Kurzgeschichte
Oma ist verschwunden

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"Oma ist verschwunden"
Veröffentlicht am 27. Januar 2014, 24 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich schreibe schon seit meiner Kindheit sehr gerne. Eine von mir verfasste Kurzgeschichte hat mir einen Preis eingebracht, was mich zusätzlich motiviert hat. Mein Roman - ein Krimi - wird in 2014 fertig gestellt sein. Endlich, denn es hat, aus verschiedenen Gründen, große Verzögerungen gegeben. Das Thema deckt eine interessante Nische ab, mal sehen, was dabei heraus kommt.
Oma ist verschwunden

Oma ist verschwunden

(c) Oma ist verschwunden


Mitten in einer Oase der Ruhe wohnen fünf Menschen, die ihr Leben lang stets füreinander da waren und für die der familiäre Zusammenhalt oberste Priorität hat. In der zweistöckigen Villa mit seinen elf Zimmern und einem Garten, der so groß ist wie der Rote Platz in Moskau, und der sich ganzjährig in voller Blütenpracht präsentiert, hat jeder Bewohner sein eigenes persönliches Reich. Der an das Grundstück angrenzende Wald macht die Idylle für diese fünf Menschen nahezu perfekt.

Mitten in der Natur zu leben und trotzdem nur wenige Autominuten von der Zivilisation entfernt zu sein, war das, was sich die drei Generationen immer gewünscht und seit einigen Wochen auch realisiert haben. Vater Mike, Mutter Mona, Tochter Mandy und Sohn Malte waren überein gekommen, sich gemeinsam um die Mutter, Schwiegermutter und Großmutter zu kümmern, die von allen nur Oma gerufen wurde. Die war immerhin schon 86 Jahre alt, zwar noch rüstig und unternehmungslustig, aber seit einiger Zeit schien sie etwas vergesslich zu werden. In dieser neuen Umgebung musste sie sich erst zurecht

finden. Das könnte allerdings eine Weile dauern, befürchtete der Rest der Familie, zumal Omas Augen nicht mehr die besten waren und sie mit nur 15 Prozent Sehfähigkeit auskommen musste. Im schön gestalteten Garten kannte Oma sich schon recht gut aus. Sie machte täglich einen Erkundungsgang über das große Grundstück, und erfreute sich an jeder einzelnen Knospe und den wohlriechenden Blüten am Rosenstock. Aber obwohl es in der Gartenwelt fast täglich neues zu entdecken gab, wurde es Oma allmählich zu eintönig. Sie wollte auch den Wald erkunden, denn sie wusste, dass es viele freilebende Tiere gab, die sie vielleicht beobachten konnte.

Ob sie die Hasen oder Eichhörnchen entdecken würde, wusste sie nicht, denn die waren ziemlich klein und ihr Sehvermögen reichte vielleicht nicht aus. Aber die Rehe und Hirsche konnte sie bestimmt erkennen – da war sie sich sicher. Eines Tages, nach dem Mittagessen, war sie fest entschlossen einen Waldspaziergang zu machen. Sie wollte nur so weit hinein, dass sie das Haus nicht aus den Augen verliert. So würde sie sich nicht verlaufen und konnte sich, mit etwas Glück, ein paar Wald-bewohner ansehen. Zuvor aber wollte sie in den Garten, um ihren täglichen Rundgang und den Duft der

Blumen zu genießen. Damit ihr Sohn, die Schwiegertochter und die Enkelkinder über ihren Aufenthaltsort informiert sind, ging sie in die Küche und nahm sich einen Zettel. - Darauf schrieb sie : „Bin im Wald spazieren. Bis später, Oma.“ Sie legte das Blatt Papier gut sichtbar auf den Küchentisch und machte sich auf den Weg in den Garten. Die Eheleute Mike und Mona kamen am frühen Nachmittag fast gleichzeitig zu Hause an. Beide hatten einen arbeits-reichen Tag hinter sich und waren froh, endlich in den eigenen vier Wänden den

Feierabend genießen zu können. Glücklicherweise hatten sie es noch vor dem großen Regen geschafft, der völlig unerwartet eingesetzt hatte. Der blaue Himmel und die weißen Kumuluswolken hatten sich innerhalb von Sekunden in eine von starkem Wind getriebene, tiefschwarze Decke aus dreckigen zerrissenen Wolkenfetzen verwandelt, der Starkregen und Blitz und Donner mit sich brachte. „Jetzt erst mal einen Kaffee,“ sagte Mike zu seiner Frau, nachdem er sein Sakko über die Stuhllehne geworfen hatte, ging in die Küche und stellte die Maschine an. Während das Wasser durch den Filter lief, kam Mona herein und setzte sich an

den Küchentisch. Sofort sah sie den Zettel den Oma zurückgelassen hatte. Sie nahm ihn an sich und las ihn laut vor, so dass Mike zeitgleich informiert wurde. „Ach du Schreck, Oma ist im Wald spazieren ! Bei dem Unwetter ! Länger als eine halbe Stunde ist sie normalerweise nie unterwegs, zumindest, wenn sie in den Garten geht. Sie müsste also bald zurück sein. Außer, wenn sie den Regen in die Augen bekommt und ihre Sehfähigkeit dadurch noch stärker eingeschränkt wird. Dann wird sie sich wahrscheinlich verlaufen. Und wenn sie Schutz vor dem Gewitter sucht und sich unter einen Baum stellt, könnte sie der Blitz treffen. Hoffentlich ist das nicht

schon passiert. Wir müssen sie sofort suchen, hörst du Mike, sofort“, endete Mona ziemlich aufgeregt. „Nun warte doch mal ab. Du hast doch selbst gesagt, dass sie gleich zurück sein könnte. Nur nicht gleich in Panik ausbrechen“, entgegnete Mike. Wie aufs Stichwort öffnete sich die Haustür. Mona und Mike drehten erwartungsvoll den Kopf und hofften, dass es Oma war die nach Hause kam. Doch es war Mandy, die, völlig durchnässt, in die Diele trat und vor sich hin schimpfte. „So ein Mistwetter, und ich habe nicht mal einen Regenschirm dabei“, sagte sie ärgerlich.

„Mandy, Oma ist verschwunden“, wurde sie von ihrer Mutter sofort in Szene gesetzt. Mandy erschrak und wollte gerade etwas sagen, als sich erneut die Haustür öffnete. Alle drei Augenpaare sahen in diese Richtung und rechneten mit dem Erscheinen von Oma, aber es war nur Malte, der als letztes Familienmitglied nach Hause kam. Nach dem auch Malte über das Verschwinden von Oma informiert war, ergriff Mutter Mona die Initiative. „Wir müssen sie suchen. Am besten teilen wir uns auf. Mike, du suchst den westlichen Teil des Waldes nach ihr ab. Malte, du

den östlichen Bereich. Mandy und ich gehen auf der Landstraße jede in eine Richtung. Nehmt eure Handys mit, damit wir immer in Verbindung bleiben können. Und während der Suche immer wieder laut nach Oma rufen. Vielleicht hört sie einen von uns und macht sich bemerkbar“, endete sie. Die anderen waren mit dem Plan einverstanden und nickten einmütig. Geschlossen gingen sie zur Garderobe um sich regenundurchlässige Kleidung anzuziehen, und schreckten kurz zusammen, als sie Omas Mantel sahen, der am Haken hing. „Oh weia ! Oma muss furchtbar frieren, wir müssen uns beeilen. Sie ist schon so

vergesslich, dass sie nicht einmal ihren Mantel mitgenommen hat“, sagte Mike, der nun Angst um seine Mutter bekam. Vor seinem geistigen Auge sah er sie hilflos zwischen umgestürzten Bäumen umherirren, blutend, frierend, nass bis auf die Haut, und mit schwächer werdender Stimme um Hilfe rufend. Schnell machte sich die Familie in die verschiedenen Himmelsrichtungen auf die Suche nach Oma. Während Mike und Malte sich den Wald teilten, gingen Mona und Mandy auf der Landstraße in nördliche und südliche Richtung. Sie alle riefen in regelmäßigen Abständen nach Oma, bekamen aber nie eine Antwort.


Nachdem sie über zwei Stunden in allen Richtungen gesucht hatten, aber nicht die geringste Spur von Oma fanden, verständigten sie sich über Handy darauf, die Suche zunächst abzubrechen und sich im Haus zu treffen. Dort wollten sie die nächsten Schritte besprechen. Niedergeschlagen saßen die vier am Küchentisch und tranken heißen Zitronensaft mit Kandiszucker. Mike ergriff das Wort : „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Polizei einzuschalten. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Wenn ich daran denke, wie sehr wir da draußen gerade noch gefroren haben, obwohl wir warm

angezogen sind und Wasserabweisende Kleidung anhaben, Oma aber ohne Mantel und Schirm unterwegs ist, habe ich ein sehr beklemmendes Gefühl in mir“, endete er sorgenvoll. Seine Frau Mona sprang sofort auf. „Du hast recht, nur die Polizei kann uns jetzt weiter-helfen.“ Sie nahm das Haustelefon von der Wand, wählte die Nummer der Polizei und berichtete dem Beamten vom verschwinden von Oma, dem hinterlassenen Zettel und der bisherigen, vergeblichen, Suchaktion aller Familienmitglieder. Der Polizist hörte aufmerksam zu, machte sich Notizen und sagte zu Mona :


„Im Moment können wir nichts für Sie tun, da Ihre Schwiegermutter noch keine 24 Stunden vermisst wird. Wer weiß, vielleicht hat sie sich bei dem Unwetter ein Taxi genommen und sitzt jetzt irgendwo vor einem Kaffee und einem Stück Kuchen, anstatt im Wald spazieren zu gehen. Wenn Sie bis morgen Mittag noch nicht wieder aufgetaucht ist, kümmern wir uns intensiv um die Suche. Bis dahin werden wir die Augen offen halten. Ich werde die Streifen-besatzungen in den umliegenden Orten anweisen auf eine ältere Dame zu achten, die möglicherweise ziellos durch die Gegend läuft. Mehr kann ich Ihnen zurzeit nicht anbieten,“ fügte er noch

hinzu. „Das verstehe ich zwar nicht, aber trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte Mona enttäuscht und hinterließ ihre Handynummer, damit der Polizeibeamte sie informieren konnte, falls Oma irgendwo auftauchen würde. Mona steckte das Telefon zurück in die Wandhalterung, dann drehte sie sich zu ihrer Familie um, die das Gespräch mitbekommen hatte. Ratlosigkeit bestimmte die Szenerie und spiegelte sich im Gesicht eines jeden einzelnen wieder. „Wir müssen noch mal los“, sagte Mike nach kurzer Überlegung. „Es nutzt nichts hier herum zu sitzen.

Wir müssen den Wald systematisch durchkämmen, müssen vor allem neben den offiziellen Spazierwegen suchen. Sie muss irgendwo da draußen sein und wir müssen sie finden, und zwar sehr schnell, denn in spätestens eineinhalb Stunden bricht die Dunkelheit herein und ich will gar nicht daran denken wie es ihr ergehen würde, wenn sie die Nacht über allein im kalten Wald verbringen müsste.“ Alle nickten zustimmend und gingen rasch in die Eingangshalle zur Garderobe, um sich erneut warme Kleidung anzuziehen. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen und die Abendsonne war sogar hinter dem jetzt wieder blauen

Himmel hervorgekommen, worüber sie alle sehr froh waren. Gerade, als sie dabei waren die Jacken und Mäntel von den Garderobenhaken zu nehmen, hörten sie Geräusche aus dem oberen Bereich des Hauses, die sich anhörten wie leise Schritte. Sie sahen hinauf, rissen, voller Erstaunen, den Mund weit auf und glaubten ihren größer werdenden Augen nicht zu trauen. Da stand Oma auf der Balustrade, gähnte lang anhaltend, begleitet von einem lauten Grunzton und streckte sich in ihrem langen Nachthemd, als wolle sie zum Himmel greifen. „Ooomaaa“, riefen sie wie aus einem Mund.

„Oma, wo warst du denn die ganze Zeit“, fragte Mandy, die sich als erste wieder gefangen hatte. „Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht“. „Ich habe geschlafen. Warum habt ihr euch denn Sorgen gemacht?“ „Du hast doch einen Zettel hinterlassen und da dachten wir du wärst im Wald spazieren.“ „Ja, dass hatte ich auch erst vor, aber nach meinem Rundgang durch den Garten war ich müde. Außerdem wurde der Himmel grau, und es sah aus, als würde es zu regnen beginnen. Da habe ich mich lieber ins warme Bett gelegt um mich ein wenig auszuruhen.

Ich wollte den Zettel auch wieder an mich nehmen, aber ich dachte ihr seht meinen Mantel an der Garderobe und wisst, dass ich in meinem Zimmer bin. Darum habe ich ihn liegen lassen.“ „Du hast die ganze Zeit geschlafen ?“, fragte Mike. „Ja“, antwortete Oma, „und stellt euch vor: ich habe geträumt, ich hätte mich im Wald verirrt und ihr habt mich stundenlang gesucht. Ihr habt euch in alle Richtungen verstreut um mich zu finden, und das, obwohl ein schlimmes Unwetter aufgezogen ist. Ihr armen habt mir richtig Leid getan. Bin ich froh, dass es nur ein Traum war.


Stellt euch nur mal vor ihr wärt da draußen bei Regen, Blitz und Donner unterwegs gewesen, um mich zu suchen. Furchtbarer Gedanke, da hätte ja Gott weiß was passieren können. „Ach Oma“, sagte Mona, und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, „es ist einfach schön, dass du ausgeschlafen bist und es dir gut geht.“ „Ja, ich fühle mich richtig wohl. Und seht mal das schöne Wetter. Wenn wir Glück haben, bleibt die Sonne noch eine Stunde lang um uns Freude zu bereiten. Wollen wir die Zeit nicht nutzen und gemeinsam einen Waldspaziergang machen ? Ich ziehe mir schnell etwas über, und Ihr seit doch sicher auch froh

wenn ihr nach einem anstrengenden Bürotag ein wenig an die frische Luft kommt und euch, anstatt am Schreibtisch zu sitzen, endlich wieder frei bewegen könnt. Na kommt, zieht eure Mäntel an und dann los."

Alle Rechte vorbehalten © Heinz Tölle Düsseldorf 27. Januar 2014

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heinztoelle
Ich schreibe schon seit meiner Kindheit sehr gerne. Eine von mir verfasste Kurzgeschichte hat mir einen Preis eingebracht, was mich zusätzlich motiviert hat.
Mein Roman - ein Krimi - wird in 2014 fertig gestellt sein. Endlich, denn es hat, aus verschiedenen Gründen, große Verzögerungen gegeben.
Das Thema deckt eine interessante Nische ab, mal sehen, was dabei heraus kommt.

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Heidrun Na das ging ja nochmal gut.
Oder eine Mini-Runde im Garten ist ja auch schön!

Deine Heidrun
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heinztoelle 
Vielen Dank für deinen Kommentar, liebe Heidrun.
Dieses Buch zu schreiben war für mich ein kleiner Ausflug ins Niemandsland. Ich finde man sollte sich ruhig mal in Genres ausprobieren, in denen man normalerweise nicht zu Hause ist.
Diese Geschichte wird sicher kein Knaller, aber sie weckt schon mal ein Schmunzeln hervor.

Dein "Na, dass ging ja noch mal gut" kann ich dir nur zurückgeben, denn es trifft auf dein Buch "Mordversuch auf Mrs. Clark" ebenso zu.
Schöne Geschichte. Lebendig erzählt, mit gutem Ausgang für das Opfer und gerechter Bestrafung für die Täter.
Werde mich noch ein wenig bei dir durchlesen, da ich glaube, dass du mit sehr viel Gefühl schreibst.
Vielleicht schaust du mal in mein Buch "Eisblumen". Es könnte in deine Gefühlswelt passen.

Liebe Grüße Heinz
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