im Stall ein paar Schweine hatten. Bei uns waren es meine Großeltern. Da hieß es dann einmal im Jahr Schlachtefest!!! Jau! War das immer ein Spaß!! Einmal im Jahr, immer im Winter, bepackten wir unseren schicken rot-weißen 311er Wartburg mit dem aller Nötigsten um die weite Reise von ca. 300 km zu meiner Oma anzutreten. Das heißt natürlich erst dann, wenn wir drei Geschwister uns irgendwann einmal geeinigt hatten, wer denn nun auf dieser, für damalige Verhältnisse, doch recht langen Reise in der Mitte sitzen sollte! Wir waren drei Geschwister, es

gab aber nur zwei Fensterplätze. Den rechten Fensterplatz bekam immer meine Schwester. Ja und den Linken? Heute bewundere ich die Geduld meiner Eltern, die sie damals bei diesen immer wieder kehrenden Streitritualen aufbrachten, zumindest eine Zeit lang. Dann wurde zugeteilt! Na ja! Am Ende zog dann immer der Kleinste den kürzeren, und das war leider ich. Endlich ging es los! Wir brausten in unserem schicken rot-weißen 311er Wartburg los. Erst bis nach Niemegk, und dann auf die heutige A9 bis nach Halle an der Saale. Diese ewig lange Autobahnfahrt bis nach Halle war so langweilig! Die Langeweile

wurde nur zwei drei mal unterbrochen, wenn meiner Schwester wieder einmal übel wurde und sie sich übergeben musste. Also fuhr mein Vater rechts ran.

Damals gab es noch keine Standstreifen auf den Autobahnen!

Tür auf Schwester raus, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen und weiter ging es.

Wenn meine Schwester sich nicht gerade am übergeben war, zählten wir immer Westautos und bestimmten sie nach Marke und Modell. Damals war die Anzahl der Westautos auf DDR-Autobahnen noch recht überschaubar, wie überhaupt der damalige Verkehr auf unseren Straßen. Auch wenn wir nicht

einen Stau hatten, was in der DDR eigentlich nie vorkam, brauchten wir doch geschlagene vier Stunden bis zu meiner Oma, die in einem kleinen Dorf bei Sangerhausen wohnte.

Ja ja! Rasen, das gab es damals noch nicht! Zum einen machte so etwas das normale Standardauto des Ostens, der Trabi oder der Wartburg, mit seinen 100 bis 120 km/h nicht mit, zum anderen war mein Vater ein recht vorbildlicher Kraftfahrer, und zum dritten war der Zustand unserer Straßen streckenweise doch recht „abenteuerlich“. Irgendwann waren wir dann endlich da!

Wir Kinder konnten es kaum noch erwarten, aus unserem schicken

rot-weißen 311er Wartburg heraus zu kommen um als aller erstes nach der Begrüßung von Oma, Opa und Onkel und Tante den alten Bauernhof mit seinem riesigen Garten unsicher zu machen. Es war immer wieder schön bei Oma und Opa. Dieser alte Bauernhof war einfach nur ein Traum!

Auch wenn sich mein Opa nach langem wehren der Übermacht von Partei und Staat geschlagen geben musste und schließlich der LPG beigetreten wurde, hat er sich doch immer redlich, und im Rahmen seiner damaligen Möglichkeiten, Mühe gegeben den Charakter seines Hofes als Bauernhof zu erhalten. Was

damals an Eigenviehwirtschaft erlaubt war, hat er auch konsequent in Anspruch genommen. So war es eben, dass mein Opa und meine Oma bis zu seinem Tod jede Menge Getier bei sich auf dem Hof hatten. Da waren frei laufende Enten und Hühner, mehrere Schweinekoben mit jeweils zwei Schweinen, jede Menge Kaninchen, also richtige große, schwere Kaninchen zum schlachten versteht sich, zwei bis drei Ochsen und bis Anfang der Siebziger, habe ich noch ganz schwach in Erinnerung, sogar ein paar Milchkühe.

Es war einfach nur ein Traum für so kleine Wänster wie wir es waren! Jedes mal wenn wir da waren, gab es neue

Abenteuer zu bestehen. Ob ich nun den alten Speicher über dem Kuhstall ausgekundschaftet habe oder in der alten Scheune herum geturnt bin. Immer ist etwas passiert. Ich hatte ein Händchen für so was! Mal habe ich mir an irgendeinem scharfen Ding die Wade aufgeschnitten, dass sie sogar genäht werden musste. Mal bin ich im Winter in den alten Feuerlöschteich gefallen, ich konnte natürlich noch nicht schwimmen, oder ich habe nähere Bekanntschaft mit der Jauchegrube geschlossen, ein großes stinkendes Loch hinter dem Misthaufen, in dem sich alle Abwässer von Mensch und Tier sammelten.

Es war immer Action wenn ich bei

meinen Großeltern war, ob nun in den Sommerferien oder wie just zu diesem großen Schlachtefest im Winter. Schon am nächsten Morgen in der Frühe, die Sonne hat es noch nicht über den Horizont geschafft, ging es auch schon los. Mein Großonkel aus dem Nachbardorf, seines Zeichens Metzgermeister, rückte an, wetzte schon das Messer und lud das Bolzenschussgerät, während mein Vater, mein Onkel und mein Opa bewaffnet mit zwei Türblättern und einer Decke sich daran machten das Schwein, das schon Tags zuvor nichts mehr zu fressen bekommen hatte, aus dem Koben zu geleiten. Anders konnte man das nicht

nennen. Denn getrieben hätte man einen solchen Koloss nicht bekommen.

Man muss sich vorstellen, damals durften die Schweine noch Erwachsen werden, bevor sie geschlachtet wurden. Wenn ich sage, dass das Schwein damals wenigstens 200kg gewogen hat, ist das nicht übertrieben. Ein solches Tier muss überzeugt werden seinen Koben, den es als kleines Ferkel betreten hat, freiwillig wieder zu verlassen.

Man ging also mit den beiden Türen in den Koben, und engte die arme Sau ein. Und zwar so, dass es merkte, dass es nach hinten nicht mehr weiter ging. Das Schwein setzte die Flucht nach vorne an und rannte in den noch finsteren

Morgen. Erst wenn die Stalltür hinter ihm verschlossen war ging die Hofbeleuchtung an. Flankiert von den beiden Türblättern wurde das Schwein auf mehr oder weniger direktem Wege dem Metzger am Schlachteplatz zugeführt. Dann ging alles sehr schnell. Gekonnt setzte der Metzger das Bolzenschussgerät an und drückte ab. Das Schwein fiel betäubt zu Boden und wurde mit einem geübten Messerstich in den Hals vom Metzger „zur Ader gelassen“. Die Oma hielt geschickt eine große Schüssel unter und fing das wertvolle Blut auf, aus dem später so lecker Sachen wie Rotwurst, Kuddelwürstchen oder einfach nur

Grützwurst werden würde. Vier Männer, mein Vater, der Onkel, der Opa und der Metzger bändigten irgendwie das noch zappelnde Schwein. Es war natürlich schon längst tot. Das waren nur die letzten Zuckungen, ausgelöst durch die verebbenden Nerven. War das Schwein ausgeblutet, wurde es mit kochendem Wasser abgebrüht. Mit sogenannten Schabglocken wurden flink alle Borsten entfernt und mit speziellen Haken an den Glocken die Klauen abgezogen.

Nun kam die Leiter ins Spiel! Die Hinterläufe des toten Schweins wurden mittels eines derben Holzes, welches durch die Sehnen an den Sprunggelenken gezogen wurde, fixiert.

Mit einem Flaschenzug und vereinten Kräften wurde das Schwein mit dem Kopf nach unten die Leiter hinauf gehievt, welche schräg an die Hauswand der Waschküche gelehnt war. Jetzt wurde das Schwein aufgeschnitten auf das alle inneren Organe entfernt werden konnten. Eine faszinierend grausige Angelegenheit! Diese ganzen Sachen, wie Lunge, Leber Herz und Nieren in Natura zu sehen, ihre Größe, ihre Farbe und ihre Konsistenz, ließen schnell meinen anfänglichen Ekel in wissbegieriges Interesse umschlagen. Alles wurde entfernt und fein säuberlich beiseite getan. Von diesem Schwein wurde nichts, wirklich gar nichts weg

geworfen. Alles wurde verarbeitet. Na gut! Die Borsten und die Klauen wurden auf den Misthaufen geschmissen. Hing das Schwein ausgenommen am Haken, gab es das erste Frühstück, ein Korn für die Männer und einen Likör für die Frauen. Die Kinder bekamen selbst gemachten Apfelsaft von der Oma. Nach dem ersten Frühstück gab es dann das richtige Frühstück im Haus. Wobei jedoch immer einer draußen beim Schwein blieb, nicht dass sich eine der vielen Katzen auf dem Hof an dem Schlachtkörper vergriff! So wurde im Verlaufe des Tages das ganze Schwein, im wahrsten Sinne des Wortes, feierlich zerlegt, verwurstet

oder durch den Fleischwolf gedreht. Es wurde Wurst in Därmen, Wurst im Glas hergestellt. Wurst wurde gebrüht, Wurst wurde geräuchert, Fleisch wurde gepökelt und geräuchert, Fleisch wurde eingekocht! Alles wurde verarbeitet! Am Ende blieben nur noch die Galle, die Schweinehaut, die Ohren und das Ringelschwänzchen übrig. Die Galle wurde entsorgt, Ohren und Ringelschwänzchen bekamen die Katzen und die Haut wurde gesalzen und zum Gerber im Dorf gebracht.

Selbst die Brühe, in der die Brühwürste gebrüht wurden, wurde noch als sogenannte Wurstsuppe eingekocht. Ganz köstlich! Man hat immer

absichtlich zwei kleinere Würste beim Brühen angestochen, damit die Wurstsuppe auch die richtige Würze erhielt.

Interessiert schauten wir dem Metzger bei der Arbeit zu, wie er die verschiedenen Wurstbräte herstellte und diese dann mit einer speziellen Maschine, die von einer Handkurbel angetrieben wurde, in die vorher gespülten Därme stopfte. So manches mal ließ er uns vom warmen, dampfenden Wurstbrät kosten. Oder wir formten aus gewürztem Hackfleisch kleine Klöschen und ließen sie in der Wurstsuppe kochen. Unvergesslich! Das war ein Fest für alle Geschmacks und

Geruchssinne. Am Ende des Tages packten mein Vater und meine Mutter ein halbes Schwein in unseren schicken rot-weißen 311er Wartburg. Außer die Räuchersachen, die wurden später geholt. Weil das mit dem Räuchern immer eine Weile dauerte. Nun wisst ihr auch, warum wir nur mit dem aller Nötigsten zu meinen Großeltern gefahren sind. Zuhause wurde das halbe Schwein, in Form von Würsten und Einmachgläsern, eingelagert und versorgte uns wenigstens ein halbes Jahr mit Wurst, Fleisch und Suppe. Diese Schlachtefeste bei meinen Großeltern werden mir wohl auf ewig als ein schönes Kapitel meines Lebens in der

DDR in Erinnerung bleiben. Habe ich doch die Gewissheit, dass etwas so schönes, heute gar nicht mehr möglich wäre, da die hygienischen Auflagen für ein solches Fest fast unerfüllbar geworden sind.

Mein Weg der "selbstfindung"

Ach was war das für ein Drama damals! Ich wechselte 1981 oder 82 in der vierten Klasse die Schule. Da meine Mutter in einem Krankenhaus in Luckenwalde die Stelle der leitenden Hebamme besetzen konnte, packten wir unsere sieben Sachen und zogen von Dahme/Mark nach Luckenwalde. War ja alles kein Ding! Die neue Schule war ja auch irgendwie cool auf seine Art.

Die Schule bestand aus zwei Gebäuden, die sich gegenüber standen. In dem einen Gebäude, ein alter Rotziegelbau, wurde die Unterstufe unterrichtet. In dem anderen unwesentlich jüngeren

Gebäude, von dem schon stellenweise der graue Putz von der Hauswand bröckelte, wurde die Oberstufe unterrichtet. Links von dem Oberstufengebäude waren die Schülertoiletten, die Aula, in Form eines Barackenbaus, und die unheimlich wirkende uralte Turnhalle. Zwischen Turnhalle und Unterstufengebäude befanden sich noch die Fahrradständer, welche damals aber noch nicht betoniert waren. Da reichten drei Tropfen Regen, und die Fahrradständer waren eine einzige Schlammpiste. Rechts vom Oberstufengebäude war das eiserne hohe Gittertor des Haupteinganges. Diesem Tor schloss

sich eine wenigstens vier Meter hohe Mauer an, die sich hin zog bis zum Unterstufengebäude. Hinter dieser Mauer befand sich der Komplex des hiesigen Kreispostamtes. Deswegen wurde diese Schule, welche ja eigentlich "Wilhelm Pieck" hieß, auch Postschule genannt. Ich glaube nach der Wende hieß sie tatsächlich Postschule. Der Name „Wilhelm Pieck“, nach unserem ersten und einzigen Staatspräsidenten, war wohl nicht mehr so angesagt. Zwischen diesen Gebäuden, dieser Mauer und diesem hohen Stahlgittertor lag der Schulhof, komplett in ... Asphalt gehalten. Also die Ausstrahlung dieser Schule war so richtig „cool“. Stand man

in der Mitte des Hofes und schaute sich um, hatte man als Neuer, der ich ja damals nun mal war, den Eindruck, man befände sich in einem Hochsicherheitsgefängnis! Das war also meine neue Schule! Ziemlich schnell gewöhnte ich mich ein, und fand auch ohne größere Probleme einige Freunde. Ich glänzte dadurch, dass ich mehr oder weniger gute schulische Leistungen an den Tag legte. Meistens waren es eher weniger gute schulische Leistungen. Deutsch fand ich immer ganz schrecklich! Das möchte man sich heute, da ich mir die deutsche Sprache zum Hobby gemacht habe, kaum noch

vorstellen! Ganz schlimm war immer der Sportunterricht! Dem konnte ich so gar nichts Positives abringen. Zum einen waren da die, doch erheblichen, Anforderungen an uns Kinder und Jugendliche, zum anderen gab es da noch unseren Sportlehrer, der da glaubte ein Drillsergeant sein zu müssen. Ab und zu hielt er es sogar für nötig den einen oder anderen Schüler als unfreiwilligen Sparringspartner benutzen zu müssen. Da ich damals, rein von der Statur her, lang und dürr, nicht unbedingt die Sportskanone gewesen bin, war ich denn auch heil froh wenn die zwei Stunden

Sport in der Woche vorüber waren. Die restliche Woche brauchte mir auch Keiner mehr mit Sport kommen! Aber irgendwann ging es los! Der Drillsergeant nahm mich beiseite.

„Jeder in der Oberstufe muss an einer Sport AG teilnehmen!“ Ach Du Scheiße!, dachte ich mir. Auch das noch! „Hör mir zu! Du bist lang! Da steckt Potenzial für den Muskelaufbau drin! Du trainierst ab sofort, zwei mal die Woche, Gewichtheben!“ Da begann mein Weg der „Selbstfindung“. Wie vom Drillsergeant befohlen, fand ich mich bei diesen Gewichthebern ein.

Der Hausmeister der Schule leitete diese AG. War ja auch alles gar nicht so schlimm! Ich lernte was Stoßen und was Reißen ist, wie bei der jeweiligen Technik die Hände zu halten waren, wie die Füße zu stehen hatten, wie man allgemein schwere Lasten hebt, nämlich immer aus dem Hohlkreuz heraus und den Schwerpunkt nach unten verlagernd. Ich fand das auch Alles super interessant und habe mir das sogar behalten, bis heute! Aber dann! Dann waren genug der Worte gewechselt. Dann ging das los mit Liegestütze, Beugestütze am Barren, Bankdrücken, Situps auf die alte ostdeutsche Art mit Gewichten im

Nacken. Iigitt Äh! Das geht ja gar nicht! Ich glaube mein dritter Besuch bei den Gewichthebern war auch mein Letzter. Der Drillsergeant war wütend und hüpfte wie ein HB-Männchen durch die Gegend. „Was bildest du dir überhaupt ein!!? Was bist du denn für ne Flasche!!?“, waren da noch seine harmlosen Worte. Drillsergeant steckte mich in einen Ringerclub. Das war ja fast noch schlimmer! Es reichte nicht, dass es dort ebenfalls diesen ganzen Kraftmist gab. Auch der Umgangston zwischen Trainer und Ringern sowie zwischen den Ringern

selbst war nicht gerade freundlich. Außerdem empfand ich den Ringkampf einfach nur als brutal. Aber ich gab mir Mühe und habe dort immerhin zwei Wochen ausgehalten. Nun war Drillsergeant endlich auf den Trichter gekommen, dass Kraftsportarten nichts für mich sind. Er steckte mich stattdessen in einen Handballverein. Ja super! Endlich keine Liegestützen mehr, keine Brutalität mehr, die Leute waren auch ganz nett. Aber hey da bist du ja die ganze Zeit nur am herum rennen! Och nö das ist ja nun mal gar nichts für mich!

Da mir dieses herum Gerenne

offensichtlich nicht lag, steckte mich der Trainer kurzerhand in den Kasten!

Habt Ihr eine Vorstellung wie so ein blöder Handball im Gesicht weh tun kann? Nach einer Woche stand ich erneut beim Drillsergeant auf der Matte. „Ich weiß nicht, was ich mit dir noch machen soll!“ waren seine Worte. „Es muss doch einen Sport für dich geben!“ Vor lauter Verzweiflung steckte er mich schließlich in einen Radsportverein. Aber ob das so eine gute Idee war, wagte ich schon damals zu bezweifeln! Ich fuhr von nun an also Fahrrad, zwei mal die Woche. Ich bekam sogar ein schmuckes silbernes Rennrad gestellt! Aber auf Dauer war das auch nichts für

mich! Jede Trainingsstunde ging es diesen beschissenen Frankenfelder Berg hinauf. Dazu kam, dass es so richtig frustrierend war, wenn die Anderen um so Vieles besser waren als ich. Prinzipiell bildete ich das Schlusslicht. Nach zwei oder drei Wochen war mir das dann auch zu blöd. Drillsergeant resignierte und ließ mich ohne Sport AG abtreten. HÄ hä hä hä!!! Aber Ihr werdet es kaum glauben! Ich saß ein paar Wochen zu Hause ohne Sport AG, bis mein großer Bruder versuchte mich zu überreden, ihn doch mal zu seinem Judoclub zu begleiten. „Och nö!“, sagte ich. „Das ist doch

bestimmt so was wie Ringen!“ „Nein!“, beteuerte er „Das ist was ganz Anderes! Ringen ist was für Holzhacker und Grobiane! Judo hingegen ist ein Sport, bei dem man versucht den meisten Erfolg durch gute Technik, Gewichtsverlagerung und mentaler Ausgeglichenheit zu erreichen.“ Ich ließ mich schließlich erweichen und ging mit zum Judo.

Dabei blieb ich dann auch mehrere Jahre, bis meine Lehre begann und ich Luckenwalde verlassen musste. Ganz ohne Drillsergeant!

Lernen Für´s Leben

Man kann nun wirklich nicht behaupten, dass unsere Bildung in der DDR schlecht gewesen wäre. Unser Bildungsniveau war schon mit den damaligen westlichen Standards gleich zu setzen, trotz unser begrenzten technischen Möglichkeiten.

Das wir noch mit dem Rechenschieber rechneten, während im Westen der Taschenrechner bereits ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand war, oder wir nicht so schicke Pelikan- oder Geha-Füllhalter oder diese quietschbunten Filzstifte hatten, ließ uns zwar manchmal neidisch auf die vereinzelten

Mitschüler gucken, deren Oma mal im Westen war, aber na und? Es ging doch auch ohne! Ich habe neulich mal ein paar Kollegen hier im Westen gezeigt wie man mit einem Tafelwerk die Quadratwurzel heraus bekommen kann, so ganz ohne Taschenrechner. Die waren vielleicht fasziniert!

Aber ich weiche schon wieder einmal vom Thema ab!

Unsere Bildung war so umfassend, dass wir sogar gelernt haben wie man so schnell wie möglich eine kleinkalibrige Maschienenpistole, die kleine Schwester der Kalaschnikow AK-47, auseinander baut und wieder zusammen setzt. Kein Schüler von heute wird doch wissen,

wie man am besten eine Handgranate wirft oder wie man sich am schnellsten eine Gasmaske überzieht oder einen ABC-Schutzanzug anlegt! Das nannte sich dann vormilitärische Ausbildung in einer Art Trainingscamp irgendwo in der brandenburgischen Pampa. Es war schon faszinierend was wir da alles so gelernt haben! Bewegen und Tarnen im Gelände, Schießen mit besagter Maschinenpistole, Geländelauf unter Vollschutz, Schwimmen in Bekleidung und vieles mehr, was eben so ein 14 oder 15 jähriger Bengel alles zum Leben braucht! Mir entzieht sich bis heute die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Militärlager für Jugendliche.

Das dumme ist ja, genau den selben Mist durfte ich mir ein paar Jahre später, während meiner Lehrausbildung noch einmal antun, und ein drittes mal, als ich dann wirklich zur Armee kam! Das alles gab es schon einmal noch vor der DDR. Zuerst war es nur die Hitlerjugend, dann wurde aus ihr Hitlers letzte Reserve im schrecklichsten Krieg aller Zeiten! Was man unweigerlich in der DDR gelernt hat, war die Fähigkeit verfügbare Informationen zu hinterfragen und neu zu interpretieren. Man konnte sich das ganze rote Gelabere etwas weg denken und vom restlichen Informationsmaterial ein halbwegs reales Bild machen.

Der durchschnittliche DDR-Bürger lernte es in Zeitungen und Illustrierten zwischen den Zeilen zu lesen. Einige Journalisten und Schriftsteller wussten das und versteckten oftmals unliebsame Wahrheiten geschickt in ihren Texten. Aus der Not heraus lernte der DDR-Bürger den sozialen Umgang mit den Mitmenschen. Frei nach dem Motto: „Wenn wir enger zusammen rücken wird das Leben leichter!“ und „Hilfst Du mir helfe ich Dir!“ Was hat man damals beispielsweise nicht alles angestellt, nur um an ein paar Sack Zement oder Kalk zu kommen, um vielleicht bei sich im Garten die Laube etwas schicker zu machen. Da hat man

dann schon mal einem Bekannten beim Hausbau geholfen, nur um ihm am Ende ein paar Säcke Zement oder Kalk ab zu schwatzen. Oder man hat im Kieswerk ne Kiste Bier „vergessen“. Und, oh Wunder, am nächsten Morgen lag da ein riesiger Haufen Sand vor dem Gartentor! Der gemeine DDR-Bürger hat es sich zu eigen gemacht, sich in Geduld zu üben und sich immer hübsch an zu stellen. Es gab immer einen Grund sich an zu stellen. Ob das nun ab und an Bananen waren, grüne Orangen aus Cuba, Lizenzschallplatten im Buchladen oder Feuerwerk an Silvester. Überall konnte man sich anstellen. Dieser Volkssport

nannte sich dann „Schlangestehen“. Ein Höhepunkt der Woche war für uns Jugendliche immer der Mittwoch. Denn Mittwochs wurden die Lizenzplatten an den Buchladen geliefert! Wir hatten zwar keine Ahnung was für Platten rein kamen, aber egal! Schlangestehen lohnte sich immer! In den Ferien habe ich dann auch ein paar mal Schlange gestanden und war dann stolz wie Bolle, als ich das eine mal "Born in the USA" von Bruce Springsteen und das andere mal eine Scheibe von Van Halen ergattern konnte. Natürlich hat man sich auch schon mal ungewollt für Roland Kaiser oder Roger Whittaker angestellt! Da hat sich dann halt meine Mutter oder mein

Vater darüber gefreut. Ja und Geduld brauchte man in der DDR auch oft. Für einen Trabi brauchte man sogar 13 Jahre Geduld und 18 Jahre gar für einen Wartburg!

Auch bei DDR-Behörden musste man sich in Geduld üben. Da hat sich bis heute nicht viel geändert! Zum damaligen sozialen Umgang zählte auch, dass man den Kontakt zu Nachbarn, Kollegen und Freunden pflegte, auch wenn man gerade keine kommerziellen Interessen hegte. Die damalige Zeit von Mangelwirtschaft und politischer Ohnmacht waren eh schon hart genug. Gerade da war ein gesundes soziales Umfeld von größter Bedeutung.

Dass es dann doch einige „Freunde“ unter uns gab, die ganz andere Interessen hegten, nämlich sich unser Leben zu eigen zu machen, um es einer Obrigkeit zu unterbreiten, stimmte viele DDR-Bürger, während und nach der Wende, sehr traurig und ließ sie in ein tiefes Loch fallen. Weil ich Angst vor diesem tiefen Loch hatte, habe ich bis heute keine Einsicht in meine Stasiakte verlangt. Dass es von mir eine Stasiakte gibt, steht außer Frage, da ich meinen Grundwehrdienst bei den Grenztruppen an der innerdeutschen Grenze verrichten musste. Als Fazit zu diesem Thema kann ich sagen, unser Leben im Osten hat uns in

einer Art und Weise geprägt, die uns in unserer Lebensweise zu etwas Besonderem werden ließ. Doch leider ist dies alles größten Teils vergänglich und wächst sich langsam aus unseren Köpfen heraus. Wir leben heute in einer Zeit der großen Freiheit, der Demokratie und der freien Marktwirtschaft. Der Überfluss, der einigen mehr und viel zu vielen Menschen weniger zu gute kommt, lässt diese glorreichen Tugenden, wie das soziale Miteinander statt des sozialen Nebeneinanders, einschlafen. In unserer Gesellschaft ist jeder viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hat viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen, so dass er für ein solches

Miteinander gar keine Muße mehr hat. Jeder muss zusehen wie er sein Leben gemeistert bekommt. Die Zeiten von damals, wo es der Staat für nötig hielt, für jeden seiner Bürger verantwortlich zu sein, sind vorbei! Heute kümmert sich kein Parteisekretär oder LPG-Vorsitzender mehr darum, dass auch der herunter gekommene Dorfalkoholiker zur Arbeit kommt, ins Kollektiv integriert und von diesem getragen, mitgezogen wird.

Heute gibt es erst die Kündigung, dann Arbeitslosengeld, dann Hartz IV und dann, wenn es ganz schlecht läuft, die Straße und die Brücke! Ich möchte jetzt nicht die DDR hoch

jubeln! Dazu lief zu vieles schief und war zu viel Unrecht in diesem Land! Es gab keine Meinungsfreiheit, keine Wahlfreiheit und keine uneingeschränkte Religionsfreiheit, nicht zu vergessen die Reisefreiheit, gleichwohl ich diese damals gar nicht mal so vermisst habe. Die wirtschaftliche Misere tat ihr Übriges, dass es mit der DDR immer weiter bergab ging, was ja schlussendlich zur Wende führte.

Auf dass was aus dir wird

Wie jeder junge Mensch, stand auch ich irgendwann, es war wohl so in der 5. oder 6. Klasse, vor der unausweichlichen Frage „Was soll aus mir werden?“, „Wo soll mich mein Weg hin führen?“, „Welchen Beruf soll ich erlernen!“ Dass ich direkt nach der Schule eine Lehre beginnen würde, stand damals außer Frage. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass man nach Beendigung der Schule eine Lehrstelle bekam. Die Frage war eben nur in welchem Beruf? War mein Traumberuf auch realisierbar, oder würde ich irgendwas lernen, um überhaupt etwas

zu lernen. Wobei das bei mir auch schon wieder nicht so einfach war. Bei mir gab es zu jener Zeit noch nicht einmal einen Traumberuf! Ich konnte bestenfalls ein Spektrum eingrenzen. Mein künftiger Beruf sollte etwas mit Tieren zu tun haben und ich wollte viel in der Natur sein. Und nach einigen Ferienjobs in einer Hutfabrik und einem Walzlagerwerk in Luckenwalde stand für mich fest, eine Fabrikhalle und hunderte Kollegen um mich herum war ein absolutes No Go! Was machen? Schließlich und endlich brachte mich mein Opa auf den, für mich damals richtigen, Gedanken. Mein Opa, ein eingefleischter Bauer vom alten Schrot

und Korn, sagte mir, ich hab´s noch immer im Ohr: „Möchtest du in der DDR noch so halbwegs dein eigener Herr sein, der noch Tag für Tag seinem eigenständigen Tagwerk nachgeht und sich in seinem Beruf noch frei entfalten kann, dann musst du Schäfer werden! Als Schäfer bist du noch frei. Tag ein Tag aus kümmerst du dich um deine Herde in Eigenregie und bist so gut wie Niemandem Rechenschaft schuldig. Hauptsache deiner Herde geht es gut. Es ist zwar nicht deine Herde, aber es fühlt sich fast so an. Jung, du musst Schäfer werden!“ In Folge dessen bekam ich noch einen

vierzehn tägigen Ferienjob in einem supermodernen Mutterschafbetrieb in Heinsdorf, das liegt zwischen Luckenwalde und Dahme/Mark.

Vorab muss ich dazu sagen, dass ich damals noch immer ein Hänfling war, lang und dürr. Da half auch kein Judotraining!

Wenn es darum ging, die Schafe die im Stall blieben mit Grünfutter zu versorgen, brach ich mich an der Futtergabel fast selber durch, so schwer erschien sie mir, und so ein 75 bis 80kg schweres Schaf auf den Hintern zu setzen, um ihm die Klauen zu verschneiden, bereitete mir doch arge Probleme. Aber das Kollektiv, welches

da aus sage und schreibe zehn Kollegen(!) für einen Schafstall bestand, war doch sehr unterstützend, auch wenn der Schäfermeister immer und ständig etwas auszusetzen hatte und nie mit mir zufrieden war. Als die zwei Wochen vorüber waren, nahm er mich beiseite

„Such dir besser einen anderen Beruf! Schäfer ist nichts für dich! Schau dich doch an!“, waren seine Worte. Ich war dem Heulen nahe, konnte mich aber gerade noch zusammen reißen. Tapfer verließ ich die die MSA Heinsdorf des VEG(P) Petkus. Doch schon bald schlugen meine Traurigkeit und die Selbstzweifel in Trotz und Wut um. Du Blödmann..., dachte und fluchte ich in

mich hinein. Woher willst du denn wissen was gut für mich ist! Ich bewarb mich in der LPG(P) Jänickendorf bei Luckenwalde um eine Lehrstelle. Wie es der Umstand wollte wurden zu der Zeit händeringend Schäfer gesucht. Wollte man doch den Schafbestand in der DDR von 2,7 auf 3,1 Mio. Schafe erhöhen um endlich von den devisenträchtigen Schafwolleinfuhren aus Australien und Neuseeland weg zu kommen. Auf dem XI. Parteitag wurde verkündet: „Auf jedes Gut eine Schafherde!“ Jedenfalls wollte Jänickendorf seine vorhandene Schäferei ausbauen und brauchte künftig zwei weitere Schäfer.

So bekam ich in dieser LPG meine Lehrstelle, zusammen mit einem jungen Mädchen, ebenfalls aus Luckenwalde. Juchu Jubel trallala! Was ich aber nicht wusste war die Tatsache, dass Jänickendorf kein Ausbildungsbetrieb für Schäfer war! Drum wurden das junge Mädchen und ich kurzer Hand in den nächsten Ausbildungsbetrieb delegiert. Ihr werdet es fast ahnen wohin ich delegiert wurde. Genau! Ich wurde in den VEG(P) Petkus delegiert, um genau zu sein, zu meinem allergrößten Fan unter allen Schäfermeistern auf dieser Welt in der MSA Heinsdorf. Hey war das eine Freude! Das könnt Ihr Euch sicher

vorstellen. Nun ja! Der Tag der Anreise war da.

Das Mädchen und ich fanden uns in Begleitung unserer Eltern in der Verwaltung des VEG(P) Petkus ein, da uns der Chef persönlich begrüßen wollte. Wir wurden ins große Konferenzzimmer der Gutsverwaltung geführt und saßen uns an dem großen Konferenztisch gegenüber. Das Mädchen mit ihren Eltern saß auf der einen Seite und ich mit meiner Mutter auf der anderen Seite der großen Tafel, welche da aus mehreren Tischen zusammen geschoben war. Auf der Tafel stand noch so ein useliger Wimpel herum, wie er wahrscheinlich in jedem DDR-Betrieb

irgendwo zu finden war. Wir saßen da und beäugten abschätzend den jeweils Anderen. Was würde einem mit dem Anderen erwarten?

Sie hatte pechschwarzes bis zum Hals reichendes Haar, aber doch eine relativ blasse Haut, was aber irgendwie zu ihrem Typ, ihrem Auftreten passte. Ihr Gesicht war ein besonderes Gesicht. Sie hatte große braune Augen, eine zum Typ passende kräftige Nase und einen schönen Mund mit vollen Lippen. Ihr Gesicht strahlte eine Art Entschlossenheit und Willensstärke aus. 

Man kann es nicht beschreiben! Ihre Mutter war so der Typ Sekretärin, die nach Feierabend die fürsorgende

Hausfrau und Mutter war. Der Vater hatte eine kräftige Stimme, die zu seiner kräftigen Statur passte. Man hätte ihn am eheste als Handwerker, Holzfäller oder Metzger einstufen können. Ich glaube weiter auseinander kann das Spektrum von Möglichkeiten bei diesen drei Berufen kaum sein! Die Tür ging auf. Jetzt kam er endlich herein. Der VEG-Vorsitzende war ein etwas beleibter Mann mit grauem buschigen Haarkranz, der seine Glatze wirkungsvoll umrahmte. Er trug eine golden eingefasste Brille auf der Nase, welche ihn wichtig erscheinen ließ.

Er war ganz nett, stellte sich vor und erzählte uns ein paar Sätze über den

Betrieb. Anschließend offenbarte er uns schließlich unsere Zukunft für die nächsten zwei Jahre. Das Mädchen würde im ersten Lehrjahr in der Stammbuchherde in Walsdorf und ich in der Prüfschäferei in Heinsdorf eingesetzt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt keine Ahnung was eine Prüfherde oder Prüfschäferei ist. Das war mir aber auch relativ egal. Bis zum Schluss hatte ich gehofft, dass ich in einer anderen Schäferei unterkommen würde. Innerlich stöhnte ich auf und beneidete ein wenig das Mädchen. Aber egal! Da musste ich jetzt wohl durch! Tröstlich war nur, dass der VEG-Vorsitzende nur vom 1. Lehrjahr gesprochen hatte. Und

dann? Unsere Unterbringung erfolgte in einem Lehrlingswohnheim in Heinsdorf auf einem alten ehemaligen Gutshof. Das Lehrlingswohnheim war die ehemalige Gutsverwaltung, gegenüber des alten Gutshauses, welches als Ledigenwohnheim und Gutsküche diente. Das Lehrlingswohnheim lag direkt an der Hofeinfahrt. Wenn man morgens seinen Wecker nicht hörte, so weckten einen doch spätestens die vorbei donnernden Traktoren und Landmaschinen. Im Lehrlingswohnheim gab es neben dem Mädchen und mir noch weitere 50 Mitbewohner, die sich in zwei Lager von Agrarstudenten aus

Laos und Simbabwe unterteilten. Das mit den Lagern ist wörtlich zu nehmen. Aus irgendeinem Grund waren sich Asiaten und Afrikaner nicht grün. Häufig gab es Streit und Gerangel um Kleinigkeiten, sei es nur darum, wer wann die kleine Küche im Heim benutzen durfte um dort, seinen nationalen Sitten entsprechend, kochen zu dürfen. Ab und und an gab es auch kleinere Hauereien oder gar Messerstechereien!

Tcha, und in diesem ganzen Getümmel waren wir beide, das Mädchen und ich, als einzige deutsche Bewohner genau zwischen den Fronten. Das Mädchen war im Flügel für die Frauen

untergebracht und ich mit den Afrikanern im Männerflügel. Die Laoten waren in einem neueren Anbau noch hinter dem Frauenbereich über den Garagen der Traktoren untergebracht. Es war schon eine wilde Zeit.

Fast jeden Abend war das Mädchen bei mir oder ich bei ihr im Zimmer weil sie unter diesen Umständen nicht so gern allein blieb. Oder wir waren abends zusammen unterwegs. Der Dorfkrug war ja dummerweise gleich neben dem Gutshof. Das war natürlich ganz schlecht für unseren mageren Lehrlingslohn! Ich bin ja schon wieder ganz woanders! Der erste Arbeitstag stand an. Mein

großer Auftritt! Was würde passieren? Wie würde der Meister reagieren, wenn er mich sah? Würde er sich überhaupt noch an mich erinnern? Morgens um 7.00Uhr sollte ich auf der MSA erscheinen, alles weitere würde ich entweder vom Meister, vom Abteilungsleiter oder vom stellvertretenden Abteilungsleiter erfahren, die alle ihr Büro auf der MSA hatten. Ich kam also morgens, bepackt mit einem Bündel von Arbeitssachen, dort an, ging durch die Hygieneschleuse direkt in den Sozialtrakt, wie sich das Gebäude mit den Büros, den Umkleiden und dem Aufenthaltsraum nannte. Ich war wohl früh dran, denn nur eine ältere

Frau mit Gummistiefel und Dederon - Kittelschürze stand gerade vor einer kleinen Küchenzeile in einem Nebenzimmer des Aufenthaltsraumes und kochte Kaffee, während die anderen Kollegen noch auf sich warten ließen. Zumindest diese Frau schien mich sogleich zu erkennen und begrüßte mich auch freudig überrascht. Wie gesagt, mit den Kollegen ging das ja damals während dieses Ferienjobs so einigermaßen. Nach und nach trudelten alle neun restlichen Kollegen ein. Wir begrüßten uns recht freundlich. Blieb da nur noch der Meister. Der war auch schon eine Weile da, hatte wohl aber noch so einiges in seinem Büro zu tun.

Doch dann betrat auch er die Bühne und schaute mich einen Moment schweigend an. Ich stand auf, ging um den Tisch herum und reichte ihm die Hand. Es kam kein verwundertes „Du!?“ oder „Was machst Du denn hier?“ oder „Hatte ich dir denn nicht gesagt du sollst dir einen anderen Beruf suchen!?“ Nein! Er sagte ganz einfach nur: „Guten Morgen!“ Irgendwie war ich erleichtert. Ich deutete es bei ihm als eine Art Neuanfang nach einem missglückten Start. Das war mir auch ganz recht so. Ich versuchte ebenfalls so gut wie möglich alle Vorbehalte und Ängste ab zu legen und neu an zu fangen. Ich gab

mir auch redlich Mühe und entwickelte mich weiter, in Sachen Reife, Können und Wissen. Wie schon ein altes Sprichwort sagt: „Ein Mann wächst mit seinen Taten!“ Schon bald wurde mit der körperlich schweren Arbeit aus dem Hänfling, der ich ja einer war, ein drahtiger, wenn auch nicht mit Muskeln bepackter, Bursche, der sich schnell Wissen und Fertigkeiten aneignete und ein gar nicht so schlechter Schäfer wurde. Die Lehre war hart aber auch unvergesslich. Ich erlernte einen wunderschönen Beruf und erfuhr meine erste große Liebe, die unvergessen bleibt. Auch wenn das Mädchen ihr Herz

einem anderen schenkte, so möchte ich doch keinen Tag mit ihr missen. Haben wir uns doch als Freunde kennen gelernt und sind als Freunde auseinander gegangen. Übrigens habe ich es meinem Meister in allen Belangen bewiesen. Heute bin ich auch Schäfermeister!

Götterdämmerung

„ALARM!!!“, und das alles durchdringende, sonore und schnarrende Dröhnen der Alarmsirene auf dem Kompanieflur, ließen mich und meine neun Kameraden auf der Bude aus unserem gut antrainierten leichten Schlaf schrecken. Och ne! Nicht schon wieder!, waren meine ersten Gedanken, als ich mechanisch wie eine Maschine aus dem Doppelstockbett sprang und damit begann mich gekonnt und in Windeseile meines Schlafanzuges zu entledigen um ebenso schnell wieder in meine ein Strich kein Strich Felddienstuniform hinein zu

schlüpfen. „Die Idioten!“, rief einer im Zimmer, „Das wäre heute der dritte Alarm in dieser Woche! Die spinnen doch wohl!“ Da flog die Tür unserer Bude auf und unser Unterfeld, ein Schleifer vor dem Herrn, stand im Zimmer. „Beeilung! Beeilung! Beeilung!!!“, brüllte er, anders kannten wir ihn nicht „Das ist keine Übung! E-Fall! In X+fünf Minuten in voller Gefechtsausrüstung vor der Waffenkammer!!!“ Der Schleifer verschwand wieder. Jetzt war nichts mehr mit mechanischer stoischer Gelassenheit! Aufgeschreckt wie ein paar wilde Hühner purzelten wir durch die Bude und wollten alle

gleichzeitig an unseren Spind. Die Monate lange Übung war dahin! In wie vielen nächtlichen Alarmübungen haben wir diesen Fall geübt? Beinah jedes mal stellten wir einen neuen Zeitrekord auf, war uns doch die spärliche Freizeit einfach zu wertvoll, als dass wir sie mit dümmlichen Modenschauen verschwenden wollten! So nannten wir die Übungseinheiten bei denen wir lernten uns so schnell wie möglich umzuziehen. Doch jetzt? Schiere Panik hatte uns erfasst. Wahrscheinlich schoss uns allen der selbe Gedanke durch den Kopf.

E-Fall! Haben wir jetzt Krieg? Müssen wir jetzt 15 Minuten die Grenze halten,

bis der Russe da ist?

So hat man uns das die letzten zwei Monate eingebläut. Vielleicht hätte der Schleifer besser daran getan uns mit diesem E-Fallgequatsche vorerst in Ruhe zu lassen, dann wären wir vielleicht schneller gewesen.

Trotz aller Panik und all des Durcheinanders auf der Bude, standen wir in wirklich knapp 5 Minuten geschlossen vor der Waffenkammer. Einige zurrten zwar noch den Stahlhelm fest und richteten ein wenig die Uniformjacke unter dem Koppel etwas her. Aber wir standen geschlossen, in Reih und Glied vor der Waffenkammer.

Dort empfingen wir unsere Waffen, eine echte Kalaschnikow AK-47 mit vollem Magazin, die Magazintasche mit vier weiteren Magazinen und das Seitengewehr, ein Kampfmesser, welches auch als Bajonet oder Drahtschere benutzt werden konnte. Während wir bewaffnet wurden, brüllte uns der Schleifer zusammen, dass wir nach dem Erhalt der Bewaffnung unten auf dem Appellplatz an unserem Platz Aufstellung zu beziehen hatten. Kaum war unsere Ausrüstung komplett rannten wir auch schon die vielen Treppen des Kompaniegebäudes herunter. Das ganze Gebäude war in heller Aufregung und einige Offiziere niederen Ranges

versuchten die Flut von hunderten Soldaten auf den Treppen in einigermaßen kontrollierten Bahnen zu lenken, um Mord und Totschlag zu verhindern. Scheinbar hielten es einige Genies in der Führungsetage für nötig, alle drei Kompanien dieses Gebäudes, also rund dreihundert Mann, gleichzeitig über diesen einen beschissenen Treppenflur ausrücken zu lassen! Manchmal war aber auch der Zeitdruck bereits so hoch...? Mein Zug kam irgendwie heile auf dem Appellplatz an. Uns erwartete eine schaurige Kulisse. Es war noch finstere Nacht, arschkalt und das gesamte Grenzausbildungsregiment in Halberstadt

war von unzähligen Flutlichtern hell erleuchtet. Soweit das Auge reichte standen W50 Truppentransporter auf den Kolonnenwegen. Wie befohlen bezogen wir auf dem Appellplatz Aufstellung. Die fünfte Kompanie wartete nun was geschehen würde und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie bereits andere Kompanien samt ihrer Gefechtsausrüstung und Munitionskisten auf diese LKW verladen wurden. „Wie spät ist es eigentlich?“, fragte ich meinen Nebenmann leise. In der Eile hatte ich meine Uhr vergessen. Er schaute unauffällig an sich herunter auf sein Handgelenk. „Zehn vor halb vier!“ raunte er

zurück. „Da haben die uns ja punkt drei raus gepfiffen. Das war schon länger geplant!“ „Glaub auch!“ Das kam mir eigenartig vor. Konnte man einen Angriff so genau vorhersagen? „Vielleicht ist es ja doch kein Krieg?“ „Weiß ich nich!“, raunte der Kamerad kurz angebunden rüber. Unterhaltungen waren ja eigentlich nicht erlaubt. Schließlich fuhren auch vor unserer Kompanie drei W50-Truppentransporter, ein LO-Kleinlaster und ein UAS Geländewagen vor. Unser Kompanieführer, Major seines Zeichens, trat

vor. „Fünfte Kompanie!!!“, brüllte er über den Appellplatz. „Sie haben zwei Monate ihrer Grundausbildung absolviert! Nun müssen Sie beweisen was Sie gelernt haben! Also aufsitzen! Mit Zug eins beginnend!“ Na toll!, dachte ich mir. Nun sind wir viel schlauer, darüber was eigentlich passiert ist, als vorher! Augenblicklich begannen die Zugführer, so auch Schleifer, wieder zu brüllen und trieben uns auf die W50. Ich kam auf den zweiten LKW nahm wie ich es gelernt hatte Teil 1 und Teil 2 vom Rücken um es zwischen meinen Beinen zu verstauen. Mit dem Rücken lehnte

ich gegen die Plane des LKW. Schnell war die Ladefläche voll. „Rücken sie zusammen!!!“, brüllte Schleifer von draußen „Hier müssen noch wenigstens acht Mann rauf!!! Los nun macht schon!!!“ Wir rückten so dicht zusammen wie es nur eben ging. Doch Schleifer schien noch immer nicht zufrieden zu sein. Der LKW fuhr an, rollte ein paar Meter und legte plötzlich eine Vollbremsung hin. Wir Soldaten wurden schmerzhaft zusammen gestaucht und stöhnten laut auf. Doch die vom Schleifer gewünschten acht Soldaten passten noch rauf! Gegen 3.30Uhr dieses ausgesprochen

kalten Oktobermorgens fuhren die LKW los. Wir saßen eingepfercht wie die Ölsardinen mangt unseren Sachen. Schon bald war das innere unseres Wagens erfüllt von der ausgeatmeten Luft der Kameraden. Die Heckplane hatte man herunter gelassen. Vielleicht um das bisschen Wärme der Kameraden im Inneren des Wagens zu halten, oder aber damit uns die Zivilbevölkerung nicht zu Gesicht bekam! Wir wussten es nicht. So wie wir rein gar nichts wussten. Niemand hielt es für nötig uns aufzuklären, warum man uns in dieser Nacht, Anfang Oktober 1989 auf die ganzen LKW verlud und durchs Land fuhr. Als wir nach drei Stunden noch

immer nicht am Ziel zu sein schienen wussten wir auf jeden Fall, dass wir nicht an die Westgrenze fuhren. Wohin brachte man uns? Wir merkten auch, dass wir keine Autobahnen oder größeren Fernverkehrsstraßen benutzten. Sie schaukelten uns scheinbar über die Dörfer! Wir waren ratlos. Irgendwann ließ sich die frostige Kälte nicht mehr draußen halten und durchdrang unsere klammen Felddienstuniformen. In dem nebeligen Dunst im inneren des LKW´s konnte man bestenfalls drei Kameraden weit sehen. Am Heck war durch ein paar Ritzen in der Plane zu erkennen, dass es

draußen bereits dämmerte, als der LKW auf einmal langsamer wurde. Mein Nebenmann schaute auf die Uhr. „Gleich um acht!“ Der LKW hielt an. Wenig später wurde die Heckplane hoch geschlagen und Schleifer gab uns auf seine eigene Art zu verstehen, doch bitte abzusteigen. Er brüllte es! Gerne kamen wir diesem Befehl nach und sprangen von der Ladepritsche des LKW ins Freie. Wir befanden uns auf einem Parkplatz entlang einer breiteren Landstraße. Auch wenn uns ein eisiger Wind entgegen schlug, genossen wir die Möglichkeit uns endlich mal wieder zu recken und zu

strecken. Man möchte es kaum glauben, aber Stunden lang eingeengt zu sitzen und sich nicht bewegen zu können tut gemein weh! Ich nutzte die Gelegenheit und schaute mich um, während die anderen sich eilig eine Zigarette ansteckten. Erstaunt stellte ich fest, dass die Fahrzeuge der fünften Kompanie scheinbar die einzigen hier waren. Noch etwas machte mich stutzig. Irgendwie kam mir diese Gegend seltsam bekannt vor, diese Straße, dieser Parkplatz und auch das ganze Umland! Ich überlegte wo ich das hin stecken sollte. Bis es bei mir Klick machte. Na klar! Hier bin ich schon so

oft vorbei gefahren, wenn ich mit dem Bus von Halle nach Wettin zur Schäferschule gefahren bin! „Fünfte Kompanie!!“, rief unser Major, der aus dem Geländewagen kletterte. „Am LO können Sie sich Ihre Essensration und heißen Tee für Ihre Feldflaschen abholen!“ Militärisch geordnet stellten wir uns an. Mein Kamerad mit der Uhr stand vor mir. „Das müssen die von langer Hand geplant haben! Woher kommt der heiße Tee?“ „Weiß ich nich!“ Mir war schon klar, dass er sich warum auch immer nicht mit mir unterhalten

wollte. Aber ich hatte das dringende Bedürfnis mich mitzuteilen. Also musste er sich meine geistigen Ergüsse antun, ob er nun wollte oder nicht! „Außerdem fahren wir gerade streng nach Osten! Wir sind hier in der Nähe von Könnern bei Halle! Ich kenne diese Gegend!“ „Mhmm!“ „Ja Danke auch!“ Nun war auch für mich zunächst das Gespräch beendet. Wir bekamen jeder eine Büchse Brot, eine Büchse Rotwurst und heißen Tee in unsere Feldflasche. Man gab uns sogenanntes Komplektefutter. Das waren Lebensmittel aus der militärischen Notreserve. Ab und an

wurden die Bestände aufgefrischt. Dann gab es einmal im Monat nur Dosenfutter, den ganzen Tag! Man durfte ja nichts weg werfen! Wir kletterten wieder auf die LKW und setzten uns gleich so, damit alle rein passten. Aus Teil 1 holte ich mein Feldbesteck und öffnete die Dosen. Während ich dieses widerliche Vollkornbrot aus der Dose, welches wir auch Elefantenscheiße nannten, und diese fade Rotwurst hinterkaute und dabei ein paar Schlucke vom typischen Hängolintee trank, hingen meine Gedanken bei der Tatsache, dass wir hier in unmittelbarer Nähe von Könnern waren, in der Nähe von Wettin mit

seiner Schäferschule! Und schon war ich wieder bei dem Mädchen, meiner ersten schmerzvollen Liebe. Schlagartig war alles wieder da! Wir waren zwar noch immer Freunde, wir waren ja leider auch nie mehr, doch zu tief saß der Schmerz, dass sie ihre Liebe, die ich so gerne für mich gehabt hätte, jemand anderem geschenkt hatte. Es war nun etwas mehr als zwei Monate her seitdem wir uns das letzte mal gesehen haben. Wir hatten gerade unsere Lehre abgeschlossen und noch ein paar Tage in Jänickendorf gearbeitet, als ich mich auch schon in Potsdam beim Grenzkommando melden musste. Wir schrieben uns auch fleißig Briefe, doch es waren halt nur Briefe

unter Freunden und an einen Besuch bei mir war auch nicht zu denken, geschweige denn, dass ich sie mal hätte besuchen können. Hallo? Wir und Ausgang oder Heimaturlaub? Plötzlich waren die Wunden, die gerade hauchdünn mit einer zarten Schicht des Vergessens bedeckt waren, wieder offen und brannten in meiner Seele. Mussten wir auch gerade auf diesem blöden Parkplatz anhalten? Voll Schmerz fluchte ich in mich hinein. Nach und nach bekam ich meine Emotionen wieder in den Griff und konnte meine Gedanken wieder auf die aufregenden Geschehnisse der letzten Nacht lenken. Was zum Teufel ist nur

passiert? Von jetzt auf gleich werden die Streitkräfte mobilisiert! Warum nur haben wir nichts im Vorfeld erfahren? Es war doch immer alles ruhig gewesen! Auch in der allabendlichen aktuellen Kamera, die wir uns anschauen mussten war nichts dramatisches aus unserem Land zu hören gewesen. Auch im Neuen Deutschland oder der Volksarmee (die Soldatenzeitung) war nichts zu lesen. Warum fuhren wir jetzt nach Osten? Haben sich manchmal im unruhigen Polen die Zustände so dramatisch verschärft, dass wir jetzt sogar die Ostgrenze vor den Polen sichern müssen? Oder gab es in der ČSSR einen Militärputsch oder so was? Sollte gar in

der DDR, warum auch immer, plötzlich ein Bürgerkrieg entflammt sein, und mussten wir unter Umständen auf unsere eigenen Leute schießen? Solche und andere Spekulationen kursierten auf dem LKW. Erst jetzt merkten wir, dass wir in den letzten zwei Monaten der Grundausbildung von der Außenwelt abgeschottet waren und scheinbar nur das erfuhren, was wir auch erfahren durften. Dieses unheimliche Nichtwissen machte uns Soldaten sichtlich nervös. Sollten wir wirklich unwissend in irgendeinen Kampf ziehen, ohne unseren Gegner zu kennen? Nach insgesamt elf Stunden zuckelnder LKW-fahrt, um etwa 14.30Uhr,

erreichten wir durch gefroren und mit fast gelähmten Knochen unser Ziel. Wir befanden uns in der Offiziershochschule „Ernst Thälmann“ in Zittau im tiefsten Sachsen, ganz in der Nähe des Dreiländerecks Polen, ČSSR und DDR. Was hatten wir hier zu suchen? Allenthalben sah ich in fragende Gesichter unter meinen Kameraden. Wir schauten uns um. Der Anblick war erschreckend. Überall auf den Objektstraßen und Wegen standen Panzerfahrzeuge, Große Tatra LKW mit Raketenwerfern und andere LKW mit Kanonen und anderen Geschützen zur Abfahrt bereit. Uns wurde Angst und

Bange. Später erfuhren wir von den Offiziersanwärtern, sollte es zu offenen Kampfhandlungen kommen, wäre die Offiziershochschule „Ernst Thälmann“ dafür bestimmt gewesen auf Dresden los zu marschieren. Heute kann ich sagen, dass zu jener Zeit damals unser Land wirklich nur einen winzigen Schritt vor einem brutalen Bürgerkrieg stand. Zum Glück wurde Erich Honecker noch rechtzeitig entmachtet. Unsere Zugführer ließen uns wort- und stimmgewaltig antreten. Der Major trat vor. „Genossen! Auf Grund von schweren politischen Unruhen und wiederholter

Grenzverletzungen durch kriminelle Elemente, entlang der Oder/Neiße Friedensgrenze und der Grenze zur ČSSR, haben wir vom obersten Befehlshaber der Grenztruppen der DDR Genosse Generaloberst Baumgarten den Befehl erhalten, die Friedensgrenze entlang der Neiße zu sichern. Der Befehl tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Folgende Genossen werden zu Postenführern ernannt.“ Der Major rief nun einige Namen auf, darunter auch meinen. Ich erhielt von meinem Zugführer ein paar grüne Streifen für meine Schulterstücken und war von da an Postenführer. Warum nun gerade ich? Keine

Ahnung! Die kurze Ansprache war vorüber und wir wurden in einem großen Block unseren Quartieren zugeteilt. Die Offiziersanwärter waren extra wegen uns zusammen gerückt und hatten uns eine komplette Etage des großen Blockes frei geräumt. Ich konnte noch gerade eben mein Quartier beziehen, und wollte mich eigentlich ein paar Minuten aufs Ohr hauen, weil ich total geschafft war, als ich auch schon wieder zum Kompanieführer befohlen wurde. Es kam wie es kommen musste, ich wurde nach dieser ermüdenden LKW-fahrt zur ersten achtstündigen Grenzschicht

eingeteilt. Ich bekam einen Posten zugeteilt. Anschließend wurden wir vergattert, das heißt wir bekamen unsere präzisen Dienstbefehle. Unsere Aufgaben sollten sein, Passanten entlang der Neiße zu kontrollieren und Grenzverletzer zu stellen, sollten uns denn welche in die Arme laufen. Beim Entzug der Kontrolle oder Festnahme durch Flucht hatte ein dreimaliger Warnruf mit exakt folgendem Wortlaut zu erfolgen „Grenztruppen der DDR! Halt stehen bleiben oder es wird geschossen!“ Sollte der Flüchtige sich noch immer einer Kontrolle oder Festnahme entziehen hatte ein Warnschuss in den

Himmel in Verbindung mit dem Standardspruch zu erfolgen. Sollte der Flüchtige, wahnsinniger weise, noch immer nicht stehen bleiben wollen, hatte man ausdrücklich auf die Beine zu schießen. Das war unser Dienstbefehl, verbunden mit der Dienstvorschrift, die man mit viel Fantasie auch als den sogenannten Schießbefehl bezeichnen könnte. Uns wurde natürlich nie befohlen die Menschen zu erschießen! Wir wurden unter leichter Bewaffnung, also nur Kalaschnikow, volle Munitionierung und Seitengewehr mit einem LO in meinen neuen Grenzabschnitt gefahren.

Ich war doch so todmüde!!

Mein neuer Grenzabschnitt verlief von Grenzpfahl 1 bis Grenzpfahl 3, also genau vom Dreiländereck bis etwa in Höhe des alten Klosters Mariental. Das bedeutete der Grenzabschnitt den wir zwei Hansels zu überwachen hatten war knapp zwei Kilometer lang. Man kann sagen, unsere Grenzsicherung war löchrig wie ein Schweizer Käse, bestenfalls! Und die Neiße war dort bequem zu durchlaufen. Das hieß, legten es die Leute darauf an, brauchten sie sich nur geschickt hinter irgend einem Busch verstecken und warten, bis wir vorbei gelaufen und außer Sichtweite waren. Dann hatten sie genug Zeit, um

nach Polen zu kommen. Schlimmstenfalls wurden sie von polnischen Grenzorganen aufgegriffen, mit denen die DDR-Grenztruppen ein Auslieferungsabkommen hatten. Unsere erste Schicht verlief ruhig und ohne besondere Vorkommnisse. Nur eine ältere Dame haben wir kontrolliert, die auch ohne zu schimpfen ihren Personalausweis zeigte. Um Mitternacht war die Schicht endlich vorüber und ich freute mich auf mein Bett. Doch daraus wurde nichts! Kaum in Zittau angekommen, erfuhr ich, dass sich der Schicht eine achtstündige Bereitschaft anschloss. In dieser Zeit hatten wir uns mit Kaffee voll zu pumpen und auf

einen anderweitigen Befehl zu warten, welcher denn auch prompt so gegen 3.00Uhr in der Frühe kam. Wir, das waren ich und zwei weitere Kameraden erhielten den Befehl von der Grenzübergangsstelle in Görlitz eine Gruppe von Personen von den polnischen Grenzorganen zu übernehmen und der Kreisstelle der Staatssicherheit zu zu führen. Wir erhielten den ausdrücklichen Befehl keine Gespräche mit den Gefangenen zu führen. Och! Na das sollte doch kein Problem sein!, dachten wir uns. Wir erwarteten ein paar finstere kriminelle Gestalten zu übernehmen und sie zur Stasi zu

bringen. Doch sollte sich das schon bald als fataler Irrtum erweisen. Wir kamen mit unserem W50 bei der Gü.-st. an und fuhren vor das Gebäude direkt an der Brücke. Als auch schon die „kriminellen Gestalten“ heraus geführt wurden. Im ersten Moment war ich geschockt und wusste nicht was ich machen sollte. Da standen keine Verbrecher vor mir! Das müssen mehrere Familien gewesen sein! Da standen vor mir völlig verängstigt, vier Männer, vier Frauen und vier kleine Kinder!!! Darauf hatte man uns in der harten Grundausbildung nicht vorbereitet. Mein Gott! Frauen und Kinder! Ich war wie gelähmt und fühlte

mich außer Stande, wie es vorgeschrieben war, die Maschinenpistole in Anschlag zu bringen. Wortlos und geschockt ließen wir unsere Waffen auf dem Rücken und öffneten die Heckklappe des LKW. „Steigen Sie bitte auf!“ sagte ich in einem ruhigen Ton. Wir halfen den Kindern und den Frauen auf die Ladefläche zu kommen. Nun saßen wir alle auf der Pritsche des W50 zwei von uns sicherten die Heckklappe und der Kamerad mit der Uhr saß am Fahrerhäuschen, wo sich ein Alarmknopf befand. Die Szenerie war schrecklich und wird mir wohl mein Leben lang in Erinnerung bleiben. Die Menschen

waren völlig verängstigt, die Frauen heulten und die kleinen Kinder schrien panisch, da sie mit dieser Situation hoffnungslos überfordert waren. Die Mütter versuchten leise mit weinerlicher Stimme ihre Kinder zu beruhigen. Sie hatten wohl eine Höllenangst vor uns mit den Maschinenpistolen. Ich war den Tränen nahe.

Irgendwann fragte einer der Männer ängstlich, er hatte dunkelblondes Haar, einen Schnauzer und trug eine hellblaue Stonewash Jeansjacke mit weißem Schafwollimitat „Was passiert denn nun mit uns! Wo kommen wir nun hin?“ Aus der Ausbildung wusste ich wie mit

gefassten Grenzverletzern in der Regel verfahren wurde. Da mir diese armen Leute leid taten, und ich spüren konnte, wie sie diese Ungewissheit schier um den Verstand brachte, verstieß ich gegen den Befehl und antwortete. „Sie werden jetzt zur Staatssicherheit gebracht, kommen für einige Zeit in Haft und werden dann in den Westen abgeschoben!“ Was mit den Kindern passieren würde vermochte selbst ich damals nicht zu beantworten. Würden Sie auch ins Gefängnis kommen oder in ein Heim? Würden sie auch später abgeschoben oder nicht? Ich konnte es nicht wissen. Wie gesagt, niemand hatte uns auf ein solches Drama

vorbereitet. Eine Art von vorsichtiger Erleichterung machte sich unter den Erwachsenen breit, was auch die Kinder ein wenig zur Ruhe kommen ließ. Wie befohlen, lieferten wir die Leute bei der Stasi ab. Als die Schicht zu Ende war begab ich mich auf meine Bude und wollte endlich nach beinahe dreißig Stunden nur noch ins Bett fallen, als ich zum Major befohlen wurde. In seinem Büro wurde ich dann so richtig zusammen gefaltet, warum ich gegen den Dienstbefehl verstoßen und mit den Gefangenen gesprochen hätte. So schnell wie ich diese grünen Postenführerstreifen bekommen habe

war ich sie auch wieder los. Stattdessen bekam mein Kamerad mit der Uhr die Balken.

Irgendeiner meiner Kameraden muss mich beim Major verpfiffen haben, doch kann ich nichts beweisen. Wir blieben nicht ganz zwei Wochen an der Ostgrenze und bekamen zwischendurch noch einen Crashkurs im Umgang mit der Pistole, da sich die Bürger von Görlitz darüber beschwert hatten, dass Soldaten mit Stahlhelmen und Kalaschnikow durch die Straßen von Görlitz patrouillierten. Außerdem wurde wohl in den westlichen Medien skandiert, die NVA ginge gegen das eigene Volk vor. Fortan patrouillierten

wir mit der Pistole Makarov und unserer Schirmmütze von der Ausgangsuniform die Neiße entlang. So sollte man uns eindeutig als Grenzschützer und nicht als NVA-Soldaten identifizieren. Lach! Wie schon gesagt, wurde nach nicht ganz zwei Wochen die Abriegelung der Ostgrenze wieder aufgehoben und wir fuhren zurück nach Halberstadt. Fast alle Kameraden außer ich wurden zu Gefreiten befördert und waren stolz wie Oskar. Doch sollten ihnen schon bald ihre Gefreitenbalken auf den Schulterstücken in den Grenzkompanien zum Verhängnis werden.

Der böse Zauber hatte Ende und wir wurden vom Ausbildungsregiment in

unsere eigentlichen Grenzkompanien entlang der innerdeutschen Grenze versetzt...

Das Unvorstellbare

Es war wohl der undankbarste Job, im November an diesem blöden Kontrollpunkt mit diesem rot-weißen Schlagbaum, an der alten Allee nach Dömitz, sich im ungeheizten Betonverschlag den Hintern ab zu frieren. Vor uns breitet sich die große Wiese aus, die in einem Alarmfall von einer sogenannten Leuchttrasse taghell ausgeleuchtet werden konnte. Hinter uns war eine alte Schäferei. Links von uns, hinter der Brücke über die Löcknitz, lag das kleine verschlafene Städtchen Lenzen. Und rechts, etwa zweihundert

Meter die Straße runter, stand auch schon der erste der beiden Grenzzäune, hinter denen auch gleich die breite Elbe verlief. Durch die kahlen Baumkronen der Alleenbäume war entfernt im Westen das rote Blinken der Höhlbecks, zwei riesige Funkmasten im westlichen Grenzgebiet, zu sehen. Es war ein trostloser Abend dieser 09. November 1989. Es war nasskalt und der Regen fiel kontinuierlich stark in großen Tropfen. Der nasse Schlagbaum glänzte unter dem fahlen Licht der einen Strassenlaterne, die den Kontrollpunkt mager ausleuchtete. Die großen Regentropfen, die am Schlagbaum hingen, reflektierten das Licht.

Da es regnete, hatten mein Postenführer und ich uns das Regencape übergeworfen und liefen vor dem Schlagbaum auf und ab. Blieb man in Bewegung fror man nicht ganz so schnell durch. Jetzt, da es kurz nach 18.00Uhr war und in Lenzen die letzten Geschäfte geschlossen hatten kehrte auch in diesem, doch eigentlich hübschen, Städtchen langsam Ruhe ein. Wie immer! Der Grenzabschnitt Lenzen Lütkenwisch war ruhig, keiner der Lenzener interessierte sich sonderlich für uns zwei Grenzsoldaten und andere Menschen kamen hier auch nie vorbei, außer vielleicht ab und zu die

Angestellten der Schäferei, die eine Sondererlaubnis hatten sich im absoluten Sperrgebiet zu bewegen. Ansonsten ließ sich bestenfalls mal der Kompaniechef kurz blicken. Gern tat ich hier keinen Dienst. Zu oft hingen hier, mit der Kulisse der alten Schäferei, meine Gedanken bei ihr, dem Mädchen. Zumal hier eine junge Schäferin herum lief, die, wenn auch blond, in ihrer Bewegung und Erscheinung, zu sehr an sie erinnerte. Ich fand das ziemlich belastend. Es musste wohl bald 19.00Uhr sein, noch drei Stunden bis die Ablösung kam, dann aber nichts wie rauf auf unsere Dienstfahrräder und ab nach

Gandow, wo sich unsere Grenzkompanie befand. Schnell die Kaschi abgeben, ein wenig Nachbereitung und dann ab ins Bett. Wir würden drei Kreuze machen wenn die Schicht bei diesem Schiedwedder vorrüber wäre. Aber bis dahin hieß es noch Zähne zusammen beißen und hoffen dass wenigstens der Regen aufhörte. Etwa in Richtung Mödlich war wildes Hundegebell zu hören. Das mussten die Hunde aus der sogenannten Hundetrasse sein. Dort hinten gab es einen Grenzabschnitt der zusätzlich durch eine Hundetrasse von etwa drei Metern breite und einigen hundert Metern Länge gesichert war. In dieser Hundetrasse

liefen permanent, tagein tagaus, das ganze Jahr hindurch, große Hunde, scharfe Hunde, wirklich sehr scharfe Hunde. In diese Trassen steckte man die schlimmsten der schlimmen Hunde rein. Das waren alles Hunde, die verhaltensauffällig geworden sind und an die sich kein Mensch mehr ran traute, der nicht gerade lebensmüde war. Da war zum Beispiel ein Kaukasischer Hirtenhund dabei, ein wunderschönes Tier, aber ein Biest. Er war schon einige Jahre in seinem Gatter von drei mal fünfzig Metern. Irgendwann hat er mal seinem Herrn, ein Metzger, die Kehle durchgebissen. Seitdem war er hier, hatte jeden Bezug

zum Menschen verloren und erachtete auch jeden Menschen als potenziellen Feind. Bedauernswerte Kreaturen waren das, denen man nur einen frühen Tod wünschen konnte. Besser als wie in diesen Gattern vor sich hin zu vegetieren, einmal am Tag mit irgendwelchem Fraß über eine Art Schleusenklappe gefüttert zu werden und noch verrückter zu werden, als sie so schon waren. Mein Postenführer gab per Funk dem Kommandeur Grenzsicherung(KGsi) auf seinem Kontrollturm darüber Bescheid. Das war es für uns. Entweder war schon ein Posten vor Ort oder der KGsi schickte den verantwortlichen Posten

per Funk hin. So plätscherte unsere Schicht im wahrsten Sinne des Wortes vor sich hin. Einzig erfreulich war, dass der Regen nachließ. Es mochte etwa 19.30Uhr oder 19.45Uhr gewesen sein. Als plötzlich etwas völlig unerwartetes und Spektakuläres passierte. Da kam ein Mopedfahrer auf einer grünen Simson S50 daher und hielt direkt vor unserem Schlagbaum an. „Hey!“, rief er durch seinen roten Integralhelm „Lasst mich mal durch! Ich will mal eben rüber in den Westen!“ Spontan mussten wir beide prustend los lachen. Der Typ konnte einfach nur besoffen

sein!! „Kehren Sie wieder um Bürger! Dann wollen wir diesen groben Unfug vergessen!“, wollte mein Postenführer den Mopedfahrer abwimmeln. „Ja Hallo! Die Grenze ist auf! Das haben die eben in Berlin gesagt! Wäre ich sonst hier?!“, rief der Mopedfahrer, der übrigens gar nicht lallte wie ein Betrunkener. Der Postenführer wollte gerade ungehalten werden und den Mopedfahrer in Gewahrsam nehmen, als plötzlich, aus Lenzen kommend, gleich zwei Trabis und ein Wartburg die Straße herunter gerollt kamen und ebenfalls vor unserem Schlagbaum anhielten. Gleich mehrere

Personen stiegen aus den Fahrzeugen und verlangten lauthals und freudestrahlend Durchlass. Uns wurde die Sache langsam unheimlich und wir zogen unsere Waffen von den Schultern. Weitere Fahrzeuge kamen aus Lenzen, ja sogar Fahrradfahrer waren darunter. „Hey nun lasst uns schon durch!“, riefen die einen „Da unten gab es früher mal eine Fähre!“ „Wir wollen nach Dömitz!“, rief ein Anderer aus einem Lada heraus. „Da gibt es ne Brücke über die Elbe!“ Es wurden immer mehr Fahrzeuge und Menschen. Innerhalb von Minuten hatte sich die Straße bis nach Lenzen hinein

mit Fahrzeugen und Menschen gefüllt. Die Leute kamen auf uns zu. Für uns wurde die Situation immer bedrohlicher. Was sollte das? Was war geschehen? Wo kamen auf einmal diese ganzen Leute her? „Wartet!!“, rief mein Postenführer und richtete den Lauf der Waffe auf die Menschen, die auch sofort stehen blieben. Er drückte den Knopf seines Funkgerätes und funkte zum KGsi. „Genosse Oberleutnant! Hier stehen hunderte Personen und Fahrzeuge und wollen das Grenzgebiet passieren. Was sollen wir machen? Es werden immer

mehr!“ Ein Moment herrschte ratlose Stille. Auch die Leute um uns herum lauschten. „Genosse!“ „Ja Genosse Oberleutnant!“ „Unter allen Umständen die Personen aufhalten und auf Weisung warten! Ich kontaktiere den Bezirk! KGsi ende!“ Es knackte kurz in der Leitung. „Also Bürger! Sie haben es gehört!“, rief mein Postenführer während wir verzweifelt versuchten die Leute zurück zu halten. „Wir dürfen hier niemanden durchlassen!“ Wütende Proteste erschallten und Buhrufe waren zu hören. „Sie haben´s doch im Fernsehen gebracht!!“, riefen

die einen. „Soll doch Euer Chef mal den Fernseher oder das Radio einschalten!“, riefen Andere. Natürlich war das im Grenzdienst streng verboten! Von hinten drängten immer mehr Leute auf uns zu. Die alte Landstraße, wo sonst bestenfalls mal ein Traktorfahrer mit Sondergenehmigung entlang fuhr, schien inzwischen schon aus allen Nähten zu platzen. Bis auf den Grünstreifen, links und rechts der Straße standen bereits die Leute dicht an dicht. Bedrohlich nah kamen sie unserem Kontrollhäuschen. Sie schimpften und skandierten „Öffnet das Tor! Öffnet das

Tor!“ Aber die vorderen Leute warteten diszipliniert. Jedoch wurde der Druck durch die Massen von hinten immer größer. Lange konnten wir diesen Ansturm nicht mehr aufhalten. Der Postenführer funkte erneut den KGsi an. „Genosse Oberleutnant! Ich benötige eine Entscheidung! Jetzt! Die Situation droht zu eskalieren!“ „Der Bezirk weiß auch von nichts! Ich habe eben den Kompaniechef bei sich zu Hause angerufen. Ich erwarte jeden Augenblick seinen Rück... Warten Sie!“ Es herrschte wieder Schweigen aber die Verbindung

stand. „Genosse!“ „Ja Genosse Oberleutnant!“ „Unter Vorlage eines gültigen Personalausweises die Personen passieren lassen!“ „Habe ich das richtig verstanden? Wir sollen die Leute durchlassen??“ „Unter Vorlage eines gültigen Personalausweises die Personen passieren lassen!“ „Zu Befehl!“ Mein Postenführer schaute mich an. „Du hast den KGsi gehört!“ „Verstehst Du das? Warum wissen noch nicht einmal die Offiziere Bescheid?“ „Keine Ahnung! Ist jetzt aber auch egal! Wir lassen jetzt die Leute durch! Du die

Fahrzeugführer ich die weiteren Insassen und sonstige Passanten.“ Völlig perplex machten wir uns daran die ersten Personen zu kontrollieren und sie wirklich, es war kein Traum, ins Grenzgebiet durch zu lassen. Als die Leute merkten, dass es tatsächlich los ging, setzte vor lauter Freude ein Hupkonzert ein. die ersten zwanzig oder dreißig Personen bewältigten wir noch mit Mühe Not. Dann merkten wir jedoch, dass einige Leute unkontrolliert an uns vorbeihuschten. Wir waren ja nur zu zweit! Verstärkung war auch nicht so einfach zu bekommen. Inzwischen dürfte ganz Lenzen verstopft gewesen sein. Und da hätte die Verstärkung aus

Gandow erst mal durch gemusst. Irgendwann resignierten wir und ließen diese Blech-, Plastik- und Menschenmassen einfach durch. Das war zu zweit einfach nicht zu schaffen! Während die Massen an uns vorbei strömten, und auch einige freudig winkten, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich die längste Zeit Grenzer gewesen bin. Warum auch immer, hatte man die Grenze geöffnet und die Grenztruppen der DDR hatten von Jetzt auf Gleich ihre Daseinsberechtigung verloren. Erst einige Tage später, wurde mir bewusst wie gefährlich diese Situation damals war. Da strömten Massen von Menschen auf, bis an die

Zähne bewaffnete Militäreinheiten zu, die von ihrem Glück nicht die Spur einer Ahnung hatten! Nicht zuletzt war da die Gefahr der Grenzanlagen selber! Man stelle sich mal vor, die euphorischen Leute wären in ihrem Eifer über einen der Zäune geklettert und vielleicht im Hundegatter gelandet? Oder auch nur ein Grenzsoldat an der gesamten Westgrenze hätte die Nerven verloren! Es hätte bei den Menschenmassen ein Blutbad und eine Massenpanik gegeben! So schön wie die Mauer- und Grenzöffnung auch war, so hätte diese Panne auf dieser Pressekonferenz nicht passieren dürfen! Eigentlich hätte die Grenze erst am nächsten Tag in der

Nacht, wenn alle schlafen, still und heimlich geöffnet werden sollen. Dann wäre auch alles vorbereitet gewesen und die Menschen wären nie einer solchen Gefahr ausgesetzt gewesen. Wir haben wieder einmal einfach nur riesiges Glück gehabt!

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Hörbuch

Über den Autor

PorterThomson
Ich schreibe hauptsächlich um zu unterhalten. Dabei möchte ich Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts und egal welcher Herkunft unterhalten. Meine Ambitionen liegen bei den spannenden und aufregenden Romanen. Jedoch experimentiere ich hin und wieder auch mal an anderen Genres herum. Mehr über mich: www.porterthomson.de.tl sowie bei Facebook: "Porter Thomson, Autor aus Cuxhaven" und bei Google+ unter der web-Adresse: https://plus.google.com/+PorterThomsonAutorausCuxhaven/posts

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petjula007 
Noch einmal gern gelesen. Ist mir noch bekannt aus unserem Gemeinschaftswerk mit Liebetraumfee. Ja, sie kommen immer wieder zurück, die Gedanken, wie es war damals. So kann man es ja schon fast sagen. Ein Viertel Jahrhundert trennt uns schon von der DDR. Gute und weniger gute Erlebnisse haben uns geprägt. Aber die Gedanken gehen doch immer mal wieder spazieren.
Vor langer Zeit - Antworten
PorterThomson Diese Gedanken lassen einen, so glaube ich, nie mehr los. Gerade wenn diese Erlebnisse zum Teil so einschneidend waren, sich quasi ins Gehirn gefressen haben. Es müssen nicht nur dramatische Erlebnisse wie am Ende der Geschichte gewesen sein. Auch so Sachen wie die schönsten Kindheitserinnerungen oder die erste Liebe. Ich danke Dir für den netten Kommi und die Coins. Mal sehen vielleicht füge ich mal irgendwann noch ein paar weitere Geschichten ein.
LG Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
Colorsigns und Glück gehabt dich lesen zu können
danke Christin
Vor langer Zeit - Antworten
PorterThomson Es freut mich, dass es Dir gefallen hat. Danke für Deinen Kommi und die Coins. Auch freue ich mich, dass meine kleine Geschichte Einlass in deine Ruhmeshalle bekommen hat.
LG Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
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