Romane & Erzählungen
Die Reise

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"Die Reise"
Veröffentlicht am 14. Januar 2014, 332 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich bin 1950 in Berlin geboren, bin unendliche Zeiten zur Schule gegangen, habe brav studiert und in diversen Firmen artig gearbeitet, bin nunmehr das dritte Mal verheiratet, habe zwei erwachsene, tolle Kinder und gehe endlich meinen Neigungen nach, die sich auf kreativer Ebene bewegen. Ich bevorzuge die Satire, die Ironie, mag Methapher, die aber die Botschaft nicht verschleiern, eher krasser hervortreten lassen. Gerne nehme ich den typischen ...
Die Reise

Die Reise

pläne und vorbereitungen

Schon wieder sitzt Gila in der Sofaecke und starrt scheinbare Löcher in die Luft. Rainer schaut sie an und denkt: „Was hat sie nur, sie sagt wieder nichts und hat diesen leeren Blick. Wenn ich nur wüsste, was in ihr vor sich geht? Aber ich werde sie heute nicht danach fragen. Es ist nämlich nervend, dieses ständige Gefrage nach den Gedanken.“ Er hatte schon so manches Mal wissen wollen, was Gila denkt. Aber sie beantwortete meistens diese Frage leicht unwillig mit den Worten: „ Na nichts eben!“ Damit war das Gespräch gestorben. Seit einiger Zeit gibt es oft diese kleinen Schweigezeiten. Gila sitzt einfach nur da und man glaubt sie wäre in einer anderen Welt, nähme ihre Umgebung kaum wahr, scheinbar völlig geistesabwesend starrt sie durch die Gegenstände des Raumes hindurch. Rainer ist deswegen ein wenig beunruhigt und er

fühlt sich auch irgendwie außen vor, eben leider nicht einbezogen. Das kränkt immer ein bisschen. Vielleicht geht es Gila nicht so gut und sie will es bloß nicht aussprechen, um nicht in den Verdacht zu kommen eine Jammerliese zu sein. Rainer beschließt noch zu warten und nicht mit weiteren Fragen, die Sache zu verschlimmern. „Frauen sind manchmal doch ziemlich kompliziert“, denkt er leicht verärgert, „ wir wollten doch über alles sprechen. Ich bin doch nun nicht gerade verständnislos, wenn es um irgendwelche Probleme geht.“ Rainer missbilligt dieses häufige Insichgekehrtsein, es verunsichert ihn. Das belastet und ist darüber hinaus nicht im Mindesten erforderlich. Warum also verschließt sich Gila manchmal so deutlich. Das macht ihn auch allmählich ein bisschen wütend, doch zeigt er es nicht. Schließlich wünscht er sich, dass die Partnerin aus eigenem Antrieb zu ihm käme, um ihre Gedanken zu offenbaren. Das war er von ihr jedenfalls so

gewohnt. Gila sagte meistens immer, was sie bewegte. Ganz allmählich, fast unmerklich hatte sie damit aufgehört, sich einfach in sich zurückgezogen. Rainer hatte das nicht sofort bemerkt, er war zwangsläufig intensiv mit seinem Job beschäftigt auch am Abend, zumindest in Gedanken. Es lief nicht so gut, der Erfolg wollte sich nicht einstellen und die Geschäftsführung nahm das naturgemäß entsprechend übel. Rainer glaubte, dass es an ihm ganz bestimmt nicht läge, denn er machte immer seine Arbeit wie gewohnt mit der nötigen Sorgfalt und dem erforderlichen Einsatz. Wesentliche Fehler waren ihm nicht nachzuweisen. Rainer verfügt über ein hohes Maß an Erfahrung, seine menschliche Fehlerquote dürfte sich mit Sicherheit auf einem sehr niedrigen Level aufhalten. Das war es also nicht. Warum behandelte man ihn so, so unfair und anerkannte nicht den Aufwand seiner ganz gewiss auch hoch qualifizierten Arbeit? “

Alles arrogante Arschlöcher, Ignoranten, die sich auf ihrem hohen Ross sitzend einbilden, das Recht geparkt zu haben, alle anderen mit Füßen treten zu dürfen“, schimpfte Rainer wütend vor sich hin. Seine Unzufriedenheit mit dieser Situation wurde durch Gilas störrischer Schweigerei auch nicht abgebaut. „ Sie hat es doch so gut mit mir getroffen, ist den ganzen Tag in unserer schönen Wohnung zu Hause, kann ihren Neigungen nachgehen, hat keinerlei Stress oder Unsicherheiten. Alles ist für sie in Ordnung. Also warum grübelt sie wohl so oft und sagt mir nicht, was sie bedrückt“? , denkt Rainer nun wieder enttäuscht. „ Sie sieht irgendwie traurig aus, wie sie so versonnen auf ihr Klavier schaut. Gila ist immer noch eine ziemlich hübsche und anziehende Person, wenn sie sich bloß ein wenig besser zu Recht machen würde. Aber Gila mag ja das angeblich Hochgestylte nicht. Man muss sie sich langsam damit anfreunden lassen. Sie wird es für sich

völlig allein entdecken. Sie ist immer ein wenig stur, aber zuweilen auch brav und lieb, eigentlich eine Süße. Wir hatten eine ganze Weile keinen Sex…warum eigentlich nicht? Man müsste mal wieder. Sie fordert aber auch nichts ein. Wie dumm! Vielleicht will sie aber auch nicht wirklich. Vielleicht ergibt es sich morgen, morgen habe ich wahrscheinlich auch eine bessere Stimmung. Morgen ist ja auch schon Donnerstag, aber morgen muss ich mich auf dieses dämliche Meeting vorbereiten, Rede und Antwort stehen, wahrscheinlich wieder eine Abfuhr hinnehmen. Zu ärgerlich diese Prozedur.“ Rainer hängt nun auch so seinen wenig erfreulichen Gedanken nach, in der Hand ein kleines elektronisches, ablenkendes Spielzeug. Im Fernsehen spielt ein mehr oder weniger langweiliger Film, der ständig von sinnloser Werbung unterbrochen wird. Gila gähnt, fröstelt, obwohl es im Raum ausreichend warm ist, sie friert leicht, und schaut Rainer

manchmal von der Seite an. Sie ist aus ihrer Abwesenheit in der Sofaecke wieder aufgetaucht und kuschelt sich an Rainer, Wärme suchend. Alles ist in Ordnung. Der Abend geht zu Ende und die beiden begeben sich zur Ruhe. Rainer schläft schnell ein. „Männer können das, beneidenswert“, denkt Gila. Sie muss wieder grübeln. Natürlich genießt sie das schöne sorgenfreie Leben ohne dem Stress eines ungeliebten Jobs zwingend ausgesetzt zu sein, aber ihr Gewissen plagt immer wieder, weil sie noch keine Arbeit gefunden hat und somit keinen nennenswerten Beitrag für den Haushalt leisten kann. Sie kann sich selber nicht das Geringste gönnen, ist immer und in jedem Fall auf Rainers Großzügigkeit angewiesen. Irgendwie beginnt die Situation leicht zu verkrampfen. Gila möchte immer unterstützend wirken, auch finanziell. Das geht nun nicht mehr in dem Umfange, aber ihre Familie will es

scheinbar nicht erkennen und nimmt weiterhin ohne zu zögern, die monatliche Zuwendung. Gila gab freiwillig und scheut sich, diese wieder zu streichen. Wahrscheinlich glauben sie, dass Gila nun mit einem gut verdienenden Mann gesegnet sei und deshalb ruhig ihr Arbeitslosengeld weiterhin locker teilen könne. Gila vermisst Rina, ihre Freundin. Sie würde alles verstehen. Mit ihr kann man auch darüber sprechen. Sie hätte eine nachvollziehbare Meinung, die zum Nachdenken anregt. Das hatte sie früher immer. Sie macht Mut, gibt Selbstbewusstsein für die Situation. Aber Rina ist nicht in der Nähe, deshalb geht es auch nicht mit dem Klavierspiel voran, denkt Gila bekümmert. Ob sie jemals den weiten Weg für einen Besuch in Kauf nehmen würde? Das bleibt fraglich. So sinniert Gila ein wenig wehmütig herum. Ihr fehlt eine Freundin. Nein, nicht irgendeine. Rina ist nicht zu ersetzen.

Man kann sich nicht mir nichts dir nichts eine Ersatzfreundin suchen. Das ist unmöglich. Gila schläft nun auch allmählich ein und tröstet sich mit dem Gedanken, dass sie ja wenigstens Rainer hat, den Mann, den sie sich immer so und nicht anders wünschte. Sie würde ihn mit ihren lächerlichen Gedanken nicht auch noch belasten wollen. Er hat gerade gewiss ganz andere Sorgen in seinem beschissenen Job, als dass er sich noch ein albernes Gesülze über die fehlende Freundin anhören wollte. Auch über ihr Unvermögen, eine neue Arbeit zu finden, wollte sie Rainer gegenüber kein Wort verlieren. Er merkt dieses sowieso von ganz alleine. Hoffentlich kommt es nicht irgendwann deswegen zum Eklat, das wäre scheußlich, denkt Gila noch traurig bis sie endgültig in ihren Träumen versinkt. * Rina ist immer noch wach. Sie liegt in ihrem

großen Bett, welches eigentlich für zwei gedacht ist und fühlt sich miserabel, verlassen und vor allen Dingen sehr einsam. Ein bescheuertes Gefühl, man muss es aber auch ständig bekämpfen. Sie ist noch jung und im Prinzip voller Ideen und Pläne, nur in der Nacht überkommt sie häufig diese reichlich ausgedehnte, verfluchte Verlorenheit. Am liebsten würde sie richtig laut los heulen, aber sie entschließt sich, lieber doch am Klavier den Frust raus zulassen. Keiner würde etwas hören, denn sie besitzt ein elektrisches Klavier. Man kann mit Kopfhörern darauf spielen, ohne dass die Hausbewohner etwas mitbekommen. Hauptsächlich ist es aber diese dämliche verzweifelte Stimmung, die sie verbergen möchte. Was wäre schon besser, wenn die Familie daran teilhaben dürfte? Sie würden nur mit jammern und nichts wirklich verstehen. Außerdem haben ja alle stets ihre eigenen

Sorgen. Rina will nicht, dass ihr Sohn oder gar ihre Eltern, sie so sehen. Sie muss stark sein und immer clever. Man verlässt sich schließlich darauf. Allmählich findet Rina diese Haltungen zum Kotzen. So setzt sie sich im Bademantel ans Klavier und haut in die Tasten. Wie wundervoll diese Musik ist, wie berauschend das Thema in ihren Körper fließt, wie eine Droge, nur lähmt sie nicht die eigene Energie, sondern setzt sie frei, fühlbar entweicht die Leere, verfliegt mit dem Staub auf der Seele und ein unbeschreibliches Gefühl voller Wärme und Kraft breitet sich aus. Rina spielt wie eine Geisteskranke, gibt sich hin, lässt sich gehen und konzentriert sich aufs Neue, auf das schwierige Stück, auf das unendlich komplizierte Netzwerk der vorgeschriebenen Töne. Es ist wie das Leben, schwierig, aber gleichzeitig schön und manchmal irgendwie erstaunlicher weise doch beherrschbar. Man

wird sehen, alles wird sich entwickeln und zwar positiv. Na ja, meistens jedenfalls! Damit waren inzwischen drei Stunden der Nacht verbracht. Es wird Zeit, denkt Rina, ich muss jetzt schlafen. Jetzt scheint selbst das zu klappen. Man müsste Gila noch eine Mail senden, ist ihr letzter Gedanke, dann wird es dunkel um sie. Die Nacht brachte wirre Träume. Schemenhaft, aber deutlich genug, um ein infames Lachen zu bemerken, ziehen Männergestalten vorbei. Irgendwie sehen alle wenig begehrenswert aus, obwohl scheinbar gut aussehend. Sie scheinen nur gekommen zu sein, um zu nehmen. Was auch immer, sie wollen nur ein wenig Spaß und halten große Spritzen in den Händen, um ihn aus Rinas Körper zu gewinnen. Rina bemerkt, dass sie an Schläuchen und Tröpfen hängt und aus ihren Adern, Blut in Behälter rinnt, wie etwa beim Blutspenden. Es findet wohl ein Austausch der Flüssigkeiten statt. Entsetzt

stellt sie fest, dass schimmernde glasklare Tropfen in sie hineinfließen und ihr Blut von den Männern in Empfang genommen wird. Sie finden die Situation sehr spaßig und nachdem sich alle halbtot lachten, verschwanden die Typen. Rina hat das Gefühl, sich allmählich zu verwandeln. Es ist, als ob die neue Flüssigkeit Klarheit bringe, ihr vermitteln würde, was zu tun sei, ihr zeigen könne, wer sie ist und was sie sich wirklich wünscht. Doch wie lauten die Botschaften? Es war ein Traum, nur ein Traum. Die Nacht war kurz, viel zu kurz, um ausgeruht in den neuen Tag zu gehen. Gerade klingelte der scheußliche Wecker, sehr unpassend und störend. Am liebsten würde Rina ihn an die Wand pfeffern, aber dann müsste sie sich einen neuen zulegen, der Wurf hätte sich wahrlich nicht gelohnt. Möglicher Weise hätte die Wand auch noch Schaden genommen und der Ärger wäre noch größer. Also steht Rina fluchend auf und schlurft ins Bad, schaut sich dort missmutig

im Spiegel an, und ein entsprechendes Gesicht schaut auch heraus. Ein beschissener Tag, findet sie und putzt unlustig an ihren Zähnen herum. Die Zahnpasta schmeckt auch nicht. Man sollte auch hier mal was verändern. Das kann ja heute heiter werden. * Neben Rainer ertönt ein nervendes Piepen. Der Beginn eines neuen Tages ist damit wenig dezent eingeleitet. Er knipst das Licht an, um nicht noch einmal einzuschlafen. Das passiert schnell, denn draußen ist es noch dunkel und er ist noch reichlich schlafbedürftig. Die Nacht war kurz. Jedes Mal dasselbe, man möchte einfach liegen bleiben und weiter träumen, schöne Träume nicht abbrechen lassen durch das dämliche Piepgeräusch eines bescheuerten Weckers. Eines Tages würde er freiwillig aufstehen. So wie am Wochenende, einfach von

alleine aufwachen und das Bett verlassen, weil es außerhalb dieses köstlichen Ortes noch eine Menge Besseres gibt. Den Tag mit schönen Tätigkeiten ausfüllen und diesen ohne Zwang und Leistungsdruck, zeitlichen Einschränkungen mit Gila verbringen. Natur, Kultur und Menschen, die eigene schöpferische Kraft zu spüren, unabhängig zu sein von dem fiesen Muss, Geld zu verdienen, das ist Rainers Traum vom Leben danach, dem ersehnten Danach, dem Dasein nach dem Arbeitsleben. Man nennt es allerdings Alter. Aber Rainer weigert sich, es so zu bezeichnen, denn er wird sich nie alt fühlen. Er wird vieles unternehmen, aktiv sein, alles andere sein, bloß nicht alt. So!!! Nun, soweit ist es noch nicht. Also löst er sich von diesen Gedanken, starrt einen Moment sitzend in den Schrankspiegel, neben ihm sitzt schon Gila aufrecht aber auch noch ziemlich verschlafen, doch durchaus freundlich gestimmt,

um ebenfalls in den Spiegel zu glotzen. Beide beschließen nun sofort aufzustehen und den morgendlichen Ritualien zu frönen. Allmählich kommen sie zu sich und jeder verrichtet mechanisch die Tätigkeiten, die sich immer so abzuspielen scheinen. Wahrscheinlich ist das nötig. Der Kopf braucht den Gleichklang, die Regelmäßigkeit, um die bizarren Träume der Nacht, auch die Zeit der Schlaflosigkeit abzuschütteln und sich auf das Normale, den Alltag, auf die üblichen Anforderungen einzustellen. Das heißt, unser Hirn verlangt ruhige Vorbereitung. Wir gewähren ihm diese Gnade, da wir nunmehr die Notwendigkeit einsehen, das hat lange gedauert. Wie oft hat man sich wohl schon überstürzt nach viel zu kurzer Nacht wieder in den nächsten Tag begeben? Viel zu oft. Das war schädlich und es war dumm, denn wir erreichten damit keinen wesentlichen Vorteil, keinen wirklichen zeitlichen Vorsprung, weil sich der Kopf dann

zu einem anderen Zeitpunkt versucht diesen Gleichklang zu holen und zwar durch Abschaltung. Das kann gefährlich werden, wenn wir im Auto sind oder gar am Arbeitsplatz. Manche Chefs mögen das mit Sicherheit überhaupt nicht. So frühstücken Gila und Rainer in aller Seelenruhe, Zeitung lesend bis es Zeit ist, loszufahren. Rainer verabschiedet sich seufzend. Er hat keine Lust mehr, der Job ist zum Kotzen. Gila weiß das und bleibt ein wenig bedrückt zurück, sie hat ja nur Hausfrauenpflichten, die sind schnell erledigt, und eigentlich ist sie auch kein wirkliches Heimchen am Herd. Sie war immer berufstätig, immer eingespannt. Jetzt ist alles anders. Ist sie etwa jetzt alt? Ist es das, dieses Altersdasein, was eigentlich erst wirklich vorhanden ist, wenn man zum Altersrentenempfänger mutiert ist? Auch Gila möchte davon nichts wissen, dennoch ist wohl

unbestritten, dass sie für die meisten Arbeitgeber zu alt ist. Somit hat sie dieser Status des zu alt seins nunmehr erreicht. Das ist furchtbar und herrlich zu gleich. Furchtbar, weil die Rente ja nicht vorhanden ist, nur ein beschissenes Arbeitslosengeld für begrenzte Zeit und herrlich, weil der Stress, der Ärger durch arrogante, selbstherrliche Arbeitgeber sich auflöste und sich in wundervolle Freiheiten für schöpferische Tätigkeiten verwandelte. Dennoch, Gilas Angst bleibt, dass die traumhafte Gegenwart abrupt enden könne. Wodurch auch immer, viele Teufel lauern ständig und boshaft im Detail, sie lechzen danach von der Wand zu springen, an die sie Gila allmählich immer öfter fast zwanghaft malen muss. Was wäre, wenn Rainer einen Unfall hätte? Wenn ihm etwas passieren würde? Wenn seine Liebe sich verflüchtigen würde, wenn andere Menschen unser Glück zu beeinflussen

suchten? Gila wird oft heimgesucht von trüben Befürchtungen, wagt sich nicht einmal so zum Spaß die Tarotkarten zu legen, obwohl sie an diesen Hokuspokus nicht glauben mag. Gila will keine schlechten Vorzeichen dulden, auch nicht so zum Vergnügen, so zum Zeitvertreib, wie sie es mit Rina früher hin und wieder tat. Ängstlich beobachtet sie auch ihren Körper. Krankheit, schlimme Krankheit ist auch abgelehnt. Dieser Teufel war eigentlich auch schon da. Sein erneuter Besuch wäre einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Und überhaupt, warum kann man nicht in Ruhe in den schönen Tag hinein leben, einfach diesen glücklichen Umstand annehmen? Vielleicht ist die viele Freizeit auch so Dämon, der den Grübeleien gefährlich viel Spielraum einräumt. Gila beginnt sich und ihr Leben sehr ernst zu nehmen. Ständig verspürt sie den Drang, über alles und nichts intensiv nachzudenken, fürchtet Gedankengänge, Ideen

zu verlieren, wenn sie nicht irgendwo aufgeschrieben werden. Nichts ist ihr lieber als vor sich hinzusinnen und zwar alleine. Sie spürt in ihrem Kopf eine kribblige Unrast, oft überschlagen sich die Gedanken, springen aus der Vergangenheit in die Zukunft oder untersuchen, sezieren geradezu die Gegenwart. Wenn Rainer diese Frage stellt, diese schwierige Frage: „ Was denkst du jetzt?“, dann sind oft die schnellen Gedanken schon wieder beim nächsten Thema, sie lassen sich schwer in Worte fassen und scheinen jeglicher Logik zu entbehren. Es geht ja auch nicht um Logik, eher um Themenkreise. Sie sind nicht immer für ein Gespräch geeignet, weil nicht konkret eingegrenzt oder auch einfach nicht interessant für eine andere Person, auch nicht für die vertraute. Die Gedankenwelt ist das intimste eines Menschen. Nur sie prägt das Individuum als ein solches, alles andere ist nur ein ärmlicher Ausdruck, ein sich immer

wiederholender oft auch erfolgloser Darstellungsversuch. Ein meist künstlich aufgesetzter, aber immer ein unvollständiger, denn die Möglichkeiten, Gedanken, Ideen und Wünsche umzusetzen, sind mehr als beschränkt. Im Kopf ist stets alles vorhanden. Je nach Fantasie und geistigen Fähigkeiten vielfältig, fertig, auch unvollkommen, aber immer entwicklungsfähig. Im Kopf bereitet der Mensch sein Leben vor, doch wehe, wenn er sich nur darauf reduziert, wie schnell geht das Gespür für die Realität verloren. Die Inspiration kommt von außen. Das unersättliche Hirn braucht Impulse. Gila sucht sie. Wie ein Verdurstender nach Wasser lechzt, so sucht Gila immer wieder diese erregende Berührung, die neue Gedankengänge öffnet, die die Welt im Kopf erweitert, die ihren ureigensten schöpferischen Darstellungsversuchen mehr Qualität ermöglicht. Sicher kann man Fantasien künstlich

erzeugen, doch das ist es nicht. Damit wäre das Bewusstsein ausgeschaltet, man wäre nicht mehr Herr seiner Gefühle, was ohnehin schon immer auch im stocknüchternen Zustand eine äußerst schwer beherrschbare Welt ist. Eventuell würde die Gesundheit leiden und schließlich würden sich natürliche, lebendige Gedanken nicht mehr herstellen lassen, allenfalls nur noch mit künstlichen Mitteln. Nein, diesen Weg will Gila nie gehen, da sind Grenzverletzungen unter unglücklichen Umständen gefährlich. Es muss einen anderen Pfad geben. Gila beschließt mit Rina zu sprechen, vielleicht auch mit Rainer, aber nur vielleicht, denn er hat leider vorläufig keine Zeit, er muss seinen Kopf vorrangig für den notwendigen, ungeliebten Job einsetzen. Er muss mit Sicherheit Tag für Tag kostbare Kopfkapazitäten vergeuden, verschleudern, doch Ablenkungen wären im Moment nicht im Rahmen der Möglichkeiten, sie wären nicht

vernünftig. Gila sieht das ein, wir wollen ja auch körperlich wie ganz normale Menschen leben, wir haben selbstverständliche auch gewöhnliche Ansprüche an die Lebensqualität, die da von einer gewissen Wohnkultur in leibliche Genüsse vielfältiger Natur mündet. Man kann sich nicht einfach nur um seine imaginären Kopfgeburten kümmern, die würden ohne materielle Basis ohnehin verkümmern. Gila wird also Rainer besser verschonen. Sie wird ihren Feldzug nach den inspirierenden Impulsen zum Teil leider alleine antreten müssen, zumindest innerlich, gedankliche und tatsächliche, leichtfüßige Wanderungen in Mitten der turbulenten Welt anderer Menschen, fremder Landschaften, immer wieder mit neuer, gespannter Aufmerksamkeit auf jedes auch am Wegesrand liegende Steinchen achtend, es umdrehend in der Hoffnung, den berauschenden Stoff zu finden, der natürlich und belebend

berührt. Gila sitzt und betrachtet das Klavier, es bietet bei richtiger Berührung seiner schwarzen und weißen Tasten leichte, wundervolle Klänge aber auch quälende Misstöne, wenn der Spieler nichts versteht, nichts gelernt hat. Man muss mit ihm agieren, immer wieder und wieder geduldig sein Stöhnen und Wehren ertragen, bis es sich richtig anfassen lässt, bis es gezähmt ist, dann darf man es sanft streicheln, auch kräftig drücken und es wird berauschend antworten, inspirierend alle Impulse aussenden, die selbst banalste aber heftig schmerzende Probleme klein werden lassen. * Rina nickt langsam, es war als hätte sie Gilas Gedanken vernommen und spielt eine leise eigenartige Melodie, die Gila magisch verführen will, mit ihr vielleicht in ein fremdes Land zu

fliegen. * Rainer hat ein unbestimmtes Gefühl. Es überfällt ihn ganz plötzlich noch an seinem Schreibtisch sitzend, es beunruhigt ihn und veranlasst, heute einmal eher nach Hause zu fahren. Er ruft also gleich mal an, um Gila seinen Entschluss mitzuteilen, man könnte ja auch irgendwo gemütlich essen. Das bringt Abwechslung und lenkt ein wenig von seinem beschissenen Alltag ab. Komisch, Gila nimmt nicht ab. Vielleicht ist sie bei ihrer Mutter, um nach dem Rechten zu sehen. Dennoch, meistens geht sie nur am Vormittag dort hin, es ist nicht wie immer. Gila ist nicht zu Hause. Rainer fährt nun schnell durch die Stadt. Es muss etwas passiert sein. Irgendetwas ist anders als sonst. Rainer ist besorgt Zu Hause angekommen, stellt er fest, Gila ist wirklich nicht in der Wohnung. Er ruft die Mutter an, wo sollte Gila sonst sein, sie geht nicht in die Stadt, um zu

Bummeln, zu shoppen oder in Cafes herumzusitzen. Gila ist immer zu Hause. Nein, bei der Mutter wäre sie auch nicht. Rainer wartet bestürzt, der Appetit ist ihm vergangen. Gilas Handy liegt im Regal, man kann sie nicht erreichen. Rainer muss sich ablenken und beschließt, ein wenig am Computer zu arbeiten. Gila wird schon noch erscheinen und alles wird sich in Wohlgefallen auflösen. Was soll diese Besorgnis. Rainer macht sich einen Kaffee und schaltet den PC ein, um zunächst einmal die Mails abzurufen. Vielleicht hat ihm ja jemand etwas mitzuteilen. Eine Mail ist eingegangen, eine Mail von Gila. Rainer wird nun noch unruhiger, sein Herz beginnt laut zu klopfen. Irgendwie ahnt er, dass dies nicht nur ein netter Scherz sein wird oder eine Liebeserklärung via Internet. Was er nun liest erscheint unwirklich, auch unverständlich, auf den ersten Blick sehr unverständlich, fast beängstigend

verworren. Mein Liebster, Du bist der verständnisvollste Mann, der mir je begegnete und ich empfinde genau diese tiefen Gefühle für Dich, die von Dir gleichermaßen erwiedert werden. Das spüre ich sehr. Für Dich und uns änderte ich mein Leben. Ich bereue es nicht, denn ich vertraue Dir in allem. Ich vertraue nur Dir, fast mehr als mir selber, die ich besessen bin von abstrusen Gedanken, die meiner mir eigenen, auch gewollten Bodenständigkeit, fast ein wenig boshaft lächelnd, permanent widersprechen. Es sind nur Gedanken. Ich glaube es sind wirklich nur Gedanken, die in meinem Hirn ein schwer durchschaubares Spiel treiben. Ich wünschte mir jetzt inständig, gerade in diesem besonderen Augenblick Deinen von Optimismus getragenen Realitätssinn, Dein Vernünftigsein. Der Zufall hat unsere Wege zusammengeführt.

Ich ersehne nichts anderes als dass dies so bleiben möge, das Zusammenführen unserer Lebenslinien. Das scheint ein nicht enden wollender, möglicherweise auch zu steuernder Prozess zu sein, denn die Menschen haben Unmengen von Lebenslinien, die sich finden, zugleich aber auch halten müssen…Die Natur bleibt ein Wunder und der Mensch in ihr ein armseliger, doch nicht hoffnungsloser Anfänger. Wenn Du nur wüsstest wie sehr ich Dich brauche!! Mich wird nun die alles bestimmende Zeit der Schwere aus der Gegenwart tragen. Ich kann sie offensichtlich leider derzeit nicht ausreichend sinnvoll und nutzbringend für uns beide in gleicher Güte ausfüllen, ich fürchte sehr zu versagen. Wir würden vielleicht einmal deshalb große Schmerzen empfinden. So veranlassen mich fast krankhaft anmutende Gedanken, davon zu fliegen, leider ohne Dich. Mit Dir auf die Reise zu gehen, wäre ungleich köstlicher,

wahrscheinlich auch viel sicherer, denn ich bin ganz und gar nicht mutig. Möglicherweise, nein, ich bin mir ganz sicher, werden wir es nachholen, immer wieder, aber bestimmt auch ganz anders, denn unsere Wege haben sich doch nicht nur gekreuzt. Hab’ Vertrauen. Ich liebe Dich sehr. Gila Bestürzt liest Rainer immer wieder diese Zeilen. Was könnten diese geheimnisvollen Sätze bedeuten. Sie sind voller Liebe aber auch angefüllt mit Verzweiflung, die beim ersten Lesen fast den Verdacht des Suizids aufkeimen lassen. Was hat es mit dieser Reise wohl auf sich? Wohin, um Gottes Willen, wohin wollte Gila fliegen und was hat sie nur für fürchterliche Gedanken, die sie in eine derartige Verfassung bringen? Rainer beginnt nun Satz für

Satz zu studieren, versucht sich zu vertiefen, Inhalte zu ergründen, kommt nicht weiter. Gila ist nicht geisteskrank. Sie zeigte durchaus immer einen gesunden Menschenverstand, auch der zitierte Sinn für das Reale war ihr nie abhanden gekommen. Gila hat Fantasie, das ist unbestritten. Aber sie ist mit Sicherheit keine Spinnerin, machte nie den Eindruck einer suizidgefährdeten Psychopatin. Keine Spur! Gila ist lebenshungrig, voller Zukunftspläne. Wo ist sie und was ist mit ihr passiert? Er weiß, dass Gila in ihren Gedichten und Texten gerne Symbolik bevorzugt, ihre Bilder oft Mystik ausstrahlen, dennoch war sie immer für Rainer durchschaubar. Man hatte ähnliche handfeste Anschauungen vom Leben und plante diesbezüglich keine mystischen Luftschlösser, sondern wollte gemeinsam mit gleicher Begeisterung umsetzbare Ziele verwirklichen. Es gab keine rätselhaften Geheimnisse. Dennoch, was soll diese, fast wie ein

Abschiedsbrief klingende Mail? Wo ist Gila? Die Polizei einzuschalten wäre jetzt völlig überspitzt, viel zu früh. Rainer mag daran nicht denken, er wollte erst einmal telefonieren. Gila hatte nicht viele Ansprechpartner. Er würde zunächst bei ihnen recherchieren. Aber vielleicht kommt Gila wieder und alles klärt sich sofort auf. Es ist schon späte Nacht. Man kann nun niemanden mehr aus dem Bett holen. Immerhin könnte alles ja auch nur ein Scherz sein, wenn auch ein äußerst dummer und absolut kein witziger. Man müsste Gila den Hintern versohlen. Leider ist Gilas netter Hintern nicht in der Nähe. Rainer beschließt, noch einen Nachttrunk zu sich zu nehmen und ins Bett zu gehen. Hoffentlich kann er schlafen. Gilas Bett bleibt leer. Es ist unerträglich, womöglich ist ihr doch etwas passiert oder sie hat sich was angetan? Rainer hat Kopfschmerzen und findet keine Ruhe, seine Gedanken spielen nun auch

verrückt. Die Weiber machen mich noch irre, denkt er. Ich muss einen klaren Kopf behalten, ich muss auch zur Arbeit, ich muss Gila finden, ich muss wissen, was hier gespielt wird, ich muss Gila wieder hier haben. Rainer nimmt nun seufzend doch eine von den ekligen Pillen, um wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, denn ohne geht auch nichts, nichts von all diesem nervenden Muss. Endlich hat der Schlaf auch ihn erfasst und beschert eine Nacht voller wirrer Träume, wenig erquickend. Ich möchte endlich aus diesem bescheuerten Traum aufwachen, wahrscheinlich ist das Ganze überhaupt nur einer der ganz beschissenen Träume, denkt Rainer gequält noch im Halbschlaf, dann piept schon wieder der elende Wecker. Gilas Bett ist immer noch leer. Rainer entscheidet, seinen Chef um Urlaub zu bitten. Er würde sich ohnehin nicht auf die Arbeit konzentrieren können und in der Firma wird man sicher ein paar Tage ohne ihn

auskommen. Es gab keine Probleme, man stellte ihn frei, um dringend das Private, welches keinen Aufschub duldete, zu klären. Zum Glück blieben die dämlichen, neugierigen Fragen aus. Es interessierte sich keiner für Rainers private Sorgen. Er hätte auch ums Verrecken nicht davon nur ein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Es gab einfach niemanden, den man nur im Entferntesten einbeziehen könnte. So, jetzt Kaffee in den Kopf schütten und dann die Schwester anrufen und die Freundinnen, ihre Telefonnummern waren gespeichert. Das ist hilfreich. Vielleicht erreicht man sie am frühen Morgen und hoffentlich weiß jemand etwas. Also, wieso geht keiner ran, Rainer rennt mit dem Telefon auf und ab und schimpft. Das Telefon bimmelt. Endlich rührt sich am anderen Ende eine verschlafene Stimme. Rainer schildert den Sachverhalt und liest den Brief vor. Nein, die Freundin weiß nichts von Reiseplänen, auch sie glaubt nicht an einen

Selbstmord. Sie findet das Verschwinden Gilas samt dieser ominösen Mail reichlich mysteriös. Das letzte Telefonat mit ihr war ausführlich aber es drehte sich vornehmlich um die Neuigkeiten in der Familie und dem Berufsleben der Freundin. Gila versicherte nur, dass es ihr so gut wie noch nie in ihrem Leben gegenwärtig ginge und alles wäre eben bestens. Na ja, und ihre Kinder wären wohl auch versorgt und kämen zurecht. Der Mutter ginge es auch gut, somit schien alles geregelt, bis auf den Umstand, dass Gila bislang noch keinen Job für sich finden konnte. Sie würde sich der Schreiberei widmen und an einem Buch arbeiten. Sie wäre halt ständig auf der Suche nach anspruchsvollen Themen, Motiven, Inspirationen. Die Freundin konnte daran nichts Auffälliges entdecken. Rainer merkte, dass diese Frau auch nichts zur Lösung des Rätsels beitragen würde, denn Gila hatte sich ihr offensichtlich auch nicht anvertraut. Man

versprach sich zu benachrichtigen, falls etwas geschah. Gila wird sich nicht in Luft aufgelöst haben, sie wird sich melden, sie verschwindet nicht so einfach und grundlos, dessen war man sich einig. So vergeht der Vormittag mit Telefonaten. Die Schwester hat keine Ahnung, die erwachsenen Kinder wissen nichts, sie zeigen sich aber sehr bestürzt und versprechen ebenfalls sich zu melden, falls Gila ein Lebenszeichen gibt. Die Mutter macht sich wohl auch große Sorgen als sie von dem merkwürdigen Verschwinden Gilas hört, helfen kann bislang keiner. Rainer hat nun auch festgestellt, dass eine größere Reisetasche fehlt. Gila ist also tatsächlich auf eine Reise gegangen. Somit wäre also auszuschließen, dass sie sich ans Leben wollte. Rainer atmet einmal kurz auf, vielleicht würde er nun herausfinden können, wo Gilas Reiseziel zu suchen wäre. Er würde sämtliche Reisebüros der Stadt kontaktieren müssen, natürlich kann man auch

übers Internet buchen. Man muss das vorher prüfen, vielleicht kann man die besuchte Seite in Gilas Computer öffnen, falls sie den Verlauf nicht gelöscht hat. Das wird alles sehr viel Zeit kosten, oder sollte er polizeilich nach ihr fahnden lassen? Nein, dazu ist Rainer immer noch nicht bereit. Man würde ihn nicht verstehen, manchmal gehen Frauen oder Männer einfach aus dem Haus und benötigen Auszeiten, kommen wieder oder melden sich nach geraumer Zeit. Es muss keine Panik erzeugt werden, zumal Rainer glaubt, dass Gila körperlich nichts passierte, denn es fehlt ja eine Reisetasche. Ist das ein Beweis für die Harmlosigkeit Gilas plötzlichen Verschwindens? Der Brief bleibt geheimnisvoll genug, um noch diverse Zweifel am Leben zu erhalten. Der Brief ist seltsam. Rainer ist alles andere nur nicht beruhigt. Außerdem fühlt er sich sehr verletzt. Er war mit Gila glücklich und es sollte unbedingt so bleiben, alles hatte

sich so wundersam gefügt, nichts deutete auf dieses so merkwürdige Verhalten Gilas hin. Ja, sie sagte nicht, was in ihr vor sich ging und sie starrte zuweilen geradezu Löcher in die Luft. Aber hat nicht jeder zuweilen diese Abschaltphasen, nach außen zumindest. Man ist manchmal auch einfach maulfaul, man möchte nicht gestört werden, das ist doch stinknormal und völlig unbedenklich. Gila ist ein nachdenklicher Typ, plappert nicht unaufhörlich dummes Zeug, sie ist kompliziert und einfach zugleich. Sie weiß normalerweise, wovon sie spricht, denn sie denkt, bevor sie ihren Mund öffnet mehr oder weniger lange darüber nach. Rainer mag diese Art an einer Frau, zumal der Hang zum Intellektuellen nicht zu kurz kommt. Wenn da nicht diese mystische Ader wäre…die mystische Ader! Rainer hält von derlei wenig, dennoch für Gila scheint sie eine gewisse Bedeutung zu besitzen. Wie auch immer, vielleicht sollte er einmal noch mit Rina

telefonieren, die ist ja auch eine interessierte Freundin solchen Zeugs. Rina war im Übrigen am Morgen reichlich kurz angebunden, hatte wenig Zeit für ein Gespräch und meinte nur freundlich, dass sich bestimmt alles auflösen werde, er solle nur Vertrauen haben. Es würde sicher nichts Schlimmes geschehen. Eigentlich tat sie gar nicht sehr erstaunt oder bestürzt wie die anderen. Weiß Rina etwas? Verschweigt sie vielleicht ihre Kenntnisse? Möglicherweise hat Gila sie doch in ihre Reisepläne eingeweiht. Man sollte Rina noch einmal intensiver befragen, vielleicht verplappert sie sich? Rainer wird also noch einen Anlauf nehmen, um Rina auszuquetschen. Zu dumm alles, man macht sich nicht plötzlich, klamm heimlich davon und hinterlässt einen rätselhaften Brief. Das sieht Gila eigentlich gar nicht ähnlich, nein sie würde nicht bösartig verschwinden und ihn einfach so zurücklassen in Angst und Ungewissheit. Das macht eine liebende Frau

nicht. Rainers Gefühle wechseln, mal spürt er fast Wut und Empörung, dann wieder grenzenlose Bestürztheit, Sorge und auch Trauer. Egal, es muss herausgefunden werden, eher würde er keine Ruhe finden, wie auch immer die Sache ausgeht. Er wollte es wissen. * Rainer versuchte Rina nun noch einmal zu befragen. Doch sie war einfach nicht zu Hause, keiner ging an das Telefon. Einen Anrufbeantworter, um eventuell um einen Rückruf zu bitten, gab es leider nicht. Die Reisebüros der Stadt konnten keine Buchung finden. Es war zum Verzweifeln. Man kann doch nicht nur warten. Rainer schaltete Gilas Computer ein. Er wusste das Kennwort. Aber ist es nicht eine ungeheure Indiskretion, in einen fremden Computer einzudringen? Gila war

keine Fremde und sie war verschwunden. Es ist notwendig und somit legitim, redete sich Rainer ein, dennoch fühlte er sich dabei nicht sehr wohl, wusste er doch, dass Gila ihrem PC fast alle Gedanken anvertraute. Er wollte keine Privatsphären verletzen Es musste sein, vielleicht gab es brauchbare Hinweise über ihre Pläne, über ihren Verbleib. Der Verlauf ihrer Internetaktivitäten war leer. Sie löschte also ihren Besuch von Internetseiten. Warum tat sie dieses? Alle gewöhnlich gespeicherten Daten über die Mailtätigkeit waren verschwunden. Die Ordner waren leer. Rainer forschte nach Daten, Texten, Bildern und fand nichts. Alle Dateien waren weg, es gab nur Programme. Gila hatte eine Unmenge an Bildern und Texten, sie hatte Mailkontakt mit ihren Freundinnen, ihren Kindern und Geschwistern, alles war entfernt. Rainer verstand den gespenstisch inhaltslosen Zustand des Computers nicht. Warum musste alles verschwinden? Doch offensichtlich nur,

weil sein Eindringen vermutet wurde. Sie hätte das Passwort ändern können und die Dateien lieber erhalten sollen. Na ja, das Passwort zu ändern wird ihr nicht sicher genug gewesen sein. Wollte sie Brücken abbrechen, nicht mehr nach Hause zurückkehren? Auf alle Fälle hatte sie vor, ein Nachspüren zu erschweren oder gar zu verhindern. Sie wollte etwas Wichtiges erledigen und zwar alleine. Warum hatte sie Rainer nicht eingeweiht, was hat sie bloß zu verbergen, wovor fürchtet sie sich. Rainer ist sehr enttäuscht und seine Gedanken verfangen sich in den negativen Netzen der Eifersucht. Was, wenn ein anderer Mann dahinter steckt? Doch dagegen spricht der Brief. Er war trotz allem dennoch voller Liebe und Gila lügt nicht. Warum sollte sie, wenn es eine Affäre gäbe, einen derartigen Brief schreiben? Das ist nicht logisch und wäre überhaupt nicht Gilas Art. Also ist es eine andere für Gila äußerst wichtige Angelegenheit, in die sie keine

Einmischung wünscht. Das war doch die Botschaft. Sie muss offensichtlich etwas tun ohne ihn, ohne Rainers Beteiligung. Sie wird vermutlich nichts gesagt haben, weil Rainer es nicht gebilligt hätte. Gila fürchtete wahrscheinlich, dass Rainer sie von ihrem Vorhaben abbringen würde, es auszuführen und sie möchte es durchziehen, deshalb versuchte sie keine nachvollziehbaren Spuren zu hinterlassen. Sie möchte ihn dennoch nicht all zu sehr beunruhigen, deshalb der Brief. Rainer versucht nun positiv zu denken und absolut analytisch vorzugehen. Rainer muss nachdenken, in Ruhe Gespräche rekapitulieren, um so Gilas Problem herauszufiltern. Ein Beziehungsdilemma, was ihn betreffen könnte, war nicht erkennbar. Sie hatten eine wundervolle, harmonische und vertrauensvolle Liebesbeziehung, die bislang keinerlei Trübungen erfahren musste. Gila ist absolut freiwillig und gerne aus ihrer vorherigen Welt in

die seine getaucht. Er hatte sie zu nichts diesbezüglich genötigt, nein, sie hatte eigentlich die Initiative dafür ergriffen. Rainer war nur erfreut darüber und hatte begeistert seine ganze Kraft für die Umsetzung der Pläne eingesetzt. Gila war arbeitslos, aber sie nahm es immer mit einer gefassten, ruhigen Geduld und bewarb sich hin und wieder bei scheinbar passenden Angeboten. Sie verzweifelte nicht wegen der erteilten Absagen. Sie jammerte nicht wegen ihres geringen Geldes, sondern gab davon noch an scheinbar bedürftige Familienmitglieder ab. Rainer verstand dies zwar nicht so ganz, denn Gila verzichtete zu Gunsten erwachsener Menschen, die auch für sich selber sorgen können, auf Teile ihrer mageren Bezüge, wagte sich nicht die Zuwendungen zu streichen. Das war schwer zu verstehen. Doch Gila erschien dennoch immer gelöst und glücklich. Womit hatte sie also ernsthafte Sorgen, was wollte sie unbedingt um diesen Preis, um den Preis vor

Rainer ein Geheimnis hüten zu müssen, erreichen? Welcher Fall XY ungelöst beschäftigte sie derart? Rainer erinnert sich an frühere Gespräche als sie sich noch nicht so gut kannten. Man wollte über „Leichen im Keller“ sprechen. Gila hatte vor ihm ihr ganzes Leben ausgebreitet, hatte immer auf jede einhakende Frage eine Antwort. Was war also noch offen? Die beruflichen Ebenen waren alle durchschritten, ausgeleuchtet, bewertet. Der Umgang mit den Altlasten aus der Selbständigkeit war klar festgelegt, stellte kaum ein Problem dar. In dieser Frage zeigte Gila viel Coolnis. Die familiäre Situation war kein Geheimnis. Gila lebte ihr Leben und die Familie hatte sich damit arrangiert. Sie akzeptierten Gilas Entscheidungen mittlerweile. Das war nicht immer so. Auch hier vermutete Rainer nichts Verborgenes. Die Ehen, das gescheiterte eheliche Dasein ihrer Vergangenheit war abgehakt. Es musste aber eine

zwischenmenschliche Kiste sein, eine mit verworrenen, unklaren Gefühlen oder Sachverhalten angefüllte. Jedenfalls gab es Klärungsbedarf und das nicht zu knapp. Also was war da? Rainer grübelte so über Stunden, er fühlte ganz nahe an des Rätsels Lösung zu sein. Gila hatte ein sie bewegendes Problem zu lösen und es war nicht von zu Hause aus regelbar. Sie musste sich dafür auf eine Reise begeben, ein Trip, der länger als einen Tag verlangte. Sie wird entweder viel zu bewältigen habe oder sie muss weiter weg fahren, um den Ort des Geschehens aufzusuchen. Möglicherweise auch beides. Gila war nur in Deutschland in ihrer Vergangenheit ein wenig herumgekommen. Über diese Stationen hatten sie oft und ausgiebig gesprochen. Da gab es kein Geheimnis. Ihre Auslandsberührungen hielten sich sehr in Grenzen. Gila schilderte ihre Reiseerlebnisse oft. Es waren überschaubare Ausflüge in die weite Welt mit dem ungeliebten Ehemann. Es

waren nur irgendwelche Auszeichnungsreisen über die Firma. Man muss also noch tiefer tauchen. * Gila fühlte sich unwohl. Schon wieder blickten ihre Augen ins Leere. Es war als würden sie längst den Raum durchdrungen haben, ihn verlassen, um an einem anderen Ort Fragen zu stellen. Gila glaubte eine Melodie zu hören, die ihr seltsam bekannt erschien. Es war kein wirklich trauriges Lied aber dennoch ein wenig melancholisch an manchen Stellen. Im Grundtenor schien diese Musik zum Weitergehen und Suchen aufzufordern. Sie klang optimistisch aber auch rätselhaft und geheimnisvoll. Sie verführte, sich auf den Weg zu begeben, die Reise zu wagen. Die Entscheidung dafür benötigte keinerlei Erörterungen, sie fällt nun ohne den geringsten

Widerspruch. Kein Gedanke spricht dagegen. Gila nimmt den von Rina gebuchten Flug an, ein wenig Geld war ja noch von ihrem gesparten übrig geblieben. Die Mutter ist versorgt. Ihr geht es gut. Rainer wird es verstehen, er muss arbeiten, er hat jetzt noch keine Zeit, er wird nachkommen oder warten. Gila hätte ihn gerne sofort mitgenommen, Rina würde Rainer mögen. Man muss ihn einfach lieben, er versteht alles. Aber würde er auch der Mystik des Lebens eine Chance einräumen? Oder würde er alle Geschehnisse erklärt bekommen wollen? Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sind nicht erforscht. Sie sind heute noch nicht erklärbar, kaum zu fassen aber dennoch vorhanden. Die Natur, der Mensch mit seinen geistigen Möglichkeiten in ihr, ist ein wundervolles großes Rätsel. Wir werden es nie völlig lösen. Es ist dennoch gut, sich intensiv damit zu beschäftigen. Unser Leben besteht aus

Fragen, aus der Suche nach den Antworten. Eine nicht enden werdende Suche. Manchmal überfällt uns Resignation, weil die Befriedigung so lange ausbleibt. Hier ist nun wieder der unentbehrliche Optimismus aber auch Kampfgeist gefragt. Bleibt dies Instrumentarium aus, geht nichts mehr. Wir versinken im Sumpf unserer eigenen Kloake. *

pertti

Gilas Flieger hat nun Stockholm erreicht. Sie wird ein paar Stunden Zeit haben, um in ein kleines Flugzeug nach Oulu, einer relativ großen Stadt in Finnland an der nördlichen Ostsee gelegen, umzusteigen. Hoffentlich landet Rina aus München kommend ebenfalls gut und pünktlich, um dann mit Gila weiter in das weite Land der Seen und Wälder, der unberührten Natur, zu fliegen. Sie wollten sich gemeinsam auf die Suche begeben, auf die wahrscheinlich nicht ganz einfache Suche nach einem Mann, der mit seinen Kindern nach Finnland von Deutschland auswanderte, um sich unter anderem auch mit Gilas finanzieller, großzügiger Unterstützung dort ein neues Leben aufzubauen. Der Kontakt war plötzlich abgebrochen. Pertti und seine Kinder waren von der Bildfläche verschwunden, obwohl er zuvor mehrmals glaubhaft versprach, die

geliehene Summe auf Heller und Pfennig zurück zu erstatten, sobald er in Finnland Fuß fassen konnte. Seine Erwartungen waren groß, sein Optimismus grenzenlos. Die Freunde versprachen Unterstützung bei der Einbürgerung, wollten der kleinen mutterlosen Familie den Anfang erleichtern. Pertti hatte früher schon einmal einige Jahre in Finnland gelebt, ist dann aber wieder nach Deutschland mit seiner Frau und den Kindern gezogen, denn Vater und Mutter brauchten ihn. Die Eltern hatte es durch die Kriegswirren von Lettland, ihrem Land, ihrem Gut, dem großen Haus der Ahnen nach Deutschland verschlagen. Nichts konnten sie mitnehmen. Der bescheidene Wohlstand einer adligen Familie vom Land bestand fast ausschließlich aus Grund und Boden, unverkäuflichem Boden, wer sollte ihn auch kaufen. Fremde Menschen hatten ihn nun unrechtmäßig annektiert. Nun war man alt, arm und hilfebedürftig. Der Sohn hatte nach einem

Architekturstudium, seiner Sehnsucht nach den Abenteuern dieser Welt nachgegeben und durchgesetzt, Pilot zu werden, flog von Erdteil zu Erdteil, durchquerte, von ständiger Unrast begleitet, alle Kontinente und überflog die Ozeane dieser Welt, lernte Menschen flüchtig kennen und vergaß sie wieder, sah ihr Leid und ihr Glück. Pertti traf Frauen, die ihn begehrten, die ihn verführten, ihn manchmal auch ein wenig beeindruckten, das war aber selten und er vergaß sie schließlich wieder. Pertti war ein selbstbewusster Flugkapitän, er wusste immer was zu tun war. Er war der Chef, er musste in jedem Fall entscheiden, was gut und richtig war. Er liebte das Gefühl abzuheben, zu starten mit der Power eines Jumbos, oben zu sein, alle Fäden in der Hand zu halten. Pertti wusste, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen. Das Leben der Reisenden lag so wie sein eigenes nur in seiner Hand.

Bis ihm eines Tages die Frau über den Weg lief, die ihn verwandelte. Sie bewirkte mit dem Kind, mit ihrem und seinem Kind, dass sich Pertti plötzlich eine Familie wünschte, ein festes schönes zu Hause. Er wollte sein Kind aufwachsen sehen, nicht bloß der Papa sein, der hin und wieder nur zu Besuch auftaucht. Er wollte die neue Verantwortung übernehmen. Das bedeutete Kehrtwendung, Neuorientierung, Berufsaufgabe. Es hieß, Schluss mit der Fliegerei, eine andere Erwerbsquelle musste her. An Ideen mangelte es nicht, aber waren sie auch ertragreich genug, um eine Familie zu ernähren, auch die Eltern zu unterstützen? Die Gebrauchsgraphik erschien viel versprechend. Pertti versuchte es, ging in die Selbständigkeit, investierte, arbeitete besessen, von seinen Ideen überzeugt, ständig nach neuen Aufträgen jagend. Die Ergebnisse waren mehr als bescheiden. Die Frau stellte Ansprüche, sie war

sehr hübsch, sehr jung und verwöhnt, wollte verwöhnt werden. Pertti meinte, sie solle es doch mal mit Arbeit versuchen, man würde es zu zweit vielleicht eher schaffen. Manchmal haben junge, schöne Frauen andere Vorstellungen. Dem Manne bleibt nichts anderes zu tun als verbissen weiter zu ackern, um die Familie, die Firma am Leben zu erhalten. Es gibt keine Alternative. Er hat diesen Weg gewählt, man muss ihn nun weiter beschreiten auch mit Schmerzen. Frauen können sehr dumm sein aber auch gemein. Sie suchen nach Auswegen, um ihre Wünsche zu befriedigen. Sie orientieren sich um und so finden sie leicht einen anderen willfährigen Mann, denn gerade die zarten Engelchen, die Hübschen können sich schnell trösten, wenn der eigene Mann die Zeit nicht hat. Mein Gott, das hat mit Liebe nichts zu tun, wahrlich nicht, der Körper holt sich halt nur sein Recht. Der beschäftigte Ehemann braucht es ja nicht zu wissen, sollte man ihn

denn auch noch mit diesen Lappalien belasten? Nein, er hat ohnehin Wichtigeres zu erledigen. Er wird es ohnehin gar nicht merken, denkt sie unbekümmert. Das ist natürlich anders herum oft ganz ähnlich, aber davon ist jetzt nicht die Rede. Pertti merkte trotz vieler Arbeit, was sein Frauchen trieb. Es gab Diskussionen, Aussprachen, Tränen, hysterische Ausbrüche, Drohungen, Versöhnungen. Und die Wiedervereinigung, wie wundervoll ist eine Wiedervereinigung, man verspricht das Blaue vom Himmel. Alles wird gut, wir schaffen es, denn wir lieben uns doch. Ein Mann kann alles, wenn sie nur will. Ja, sie wollte, ihr Lover war für den Moment vergessen, Pertti war der Größte, ein ganz toller Mann, er konnte verzeihen, vergessen. Er würde für sie sorgen, aber sie könne ja auch ein wenig mitarbeiten. Ja, gewiss, sie würde sich ändern, alles wird gut und sie wurde wieder schwanger. An Arbeit war somit nicht zu denken. Manche Frauen können

in dem Zustand einfach nicht arbeiten. Sie schonen sich. Natürlich alles nur wegen des Kindes, das versteht doch jeder. Eine schwere Zeit begann für Pertti. Er hatte nun zwei kleine Kinder, die noch nicht liefen, eine Firma, die überhaupt nicht lief und eine Frau, die ihm immer wieder davon lief. Er fuhr also in der Nacht Taxi, fraß Zigaretten und vergiftete sich mit Kaffee, schlief zwischendurch mal schnell ein zwei Stündchen, um dann wieder die Kinder zu versorgen. Manchmal sprang die Oma ein, aber nur manchmal. Die Mutter der Kinder, seine liebe, junge, kleine Frau war meistens irgendwo anders, bloß nicht zu Hause bei den Kindern. Das war also die Familie. Pertti wollte eine Familie. Jetzt hatte er eine. Manchmal war die Frau da, manchmal nicht. Pertti hatte keine Zeit für sie, er musste Geld ranschaffen, ein Familienleben ist nicht billig. Die Ersparnisse waren aufgebraucht und das Konto war leer

geräumt, kaum war ein kleiner Betrag erschienen. Madam musste sich schließlich hin und wieder einkleiden. Und sie war sehr überfordert, die Kinder waren so lebhaft. Eine junge Frau hat auch mal Anspruch auf Urlaub und Spaß. Andere Männer bieten das. Zu Hause war es nicht mehr lustig. Man musste nur aufräumen, kochen, Kinder baden. Das macht keinen Spaß. Schließlich wollte er doch die Kinder, er wollte ja eine Familie und er versprach immer den großen Durchbruch seiner lächerlichen Firma. Nichts bekam er aber auch zu Stande. Wieso können andere Männer das? Man kann mit ihm nicht mal mehr ordentlich vögeln. Das ist doch das Mindeste, was man als Frau erwarten darf. Er scheint ein Versager zu sein, ein Großmaul. Nach all dem Gekeife schmiss Pertti sie raus. Sie kam nicht wieder. Die Kinder blieben bei Pertti. Eines Tages wurde Pertti krank, sehr krank. Erst

dachte er, diese kleine Grippe, dann wurde es aber eine Lungenentzündung, auch eine Bronchitis kam hinzu, er könne es einfach so überwinden. Man kann sich einige Zeit selber verarzten, doch Hustenbonbons und Erkältungsbäder, lasche Fiebertabletten, stinkende Einreibungen helfen nicht immer. Der Arzt musste nun ran und der signalisierte höchsten Alarm. So musste Pertti in ein Krankenhaus einziehen, sich allen möglichen und unmöglichen Untersuchungen unterziehen. Man diagnostizierte Lungenkrebs und operierte. Die Oma betreute die Kinder, manchmal war auch die junge Mutter da, um mal die Kinder zu besuchen. Schließlich musste sie nach dem Rechten schauen. Es war kein Geld da, sie konnte sich nicht dauerhaft um die Kinder kümmern. Das Kindergeld reichte ja nur knapp für die Kinder, die Oma verfügte im Übrigen darüber und außerdem war sie ja rausgeschmissen worden aus dieser Wohnung.

Die Miete für die Wohnung blieb man dem Vermieter schuldig. Die Oma beantragte Sozialhilfe. Pertti lag einige Wochen halbtot im Krankenhaus, aber er sprang dem Sensenmann von der Schippe und kam wieder raus, nach Hause. Er verschuldete sich bei Freunden, dem Bruder, dem es auch nicht so gut ging, und das Leben ging tatsächlich weiter. Irgendwie geht es immer weiter, nur zuweilen schmerzt eben dieses Leben sehr und Pertti fühlte sich höllisch einsam in diesem Kessel seines verpfuschten Daseins. Ihm fehlte der Mutmacher, die Streicheleinheiten, die auch ein selbstbewusster, eigentlich fast alles könnender Mann so sehr braucht. Ihm fehlte Verständnis und diese wirkliche selbstlose Liebe, von der die unverbesserlichen Fantasten immer träumen, auch wenn es mal nicht so gut läuft. Ja, die Kinder, sie motivierten, sie waren da, sie sollten nicht leiden, sie brauchten ihn.

Für sie wollte er leben, zumindest bis sie erwachsen sind. Deutschland hatte kein Glück, keinen Erfolg gebracht. Von der so sehnlichst herbei gewünschten Familie war nicht mehr viel geblieben, auch der Vater war verstorben. Pertti hatte es nicht verhindern können. Die Mutter konnte sich glücklicherweise wieder ein wenig fangen, kam einigermaßen mit der mageren Rente zu Recht. Sie würde alleine irgendwie leben können, pflegebedürftig war sie ja nicht. Pertti musste nun neue Pläne machen. Es war an der Zeit, neue Wege zu finden. Die Kinder sollten unbeschwert aufwachsen, wenn auch ohne Mutter. Die war wie verschollen. Nur manchmal rief sie an, um zu fragen, ob die Kinder gesund sind und ob sich Perttis wirtschaftliche Lage verbessert hätte, denn sie benötigte stets Geld. Selten besuchte sie die Kinder, um mal einen Nachmittag mit ihnen zu verbringen. So verging die Zeit, nichts wurde besser, eher

spitzte sich die Lage zu. Um die Miete zu sparen zog Pertti nun mit den Kindern in die Wohnung der Oma ein. Damit wurde das Leben unerträglich, denn erziehungsmäßig lief gar nichts, die Kinder drohten an Inkonsequenz zu ersticken und ein Privatleben schien es fortan nicht mehr zu geben. Pertti flüchtete sich ins Internet. Er mochte nicht mit der Mutter am Fernseher hocken, er wollte ihrem Gezeter entgehen. Zum Ausgehen hatte er weder Geld noch Lust, auch keine Zeit, denn wegen der Taxifahrerei in der Nacht, saß er immer auf Abruf, so chattete er mit wildfremden Leuten wild verzweifelt in irgendwelchen Singlebörsen. Dort treffen sich die einsamen Seelen und anderes Gelichter. Man schlägt die Zeit tot oder lässt einfach mal Dampf ab. Das ermöglicht das große, weite Cyberspace. Man verarscht Leute, oder wird verarscht, man unterhält sich und macht sich vor, dass man vielleicht doch nicht so allein ist. Und manchmal, aber ganz, ganz

selten, trifft man auch auf eine ehrliche Haut, eine verwandte Seele, die in ähnlicher Lage oder in einer anderen Bedrängnis befindlich, auf der großen Suche ist. Das war vor einigen Jahren. Pertti begegnete Gila. Sie chatteten stundenlang und tauschten ihr Leben aus, erst tröpfchenweise, dann wasserfallähnlich. Gila war zu dem Zeitpunkt sehr allein, brauchte ein Ventil, einen Zuhörer, suchte Verständnis, Anerkennung, brauchte einen Mutmacher. Sie hatte in großem Ausmaß mit ihrer Verzweiflung zu kämpfen, ausgelöst durch eine Riesenenttäuschung. Der Mann, den sie so liebte, für den sie sich hätte vierteilen lassen, hatte sie verlassen. Das war eine ganz üble Beziehungskiste, in die sie da geraten war. Sie wollte aus dem dunklen Karton unbedingt raus. Vorsichtig versuchte sie vom Schreibtisch aus wieder Land zu gewinnen und sie war offen für Menschen, die das Schicksal ähnlich leimte. Eigentlich müsste sie ja misstrauisch sein, nach

all den Reinfällen entsprechend vorsichtig und zurückhaltend. Doch Gila wollte nicht verbiestern, sich gewiss nicht zuschotten. So würde sie nur in der dunklen Kiste weiter verrotten. Nein, sie war sehr aufgeschlossen für fremdes Leid. So erfuhr sie Perttis Geschichte und er die ihre. Man freundete sich an via Internet, per Mail, telefonisch. Wie das wohl immer so geht. Es ging über einige Monate. Ein geradezu unheimliches Vertrauensverhältnis entstand, zumindest empfanden sie es als unheimlich, denn man kannte sich nicht persönlich und das war auch nicht abzusehen. Die Grundhaltungen ähnelten sich sehr und der Wille miteinander zu kommunizieren war anhaltend. Gila hatte große Hochachtung vor Perttis Lebensmut, er verdiente Hilfe. Keiner gewährte ihm die geringste Unterstützung. Seine Freunde, seine wirklichen Freunde lebten in Finnland, erzählte er und dort würde er wieder hin wollen. In Deutschland gäbe es für

ihn keine Perspektive, seine Kinder würden in Finnland weitaus mehr Freiheit und Ungezwungenheit genießen können. Er wäre am Überlegen, wie man es bewerkstelligen könne, dorthin zu übersiedeln. Gila beschloss, zu helfen. Sie hatte ein wenig Geld gespart und dachte, warum soll man einem verzweifelten Menschen nicht unter die Arme greifen. Gila war vielleicht auch ein bisschen verliebt, aber das war es wohl nicht wirklich. Es war eine fast suggestive Macht, die sie veranlasste ihrem Freund Geld zu leihen und zwar völlig freiwillig, damit dieser sich mit seinen Kindern über 3000 km nach Norden bewegte. Sie hielt das streng geheim, denn ihr war wohl bewusst, dass niemand dafür nur das geringste Verständnis aufbringen würde. Man würde sie schlicht für übergeschnappt halten und das wäre noch sehr milde ausgedrückt. Gilas Vertrauen spottet jeder Beschreibung, es war und ist immer grenzenlos. Immer wieder

glaubt sie an den guten und ehrlichen Menschen. Pertti vermeinte zu träumen, denn das war für ihn wahrlich himmlische Hilfe in größter Not. Er würde damit sein Ziel verwirklichen, ein neues Leben starten können. Er würde in das Land übersiedeln, das für die Kinder und für sein berufliches Fortkommen so viel Perspektiven bietet. Er würde wieder unter Freunden sein. In Deutschland hatte er keine Freunde. Er wollte unbedingt diesem Germany den Rücken kehren. Hier hatte er seine Frau verloren, der Krebs hatte ihn gepackt und beruflich war nichts zu bewegen. Der Vater war verstorben. Pertti hielt viel von ihm. Es gab da eine Bindung, die er zur Mutter nie hatte. Die Mutter ging ihm immer irgendwie auf die Nerven, wenn sie auch nicht wirklich böse war. Die Mutter war halt immer da und wollte erziehen, bestimmen, eine Nervensäge war sie. Pertti machte sich mit seinen Kindern auf die lange Reise nach Finnland. Gilas Hilfe

ermöglichte, die Brücken hinter sich abzureißen. Er versprach, das Geld sobald er Fuß gefasst hatte, in Raten zurückzugeben, ganz bestimmt würde er das tun. Er würde schnell lukrative Aufträge erhalten und die finnischen Freunde würden ihm sicher in allem behilflich sein. Ein bisschen viel Konjunktiv erscheint in den letzten Sätzen. Aber Gila glaubte ihm, Gila glaubte alles. Der Kontakt brach nicht ab. Pertti unterrichtete Gila über seine Erlebnisse und die waren abenteuerlich genug, aber endlich kam die kleine Familie völlig erschöpft aber glücklich an. Sie wohnten zunächst in einem schönen Häuschen aus Holz, aber wie sich herausstellte, war es weit aus kleiner als erwartet. Die Freunde wohnten ebenfalls in diesem Haus. Man hatte sich die Küche, das Wohnzimmer und das Bad, auch die Sauna zu teilen. Die Kinder schliefen in einem kleinen Raum und Pertti hatte ein Zimmer als Arbeits- und Schlafstätte zur Verfügung.

Vorübergehend würde das genügen. Nebengelass zur Unterbringung der Habe war genügend vorhanden, auch gehörte ein recht großes Gelände, vorwiegend Rasenfläche umgeben von hohen Nadelbäumen, zum Haus. Hinter dem Grundstück begann der Wald. Zäune gab es nicht. In Finnland hat man keine Einzäunungen der Grundstücke. Finnja und Fin, die Kinder, waren begeistert, eine schier unendliche Natur umgab sie. Pertti war erfüllt von Freude und Zuversicht und sehr dankbar, dass Gila so geholfen hatte. Er wollte sie unbedingt persönlich kennen lernen und vor allen Dingen hatte Pertti das dringende Bedürfnis, sich im vorab, im Rahmen seiner Möglichkeiten natürlich, zu bedanken. Gila könnte ihren Urlaub hier verbringen. Sie würde im Wohnzimmer auf der Couch schlafen. Man könnte etwas gemeinsam unternehmen, ein wenig das Land durchstreifen, alte Freunde besuchen. Pertti hatte einen Urlaub auch

dringend nötig, eigentlich war er absolut erholungsbedürftig, nur die Kinder ließen das nicht zu. Sie waren quirlig und verlangten wie immer alles. Die Freunde hatten nichts gegen einen Besuch, sie waren ohnehin kaum zu Hause. Volker arbeitete weit entfernt im Wald in einer Goldmine und Tarja, seine Frau besaß einen Friseursalon. Sie war offensichtlich sehr beschäftigt, kam spät nach Hause und fuhr in aller Frühe weg. Man begegnete sich kaum. An den Wochenenden war das Pärchen meist irgendwo auf Derby oder bei anderen Freunden. Nichts sprach eigentlich gegen eine Einladung Gilas. Pertti hatte im Übrigen schon bevor er in Finnland in seinem neuen zu Hause ankam, Gila dorthin eingeladen. Das war aber so in seiner Freude über ihre Zuwendung dahingesagt. Gila überlegte, ob sie sich auf diese Einladung einlassen sollte. Sie hatte nichts vor im Urlaub, sie hatte nie im Urlaub etwas vor. Es würde der absolute Hammer sein, einfach so und ganz

allein in ein fremdes Land zu gewissermaßen persönlich nicht bekannten Leuten ganz privat zu reisen. Das hatte sie noch nie gewagt Sie wollte sich überzeugen, ob alles stimmte, was Pertti erzählte und auch wollte sie ihn und seine Kinder unbedingt kennen lernen. Gila musste einfach einmal raus aus ihrem Mief, sie wollte den Schritt in die Außenwelt wagen, wieder etwas riskieren, für sich neue Impulse empfangen, Eindrücke sammeln. Gila riskierte das Abenteuer, einmal einen Schritt in unbekannte Reviere zu versuchen, sie wollte aus ihrer piefigen Kiste der einsamen Verzweiflung endlich herauskrabbeln. Dazu gehörte eine Menge Mut und Selbstüberwindung. Kein Mensch konnte ermessen, was diese Reise für Gila darstellte. Es war nicht nur eine simple Urlaubsreise, es war der erste Schritt ins Freie nach langer unnützer hilfloser Selbstbemitleidung. Gila war nach ihrem Beziehungsdesaster in ein Loch

gestürzt, wollte lange von Menschen, Männern insbesondere, nichts wissen. Bis sie diesem sie merkwürdig anziehenden Mann im Internet begegnete, mit seinem Schicksal konfrontiert wurde, ihm fast wie unter Zwang aber dennoch sehr freiwillig, vermeinte sie, helfen musste. Das war schon eine sehr seltsame Geschichte, zumal sich Gila fast erleichtert, gleichermaßen auch bereichert fühlte, nachdem sie ihre Unterstützung gewährte. Nun, erleichtert war sie mit Sicherheit, zumindest das Konto. Nein, so dachte Gila damals überhaupt nicht, denn sie hatte ja grenzenloses, naives Vertrauen, ein Urvertrauen. Es war ihr trotz aller Negativerlebnisse nicht abhanden gekommen. Ist dies ein Grund stolz zu sein? Oder bezeichnet der kühle Realist ein derartiges Verhalten schlichtweg als Dummheit? Man weiß das nicht. Gila machte sich zu diesem Zeitpunkt darum weniger Sorgen, sie wollte nun verreisen. Es war

wichtig. So begab sich Gila, ein wenig mit gemischten Gefühlen, doch fast magisch angezogen, auf den Weg zu Pertti. Später schrieb sie die folgende kleine Reisebeschreibung: In Finnland Zum allgemeinen Entsetzen oder milder ausgedrückt zur Verwunderung meiner Lieben, surfe ich nun im Internet und chatte mit völlig fremden Männern, knüpfe auch Kontakte, die soweit gehen, dass ich alleine auf Reisen gehe, um selbige Kennen zu lernen. Skandalös!! Nein, es ist mutig und für die Familie nur gewöhnungsbedürftig. Auch wenn man sozusagen mit 52 Jahren Lebenserfahrung heutzutage schon zu den Gruftis gehört und einem möglicherweise

vernünftige Entscheidungen nicht mehr zugetraut werden; tat ich es und man stelle sich vor, ich habe es nicht bereut. Ich war in Finnland, in Lappland, im hohen Norden und überquerte den Polarkreis. Na ja, getauft wurde ich nicht bei diesem „Akt“, vielleicht viel später mit Wasser des Inarisees. Aber dazu komme ich noch. Weil ich nicht als Tourist, sondern gewissermaßen ganz privat zu Freunden fuhr, bekam ich Antworten und Einblicke, die höchstwahrscheinlich den herkömmlichen Besuchern verborgen bleiben. Ich bedaure, dass ich die Sprache nicht verstehe und mit meinem Englisch nicht viel los ist. Es wurde aber deutsch gesprochen und ansonsten wusste ich meistens worum es ging. Die typischen Holzhäuser werden oft im Wald

oder am Waldrand gebaut und sind wohl immer mit einer finnischen Sauna ausgerüstet und mit den gemütlichen Kaminen und Holzfeueröfen neben der üblichen Heizung. Das ist sicher sehr wichtig, denn es soll ja ziemlich kalt werden und Holz gibt es genug. Man muss sich aber kümmern und mit Axt und Säge umzugehen wissen. Nun, meine Gastgeber verstanden viel von solchen Dingen. Sie kennen Finnland und die Wildnis, obwohl sie eigentlich Deutsche sind aber irgendwie halt nur eigentlich. Sie hatten schon viel erlebt, aber Finnland ist für sie die Heimat auch wenn man dieses Land und seine Menschen wohl erobern und verstehen muss, um sich wohl zu fühlen. Eine gewisse Härte nach außen gehört auf alle Fälle dazu, wobei diese Härte mit dem Gemüt nichts zu tun hat, glaube ich jedenfalls. Was kann ich nach 14 Tagen schon sagen, sind halt Eindrücke und Vermutungen. Ich bemühe

mich, zu verstehen, aber dies ist schwierig und fast unmöglich, wenn man dort noch nie war und auch von der Geschichte so gut wie nichts weiß. Wahrscheinlich gibt es auch wie überall Gutes und Schlechtes, Wahrheit und Lüge. Ich möchte nicht über Lebensweisen und Situationen einen Stab brechen, das wäre anmaßend und dumm. Nun, ich habe die finnische Sauna mehrmals genossen und den Wald. In Deutschland gibt es auch Wald- sicher- aber dort ist er anders, ganz anders. Es gab viele Preiselbeeren, wir haben sie gesammelt und Marmelade gekocht, hatte ich ewig nicht eine solche Tätigkeit und die Marmelade war lecker ( sie ist schon nun alle, leider ). Die Kinder waren lieb und mitunter wild…na und. Ich glaube, sie hatten mich gern. Sie haben mich oft zum Lachen gebracht, das ist sehr viel

wert. Ich habe sonst nicht mehr viel Grund herzlich zu lachen. Manchmal gab es Prügelei um meinen Schoß (kurios!) Die Katzen sprangen mir des Nachts mitunter schnurrend aufs Kopfkissen. Na ja…Kinder und Tiere mögen mich eben (kein weiterer Kommentar). Kinder sind sowieso das beste im Leben und das einzig wirklich Gute, auch meine Großen, selbst wenn sie jetzt ihren eigenen Weg gehen und Mutters nicht immer ganz verstehen. Sie sorgen sich halt, Und wer versteht mich schon…niemand…nicht mal ich selbst (das ist der Knackpunkt). .JA, und „meine Ostsee“ habe ich auch gesehen, wenn auch die Strände auf Rügen und Usedom schöner sind. Aber es war Herbst, kein Strandwetter, dennoch habe ich die Überfahrt mit der Fähre bei Sonnenschein und Wind auf die Insel Hailuoto genossen und natürlich den Spaziergang am menschenleeren Strand mit

gleicher stiller Begeisterung. Jeder ging seiner Wege und hing den Gedanken nach. Ich konnte entspannen und gelöst den Augenblick aufnehmen. In Finnland gibt es augenscheinlich nicht diese Hektik, zumindest auf den Strassen nicht. Finde ich unheimlich wohltuend, manchmal war gar kein Auto zu sehen und auf einmal tauchten Rentiere am Straßenrand auf, die nicht mal den Kopf hoben. Übrigens ihr Fleisch schmeckt super, hängt auch vom Können des Kochs ab und der konnte es. Ich esse immer viel zu schnell und bekam Kritik deswegen (bekomme ich immer, ist ja helfende!) Auf dem ziemlich langen Weg nach Ivalo machten wir Stopp bei einem netten Ehepaar (einem Österreicher mit seiner finnischen Frau) Thema war u.a. auch die Versorgung mit in Finnland begehrten Lebensmitteln und

Alkoholika (sind arg teuer) Es gibt dafür extra Geschäfte, die den sinnigen Namen ALKO tragen. Viele Finnen scheinen dem Alkohol verfallen zu sein trotz der hohen Preise. Na ja… da hätte ich ein Problem mit und wenig Verständnis…ist kein erquickliches Thema. Aber gehört wohl zum Alltag in vielen Familien. Schade, weil oft kluge und wirklich nette liebe Menschen damit kämpfen. Der Suff macht viel kaputt, oft einfach alles .Das weiß ich nur zu gut. Für unsere Reise nach Lappland musste ich mir erstmal Gummistiefel und eine warme Jacke kaufen, war wirklich nötig, denn es wurde merklich kühler. Und ich bin ein Frostköttel. Aber so ausgerüstet konnte ich es gut aushalten und die z. Teil etwas gefährliche Fahrt auf dem Inari in einem Fischerboot (war wohl auch überladen) ohne Zittern überstehen. Ein nasses Hinterteil durch eine Welle ist aber abgefallen

(war die Taufe!) Matti hatte aber um das Boot zu steuern, zuweilen volle Konzentration zu geben, denn der See ist nicht von Pappe. Ich hatte Vertrauen. Manchmal habe ich einfach Vertrauen, obwohl ich in meinem Leben all zu oft diesbezüglich böse enttäuscht wurde. Meine Reise nach Finnland hat mit dieser Frage so einiges zu tun, Ich brauchte Antworten und ich wollte nachdenken. In der Stille der Wildnis, eine atemberaubende Stille, nie „hörte“ ich so eine Stille, hatte ich die Möglichkeit. Auch Schweigen sagt mir viel. Kaum ein Mensch wird verstehen, dass ich fast dreitausend Kilometer weit fliegen musste, um zu gewissen Erkenntnissen zu gelangen. Jetzt bin ich wieder Hier (ich sagte nicht zu Hause), aber es geht mir besser, viel besser als vor Antritt der Reise. Ich bin kein Mensch der Wildnis, aber ich mag die Schönheit der unberührten Natur, die Ruhe und die Einsamkeit, die keine wirkliche ist,

wenn man mit liebenswerten Menschen umgeben ist. In Kello, wo Pertti, Finnja und Finn bei Freunden, die so richtige Freunde wohl doch nicht waren, vorläufig untergekommen sind, gab es häufig wegen banaler Sachen Streit. Das war ein Wermutstropfen, ich fühlte mich manchmal arg deplaciert ( selber Schuld!) Volker, auch ein Grafiker, Halbindianer und ein „Krieger“, wie er sagte, ist wohl als Goldwäscher und Naturmensch zu sehr Fantast um seine Ziele verwirklichen zu können ( so ganz klar waren mir diese Ziele sowieso nicht, eine Goldmine auszubeuten und zu vermarkten auf die eine oder andere Weise, ist ein knallhartes Unterfangen. Für Träumer und dem Alk zu nahe stehenden Menschen Illusion.)Ein Individualist, schwer zu begreifen für mich. Sein Buch habe ich gelesen, alles sehr interessant. Schade für ihn und seine Frau Tarja,

sie sind vielleicht auf ihre Art glücklich .Ich war für sie ein Eindringling, denke ich, sie haben sich nicht mal verabschiedet. Möglicherweise irre ich mich auch. Wir wollten erst die wirklich existente Goldmine besichtigen aber Pertti meinte, das wäre nicht das Richtige für mich. Bei Ulla und Matti auf der Inariinsel wäre es weitaus angenehmer, und das war es. Die frisch gefangenen Fische waren köstlich und die Umgebung einmalig, wenn auch Finnja große Angst vor den Bären hatte, die es dort gibt. Ulla und Matti sind ganz liebe nette Leute, sehr gastfreundlich, sauber und ordentlich, zum Lachen aufgelegt, obwohl auch in ihrer Familie bei weitem nicht alles zum Lachen ist. Schade, dass ich nicht finnisch kann oder wenigstens vernünftig englisch. Ich muss lernen! Genauso wie ich mit meinen Problemen fertig werden muss. Ich kann so viel bewegen, nur

mein Innerstes ist so schwerfällig, Ist idiotisch. Aber das wird allmählich schon wieder. Die Reise nach Finnland hat mich weiter gebracht. Ich habe nichts falsch gemacht und nichts zu bereuen. Genau das wollte ich einmal sagen können. Ich bedanke mich bei Pertti, Finnja und Finn für alles, was sie mir gegeben haben (es war mehr als ihr glaubt) auch für die freundliche Einladung wieder zu kommen unter besseren Umständen. Vielleicht komme ich eines Tages darauf zurück. Wer weiß?

überlegungen

Ein Reisebericht ist nur ein kleiner Eindruck. Nie vermag er alles wiederzugeben. Ganz besonders der emotionale Bereich kommt sehr zu kurz. Gila hatte Gründe ganz besonders den Menschen kennen zu lernen, dem sie so blind vertraute, dessen seltsame Ausstrahlung, sie zu einer geradezu leichtsinnigen Uneigennützigkeit veranlasste. Pertti übte eine fast mystische Faszination auf sie aus, oder ist er schlicht nur ein Betrüger, ein Lügner, ein gewissenloser Mensch, der die Gutmütigkeit oder die Dummheit einer verzweifelten Frau schamlos ausnutzt? Gila wollte das herausfinden, denn sie hatte zuweilen auch Zweifel, ob sie sich nicht doch wieder einmal einen Riesenfehler geleistet hätte. Das wäre ja nicht der erste. Nun, glaubt man dem Reisebericht, dann hatte Pertti es geschafft, Gila von den Zweifeln, was seine Redlichkeit anbetraf, zu

befreien. Gila ging erleichtert, gefestigt und mit vielen Erlebnissen geladen aus dieser Reise hervor. Sie vertraute Pertti, er hatte nicht gelogen. Er würde auch seine Schulden begleichen, so dachte Gila. Doch eines war ein wenig merkwürdig, schwer zu beschreiben. Die Achtung vor der Leistung dieses Mannes blieb aber seine Faszination war sehr gewichen. Der Zauber war fast weg und er verflüchtigte sich immer mehr, je weniger Gila von Pertti hörte. Die Magie einer seltsamen zwischenmenschlichen Beziehung drohte sich in ein trauriges Nichts aufzulösen. Vielleicht ist es dieses Schweigen, dieser unverständliche Rückzug Perttis, der Gilas Glauben an ihn zu erschüttern begann. Gila hatte sich ihrem gegenwärtigem Leben wieder verstärkt zugewendet. Sie hatte dann Rainer gefunden und mit ihm ihrem Leben eine Wende geben können. Mit ihm würde alles gut

werden. Gila hatte wieder Mut und ihr Leben schien sich nun auf der Sonnenseite abzuspielen. Aber musste deshalb eine Freundschaft zerbrechen? Gila erzählte in einer Mail Pertti von ihrem Glück und er reagierte seltsam mager, irgendwie pikiert. Hatte er sich etwa Hoffnungen gemacht? Nicht vorstellbar! Gila würde nicht in Finnland leben können. Viele Monate herrscht grausame Polarnacht und die Kälte ist unerträglich. Gila könnte nicht mehr die Verantwortung für kleine Kinder übernehmen und sie würde ihre Mutter in Deutschland nie ihrem Schicksal überlassen. Auch wäre die Hinnahme der wirtschaftlichen Unsicherheit unakzeptabel. Gila wollte nicht nur verzichten, sie wollte auch leben. Die Aufopferung für Kinder und Familie war in ihrem Leben bereits gelaufen. Nach ihrer Reise waren diese Erkenntnisse deutlicher denn je. Gila war auch ein wenig Realist, wenn auch einer mit viel Fantasie. Nur die Freundschaft wo

war sie nun? Pertti meldete sich nun gar nicht mehr. Gila mahnte die versprochene Rückzahlung ihres Darlehens an. Pertti hatte es versprochen. Es kam nichts, nicht einmal ein Lebenszeichen. Das war es also. Gila war sehr enttäuscht, nicht nur, weil sie ihr Geld nun auch wirklich selber benötigte, sondern, weil es keine Ehrlichkeit gab, weil ihr Vertrauen gescheitert ist, weil die Menschen doch nicht so gut sind. Sie sind schlecht, sie lügen, sie brechen alle Versprechen, sie sind unzuverlässig Sie sind unfähig zu kommunizieren, sie schweigen aus Feigheit. Gila wollte das alles vergessen. Sie hatte sich geirrt. Ihre Menschenkenntnis hatte sie genarrt. Gila fühlte ohnmächtige Wut, sie hatte versagt. Aber wenn nun etwas Schlimmes passiert ist, der Freund in einer misslichen Lage wäre, nicht schreiben konnte, wenn ihm etwas passiert wäre? Gila muss immer wieder darüber

nachgrübeln. Sie weiß, dass ein Leben höchst verschlungene Pfade bietet und oft die Nichtkenntnis aller Fakten zu fatalen Fehlurteilen führen. Außerdem will sie sich nicht eingestehen, einem derartigen beschämenden Irrtum erlegen zu sein. Die seltene und wundersame Mystik zwischen Menschen kann nicht einfach schwinden und einen so banalen Tod sterben. Ein Thema, dass mit Rainer leider nicht besprochen werden kann. Rainer ist ein Verstandsmensch, wenn auch ein musischer, auch ein verständnis- und liebevoller. Aber die Geschichte mit Pertti würde ihn nicht nur überfordern, er wäre auch verärgert. Rainer möchte die Vergangenheit ruhen lassen und mit Mystik darf man ihm nicht kommen. Er ist mit Sicherheit der Auffassung, dass Gila sich dem Thema besser nicht mehr widmen solle. Er würde also nichts verstehen oder noch schlimmer, Rainer würde es falsch deuten. Möglicherweise würde sich

zwischen Gila und Rainer deshalb eine völlig unnötige schlechte Stimmung aufbauen. Das wollte Gila ganz und gar nicht, denn sie liebte nur Rainer, er sollte nicht verletzt werden. Gila sprach also mit Rina über ihre verworrenen Gedanken, über ihre Sorge keine Arbeit mehr zu finden und über die seltsame Geschichte, einem verzweifelten, fremden Mann finanziell geholfen zu haben und zwar aus wenig nachvollziehbaren Gründen heraus. Rina erfuhr die ganze Story. Man müsse der Sache nachgehen, war ihre klare Meinung. Rainer wird die Auszeit verstehen, jedoch möglicherweise nicht billigen, weil so wenig erfolgsversprechend, und deshalb würde er davon abraten. Es bestand allerdings auch die Gefahr, dass er verletzt sein könnte, dass er die Reise missdeutete. Das Beste wäre, er würde mitkommen, aber dafür war keine Zeit und vermutlich würde er es auch nicht wollen. Rina

und Gila überlegten, was zu tun sei, um eine Klärung herbeizuführen. Eigentlich wollte Rina schon immer einmal mit Gila auf Reisen gehen. Man würde eine wundervolle Zeit haben, neue Horizonte würden sich öffnen. Sie würden sich um ein Vieles näher kommen, Rina fühlte sich schon immer sehr zu Gila hingezogen und vielleicht könne man auch alle anderen Antworten finden, eventuell auch Gilas Geld. Rina hatte den Wunsch, aufzubrechen. Sie würden einfach nur Urlaub machen, vielleicht sogar Abenteuer erleben und sie wollte nun auch diesen merkwürdigen Mann sehen, falls sie ihn denn aufspüren könnten, denn seine aktuelle Adresse war Gila unbekannt. Es hieß, dass er mehrmals umgezogen war. Man würde sich durchfragen. Rina hoffte, mit ihren Sprachkenntnissen durchzukommen. So planten die Frauen ihre Fahndung nach Pertti. Keiner sollte es erfahren, denn niemand würde dafür Verständnis

aufbringen. Erklärungen, wenn erforderlich, könne man nach der Rückkehr abgeben. Sie würden nichts Böses tun. Rainer wird Vertrauen und Geduld zeigen. Er wird Gila verzeihen. Eine große Liebe erträgt Zerreißproben. Rina rät Gila dazu, einen Brief zu schreiben, damit sich Rainers Sorge um sie mildert. Rina wird den Flug buchen, man wird sich in Stockholm treffen und gemeinsam weiter fliegen. So einfach ist das. * Rainer grübelte, versuchte sich zu erinnern. Was war Gila nur seltsames passiert? Welchen äußeren Einflüssen war sie ausgesetzt? Was war bloß noch offen? Wo war sie als Single eigentlich? Eigentlich immer zu Hause. Sie scheute sich, alleine in den Urlaub zu fahren. Doch, fiel Rainer ein, einmal sprach sie von einer ziemlich merkwürdigen Finnlandreise, zumindest die Vorgeschichte war

ein Unding. Rainer musste konzentrierter nachdenken. Hier stimmte etwas nicht. Es gab damals ein ganz kleinlautes Geständnis Gilas, ein ihr scheinbar unbehagliches Thema. Es ging um einen Mann, der ihr Geld schuldete, eine nicht unerhebliche Summe. Sie hatte bislang keinerlei Rückzahlungen erhalten, auch nach Mahnung nicht. Soviel wusste Rainer, er hatte es nicht nachvollziehen können und Gila geraten, diese Dummheit zu vergessen. Sie war wohl einem Betrüger aufgesessen. Frauen fallen manchmal auf Männer herein und lassen sich ganz unbemerkt, keiner versteht das, ausnehmen wie eine Weihnachtsgans und wie zur Krönung dieser Dämlichkeit, verteidigen sie noch völlig unverständlicherweise diese Kerle, zeigen sie nicht an, unternehmen nichts. In Gilas Fall ist die Sache noch viel verrückter, denn sie durfte dieses Geld eigentlich gar nicht besitzen, sie hatte es nur retten können aus der vermaledeiten Selbständigkeit, somit gab es

keine Chance, es legal einzufordern. Rainer hatte ihr deshalb geraten, die Sache einfach aus dem Gedächtnis zu streichen, abzuschreiben. Man hat halt Verluste im Leben, mal aus eigener Schuld, mal aus den unglücklichen Umständen heraus. Sie sind meist unwiederbringlich verloren. Aber das Leben kostet es nie. Gila sprach nie wieder über diese Geschichte. Es war ihr peinlich, warum auch immer. Sie hatte sich einen Fehler geleistet. Ihr Vertrauen, ihr dummes, kindliches, illusionäres Vertrauen in das Gute im Menschen hatte eine ziemliche Schlappe hinnehmen müssen. Das ist sicher sehr bitter. Rainer gewann immer mehr die Überzeugung, dass diese üble Story mit Gilas Verschwinden in Zusammenhang stehen könnte. Nein, sicher war er sich nicht, aber dies war eine unabgeschlossene Geschichte. Ob Gila…? Wird sie es gewagt haben, diesen Mann aufzusuchen um ihn zur Rede zu stellen, um Ihr Geld wieder zu bekommen? Das wäre natürlich

der Hammer, Rainer hätte auf alle Fälle davor gewarnt und sie ganz sicher davon abzuhalten getrachtet. Er wäre allenfalls mit gefahren, aber er hätte sie wohl doch ganz gewiss nicht allein fahren lassen. Alles zu unsicher, vielleicht tatsächlich gefährlich, und ganz bestimmt nicht erfolgreich! Rainer wollte sich gerne Gewissheit verschaffen für diese Vermutung. Teufel, er würde es herausbekommen. Vielleicht doch über den Flughafen, man speichert sicher alle Passagiere, die eincheckten. Rainer fuhr also zum Flughafen und befragte die in Frage kommenden Fluggesellschaften, die mit ihren Fliegern Ziele in Finnland anflogen. Das war mühsam und man war nicht sehr kooperativ. Der Abflugtag war bekannt und der Name ebenfalls. Es müsste doch zu klären sein, wenn Gila sich tatsächlich auf diese Reise begab, wenn Rainer sich nicht in seinen Vermutungen täuschte. Und er hatte sich nicht geirrt. Gila war über Stockholm

tatsächlich nach Finnland geflogen. Das war ein dicker Hund. Rainer fuhr völlig bestürzt nach Hause. Welcher Teufel hatte Gila geritten, sich in ein derartiges Abenteuer zu stürzen? Ist sie nun total verrückt geworden? Was will sie dort? Nie würde sie ihr Geld erhalten. Rainer zweifelte daran nicht im Geringsten. Gila ist eine unverbesserliche Idealistin. Hatte er ihr nicht dringend geraten, die Sache zu vergessen. Wer weiß, wo sie jetzt gerade ist? Rainer begann sich große Sorgen zu machen. Wie kann sie nur so dumm sein und warum fährt sie, sich in ein Geheimnis hüllend, einfach davon? Rainer ist enttäuscht. Gila hätte sich mit ihm über ihre Pläne unterhalten müssen. In einer Partnerschaft sagt man sich alles, man geht die notwendigen Wege gemeinsam oder stimmt sich ab. Man hat einen Anspruch, zu wissen wo der Partner sich aufhält. Wie konnte sie ihn so behandeln, so ausschließen? In ähnlicher Art und Weise richtet sich Rainers gedanklicher

Unmut immer wieder auf Gila bis er endlich genug von seinen Verwünschungen hat und ihm bewusst wird, dass er damit das Problem nicht löst. Negativdenken hilft keinen Schritt weiter, weder ihm noch Gila dienen jetzt Schuldzuweisungen. Was ist also zu tun? Rainer will versuchen zu verstehen und sich daraus gewissermaßen eine Strategie für eventuelles Handeln erarbeiten, falls denn von ihm überhaupt ein solches erforderlich wäre. Ein Mann muss handeln! Blöder Spruch, findet Rainer plötzlich. Er würde zunächst einmal sich gedanklich mit Gilas Problem auseinanderzusetzen versuchen, ehe er wertet oder gar verurteilt. Wie oft hatte er mit Gila über Vorurteile gesprochen. Leider neigen Menschen immer wieder dazu, nur von ihrem Horizont aus betrachtet, die Dinge zu bewerten und ohne Kenntnis über alle Fakten einzuholen, das vernichtende Vorurteil selbstherrlich zu fällen. Sollte nicht wenigstens Gilas Tun, ihre

Entscheidung, diese Reise anzutreten, ausführlichster und sorgfältigster Betrachtungen wert sein? Das hatte sie verdient. Rainer wollte sich an dem verbleibenden freien Tag intensiv bemühen, in Gilas Innenleben zu tauchen. *

rina und rainer

Rina war nun sehr erfüllt von ihrem Plan, mit Gila auf Reisen zu gehen. Das wollte sie schon früher. Immer passte es nicht und Gila war dafür nicht zu begeistern. Sie war schwer aus ihren vier Wänden herauszubekommen. Man konnte jederzeit mit ihr stundenlang über die erstaunlichsten Themen sprechen aber unter Leute mochte sie ungern gehen. Das hatte nichts mit dem Altersunterschied zu tun. Es war Gilas Phlegma, ihre Menschenscheuheit, ihre persönliche Zurückgezogenheit. Sie konnte sich vergraben. Rina war quirlig und wollte viel, viel zu viel. Sie stellte sich hohe Ziele, fing allerlei an und gab es wieder auf. Rina wusste um ihren Hang, sich zu übernehmen. Sie befand sich im Dauerstress und jedes Mal, nachdem sie mit Gila ein paar Stündchen zusammen war, kehrte wieder wohltuende Ruhe in ihren Körper ein. Sie fühlte sich bei der Freundin seltsam

entspannt und ihre Probleme traten eigenartigerweise in den Hintergrund. Gila war ausgeglichen und wirkte heiter gelassen, obwohl sie durch die Vergangenheit geprägt sein musste. Manchmal schien es als würde kein Teufel ihr je etwas anhaben können. Rina glaubte, hielt sich für religiös, allerdings ohne zu frömmeln. Sie war keine Kirchgängerin, hielt lieber alleine Zwiesprache mit ihrem Gott, nur seine Antworten waren reichlich mager. Eigentlich war es stets ein Monolog. Dennoch, selbst dies war mitunter hilfreich. Sorgen, Nöte laut auszusprechen ist der erste Schritt für deren Bewältigung. Mit Gottes Hilfe wird das schon klappen. Doch die blieb aus, Rina musste wie immer selber ran und meistens löste sie die Aufgaben, wenn auch fast auf dem Zahnfleisch krauchend, wie Gila immer sagte. Gila musste dies auch, tat es, ohne einen Gott um Hilfe anzuflehen. Allerdings vertrat sie auch die Auffassung, dass man sich anvertrauen sollte.

Wie auch immer, eine vertraute Person benötigt ein jeder um sich zu erleichtern, womit das Problem als solches lange nicht behoben ist, dennoch alles wird leichter, wenn ein Wesen um die Schwierigkeiten weiß und im Glücksfall eine vernünftige Meinung dazu hätte. Rina fühlte sich überfordert und ausgelaugt. Manchmal verfluchte sie einfach alles, ihr Schicksal, sich selber und vor allem die Männer dieser Welt, dabei würde sie so gerne mit einem Mann durchs Leben gehen. Aber Rina dachte verzweifelt, dass es für sie den Richtigen vermutlich gar nicht gäbe, zumindest nicht in der Nähe. Alles Schrott, was so frei herumlief und noch auf Weibchensuche war. Die meisten waren unreif und trachteten im Übrigen nur danach, in die Kiste zu springen. Schön und gut, sie wollte auch das aber nicht nur. Rina hatte Ansprüche an Geist und Herz, Gemüt, Lebenstüchtigkeit und gleichermaßen sensible Körperlichkeit. Entweder waren die Kerle

dämlich, hässlich oder bereits vergeben. Das war derzeit ihr herbes Fazit ihrer Suche und Erfahrungen. Rina war verbiestert, suchte in ihrem oft selbst inszenierten Stress nach Ersatzbefriedigung ohne sie zu finden. Sie hatte nun keine Zeit, sich auf eine noch intensivere Partnersuche zu begeben. Mal ist Schluss, sollte er sie doch finden. Schließlich ist sie noch nicht zu alt und verknöchert, um nicht doch noch gefunden zu werden. Gila meint das auch. Es gibt immer glückliche Zufälle. Nur wann und wo einem das große Glück zufällt, bleibt geheim. Zu blöd dieses Geheimnis um die Zufälle. Gila sagt ja immer, man muss ein wenig lenken und dem Zufall die Arbeit erleichtern, einzutreffen, und ein bisschen Kacke wäre sowieso immer dabei. Rina muss schon wieder lachen, wie Recht Gila hat. Aber wann und wie leistet man eine derartige Geburtshilfe? Die Frage nach dem Wann ist sehr berechtigt. Jegliches Bemühen erfordert Zeit und den

Einsatz von Energie. Woher sollte man dies kostbare Gut bloß nehmen, fragte sich Rina. Gila hat gut reden, sie hat scheinbar immer Zeit. Wieso hat sie bloß immer diese Zeit? Nimmt sie sich nichts vor? Gila war voll berufstätig und lebte mit ihrer alten Mutter, die einiges an Aufmerksamkeit benötigte. Gila war für den Haushalt verantwortlich, Hilfe gab es nicht. Sie hatte keinen festen Partner, höchstens mal den einen oder anderen Versuch, keiner war für sie der Richtige. Eines ihrer Kinder war auch noch in der Ausbildung. Gila musste mit ihren paar Kröten rechnen, kam aber augenscheinlich irgendwie klar. Eigentlich war sie in einer ähnlichen Lage wie Rina bis der glückliche Zufall Gila traf in Form von Rainer. Es sei ihr herzlich gegönnt. Aber dies kam erst viel später, vorher setzte Gila dafür Zeit ein und eine bewundernswürdige Energie. Sie öffnete Tore für diesen Zufall. Gila hat Vertrauen und eine fast kindliche Offenheit.

Rina zeigt nicht gerne ihre Gedanken, lacht, wenn ihr zum Weinen zumute ist, will keine Schwäche zulassen. Kein Fremder darf Tränen entdecken. Sich zu öffnen, bedeutet sich preiszugeben, Angriffsfläche zu bieten. Das wäre doch Leichtsinn, geradezu dumm wäre es, anderen die verletzbare Innenseite zu zeigen. Man wäre doch Verlierer von vorn herein. Heute ist immer nur Clevernis gefragt und perfekte Leistung. Gila scheint irgendwie ganz anders aufgestellt zu sein, völlig anders. Ihre Offenheit ist atemberaubend, entwaffnend. Manchmal ist sie aber auch jenseits jeglicher Realität, scheint sich immer wieder Illusionen zu machen, was das Gute des Menschen an sich anbelangt, lässt sich ausnutzen, glaubt und glaubt immer wieder an die Ehrlichkeit fremder Menschen, fremder Männer. Unsinn! Gila mystifiziert menschliche Beziehungen, malt Bilder unverständlichen Inhalts, lächelt,

wenn Rina deutet, hinter den Vordergrund zu schauen vermag, strahlt, wenn Rina Texte versteht. Rina möchte über Bilder nachdenken, möchte sich in Versen wieder finden, möchte spekulieren und Nuancen entdecken. Bei und mit Gila gibt es viele Möglichkeiten, das eigene Ich zu finden. Da ist Gesprächsstoff, da ist die Zeit dafür, auch für das Lachen und Gruseln gleichermaßen. Da wäre zum Beispiel die Sache mit den Augen. Gila malt Augen, nicht nur weil sie sich lange Zeit verfolgt und beobachtet fühlte, sondern weil Augen offensichtlich für sie einen ganz besonderen Stellenwert besitzen. Ohne den Körper, ohne Gesicht haben Augen immer noch eine unbeschreibliche Ausdruckskraft. Nur wirken sie so losgelöst und verselbständigt immer etwas schaurig. Augen sind das Hauptinstrument, um die Umwelt wahrzunehmen, sie haben Schlüsselcharakter. Sie sind in der Lage, stumm zu sprechen und

nicht nur das, sie vermitteln Gefühle. Augen sind kommunikativ, sie können uns das Fürchten lehren aber auch hingebungsvoll unsere Liebe verraten. Sie erscheinen uns oft rätselhaft und geheimnisvoll, denn sie können genauso gut täuschen, was sicherlich eine hohe Beherrschung des Menschen voraussetzt, das ist sehr selten. Im Normalfall sind Augen ehrlich in ihrem Ausdruck, das heißt sie vermitteln wahrheitsgemäß, was in der betreffenden Person vor sich geht. Gerne tragen die Menschen dunkle Brillen, um sich nicht zu verraten durch ihren Augenausdruck. Ein Mensch ohne Augenlicht hat es außerordentlich schwer, man bemitleidet ihn. Natürlich kann sich ein Auge täuschen lassen, auch das allerschärfste. Wenn das Gehirn nicht mitspielt, nützt ein gutes Auge wenig. Es sieht Bilder, die es nicht versteht. Sicher steht ein Hirn über allen Dingen, aber Gila malte nie ein Hirn, denn es vermag wohl alles zu steuern und zu lenken

aber seine Beschaffenheit lässt keine kommunizierende Ausstrahlung zu. Augen können schön oder hässlich sein, ein Mensch schaut dem anderen zuerst in die Augen als wenn er damit die dringendsten ersten Fragen beantwortet bekäme. Oft ist es auch genau so, nämlich dann, wenn sich Menschen Kennen lernen wollen, wenn sie sich näher miteinander befassen möchten, dann scheint die Ausstrahlung über die Augen fast entscheidend zu sein. Man erfasst damit die jeweilige Person und trifft sofort eine Entscheidung. Manchmal gibt es keine weitere Chance gewissermaßen hinter die Augen zu schauen. Es ist nur ein Augenblick, ein einziger Augenblick, der über Leben und Tod befindet. Die Augen haben einen absolut hohen Stellenwert in der Kunst, im realen Leben und in den Träumen. Sie besitzen Symbolcharakter, können tiefsinnig Situationen beschreiben, sie können Wege in das Innere, das Hintergründige eines Bildes weisen, wenn der

Betrachter es möchte. Ein Mensch, der nur über die Augen spricht, ist in der Regel introvertiert, gehemmt, hat Probleme. Das ist ein wenig kompliziert. Rina liebt diese Art von Kompliziertheit, denn sie hat nichts mit Unehrlichkeit oder Hinterhältigkeit zu tun. Ist sie doch selber durch und durch eine schwierige Persönlichkeit geworden. Eigentlich hielt sie sich nicht für schwierig aber die Probleme bei der Partnerschaftswahl, ihre Ansprüche zeigten eine deutliche Tendenz zum Übersensiblen. Gila meint, das wäre in Ordnung. Wahrscheinlich sind musische Menschen die Mimosen ihrer Spezies. Sie hören das Gras wachsen und die Flöhe husten. Das kann von Vorteil sein aber wiederum auch sehr anstrengend für alle involvierten Personen. Ganz besonders dann, wenn der Partner ein ähnlich veranlagtes Seelchen ist. Rina hatte einen Freund, der alles in allem ein toller Mann war, dennoch ging die Beziehung auseinander. Es gab Spannungen der

unerträglichen Art. Rina fühlte, dass dieser Mann sie zu vereinnahmen trachtete. Sein Geltungsbedürfnis, seine Art sich darzustellen, sich vor anderen Menschen zu produzieren, sie damit völlig in den Hintergrund zu spielen, kränkte sehr. Er war in ihr Haus eingezogen, nahm alles hemmungslos in Beschlag. Kochte wundervolle Gerichte, erntete das Hohenlied der Gäste. Rina durfte die Töpfe abwaschen. Ein wundervoller Liebhaber, ein exzellenter Musiker, ein gut aussehender Mann mit sehr viel Charme und sehr guter Bildung übernahm ihr Leben. Er setzte sich in das gemachte Nest, stolzierte mit freiem Oberkörper selbstbewusst durch alle Räume. Rina fühlte sich fast überrumpelt von soviel Traummann. Wo war sie eigentlich inzwischen? Hatte er sie schon aufgeweicht oder angeknabbert? War sie noch die alte Rina oder nur noch die Frau ihres über sie hereingebrochenen Freundes. Sie fasste sich instinktiv immer noch an den Hals, wenn sie

manchmal mit Gila über dieses Kapitel sprach. Er nahm ihr die Luft, er war wahrlich atemberaubend. Er konnte soviel und alles viel virtuoser als jeder andere und als Rina sowieso, seine Liebe war perfekt und unerschöpflich. Nur mit seiner realen Lebenstüchtigkeit war es nicht weit her, nämlich sich zu ernähren, zu wohnen, einen alltäglichen Beruf auszuüben, das wollte ihm nicht gelingen. Oh, er hatte einen erlesenen Geschmack, er wusste, wie man sich kleidet, wo man einkauft, was man isst und wie man sich unterhält, wie man mit Gästen umgeht. Er wusste alles. Doch was wusste er von Rinas Gemüt? Bemerkte er, dass Rina mit seinem Wesen allmählich überfordert wurde? Anerkannte er ihre Leistungen? Wollte er das Wesen seiner Freundin begreifen oder erforschen? War Rina sein Mittelpunkt oder war er es nur selber, liebte er sich nur ausschließlich selber und benötigte nur Rinas Bewunderung? War er eigentlich nur ein

armseliger, hoffnungsloser Narziss, der sich nur auf einem schönen Podest wohlfühlen könnte? Rina erkannte das und löste sich. Das war nicht einfach aber es war klug. Sie würde sich nicht aufopferungsvoll hingeben für einen Mann, der sie nicht ebenso wertschätzt. Somit war Rina wieder unbemannt, allein, einsam und zuweilen sehr, sehr unglücklich. Zwischendurch tauchten einige Kandidaten auf, die Interessen bekundeten. Aber nein, sie waren es nicht wert. Sie hatten das Bewusste nicht drauf, sie wollten ohnehin nur ein naives Betthäschen. Rina hörte Gilas abenteuerliche Geschichte und wollte nun unbedingt endlich ausbrechen, nicht um einen Mann zu finden, nein, sie hatte nur Hunger auf ein aufrüttelndes Abenteuer und unstillbaren Durst auf den wundervollen Trank, den man Wasser des Lebens nennt. Vielleicht würde sie es in Finnland auf der Suche nach diesem geheimnisvollen Mann trinken können.

Vielleicht würde sie inspiriert, angereichert mit den Energien, die sie hier für die alltäglichen Banalitäten ständig verpulvern musste, zurückkehren. Die Welt könnte in einem völlig anderen, warmen Licht erstrahlen. Mit Gila zusammen wäre dies eine wirklich viel versprechende Reise. Keiner sollte sie nun davon abhalten können, auch Rainer nicht Tut mir leid, dachte Rina, er würde es sicher nicht gestatten oder gar verstehen. Gila würde einen Rückzieher machen. Nein, das wird Rina keinesfalls zulassen. Die Sache wird jetzt durchgezogen! * Rainer bereitete sich vor, er wollte nun lesen, um zu verstehen. Ein umfangreiches Pensum war zu bewältigen. Gila hatte, als sie noch nicht zusammen wohnten, in unfassbarer Fülle mit ihm Gedanken in Mailform ausgetauscht. Täglich waren ein bis drei Mails eingegangen.

Dazu waren diese mit reichlich Anlagen versehen, in denen sich Gila über vielfältige Themenkreise auslies. Darüber hinaus gab es Tagebücher und Gedichte, Verse, Kurzgeschichten in Hülle und Fülle. Er wollte nicht unbedingt alles noch einmal gänzlich durchlesen, das wäre sicher zuviel und auch nicht nötig, da er es kannte. Er wollte Gilas schöpferische Kraft auf sich wirken lassen, vielleicht Wesentliches neu studieren, um sich in sie hineinzudenken. Rainer wanderte durch die Wohnung, sah sich Gilas Bilder an, zumindest die, die an den Wänden hingen oder einfach so herumstanden. Einige kannte er in ihrer Entstehung, wusste um die Motive und verstand die Aussage. Es war viel gemeinsames Erleben spürbar, viel Persönliches war eingeflossen. Einige Bilder waren gelungen, hatten Ausstrahlung, Anziehungskraft, auch Stil. Andere, besonders die der Vergangenheit, waren zum Teil düster, schwer durchschaubar,

mystisch und mit tiefsinniger Symbolik versehen. Manche drückten den Wunsch nach ruhiger, heiler Welt aus, es waren vorwiegend Landschaftsbilder. Es waren Bilder ohne Menschen, nur einsame Wälder, Wasser. Dann versuchte sie sich auch mit Selbstdarstellungen, mit Gesichtern aber auch Umarmungen zweier Menschen. Zum Teil gelungen, auch wenn die Körperhaltungen sicher sehr schwierig zu zeichnen waren. Gila wagt einfach zu experimentieren. Sie stellt sich der Aufgabe und arbeitet solange daran bis es gelungen scheint. Sie nimmt Hinweise an und setzt sie um. Nicht jedes Bild ist ein Kunstwerk, viele sind Fingerübungen. Gila weiß das. Rainer mag Gilas Bedürfnis zu malen und ihm gefallen einige Bilder recht gut, die mystischen allerdings weniger. Rainer ist der Meinung, dass das Düstere nichts vermag als unheimliche Gefühle freizusetzen, nicht weiter hilft, kein Problem löst. Rainer liebt Helligkeit, gelöste, freundliche

Stimmungen, warme Farben, Leichtigkeit in der Themenwahl. Eine möglichst optimistische Grundhaltung sollte aus den Bildern sprechen, mit denen er sich umgeben möchte. Gilas Bilder mit den Augen waren ein Gräuel. Sie sprachen eigentlich kaum darüber, die Darstellungen haben zuviel Bedrückendes. Gila wusste um Rainers Abneigung für derartige Themen. Rainer wollte mit Gila Schönes erleben, sie sollte nicht unter Albträumen leiden, sich im Vergangenheitstrauma bewegen. Rainer wollte ihr die ersehnte heile Welt geben, auch die verständnisvolle Zuwendung, die Achtung ihrer Persönlichkeit. Diesen Anspruch hatte er für sich selber ebenfalls reklamiert. Das müsste doch zu verwirklichen sein! Natürlich war es das. Wenn es nur jetzt diese Situation nicht gäbe. Bekümmert beginnt Rainer nun die Briefe durchzublättern. Gila war vielen Stimmungen unterworfen, hatte ausgiebig nach ihrem Ich

gefahndet, sich gefunden und neue Fragen aufgetürmt. Fragen, die das Leben betreffen, ihr Leben, ihre Schuld. Sie redete sich manchmal Schuldgefühle ein, dennoch hat sie augenscheinlich ihre Vergangenheit im Griff, kann zumindest mit ihr umgehen und äußert immer wieder, dass sie sich glücklich schätzt, nun vielleicht das und den Gesuchten gefunden zu haben. Rainer empfand ebenso. Ein Hoch auf den Zufall ihrer Begegnung. Gilas Mails waren aufschlussreich, ihr Charakter trat immer deutlicher hervor. Sie zeigte sich, sie öffnete alle Türen für ihn und ermöglichte letztlich den Neuanfang durch Risikobereitschaft mit einer gehörigen Portion an Vertrauen in ihn. Und es waren ganz wundervolle, beachtliche Liebesbriefe darunter. Nie hatte Rainer eine derartige Korrespondenz erlebt, locker, liebevoll, beständig und inhaltsreich, zuweilen sehr witzig und aufmunternd. Sie hatten sich so viel zu sagen und es war immer als würden sich

die Themen nie erschöpfen können. Leider hatte Rainer nicht immer so viel Zeit, um auf alles gebührend einzugehen. Gila verstand auch dieses und schrieb unbekümmert weiter. Manchmal fragte sie, ob es zuviel werden würde. Nein, natürlich nicht, Rainer genoss die Texte, Gilas Mitteilungsbedürfnis lockerte sein Alleinsein auf, es überbrückte auf ganz wundervolle Weise die Zeiten zwischen den persönlichen Zusammentreffen. Manchmal waren enorm passende Gedichte darunter, manchmal auch seltsame, die ihre Verfassung in einer ganz bestimmten Situation beschreiben oder ihre Grundhaltung zum Ausdruck bringen. Es waren zuviel als dass er darauf im Einzelnen darauf eingehen konnte. Manchmal war es fast als wären die Worte Gilas aus Rainers Hirn entnommen. Rainer blätterte nun in der Lyrik und stieß dabei auf einen kleines Gedicht über die Freiheit:

Meine Freiheit Mich bewegen, atmen, denken Selber die Geschicke lenken Möchte Nehmen, geben Kommen, gehen Menschen in die Augen sehen Will die Freiheit, alles zu verschenken Brauch die Freiheit, auch an mich zu denken Du bist Du Und Ich bin Ich Meine Freiheit ist für mich Richtig, wichtig Aber deine Hat den

Stellenwert Wie meine Ganz erstaunlich, dass ihm gerade jetzt diese Verse unter die Augen kamen. Sie sind so treffend und so verständlich offenbaren sie den Wunsch eines jeden Menschen. Nur, dass es in der erlebten Vergangenheit immer ein elender Kampf war, in den zwischenmenschlichen Beziehungen ein so einfaches und natürliches Verlangen durchzusetzen. Die Unantastbarkeit der Persönlichkeit auf der Ebene der Gleichstellung, der viel zitierten und leider doch so theoretischen Gleichberechtigung. Die für sich selber gewünschten Freiheiten nur einer Partei zuzugestehen, nämlich der eigenen, ist tödlich für die Harmonie. Die Freiheit auch das Ich zu bedenken, sich Zeit für sich selber zu nehmen, sollte der Partner schon ermöglichen, verstehen und auch sanktionieren.

Aber jeder erhält den gleichen Stellenwert, die gleiche Chance, sich Freiheiten zu gestatten. Das hat viel mit gegenseitiger Achtung und Vertrauen zu tun. Es sollte ein jeder sein Selbstwertgefühl entwickeln und fördern dürfen, nur nie zu Lasten des anderen. Das war absolut Rainers Auffassung. Aber konnten sie diese wunderbaren Vorstellungen nun endlich in ihrer Beziehung positiv verwirklichen? Rainer meinte dies bejahen zu können. Doch wie stand es um Gilas Selbstwertgefühl? Hatte sie wirklich die Freiheit alles zu verschenken im wahrsten Sinne des Wortes? Rainer dachte an die finanzielle Zuwendung Gilas für diesen merkwürdigen Typen, der irgendwo in Finnland Gilas Geld verbrauchte und bisher nichts zurückgab, warum auch immer. Gila hatte es gegeben als sie sich noch nicht kannten, weit vor ihrer Zeit. Sie war darüber niemandem Rechenschaft schuldig, es war ihre ureigenste Entscheidung, wenn auch

völlig absurd für jeden Außenstehenden. Scheinbar wusste Gila um die Merkwürdigkeit ihrer Handlung, denn offenbar hielt sie es geheim. Die Familie sollte es nicht erfahren. Gila fürchtete Vorwürfe, Vorhaltungen der Bedürftigen in der eigenen Familie. Sie würde mit Sicherheit auf größtes Unverständnis stoßen, möglicherweise würde man sie nicht nur maßregeln sondern auch schwer belächeln. Gila müsste nun zugeben, dass sie sich maßlos geirrt hat, sie müsste einen Riesenfehler eingestehen. Das ist mehr als bitter. Rainer glaubte nun zu verstehen, warum Gila das Thema Finnland absolut nicht behagte, ihm gegenüber, jedem gegenüber. Dazu kommt ihre Situation heute, ihre Arbeitslosigkeit, ihre Einkommenslage. Sie hatte sich etwas geleistet, das sie sich absolut nicht leisten konnte. Sie hat eigene Sicherheiten an einen Fremden abgegeben. Wie sollte sie aus diesem Dilemma kommen, wenn sie nicht einmal weiß, warum keine Rückzahlung einging und ob

es dafür überhaupt je eine Hoffnung geben könne. Mit Sicherheit glaubt Gila, wenn sie nun nach Finnland flog, dass es eine gab. Rainer hielt dies für ein aussichtsloses Unterfangen. Damit schließt sich der Kreis. Gila muss dies herausfinden und konnte Rainer wegen seiner Haltung, seiner gesunden Haltung, nicht einbeziehen. Sie muss ihr Desaster klären, Gewissheit finden, ganz gleich mit welchem Ausgang. Gila war stur und beharrlich, sie würde es zu Ende bringen, für sich selber, für ihr Selbstwertgefühl. Plötzlich signalisierte Rainers Handy eine SMS. Der Absender war Rainer unbekannt. Es erschien folgender Text: Rainer, Lieber, bin in FIN auf der Suche nach Ehrlichkeit, Gewissen und meinem Geld. Sei unbesorgt, mir geht es gut. Rina ist bei mir. Bitte verzeih! Lg und sei umarmt.

Gila Also doch. Rainer wusste im Moment nicht, ob er nun erleichtert, höchst besorgt oder gar total verärgert und auch traurig sein sollte. Zumindest erleichtert, weil eine Ungewissheit beseitigt war. Ihr war bislang nichts zugestoßen, sie wollte also wie vermutet diesen Sachverhalt aufklären, wenn auch die Herangehensweise für Rainer immer noch sehr befremdlich war. Sie schien es zu wissen, denn dieses „ bitte verzeih“ war eindeutig. Gila suchte also neben ihrem Geld, Ehrlichkeit und Gewissen. Das wird schwer. Rainer befürchtet für Gila herbe Enttäuschungen, wenn die Weiber es überhaupt schaffen, diesen Kerl ausfindig zu machen, bei dem offensichtlich diese Ehrlichkeit nebst Gewissen vermutet wird, der vielleicht sogar die geliehene Kohle haben könnte, was wiederum oben angeführte Werte ausschließen

würde. Rainer muss sich erst einmal einen Brandy einschenken. Allmählich reichte es. Er sprang auf, rannte durch die Wohnung, starrte auf Gilas Selbstporträt, auf dem sie so ernst und verbissen, leicht gequält wirkend, dem Betrachter hoch erhobenen Hauptes in die Augen schaut. Als würde sie sagen wollen: „ Ich zieh es durch, was immer auch passiert“! Rainer hörte sie deutlich diese Worte sprechen. Er ging zurück und ihre Augen begleiteten ihn als würde sie eine Bestätigung, eine Antwort erwarten. Rainer fasste sich an seinen Kopf und begriff zunächst gar nichts. Was ist jetzt wieder? Wird er nun auch irre? Wieso eigentlich auch? Wer ist hier denn noch verrückt? Er ging wieder zu diesem Bild. Gila sah ihn an und sagte:“ Sprich mit mir, bitte, sag was, antworte mir.“ Rainer schwieg erst verblüfft und sagte dann:“ OK, du bist so was von unmöglich, ich könnte

dich erwürgen, aber du treibst dich ja in der Weltgeschichte herum…ohne mich! Ich kann dich nicht einmal würgen, geschweige, dich übers Knie legen. Bist du dir im Klaren, wie sehr du mich in Rage gebracht hast. Ich hatte große Sorge und die habe ich immer noch und wieso ist Rina bei dir, wieso weiß sie mehr als ich. Ich hasse Ungewissheit!“ Gila schien gequält zu sagen:“ Ich auch…es tut mir leid, ich musste dahin, versteh doch, es hat nichts mit uns zu tun. DU bleibst DU und ICH muss ICH sein dürfen. Zwischen uns ändert sich damit oder dadurch gar nichts.“ Rainer fand sich auf der Couch wieder. Es war dunkel geworden. Sollte er auf diese SMS antworten? Gila wartete sicher auf eine Reaktion. Man müsste sie eigentlich warten lassen, so zur Strafe. Nein, das wäre wohl sehr kindisch und wem könnte das wohl nützen. Sie wartet auf seine Antwort, sie wird sie brauchen, wer weiß, wo sie überhaupt war und

ob es ihr wirklich gut gehen würde, war nicht sicher. Wann würde sie überhaupt wieder nach Hause kommen? Sie kann doch nicht, wenn sie diesen Mann nicht findet, ewig dort bleiben. Außerdem bucht man immer einen Rückflug. Rainer überlegt noch eine Weile und entschließt sich einen sachlichen aber nicht unfreundlichen Text zu senden: Hallo Gila, viel Glück bei der Suche! Wann kommst Du nach Hause? Lg Rainer. Rainer lag nun im Dunkel des Abends auf der Couch und starrte in den ihm so leer erscheinenden Raum. Der Fernseher und das Radio, die gewöhnlich dudelten, waren stumm. Rainer hatte sie die Tage nicht eingeschaltet, auch stapelten sich die Zeitungen. Nichts hatte ihn interessiert. Wie seltsam! Das war ungewöhnlich und nun hielt er auch noch Zwiesprache mit Bildern. Ganz genau hatte er

klar und deutlich Gilas Stimme vernommen, hätte er sonst geantwortet? Es wird durch die Überreizung der letzten Tage eine Sinnestäuschung schon mal vorkommen können. Eigentlich glaubte Rainer an dergleichen nicht, dennoch werden Menschen in besonderen Situationen schon mal von den eigenen Fantasien genarrt. Erstaunlich, dass dies auch ganz ohne künstliche Verneblung durch Alkohol etc. funktionieren kann. Er hatte geantwortet und zwar laut, etwas später eine SMS im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte abgesetzt. Rainer sprach öfter zu Hause laut seine Gedanken aus und sicher hätte er auch ohne Gilas Stimme per SMS geantwortet. Was ist also so seltsam? Er war einer Täuschung erlegen, hatte eine Stimme gehört und geantwortet. Na und, kein Grund zur Panik! Schließlich waren seine Nerven durch Gilas Kapriole ziemlich strapaziert und er hatte sich dieser Situation ununterbrochen gestellt und

auch entsprechend konzentriert agiert. Seine Gedanken haben sich nur mit Gilas Verschwinden beschäftigt und er hatte sich darüber hinaus noch ausgiebig mit ihren Texten, Gedichten und Bildern befasst, auch mit den mysteriösen. Irgendwann entstehen dann irreale Momente, sogar in begrenztem Umfang gewisse Handlungen. Doch was wäre, wenn sich diese „Vorfälle“ wiederholen, verstärken? Rainer verdrängte zunächst diese Frage. Wie involviert muss ein Mensch sein, um nur aus der Vorstellungskraft heraus, auf Grund seiner eigenen Fantasie, zu handeln? Eine angespannte, vielleicht auch verzweifelte Lage, lässt individuellen Spielraum für Reaktionen, Aktionen, die in ruhiger, normaler Verfassung wahrscheinlich kaum in Frage kommen würden. Ein sensibler, vielleicht auch leicht beeinflussbarer oder gutgläubiger Mensch wäre hier gefährlich anfällig. Rainer ist nicht anfällig, er ist da sicher und stark, davon ist er sehr

überzeugt. Für und in Gila mag eine ähnliche, nur um ein Vielfaches verstärkte Situation über einen längeren Zeitraum bestanden haben. Das hat sie scheinbar veranlasst, bar jeder Vernunft, einem Fremden dieses unverständliche Vertrauen entgegen zu bringen, ihm ihr Geld zu geben ohne jegliche Sicherheiten, es je wieder zu sehen. Sie muss quasi einem gewissen schwer definierbaren Zwang ausgesetzt gewesen sein. Kann man hier in diesem Fall überhaupt von Schuld sprechen? Schwer zu sagen. Ja und nein! Ja, denn Gila war oder ist ja nicht unzurechnungsfähig. Sie tat es scheinbar im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, allerdings animiert durch den nicht unerheblichen Einfluss dieses Mannes, was gewissermaßen zu Gunsten der „Angeklagten“ spräche. Aber sie war sich auch gewisser Konsequenzen voll bewusst, sonst würde sie es nicht so sehr geheim halten wollen. Doch diese Konsequenzen…, hatte sie

dieselben nicht erst viel später wirklich begriffen, nämlich als keine Rückzahlungen eintrafen, als dieser Mann sich aus ihrem Leben total zurückzog? Gila fühlte sich genarrt, sie war einem Trugbild erlegen. Eine bittere Erkenntnis, ihre Menschenkenntnis war fehlgeschlagen, wieder einmal. Gila war manchmal auch Realistin, ihr wird das inzwischen klar geworden sein, dass sie sich geirrt hatte. Dennoch, sie will Gewissheit, sie will der Angelegenheit auf den Grund gehen. Deshalb diese Reise! Rainer muss nun fast ein wenig Grinsen, denn ihm fällt plötzlich ein ganz blöder Spruch ein: „Ein Mann muss das tun, was er tun muss!“ Gila hat darüber auch immer lachen müssen. Nun, sie muss es also auch tun, was auch immer. Dann sei es halt so. Rainer fühlt ein wenig die Anspannung, die Verkrampfung weichen, denn er glaubte nun für Gila das so nötige Verständnis gefunden zu haben, wenigstens ansatzweise. Damit milderte

sich auch sein Groll etwas. Obwohl, so genau wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie er sich tatsächlich verhalten wird, wenn Gila wieder zu Hause sein würde, denn ihre Handlung war ziemlich krass und drohte doch die so harmonische, immer vertrauensvolle Beziehung zu gefährden. Ob ihr überhaupt bewusst ist, dass sie ein hohes Risiko eingegangen ist? Hat sie sich denn nicht überlegt, dass ein Mann ein derartiges heimliches Verlassen eventuell auch nicht tolerieren könnte? Oder hat sie das bedacht, gar einkalkuliert? Nein, eher nicht. Gila hat scheinbar grenzenloses Vertrauen in Rainers Verständnis gesetzt. Sie muss an eine, an seine schier unerschütterliche Liebe glauben. Das ist irgendwie unfassbar, fast wieder sehr schmeichelhaft, aber nur so kann es sein. Dennoch…sie hätte mit ihm offen sprechen sollen, sie hätte ihm erklären müssen wie wichtig ihr diese Reise ist bzw. das

Herausfinden einer Erkenntnis und Gewissheit. Rainer hätte es so eher noch tolerieren können, wenn auch mit vielen Vorbehalten. Doch nun ist es zu spät. Es ist geschehen, man wird damit umgehen müssen, wie auch immer. Nun ging er noch einmal zu Gilas Porträt und nickte ihrem Gesicht zu, es verzog sich zu einem Lächeln, ein fast erleichtertes Lächeln. Rainer drohte mit dem Finger, schenkte sich ein Glas Wein ein, knipste das Licht an und schaltete den Fernseher ein. *

volker und tarja

Gila war nun in Stockholm ohne Probleme gelandet und saß im Wartebereich der ankommenden Maschinen. Sie hatte noch viel Zeit bis Rinas Flieger einschweben würde. Am liebsten würde sie nun doch Rainer wenigstens eine kleine SMS senden, damit er sich nicht sorgt. Er wird einen gehörigen Schreck bekommen haben, der Brief per Mail war vielleicht doch nicht eine so gute Idee. Was wenn die Mail verloren ginge oder Rainer seine Post nicht gleich abrief? Er weiß ja nicht, wo sie hinfliegen wollte und die Andeutungen waren sicher nicht sehr beruhigend. Gila fing an mit sich zu hadern. Also mal das Handy anschalten und schnell eine Nachricht abschicken. Gila suchte in ihrer Handtasche, die einige Seitentaschen aufwies nach dem Handy und fand es nicht. Hatte sie es in die Reisetasche gesteckt? Unmöglich, jedes Mal

ging die wilde Sucherei los, entweder nach der Brille oder nun nach dem Telefon. Es war nicht da. Gila war auf sich nun noch mehr sauer. Das Handy war wichtig, sie wollte sich im Ernstfall auch mit Rina zusammentelefonieren. Man weiß ja nie was passiert, ein Handy ist heute unentbehrlich. Hoffentlich hat Rina wenigstens ihres mit. Rainer muss informiert werden, der dreht sonst am Rad und fühlt sich wer weiß wie schlecht. Schon genug, dass sie sich förmlich davongestohlen hatte. Gila hatte nun ganz fürchterliche Gewissensbisse und war sich kaum noch sicher, dass dieses Unternehmen überhaupt so unter einem günstigen Stern stand. Was, wenn sie Pertti nicht aufstöbern könnten, dann wäre alles umsonst und sie wäre genauso schlau wie vorher. Aber vielleicht würden die Freunde von Pertti, die hoffentlich noch in Kello wohnten, wissen, wohin sie sich wenden müssten. Hoffentlich lebten die zwei wirklich noch in diesem Haus, was zu finden

auch nicht ganz so einfach ist, aber Gila hatte noch den Namen der Strasse in ihrem Notizbuch. Der kleine Mietwagen am Flughafen war bestellt, sie würden sich also bewegen können und notfalls darin zu schlafen versuchen. Es war noch warm draußen und in ihren Schlafsäcken würden sie nicht frieren. Ein wenig Proviant für einen Tag war gut im Reisegepäck verstaut. Man wird sehen, vielleicht gewährten Tarja und Volker für eine Nacht ihre Gastfreundschaft. Gila hatte damals zwar kein inniges Verhältnis aufbauen können, aber die zwei waren auch nicht unfreundlich. Jedenfalls zu Gila nicht. Sie hatten sich allerdings leider oft mit Pertti kräftig in der Wolle, weswegen war nicht immer eindeutig klar. Es ging um verschiedene Problemkreise. Gila hatte sich nie eingemischt, war zum Teil auch nicht direkt dabei. Sie denkt zurück an einen ganz besonders heftigen Streit. Es gab im Garten ein kleines Gartenhäuschen mit offenem

Kamin. Man konnte sehr bequem und gemütlich am Feuer sitzen, etwas trinken und erzählen. Pertti hatte für alle ein tolles Essen zubereitet. Tarja und Volker hatten aber keinen Hunger und die Kinder wollten auch nicht essen, sie hatten von Tarja Süßigkeiten erhalten, worüber Pertti immer sehr erbost war. Die Kinder sollten das essen, was er kochte und nicht herumnaschen. Die Erziehung der Kinder sollte nur ihm obliegen. Hatte er nicht in Deutschland durch die Mutter und Oma immer wieder Inkonsequenzen hinnehmen müssen, das sollte sich nun nicht wiederholen. Nun, an diesem Abend würde er deshalb keinen Streit vom Zaume brechen. Man wollte ja gemütlich am Feuer sitzend ein paar schöne Stunden verbringen. Das Gespräch wurde auf Deutsch geführt, denn man hatte ja Besuch. Tarja verstand nichts und verlangte Übersetzung. Die Männer waren unter anderem auch mit geschäftlichen Plänen, die eventuelle

gemeinsame Ausbeutung der Goldmine betreffend, beschäftigt Volker meinte, dass Tarja da nicht unbedingt alles wissen müsste. So begann der Ärger. Man hatte inzwischen auch einiges an Rotwein getrunken, auch Hochprozentiges. Gila spielte ein wenig mit den Kindern, denn die Pläne, die unausgegorenen Pläne, Geld zu verdienen, waren für sie weniger wichtig und interessant, zumal ihr die ganze Sache, um so mehr illusionär erschien, als sie erkannte, dass Volker, der Entdecker der Mine, augenscheinlich sehr dem Alkohol verfallen schien. Sicher, er war Geologe, hatte ein Buch geschrieben über die Goldvorkommen der Erde und deren historische Ausbeutung und er war offensichtlich auch an mehreren Orten in der Schürfung, Auswaschung irgendwie involviert. Aber rein äußerlich, auch aus seiner Art zu sprechen, zu leben, hielt Gila diesen Mann für einen Träumer. Es erschien ihr absolut

unvorstellbar, dass er in diesem harten Geschäft mit seinem Hang zum Trinken tatsächlich maßgebend etwas bestellen könne. Das war damals Gilas Eindruck. Die Ausgrenzung von Tarja erschien fragwürdig. Sie würde sich behaupten, denn im Augenblick verdiente sie mit ihrem Friseurgeschäft das nötige Geld zum leben. Volker lebte manchmal wochenlang in der Wildnis, um mit zum Teil zwielichtigen Existenzen, ehemaligen Sträflingen, ausgedienten Fremdenlegionären, auch einfach verzweifelten zu allem entschlossenen arbeitslosen Männern in der Goldmine zu arbeiten. Das Ergebnis war mager, reichte zunächst kaum, um die Arbeiten am Laufen zu halten und die Maschinen zu reparieren. Es war wohl ein wildes, primitives und entbehrungsreiches, hartes Leben. Es wurde viel getrunken, die Kälte war einfach mörderisch. Die Männer verroht, weit ab jeglicher Zivilisation, nur voll angefüllt vom

Traum, mit dem Gold reich zu werden. Gila konnte das schwer nachvollziehen, nahm aber die Informationen fast ohne Kommentar nur zur Kenntnis. Pertti wollte sich in ein derartiges Unternehmen einbringen. Gila schüttelte den Kopf, wie konnte er nur? Jedenfalls uferten die Gespräche scheinbar aus und Tarja tauchte wieder auf um sich in die Diskussion einzubringen. Gila hörte den lautstarken Streit, der nun in Englisch und Finnisch geführt wurde, worum es im Detail ging, blieb ihr verborgen, sie wollte sich abseits halten. Lautstark palaverten die drei stundenlang, das Essen wurde später von Pertti wütend weggeschmissen. Seine klägliche Entschuldigung für den aus den Fugen geratenen, verpatzten Abend nahm Gila bedrückt an. In den folgenden Tagen ging man sich im Haus aus dem Weg, Volker war wieder verschwunden und Tarja sprach nur das Nötigste, überlies aber gerne Pertti sämtliche Hausarbeit, inklusive den

Einkauf, ohne dafür je einen Anteil zu entrichten. Pertti ärgerte sich täglich aufs Neue. Hielt sich aber offensichtlich zurück, weil Gila zu Gast war. Wäre der Rückflug nicht schon fest gebucht, dann würde Gila gewiss abgereist sein. Nun, man arrangierte sich halt und so erlebten sie dennoch viel Gutes. Der Abschied war dann auch wieder recht herzlich, man würde sehen, Gila hatte zum damaligen Zeitpunkt durchaus optimistische Gefühle, was die Ehrlichkeit Perttis anbetraf. Sie wünschte ihm alles Gute und vermeinte mit ihrer Hilfeleistung ein gutes Werk getan zu haben. Sie hatte geholfen und es war zunächst noch nichts zu bereuen. Gila wusste, dass Pertti ausgezogen war, sich allerdings mehrere Male eine neue Wohnung suchte. Er wollte für sich und die Kinder ein schönes zu Hause schaffen, ein Haus zum Wohlfühlen, ohne Enge, ohne Abhängigkeit von unliebsamen Mitbewohnern. Nie wieder wollte

er sich und den Kindern diese furchtbare Rücksichtnahme zumuten. Die Kinder spielten in seinem Leben immer die Hauptrolle, nur für sie unternahm er sämtliche Kopfstände. Tarja liebte nur ihre Katzen, die Kinder sollten flüstern und nach Erhalt von Süßigkeiten kuschen. Volker träumte seinen Goldminentraum und war darüber hinaus ein hoffnungsloser Chaot. Ordnung und Sauberkeit, ein geregeltes Leben waren für ihn Fremdwörter. Er besaß keine Bodenständigkeit. Er war ein Abenteurer, der Pertti für seine Träumereien zu gewinnen trachtete. Pertti musste sich von diesen Freunden schleunigst trennen. Sie hatten absolut keine Ahnung, was Verantwortung bedeutete, hatten kein Verständnis für Kinder, betrachteten sie wohl mehr als kleines Spielzeug. So kam es wohl zum Zerwürfnis. Gila dachte etwas bedrückt, hoffentlich waren nicht alle der so viel gerühmten finnischen Freunde Perttis von

diesem Kaliber. Und man würde Tarja und Volker zunächst einmal kontaktieren müssen, um über sie Perttis Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Sie waren der erste Anlaufpunkt, andernfalls wollte Gila den Behördenweg versuchen. Gila wusste aber von Pertti, dass die finnischen Behörden reichlich bürokratisch und sehr nervend langsam arbeiteten. Soviel Zeit hatten die Frauen auch wieder nicht, sie beabsichtigten nur eine Woche zu bleiben und der Rückflug war gebucht. Gila muss nun ihre gedanklichen Ausflüge in die Vergangenheit abbrechen, denn Rinas Flieger war gelandet und sie hatten dann nur noch wenig Zeit um umzusteigen. Also begab sie sich in die Ankunftszone um Rina zu begrüßen. Eine Menge Leute rasten durch die breiten Gänge, die von Geschäften und Restaurants gesäumt wurden, Stimmengewirr und Hektik umgab alle, diverse Ansagen in verschieden Sprachen ertönten. Ein Kommen und Gehen,

weinende und lachende Menschen zerrten ihre Koffer leicht genervt, manchmal müde wirkend aber auch hoffnungsvoll, freudig oder schoben hoch bepackte Wagen, wohin auch immer. Die merkwürdigsten Typen waren vertreten und ein jeder verströmt seinen Duft. Ein unbeschreiblicher Geruch von schweren Parfümen und das Aroma der vielen Angebote von diversen Speisen, Snacks vermischen sich, wechselten ständig. Manchmal muss man die Luft anhalten, um den Duft der großen weiten Welt ertragen zu können. Aber da kam schon Rina. Sie lächelte. Gila freute sich. Nun ging es los. Sie hatte schon ausbaldowert, wo der nächste Flieger abheben würde. Alles war im grünen Bereich, sie würden planmäßig weiter reisen. Das Gepäck würde von anderen Händen zuverlässig umgeladen werden. Darum brauchten sie sich nicht zu kümmern. Mit dem leichteren Handgepäck waren sie unbeschwert und waren schnell in der

Wartezone ihres Abfluges. Probleme gab es keine. Die Frauen waren guter Stimmung. Rina fühlte Urlaubsfreude, Abenteuerstimmung, angenehm kribbelnd. Bis jetzt war alles bestens. Gila war ein wenig beklommen, weil Rainer sich nun sorgen würde. Ob er ihr diesen Egotrip je verzeihen könnte? Rina räumte die Bedenken aus. Sie taten nichts Böses und man würde über alle Erlebnisse in aller Ausführlichkeit später berichten. Nur jetzt müsse man in den Flieger steigen, in Finnland angekommen, wollte Rina sofort eine SMS mit ihrem Handy an Rainer absetzen. Das würde ihn sicher beruhigen und Einiges erklären. Gila hatte ja früher mit Rainer über ihren finnischen Freund gesprochen, nur war ihr damals das Geständnis, hier vielleicht einen dummen Fehler begangen zu haben, sehr schwer gefallen. Rainer hatte sie aufgefordert, den Fall zu vergessen. Aber jetzt würde sich bald alles

aufklären. Alles wird gut. Na ja, so dachte Gila immer. Man kennt das. Es wird meistens nie wirklich alles gut. Aber ein wenig Gutes ist doch besser als nichts. Die Frauen saßen im Flieger und ließen das Abenteuer auf sich zu kommen.

der erste tag

Die Frauen saßen im Flieger und ließen das Abenteuer auf sich zu kommen. Der Flug war ruhig, es waren viele Plätze unbesetzt. Oulu ist eine mittelgroße Stadt mit einem relativ kleinen Flughafen. Die Stadt ist nicht sehr touristisch aber dennoch gibt es Theater, eine Universität, viele Sportstätten, auch eine recht attraktive Markthalle, wahrscheinlich auch Ladenstraßen und Supermärkte wie überall. Das alles war momentan nicht das Hauptziel. Man wollte Pertti möglichst schnell ausfindig machen. Die Frauen nahmen also ihren kleinen Mietwagen in Empfang und bewegten sich nach Kello, um Tarja und Volker aufzusuchen. Die Luft war warm und es war hell. In dieser Zeit ist es lange hell. Die Abende sind wundervoll im Sommer. Die Sonne lässt sich Zeit mit dem Untergehen, es ist Polartag. Die Straße ist wenig bevölkert,

offensichtlich sind die Leute zu Hause, der Feierabend nimmt seinen Lauf. Da taucht schon die Siedlung auf. Die Strasse führt durch den Wald, Holzhäuser werden sichtbar, Gila erinnert sich. Hier müsste es sein. Ein weißer Lieferwagen steht vor der Tür. Gila springt aus dem Auto um die Lage zu peilen. Eine weiße Katze sitzt auf dem Fensterbrett, auf der Wäscheleine neben dem Haus hängt ein wenig Zeug, nachlässig angeklammert, eine Socke, eine Hose, ein Handtuch, alles durcheinander. Deutsche Hausfrauen sind da anders. Sie sortieren akribisch alle Wäschestücke und befestigen akkurat, Großes und Kleines getrennt. Ordnung auch an den Wäscheleinen! Na ja, das war einmal, inzwischen hat fast jeder Haushalt einen Trockner und die Wäsche schmeckt keinen Wind mehr, kennt die Sonne nicht. Arme Wäsche! Durch den ruhigen Abend klingt das Geräusch des Holzhackens. Es ist nicht störend. Gila geht

um das Haus und sieht Volker. Er macht Holz. Also er spaltet Holz, eine Arbeit, die im Sommer unbedingt überall ausgiebig erledigt wird, denn hier heizt man mit Holz. Überall liegen Stämme und auch bizarre dunkelgraue, sehr merkwürdige hölzerne Gebilde. Das ist uraltes Holz aus Gegenden, die man eigentlich als Urwald bezeichnen könnte. Es sind zum Teil uralte und sehr harte Riesenwurzeln, die hier zu Lande zum Verkauf angeboten werden, oft als Tisch oder Stuhl, auch Lampe umgebaut und so bedingt verwendbar, allerdings teuer und viel zu sperrig, um ein Stück als Erinnerung mitzunehmen. Inzwischen werden solche urigen Möbelstücke auch exportiert und sind in deutschen Geschäften erhältlich, noch teurer versteht sich. Volker wollte sich damit damals auch ein wenig Geld verdienen, vermutlich aber ohne Erfolg. Die schweren Holzstücke lagen und standen jedenfalls noch sehr zahlreich

herum. Gila trat auf Volker zu, lächelte ihn freundlich an und begrüßte ihn mit den Worten: „ Na, wieder ein bisschen beim Holzmachen fürs Lagerfeuer?“ Volker schaute hoch und nach einer Sekunde verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und er sagte: „ Scheint ja wieder mal Besuch eingetroffen zu sein.“ Mit einem Seitenblick auf Rina, die nun auch langsam herankam, fragte er, ob wir Durst hätten. Im Kühlschrank würden wir etwas finden, man wüsste ja, wo der stünde. Gila nickte leicht verwundert und ging ins Haus. Sie wusste tatsächlich noch im Haus Bescheid und entnahm dem reichlich vernachlässigten Kühlschrank etwas Apfelsaft, Gläser waren im Geschirrspüler. Die Küche sah fürchterlich aus. Hier hatte lange keiner aufgeräumt oder sauber gemacht. Anscheinend war hier keine Frau. Alles sah nach Junggesellenwirtschaft aus und zwar einer von der allerschlimmsten Sorte. Ein

unbeschreibliches Chaos. Tarja war keine besonders ordentliche Hausfrau. Sie war eigentlich gar keine. Sie kümmerte sich um die Katzen. Wahrscheinlich hatte sie eine Menge zu tun in ihrem Friseurgeschäft. Na ja, Pertti meinte damals, besonders sauber und aufgeräumt sah es dort auch nicht aus. Man ging da besser nicht hin. Gila hatte bei ihrem Besuch bemerkt, dass diese Tarja eine ziemlich eigenwillige Persönlichkeit zu sein schien. Scheinbar benutzte sie mit mehr oder weniger Erfolg die Männer, deren Gutmütigkeit, notwendige Arbeiten im Haushalt zu verrichten. Sie schien zänkisch zu sein. Volker war das Leben in der Wildnis gewohnt. Ordnung und Sauberkeit an sich und im Haus schienen auch für ihn eine unbekannte Größe. Er war für ausreichend Holz zum Heizen zuständig, allenfalls noch für ein ordentliches Stück Fleisch. Es musste auch immer was zum Rauchen und genug Alkoholisches verfügbar

sein. Bricht da etwa das Indianerblut durch? Darauf legte er immer sehr viel Wert. Seine Abstammung väterlicherseits machte ihm zum Halbindianer. Er sprach mit geschwellter Brust oft davon. Seine Lebensweise hatte ihn geprägt, nicht die Abstammung. Er war intelligent aber nicht fähig, das Erarbeitete zusammenzuhalten. Sein Buch war nicht schlecht, aber es gab keine Vermarktung. Wie viele Autoren schreiben gute Sachen und können sie nicht veröffentlichen. Sehr bedauerlich! Es fehlen die Beziehungen und die Energie sie zu erhaschen. Schreiben ja, vermarkten nein. Also gibt es auch keine Kohle. Menschen wie Volker können niemandem in den Hintern kriechen. Sie bitten nie um etwas, vor Stolz würden sie vermutlich eher verhungern. Sie sind nicht geschäftsfähig in unserer verfluchten Gesellschaft. Schließlich trösten sie sich mit Alkohol und verziehen sich in die Wildnis, werden immer weltfremder, können sich nicht anpassen. Schließlich wollen sie es

irgendwie auch nicht, weil die heutige, scheinbar notwendige Art sich zu produzieren, sich darzustellen, ihrem Wesen absolut widerstrebt. Somit geraten sie an den Rand, werden als komischer Kauz belächelt, was die harmloseste Reaktion der „Normalen“ wäre. Es sind keine schlechten Menschen diese Käuze, sie sind nur einsame Außenseiter. Ob wirklich unglücklich? Sie sind in der besonderen Lage, etwas mit sich anzufangen. Sie brauchen nicht die typischen Berieselungen, die die Masse wie Atemluft immer gieriger begehrt. Einsamkeit geht nicht immer mit der furchtbaren Traurigkeit einher, die wir ihr immer zuordnen wollen. Individualisten wie Volker können Natur in sich aufnehmen, völlig auf sich gestellt, ohne Trauer, ohne Schmerz, eher begeistert, angemessen, sorgsam, auch notwendigerweise wachsam. Es gibt tatsächlich noch Menschen, die in der Wildnis lebensfähig sind. Sie vermissen nicht das Bad in der Menge.

Nur einen Freund, eine Frau, eine verlässliche Person benötigt jeder, aber sie sollte zu ihm passen. Gila hatte das Gefühl, Tarja war nicht mehr da. Immerhin sagte damals Volker, mit ihr würde er es versuchen wollen, wenn sie denn ehrlich bleiben würde und treu. Gila ging also mit den Gläsern wieder raus. Rina unterhielt sich angeregt mit Volker, lachte und winkte Gila heran. Sie hatten sich bereits ganz zwanglos bekannt gemacht. Volker meinte, wir können bleiben, wenn wir nichts Besseres vor hätten. Er würde noch eine halbe Stunde mit dem Holz beschäftigt sein. Wir sollten nur mal schon das Gartenhaus vorbereiten, er hätte dann was zum Grillen. Wir brauchen nicht zu fremdeln, er freut sich über unseren Besuch, müssten aber mit den Gegebenheiten klar kommen. Ja, so sagte er das und grinst dabei. Wir nahmen seine Aufforderung nicht zu fremdeln an und begannen recht gut gestimmt

das Gartenhaus zu entkeimen. Das war nicht so schlimm wie es aussah. Die zwei Frauen richteten alles her, bereiteten den Grill vor und deckten den Tisch. In der Küche im Haus war es komplizierter. Sodom und Gomorra! Nach einer Stunde Arbeit sah es einigermaßen menschlich aus. Rina und Gila gaben sich Mühe, sie wollten sich für die Gastfreundschaft bedanken. Inzwischen war Volker in der Küche erschienen um das Fleisch zu holen. Er meinte, es wäre ja auch Zeit, dass mal einer was macht. Vermutlich würde er sich allerdings dann kaum noch zurechtfinden in unserer heiligen Ordnung. Er brummelte sich noch etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und verschwand im Bad. Rina und Gila sanken nun doch etwas müde in die Sessel im Gartenhaus. Das Feuer verbreitete ab und zu knackend eine wunderbare wohlige Atmosphäre. Vielleicht sollte man lieber Kaffee trinken. Die Thermosflaschen waren in weiser Voraussicht noch gut gefüllt. Gila holte drei

große Kaffeetassen. Inzwischen tauchte Volker wieder auf. Er hatte sich offensichtlich geduscht und seine langen schwarzen Haare, die auch schon von einigen grauen Strähnen durchsetzt waren, fest zusammen gebunden. Auch war er mit einem fast saubren schwarzen T-Shirt bekleidet, seine Holzhackerhose, die in einem grausamen Zustand war, hatte er nicht gewechselt. Den Frauen war es egal. Rina äußerte beiläufig, dass er eigentlich ganz gut aussehen würde. Es schien, dass ihre Augen dabei etwas leuchteten. Man würde essen, Kaffee trinken und sprechen. Das war das Wichtigste, endlich wollten sie Fragen stellen dürfen. Rina hatte Lust auf einen schönen ersten Urlaubsabend. War doch bisher alles gut gelaufen. Gila wird sicher ihre Antworten erhalten, sie würden diesen Pertti schon finden. Die Erde wird ihn schon nicht verschluckt haben. Und Volker, der sich sehr als

Halbindianer verstehende, gefiel Rina immer mehr, wenn er nur nicht so verlottert wäre. Rina fühlte sich schon immer von außergewöhnlichen Menschen magisch angezogen. Null-Acht- Fuffzehn-Typen konnten sie nicht begeistern. Sie liebte das Geheimnis des Individuums. Schicksale der besonderen Art, leidensfähige und deshalb starke, inhaltsvolle und optimistische, nicht kleinzukriegende Typen, die ohne Hinterhältigkeit durchs Leben gehen, interessierten sie. So war sie gespannt, was Volker erzählen würde. „Eigentlich wollen wir Pertti besuchen“, sagte Gila bedächtig und nahm einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse. „Ja, das dachte ich mir schon, wird bloß nicht ganz so einfach sein, denn wie ihr sicher bereits bemerkt habt, wohnt er hier nicht mehr, schon lange nicht mehr, “ sagte Volker und stand auf, um im Feuer zu stochern. „ Es tut mir leid, dass es so gekommen

ist. Er war mein Freund, aber er wollte etwas anderes als ich. Na ja, er hat Kinder. Die brauchen wohl Ordnung. Seine Kinder waren ihm heilig, aber die waren laut und reichlich anstrengend. Tarja gingen sie meistens auf die Nerven.“ Volker atmete tief und schwieg, stocherte auf seinem Teller und leerte sein Weinglas in einem Zug. Er musste an die vielen hässlichen Szenen denken, die er wegen Pertti und seinen Kindern mit ihr auszuhalten hatte. Volker wollte keinen Streit, wenn er aus dem Wald nach Hause kam. Die keifende, rechthaberische Tarja war ihm in solchen Momenten furchtbar lästig, obwohl er glaubte sie zu lieben. Wenn sie doch endlich still sein und nur eine leidenschaftliche, wilde, geile Frau sein könnte, die ihm alles gab, worauf er sich in der Wildnis lange mit all den Kerlen dahin vegetierend immer so gefreut hatte. Und dann wollte sie sich immer in Männergespräche einmischen. Sie hätte sich lieber um den

Haushalt kümmern sollen. Wenn wenigstens ihr dämlicher Friseurladen laufen würde, aber da kam auch nichts. Es reichte immer gerade so. Er würde einmal das große Geld verdienen, er war ganz nahe dran, wenn bloß die Maschinen nicht so anfällig wären. Andauernd ging irgendwas kaputt. Man war ständig am Schrauben und brauchte teure Ersatzteile. Die Förderung ging nur deshalb so schleppend. Die Männer arbeiteten bis zum Umfallen und glaubten an den Erfolg. Noch! Volker wusste, dass die Kerle ungemütlich werden konnten und manche waren auch plötzlich wieder verschwunden. Sie hatten meist irgendwas auf dem Kerbholz, aber sie verstanden in der Wildnis zu leben, jammerten nicht, soffen meistens ihren Unmut runter. Volker fand auch oft genug Zuflucht beim Fusel. Man musste sie nehmen wie sie sind und nicht immer alles wissen wollen. Die meisten hatten keine Familie, auch keine Frau, wollten erst einmal ihr Glück versuchen. Volker versprach

das. Er wusste, die Mine gab viel her, wenn man ihr richtig zu Leibe zu rücken verstand. Das Problem waren immer wieder die Schürfbagger. Es war einfach veraltete Technik. Er seufzte laut. Alles könnte so schön sein, wenn Pertti und Tarja nur mitgemacht hätten. Wenigstens Tarja hätte ihm Vertrauen entgegenbringen müssen. Sie hatte aber keine Geduld, wollte nicht mehr warten, hatte nur irgendwelche Fummel und Amüsements im Schädel. Auch brauchte sie ihren Mann öfter als alle acht Wochen mal eine magere Woche, in der er auch nur Holz hackte, schrie sie manchmal erbost. Volker nahm das lange nicht so tragisch. Weibergelaber, nannte er das. Er wollte seinen Traum verwirklichen. Er hatte die Mine entdeckt, er würde sie ausbeuten. Warum versteht diese Frau einfache Tatsachen nicht? Tarja war nicht mehr bereit zu warten, sie wollte leben und nicht warten bis zum Nimmerleinstag. Sie glaubte Volker nicht, sie

hielt ihn für einen Träumer, weit ab jedweder Realität. Er würde wahrscheinlich eher im Wald bei seiner angeblich so reichen Goldmine mit seinen versoffenen Kerlen krepieren als mit ihr jemals ein halbwegs akzeptables Leben zu verbringen. Sie sagte es ihm immer wieder, immer deutlicher. Volker zeigte für sie kein erkennbares Verständnis, auch nicht für ihren täglichen Kampf, das Friseurgeschäft am Leben zu erhalten. Das begriff Volker ja nie. Tarja war kein Mensch für die Wildnis. Sie war eine junge Frau mit den üblichen Ansprüchen ihrer Generation. Sie verstanden sich nicht mehr, jedes Mal wurden die Streiteskapaden heftiger. Tarja packte ihre Sachen, es waren nicht viele, denn die Möbel gehörten dem Hauseigentümer. Man wohnte möbliert. Sie verlies Kello. Als Volker wieder einmal aus den Tiefen der Wildnis heimkam, fand er das Haus leer vor. Tarja war gegangen, ihre Katzen blieben. So lebte er eben alleine, ein wenig

verbittert zwar, aber in Ruhe. Er beschäftigte sich wie immer mit dem Holz für den Winter, denn dann würde er nicht immer im Wald arbeiten können. Die Dunkelheit und Kälte setzte Grenzen. Er würde sich einen Gelegenheitsjob suchen, um über die Runden zu kommen. Bisher hatte es geklappt, allerdings den letzten Winter nur mit einem Untermieter. Das ging ganz gut. Die Räumlichkeiten reichten. Als Pertti noch da war, zahlte der seinen Anteil und alles spielte. Jetzt musste Volker sich kümmern, er hatte noch keinen Mitbewohner, mit dem man sich die Miete teilen konnte. Es war überhaupt lange niemand da. Schön dieser überraschende Besuch. Seine Mine hellte sich auf. Er war Frauenbesuch nicht gewohnt und genierte sich ein bisschen für sein Chaos, aber die schienen sich nichts daraus zu machen. Sie haben zwar aufgeräumt aber überhaupt nicht gemeckert. Sie sind nett. Eine Abwechslung konnte Volker allmählich gut gebrauchen.

Seinetwegen würden sie hier schlafen können und die rothaarige mit den blauen Augen, mit dem russischen Akzent, gefiel ihm. Sie lachte oft und war so unkompliziert offen. Sehr sympathisch. Gila schien etwas ernster, sie hatte wohl etwas auf dem Herzen, vermutlich hat sie ein Problem. Vielleicht muss sie an den Streit denken als sie einmal zu Besuch in diesem Hause weilte. Man hätte ihr das ersparen können. Tarja konnte sich wieder einmal nicht im Zaume halten, durch sie ist alles eskaliert. Pertti hätte auch bremsen können. Der hatte ja auch keinen Sinn für seine Träume, kein wirkliches Vertrauen in den Erfolg. Gila wollte nun wissen, wo Pertti mit den Kindern abgeblieben war. Volker meinte, er hätte lange nichts von ihm gehört, wüsste aber, dass Pertti wieder nach Ivalo wollte. „Oh“, sagte Gila nur, „ das ist ja der nächste Weg.“ Ivalo ist über 500 Kilometer nördlich, über den Polarkreis gehend, am Inari gelegen. Sie war

damals schon einmal dort. „Wäre schön, wenn man das genau wüsste“, meinte Rina. „Wir können ja mal den Computer anschmeißen“, sagte Volker, vielleicht können wir eine Mail absetzen, falls Pertti noch über diesen Weg zu erreichen ist. Aber ich habe lange keinen Kontakt gehabt, hoffentlich klappt das.“ „Hat er kein Handy mehr?“ fragte Gila. „Keine Ahnung, antwortete Volker, er hat wohl ein neues mit einer anderen Nummer, ich kenne sie nicht. Wir haben eigentlich gar keinen Kontakt mehr. Wir hatten Differenzen, wir haben andere Interessen. Er muss seine Kinder hüten.“ „Lasst uns erst einmal den Wein in Ruhe austrinken. Wie lange habt ihr vor, in Finnland zu bleiben? Ihr könnt hier übernachten, wenn ihr das aushaltet.“ Gila und Rina bedankten sich erfreut für die Einladung. Sie hätten sonst im Auto oder sogar unter freiem Himmel, oder auch im Gartenhäuschen in ihren Schlafsäcken

übernachtet. Die Nacht war warm, es wäre kein Problem. Nein, Volker meinte im Wohnzimmer würde eine Klappcouch stehen, da könnten sie sich hinlegen. Wo das Bad wäre müsste Gila ja noch wissen. Die Sauna könne man zur Not auch anheizen aber das würde noch eine Weile dauern. Das wäre nun wirklich nicht nötig meinten die Frauen, waren sie doch froh jetzt einen Schlafplatz zu haben. Sie waren aber nun auch reif fürs Bett, dennoch wollte man unbedingt noch die Mail an Pertti absetzen. Volker hatte dem Wein ausgiebig zugesprochen und meinte er würde denn mal noch den Computer flott machen und sich dann in seine Schlafkiste verziehen. Gila holte eine Karte hervor, um Rina zu zeigen wo Ivalo liegt. Gila war ein wenig aufgeregt, wollte es aber nicht zeigen. Sie hatte sich vorgenommen, so gut es geht auch in Ruhe, ihr Ziel zu erreichen. Sie wollte auf alle Fälle Pertti begegnen und

erfahren, was passiert war. Für Rina war es eine Urlaubsreise, für Gila war es etwas ganz anderes. Für sie war es Aufarbeitung von Vergangenheit, die solange auch noch nicht vergangen war, dass man sie einfach so mir nichts dir nichts vergessen könnte. Mal abgesehen von der ungetilgten Schuld, es war das unerklärliche Verhalten eines Menschen, dem sie großes Vertrauen schenkte. Würde er es auch missbraucht haben, dann schien für Gila wieder eine Welt zerstört zu sein, nämlich die des Glaubens daran, dass uneigennützige Hilfe gut sei und nicht zu bereuen. Gila fürchtete sich ein wenig vor der Begegnung. Schließlich könnte sie ja auch sehr enttäuschend sein und alle Illusionen zerstören, die sie diesbezüglich irgendwie noch hatte. Ja vielleicht würde Pertti sie gar nicht sehen wollen. Was wäre dann?

die ankündigung

Wenn sie bis dahin fahren müssten, dann würde es noch spannend aber auch anstrengend werden. Eine richtige lange Reise durch das Land der tausend Seen eben. Gila kannte diese Tour, sie hatte sie unendlich in ihrem Ausmaß in Erinnerung, weil kaum Ortschaften, nur Wälder, kaum Verkehr, hin und wieder ein paar wilde Rentiere. Eigentlich romantisch, wenn das Auto heil blieb. Es war allerdings eine mörderische Klapperkiste, dafür aber billig. Zunächst musste allerdings geklärt werden, ob Pertti wirklich in dieser Stadt wohnte und wenn ja, wo überhaupt. Und würde er es wollen, da er sich ja bekanntlich nicht mehr meldete, dass Gila ihn besuchte. Zumal er diese Schuld am Hacken hatte, es würde ihm sicher hochgradig peinlich sein. Das war jetzt egal. Seine Peinlichkeit würde er überleben, wenn er nur überhaupt am Leben ist, dachte Gila jetzt

besorgt. Er hat seine Krebsnachsorge immer vernachlässigt. Angeblich würde das Geld kosten und das hätte er nicht, auch keine Zeit für solche Mätzchen. Es wird schon gut gehen, meinte er. Pertti hat immer Schindluder mit seiner Gesundheit getrieben. Er hat einfach nicht auf sie geachtet und weiter seine dämlichen Zigaretten, ohne Filter versteht sich, förmlich gefressen. Das grenzt an Dummheit. Man stelle sich vor, ein an Lungenkrebs Operierter raucht wie ein Wilder. Gila schüttelt den Kopf, sie ist eine Gegnerin des Rauchens. Für sie ist der Respekt vor Leben und Gesundheit eine ernstzunehmende Angelegenheit. Man erhält sein Leben und richtet sich nicht wissend zu Grunde, mal ganz abgesehen von dem unangenehmen Gestank der Zigaretten. Raucher verstehen nichts, sie sind eigensinnig. Darauf baut die Branche und verdient sich dumm und dämlich. Rainer hat auch aufgehört damit. Gila muss an Rainer

denken. Was er jetzt wohl macht? Wahrscheinlich wird er vor dem Fernseher sitzen und ganz traurig sein, vielleicht auch immer noch sehr ärgerlich. Er hatte nur so kurz auf die SMS geantwortet. Immerhin weiß er nun Bescheid, worum es geht und er würde nicht unter der Ungewissheit leiden. Ungewissheit ist Kacke. Sie lässt uns nicht schlafen, sie raubt die Ruhe, sie nimmt alle Gelassenheit. Sie gibt Spekulationen Raum, bietet Vorurteilen heimtückisch einen Platz an. Gila will nicht Opfer von Spekulationen sein. Sie hasst Vorurteile. Gila möchte Gewissheit. Gewissheit lässt aufatmen, wenn sie auch negativen Inhalts sein kann, aber man kann ein Kapitel abschließen. Die Entscheidung als Folge birgt weniger Risiko falsch zu sein. Das Gewissen erhält die Chance sich nicht beunruhigen zu müssen. Gewissheit ist gut. Rina und Gila räumen das Gartenhäuschen auf und gehen ins Haus. Volker hat schon den

Computer startklar gemacht und die Mailadresse von Pertti aufgerufen. Es ist schon spät aber dennoch sollte die Mail noch raus, deshalb hat er schon mal einen kleinen Text reingestellt, vielleicht könnte man die Freundschaft wieder auffrischen. Schließlich kannte man sich bereits eine Ewigkeit, hatte viel miteinander unternommen. Volker dachte nur an die verrückten Schlittenfahrten für bescheuerte Touristen durch fast ewiges Eis. Das war gefährlich mit verpimpelten Urlaubern solche Reisen zu veranstalten. Sie waren auf die Hunde angewiesen und durften sich nicht verfahren, mussten das Wetter berücksichtigen und noch auf die wagehalsigen Touristen achten, die so wenig wussten und sich wegen Nichts großer Gefahr aussetzten. Aber sie bezahlten die Tour. Sie schliefen im molligen Zelt in warmen Schlafsäcken. Pertti und Volker nächtigten bei den Hunden. Das war nicht witzig. Aber wer mag schon laufend Witze. Sie

hatten so einige Abenteuer bestehen müssen bei diesen Touristentouren. Das war aber nun schon wirklich lange her. Sie wollten so viele Träume verwirklichen. Aber Pertti hat sich für Familie und Kinder entschieden und was ist draus geworden? Seine Alte hat ihn im Stich gelassen. So ist das immer! Der Angeschissene ist immer der Mann, dachte Volker grimmig. Die zwei Weiber scheinen hartnäckig zu sein. Bloß warum wollten sie unbedingt Pertti ausfindig machen? Was steckte dahinter? Ich muss sie das unbedingt fragen, Volker wird Rina bei Gelegenheit ein wenig auf den Zahn fühlen. Sie wird es wissen. Gila scheint da weniger mitteilsam, muss ja was mit ihr und Pertti zu tun haben, dachte Volker. Muss ja auch unheimlich wichtig sein, sonst würde sie nach so langer Zeit hier nicht noch einmal aufkreuzen. Doch wenn sie miteinander was hätten, dann wüsste Gila sicher, wo genau Pertti zu finden sei, dann würde sie ihn, Volker,

nicht unbedingt besucht haben. Egal, er würde dadurch wieder mal mit Pertti sprechen, das wäre ja auch nicht so unübel. Und so schrieb er: Hi Pertti, lebst Du noch? Hier sind zwei Frauen, die sich nach Dir verzehren!! Jetzt wunderst Du Dich. Die eine heißt Rina, die kennst Du nicht, ist eine Freundin, und die andere ist Gila, Du erinnerst Dich vielleicht noch an sie. Ich ahne nicht, was sie von Dir wollen. Du wirst es wahrscheinlich wissen. Sie sehen aber harmlos aus und sind ziemlich freundlich. Also keine Angst, Du wirst vermutlich nicht gefressen, hoffe ich mal, gutgläubig wie man ja gegenüber Frauen immer ist. Ich lasse sie hier todesmutig schlafen. Wir hatten einen guten Abend im Gartenhaus. Hatte ich lange nicht. Du weißt ja, Tarja ist abgehauen.

Meinetwegen! Also melde Dich umgehend!!! Vielleicht rufst Du auch an, meine Nummer ist noch dieselbe. Ich gehe aber jetzt in die Koje und werde wie ein Bär schlafen. Gruß Volker Und ab ging die Mail. Sie kam nicht zurück. Volker wusste, dass Pertti meistens sehr lange in der Nacht am Computer arbeitete. Wenn er also irgendwo am Leben war und daran zweifelte Volker eigentlich nicht, er hatte sich nie um Perttis Gesundheitszustand gekümmert, dann würde sicher eine Antwort eingehen. Ja, Volker wusste, dass Pertti diesen Krebs hatte, aber der war ja wegoperiert und Pertti klagte nie über irgendwelche Gebrechen. Also was soll’s, man lamentierte nicht herum, Aufmerksamkeit gebührt der Existenzsicherung,

alles andere hat sich unterzuordnen. Volker hatte auch viel an Gesundheit eingebüßt. Er sprach darüber nie, zu wem auch. Dadurch würde es ihm nicht besser gehen. Eines Tages würde er sich ausruhen und sich einen Bombenurlaub gönnen. Er würde sich vielleicht auch mal wieder für eine Frau erwärmen können, wenn es denn eine brauchbare gäbe, eine unkomplizierte, die nicht andauernd Wünsche hätte und wenn sie nicht erfüllt werden ununterbrochen herumkeift. Also die kleine Rina, die sieht wirklich gut aus. Aber wahrscheinlich hat sie in ihrem Deutschland auch einen Kerl. Man muss sie das mal beiläufig fragen. Volker war nun fertig und hatte keine Lust mehr, zu Nichts. Er hatte den ganzen Tag geschuftet und eine gehörige Portion Wein intus. Er war nun müde und schaltete den Computer wieder aus. „Haut euch hin Frauensleut, „ rief er „ die Mail ist raus, morgen wissen wir mehr.“ Sprachs und

verschwand im Schlafzimmer. Rina und Gila holten nun ihre Schlafsäcke aus dem Auto, klappten das Sofa im Wohnzimmer aus und verschwanden nacheinander noch einmal kurz im Bad, bevor sie in den molligen Schlafröhren müde die Augen schlossen. Gila dachte nur noch, hoffentlich meldet sich Pertti und man kann ihn irgendwie aufsuchen, um endlich zu wissen, was los ist. In der Nacht hörte sie Geräusche, war aber zu müde, um aus dem Schlafsack zu kriechen und nachzuschauen. Der Mond schien ins Zimmer, Rina rührte sich nicht, man sah kaum etwas von ihr. Ein Büschel Haare mehr nicht. Gila wollte sie nicht stören. Plötzlich sprang etwas auf ihr Schlaflager und kam laut schnurrend in Richtung Kopfende. Die weiße Katze legte sich frech oder wie selbstverständlich zwischen die Köpfe der Frauen und kringelte sich gemütlich zusammen. Scheinbar war dies ihr Schlafplatz. Katzen sind Bürokraten. Nichts und Niemand würde sie von

ihren Gewohnheiten abbringen können. Gila wunderte sich, dass sich Rina absolut nicht stören lies. Gila wollte nicht mit einer Katze an der Nase schlafen also drehte sie sich um und schlief mit dem Kopf am Fußende weiter. Kaum war sie ein wenig eingedämmert, hörte sie ein leises Klingeln. Ein Handyton wie es schien. Rinas Handy lag auf dem Tisch und rührte sich nicht. Es muss Volkers sein. Doch Volker schien es nicht zu hören, denn es läutete ununterbrochen weiter. Komisch, es war sicher schon drei Uhr, wer mag das sein? Gila war einfach zu müde, soll es eben bimmeln. Wer etwas will, meldet sich sicher erneut. Sie würde Volker nicht wecken. Auf einmal hörte sie Volker sprechen, verstand aber nichts. So einsam ist der ja auch wieder nicht, dachte Gila noch und schlief endlich ein. Der Mond war verschwunden und allmählich zog der Morgen auf. Die Frauen schliefen tief und fest, bemerkten nicht, dass die Katze

verschwand und die Sonne bereits ihre Strahlen in das Zimmer schickte. Volker war schon auf und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Irgendwie fand er es in der Küche verändert. Alles war aufgeräumt. Es stand nichts rum, selbst der Fußboden war gekehrt. Lange hatte er sich damit nicht beschäftigt. Zimmer aufzuräumen, das Saubermachen, das war nicht seine Welt. Er ging zum Computer und wollte lesen, was Pertti mitzuteilen hatte. In der Nacht hatte er nun wirklich keinen Bock mit Pertti zu streiten oder Probleme zu wälzen. Er hatte sich telefonisch gemeldet und wollte alles andere kurz mailen. Man würde sich also verständigen und danach einen Entschluss fassen. Volker wollte den Frauen helfen, man würde sehen und je nach dem wie dringlich die Angelegenheit sei, würde er sich einsetzen. Volker fluchte, der dämliche Computer brauchte Ewigkeiten um hochzufahren. Es war ein

veraltetes Modell, aber jetzt hatte er das auch geschafft. Also was schreibt denn nun der alte Kumpel? Hi Volker, das ist aber überraschend von Dir zu hören. Ich bin wieder in Ivalo auf dem Boot. Es ist nicht fahrtüchtig, aber man kann auf ihm einigermaßen wohnen. So, so Du hast also Besuch. Ich glaube zu wissen warum. Die Kinder sind jetzt in den Ferien bei Matti und Ulla auf der Insel. Leider bin ich nicht in der Lage nach Kello zu kommen, um Gila und Freundin zu begrüßen. Sie können mich aber gerne besuchen. Wenn Du Zeit hast oder hier zu tun, dann kannst Du sie ja bringen. Du kennst den Weg sicher

noch. Gruß Pertti

aufbruch und rast

Volker wusste wo Perttis Boot lag, hatte er doch schon selber einige Zeit darauf verbracht. Er könnte es machen. Die Frauen müssten sich nur ein wenig beim Tanken beteiligen. Er würde ein paar Holzmöbel mitnehmen. Auf dem Weg nach Ivalo gab es ein großes Geschäft, der Inhaber hatte schon einmal etwas abgenommen. Vielleicht würde er ihm auch diesmal einiges abkaufen. Volker fuhr gerne die Strecke nach Norden, er liebte auch den Inari. Wenn die Frauen zustimmen, könnte man anbieten, mit seinem Transporter auf die Reise zu gehen. Inzwischen waren Gila und Rina erwacht und krabbelten immer noch schlaftrunken aus den Schlafsäcken, verwundert über ihre Lage. Gila erklärte es und Rina lachte, sie war in guter Stimmung. Witternd wie ein Tier schnupperte sie und sog den angenehmen Geruch von Kaffee ein. „Frühstücken wir“, rief sie fröhlich. „ Ihr

könnt kommen“, rief Volker freundlich, “ der Kaffee ist durch.“ Gila kramte schon emsig in der Tasche und förderte den Reiseproviant zu Tage. Am Küchentisch versammelt, begannen die drei herzhaft zu frühstücken. Gila hatte schon bemerkt, dass Volker bereits am Computer zu Gange war. „Hat er geantwortet?“, fragte sie kauend, ihre Neugier tunlichst verbergend. Volker lies sich Zeit und begann sich genüsslich eine Zigarette zu drehen, wohl bemerkte er die Spannung und die großen Antwort heischenden Augen auf sich gerichtet. „ Ja, wir können ihn besuchen“, sagte er bedächtig. „ Wenn ihr wollt fahr ich euch“. Man würde heute Abend vor Ort sein. „Donnerwetter“, sagte Rina. „ heute Abend? Dann muss es weit sein.“ Volker berichtete, was er wusste. Viel war es ja nicht. Er machte sein Angebot, mit dem Transporter zu fahren, er würde auch den Weg

kennen und er hätte unterwegs noch Geschäfte zu erledigen, so würde es ganz gut passen. Die Frauen waren einverstanden, wenn er sie denn auch wieder mit zurück nehmen würde, denn sie hatten insgesamt nur noch fünf Tage bis es wieder heimwärts gehen muss. Eigentlich, fanden sie, war es das Beste, was ihnen passieren konnte, ein ortskundiger Führer und die Kosten würde man sich teilen. „Also packt eure Sachen, wir fahren in einer halben Stunde“, sagte Volker und verlies die Küche um von den fertig gestellten Möbeln ein paar schöne Stücke auszuwählen und zu verladen. Er war irgendwie gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Gila und Rina räumten so schnell es ging die Küche auf und rollten ihre Schlafsäcke zusammen. Die Reisetaschen und der Restproviant, sowie die Thermosflasche mit frischem Kaffee gefüllt, man weiß ja nie was kommt, und alles in den Transporter geladen,

das war schnell erledigt. Volker hatte eine Menge Holzzeugs verstaut, ein paar persönliche Sachen zusammengekramt und ab ging es. Das Wetter zeigte sich zunächst von seiner besten Seite. Man war in guter Stimmung. Der Transporter war allerdings ein ziemlicher Klapperkasten, der so beladen richtige Arbeit leisten musste. Mehr als 80 Km/h waren nicht drin. Den Reisenden war es zunächst egal, sie hatten es nicht eilig. Es war kein Verkehr, die Landschaft schien unberührt, Wald soweit das Auge reichte. Hin und wieder lichtete es sich und man erblickte vereinzelte bescheiden wirkende Holzhäuser. Manche waren verfallen, schienen unbewohnt. Die Fahrgeräusche des Wagens waren so laut, dass ein Gespräch wenig Sinn machte, man müsste schreien. Keiner schien es zu wollen, so hing ein jeder seinen Gedanken nach und man bewegte sich in Richtung Polarkreis, langsam aber stetig. Es war Sommer und es wurde heiß.

Man glaubt es nicht, aber auch im hohen Norden ist es im Sommer sehr heiß, es würden wieder über 30 Grad werden. Der Transporter hatte keine Klimaanlage. Volker rauchte und lies das Fenster geöffnet. Er war das gewohnt. Witterungserscheinungen machten ihm nie etwas aus, weder Hitze noch Kälte. Die Frauen dampften allerdings allmählich. Der Frühstückskaffee meldete sich auch penetrant. Er wollte seine Reise durch den Körper beenden, immer dringender. Immerhin war man nun schon drei Stunden unterwegs. Gila hatte die Autos gezählt, die ihnen begegneten. Es waren genau zehn. Schließlich entschloss sie sich, Volker um eine kleine Pause zu bitten. Man würde mal kurz im Wald verschwinden, im kühlenden Wald sich erleichtern, dann würde man das Gerüttel des Transporters wieder besser ertragen können. Ein wenig frische Luft, Volkers Zigaretten waren eine Zumutung, würden auch die Lebensgeister wohltuend

erwecken. Volker war einverstanden. Er brummte zwar:“ Dass die Weiber irgendwie andauernd aus den Hosen müssten und dies scheint ein internationales Phänomen zu sein“, tönte er noch, aber er hielt doch lieber an. Die Frauen sprangen aus dem Auto und verschwanden eilfertig im Wald, jede in eine andere Richtung. Volker setzte sich in den Schatten und wartete. Ewig würden sie ja nicht benötigen. Er glaubte plötzlich ein Knacken und Rascheln zu hören aber es entfernte sich schnell wieder. Nach zehn Minuten lugte Volker schon mal in die Richtung, in die er die Frauen verschwinden sah. Nichts. „Wo bleiben sie bloß?“, dachte Volker. Sie sollten nun aber allmählich wieder erscheinen.“ Langsam erhob er sich und beschloss mal nachzusehen, weit würden sie sowieso nicht sein. Er hasste es, zu rufen. Man grölt nicht in den Wäldern herum, solange man die Möglichkeit der Augen und Ohren nicht

ausgeschöpft hat. Volker ging einige wenige Schritte in den Wald und bemerkte Spuren einer kleinen Rentierherde. Es gab hier eine Menge frei lebende Tiere. Sie sind völlig losgelöst von jeglicher menschlicher Gesellschaft, laufen mitunter sorglos und unbeschwert wirkend auf der Straße und betrachten ein zufällig vorbeikommendes Auto mit großen erstaunt ausschauenden Augen. Menschen haben sie manchmal offensichtlich noch nie gesehen. So sind sie arglos aber auch neugierig. Männliche Tiere wirken auf Grund ihrer Größe manchmal angriffslustig, wenn sie sich nähern. Doch sind sie harmlos und suchen dann auch lieber das Weite, falls sie eine Begegnung hätten, was eher selten ist. Volker entdeckt weder Gila noch Rina. Gila und Rina hatten schnell ihr dringendes kleines menschliches Geschäftchen erledigt,

wollten gerade zum Auto zurückkehren. Plötzlich hörten sie ein raschelndes und knackendes Geräusch. Vor ihnen stand ein riesiges männliches Ren und schaute sie wie verwundert direkt an. In der näheren Umgebung gab es noch einige Tiere, die ebenfalls unverwandt die Frauen beobachteten. Gila und Rina wagten kaum Luft zu holen, sie standen wie angewurzelt mit weit aufgerissenen Augen. Das Tier wäre mit Sicherheit viel schneller als sie es je sein könnten. Aber würde es sie denn überhaupt verfolgen? Es schien nur erstaunt zu sein. Wahrscheinlich hielt es die Frauen für merkwürdige als Feind nicht ernst zu nehmende kleine Eindringlinge. Gila bewegte sich ganz vorsichtig einen winzigen Schritt zurück, sie konnte ja den Atem des Viechs schon spüren. Große Tiere waren ihr noch nie geheuer, selbst vertraute einheimische Kühe nicht. Fast belustigt kratzte offensichtlich der Chef der Herde einmal kurz mit seinem Huf im Moos und

machte auch einen Schritt. Er schien zu grinsen. Jedenfalls war keine bedrohliche Haltung an ihm zu erkennen. Gila flüsterte Rina zu: „ Wir rennen jetzt sofort und so schnell es irgend geht zum Auto.“ Rina nickte und so rannten die dämlichen Weiber wie vom Teufel besessen durch den Wald, bis sie keuchend in den Transporter sprangen und die Türen hinter sich lautstark zuknallten. Volker sah inzwischen von weitem die Frauengestalten vor dem großen Ren stehen und beobachtete belustigt die Szenerie. Als er die Frauen wie wildgewordene Handfeger an sich vorbei rasen sah, sie bemerkten ihn scheinbar überhaupt nicht, wollte er sich ausschütten vor Lachen. Das war doch einmal ein Schauspiel. Das verdutzte Rentier stand noch einen Augenblick und glotzte den fliehenden Wesen nach, dann drehte er sich um und widmete sich seinem Harem. Man äste bereits wieder geruhsam. Volker stieg noch lächelnd in sein Auto und sah

Gila und Rina an, die sich apfelessend verdächtig cool gaben. „Wo bleibst Du denn?“ fragte Rina vorwurfsvoll aber etwas verlegen grinsend. Volker meinte nur, dass es in diesem Wald vermutlich Hexen gäbe, die wie der Wind durchs Unterholz fliegen und dies am hellerlichten Tage. Er hätte sich von ihrem Anblick nicht lösen können, sprach’s und sammelte Rina einige kleine Äste aus dem Haar. Alle lachten und weiter ging die Reise. Unterwegs begegneten ihnen noch einige dieser schönen Tiere, die kaum den Kopf hoben beim Anblick des Autos. „ Sind sie gefährlich, wenn man ihnen im Wald begegnen würde?“ fragte Gila. „Nö, man hat noch nie von Angriffen gehört, meistens suchen sie das Weite, sie wollen in Ruhe gelassen werden. Aber wenn zwei Hexen vor ihnen auftauchen, dann weiß man nie, was passieren könnte, “ sagte Volker mit ernsthafter Mine. Womit er nicht ganz Unrecht zu haben schien. Wenn Hexen ins Spiel

kommen, dann wird es meistens irgendwie ungemütlich. In Finnland glauben übrigens sehr viele Menschen an Hexen und ähnlichen geheimnisvollen Wesen. In der Polarnacht sollen ja sich diesbezüglich etliche Gestalten in der Dunkelheit tummeln. Man ist immer wieder erstaunt zu bemerken, dass in der heutigen Zeit so viele Menschen alten Überlieferungen Glauben schenken, neben der landläufigen Religion auch einem himmelschreienden, augenscheinlichen Aberglauben erliegen. Sicher gibt es Menschen mit außerordentlichen Fähigkeiten, die sich deswegen absondern, ihrem ausgeprägten Individualismus frönen. Sie sind unverstanden und werden aus diesem Grunde häufig mystifiziert. Manchmal verstehen solche begabten Personen ihre eigenen Möglichkeiten nicht und halten sich vermutlich selber für übersinnlich. Wie sagt man so schön? „Wer nicht weiß, glaubt.“ Man kennt dies zu genüge.

Im Übrigen ist es immer wieder spannend, sich in mystischen Gefilden zu bewegen. Es jagt uns geheimnisvolle Schauer durch den Körper. Volker glaubte auch an verschiedene Geister, auch an die Existenz von Hexen, besonders auch als alltägliche Frau. Natürlich glaubte er auch an Gott, ging aber nie in eine Kirche. Er war schon sehr oft in lebensbedrohlichen Situationen und vertraute auf Gott, allerdings ohne tatenlos zu vertrauen. Gott gab ihm Kraft zu handeln, richtig und schnell zu handeln. Das war sein Glauben, sein gesamtes Selbstbewusstsein vermeinte er aus Gott zu schöpfen. Er zweifelte nicht im Mindesten an der Existenz Gottes. Das Geheimnis dieser allgewaltigen Existenz und Präsenz zu erklären, war nicht seine Aufgabe. Er glaubte nur daran, das genügte. Man muss deshalb nicht fortwährend beten und irgendwelchen Stellvertretern Gottes, wie sie sich oft selbst bezeichneten, andauernd in ihren Palästen in den

Hintern kriechen. Wenn es denn ein höheres, gütiges, alles verstehendes Wesen gäbe, dann hätte es mit Sicherheit diesen Dusselskram nicht nötig. Die albernen Huldigungsformen sind allein Ausgeburten menschlicher Dummheit, sind absolut überflüssig und lenken vom Wesentlichen ab, ein Hohn für alle um ihre Existenz kämpfenden Menschen, die währenddessen an Hunger und Krankheit sterben müssen. Manchmal wunderte sich Volker, warum Gott Derartiges zu lassen kann. Wahrscheinlich kann er vieles nicht beeinflussen, auch nicht verhindern. Möglicherweise ist er inzwischen auch mal müde. Volker schaltete bei diesen Überlegungen angekommen meistens ab, denn er merkte, dass er nun in einer Sackgasse voller Zweifel landen würde. Gila hing wieder ihren Gedanken nach, blickte aus dem Fenster. Ganz gleichmäßig zogen die Bilder einer unvergleichlichen Waldlandschaft an

ihr vorüber, hell und warm, in sanften Farben. Keine Hektik, kein Stress, nichts schien je diese Natur gestört zu haben. Sie wirkte jungfräulich, unberührt und heiter. Ein Eldorado für Romantiker, unendliche Möglichkeiten bietend über sich und das Leben nachzudenken. Die Gedanken kommen langsam daher, verweilen auf unbestimmte Zeit, ohne lästig zu werden, lassen quälende Sorgen in den Hintergrund treten. Gila glaubt, die Zeit würde genau jetzt still stehen, Zeit geben, um Atem zu holen, um Raum zu lassen für Gedanken, ungeheuer wichtige Gedanken. Aber immer schneller vergeht die Zeit. Alle Menschen sagen das, auch die jüngere Generation teilt diese Ansicht. Die Zeit rast. Doch das stimmt nicht, es gibt nur in unseren Köpfen keine Langsamkeit mehr. Unsere Wahrnehmungen, die Eindrücke sind schlicht falsch. Die Zeit vergeht immer im gleichen Takt, zumindest in Erdnähe, und zwar stetig

vorwärts. Anders kann es gar nicht sein. Nur unsere Empfindungen spielen uns einen Streich. Sie spiegeln die verrückte Umwelt wieder, in der wir uns bewegen müssen. Scheinbar ordnet sich immer und alles irgendeiner Sucht unter. Sie soll wohl stets vorgaukeln:“ Wir sind die Größten, wir sind die Tollsten, wir nehmen das Maul am aller vollsten!“ Und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Die allgemeine Hektik, das tägliche Müssen, tausend Dinge gleichzeitig zu tun oder zu verarbeiten, prägt uns und entstellt in unserer Vorstellung reale Abläufe. Dazu gehört das Zeitempfinden. Vielleicht gibt es aber weitaus mehr Bereiche, die wir verzerrt wahrnehmen, ohne zu merken, dass es so ist. Normalerweise denkt der Mensch, was er sieht, hört, anfassen kann oder riecht, ist die Wahrheit. Das ist die Wirklichkeit. Oh nein, wie oft ist es ganz anders. Alles war nur ein Trugbild der Fantasie, unsere Interpretationen der Welt, unser kleiner

Horizont gaukelt beliebig individuell gefärbt vor. Objektivität gibt es nur scheinbar, bestimmt nur in mehr oder weniger engen Grenzen. Menschen sind von ihrer Ameisenposition kaum dazu wirklich fähig. Leider! Und was das Schlimmste ist, sie erkennen ihre buchstäbliche Beschränktheit nicht. Größenwahn ist die fatale Folge. Sehr gefährlich das Ganze. Der Mensch ist in seiner permanenten, unglaublich dummen Selbstüberschätzung das gefährlichste Geschöpf auf Erden. Es macht alles systematisch kaputt, löscht sich aus, sägt mit Akribie an dem Ast auf dem es sitzt. Das unterentwickelste Tier würde eine derartige Handlung nie begehen können, es besitzt natürliche Selbsterhaltungsmechanismen. Menschen scheinen die ihren, die sie vielleicht auch einmal besaßen, Kraft ihres allgewaltigen Gehirnes bereits zerstört zu haben. Zum Glück gibt es auch immer wieder Versuche einer

Gegenbewegung. Nur, da leben auf dieser Welt mächtige Kreaturen, die sich auch Mensch nennen. Sie haben das Geld und damit alle Möglichkeiten, jede Vernunft zu unterdrücken. So nehmen wir unsere Zivilisation im hektischen Konsumrausch wahr und die Zeit scheint uns davonzulaufen. Die Zeit, in Ruhe und Harmonie unser Leben zu genießen. Gila ist glücklich, denn sie kann das im Moment, allerdings erst nach 55 Jahren selbst verursachten Turbulenzen. Muss man erst ein gewisses Alter erreichen, um so zu empfinden? Im Übrigen vergeht ihre Zeit, im Nachhinein betrachtet, immer noch unglaublich schnell. „Vielleicht ist dies auch nur der mir verbleibenden leider sehr überschaubaren Lebenszeit gestundet. Sie ist mir seltsam ständig bewusst. Sie wird deshalb scheinbar immer kostbarer. Somit bleibt eine Unruhe, weil ich mit dem Nichts, mit dem Danach nicht umzugehen vermag. Mein Nichtglauben, mein

Materialismus lässt mich leiden. Ob das so gut ist? Ich beginne zu zweifeln. Mehr ist allerdings im Moment nicht drin. Vermutlich bleibe ich ein ungläubiger Thomas und muss somit mit meiner Furcht vor dem großen Nichts klar kommen, “ denkt Gila fast ein wenig bedauernd. Rina hat die Augen geschlossen. Völlig entspannt scheint sie die Fahrt in dem klapprigen Transporter genießen zu können. Manchmal lächelt sie. Die leere Straße, gesäumt von halbhohen kiefernähnlichen Nadelhölzern, hohen Gräsern, vereinzelten Büschen, manchmal mit pastellfarbenen kleinen fast unscheinbaren gelben und rötlichen Blüten bedeckt, bringen eine für Rina merkwürdige, auch unbekannte Gelassenheit in ihr Gemüt. Eigentlich ist Rina eine quirlige Person, die immer unendlich erlebnishungrig, inmitten vom Trubel der Menschen, interessanter Menschen, Neues, Schönes für sich gewinnen möchte.

Leider ist das Neue nicht immer schön und das vermeintlich Schöne verblasst oft erschreckend schnell, verliert an Bedeutung. Hier scheint das Schöne, die wundervolle Natur von Bestand zu sein. Nichts wirkt ungepflegt oder künstlich aufgesetzt. Es gibt keine Wege. Bäume, wenn einmal umgestürzt, bleiben einfach liegen. Sie gehören hierher. Kein Mensch versucht den Wald zu trimmen. Kein Mensch scheint ihn je betreten zu haben. Die Tiere wundern sich, wenn es denn doch einmal jemand versucht. Rina muss lächeln. Der Renhirsch wird vermutlich seine Welt nicht mehr verstanden haben als er ihre zwei Gestalten beim Pinkeln überraschte. Wahrscheinlich hatte er sie schon länger beobachtet. Also das war Rina so noch nie passiert. Und Volker hatte sie auch gesehen, ein bisschen peinlich das Ganze. Rina fand, dass Volker ganz nett reagierte. Er hatte sich kaum lustig über sie gemacht, es kamen auch keine neugierigen Fragen. Er wird also mit

Sicherheit alles beobachtet haben. Und wie meint er das mit den Hexen? Ob er denkt, dass wir welche sind? „ Glaubst Du eigentlich an die Existenz von Hexen?“, fragte Rina den neben ihr sitzenden Volker. Der schaute Rina grinsend an und meinte: „ In fast jeder Frau steckt eine. Manchmal eine kleine nette, oft eine reichlich giftige. Mitunter fliegen sie umher und suchen sich ein gutgläubiges Opfer, mit dem sie ihren Schabernack treiben. Zuweilen lassen sie sich zähmen, nur dem Anschein nach, denn Hexe bleibt Hexe. Männer wissen das eigentlich meistens. Sie nehmen alles in Kauf. Sie könnten sich ja auch um einen Engel bemühen, aber Engel sind langweilig.“ „Wahrscheinlich hast Du Recht“, gab Rina zurück“ ähnlich verhält es sich mit den Teufeln. Die interessanten Männer sind auch selten Engel. Wer will schon nur und immer einen Engel in diesem Leben neben sich. Und Engel sind geschlechtslos“, behauptete Rina, als hätte

sie dies als Tatsache schon einmal eindeutig festgestellt. Damit könne sie nichts anfangen. Wahrscheinlich sind die Menschen dieser Erde alle irgendwie Zwitterwesen, halb Engel halb Teufel, engelhafte Hexen, oder auch hexenbesessene Engel. Das reine Gute oder das ausschließlich Böse gibt es mit Sicherheit nicht. Unsere Seelen sind gefärbt von den Farben und Eigenschaften der Welt, alles ist in ihnen vereint. Manchmal überwiegt das Dunkle, manchmal ist es wieder hell. Im Augenblick, fand Rina, ist alles innen und außen wundervoll hell. „Man müsste mal wieder in einen Schatten tauchen“, lies sich Gila vernehmen. „Wir sind gleich bei dem Geschäft, dass eventuell meine Möbel verkaufen kann“, sagte Volker tröstend, „ ihr könnt dort auch was trinken und euch die Beine vertreten, und ihr müsst im Übrigen auch nicht meilenweit in den Wald rennen, um die armen Tiere wieder zu schocken“, meinte er noch

augenzwinkernd. Sie fuhren sodann auf einen relativ großen Parkplatz. Mehrere große lagerhallenähnliche Gebäude schienen eine Menge Dinge, was auch immer, in sich zu bergen, denn eigenartigerweise standen eine für den Landstrich recht große Anzahl von Autos auf der Parkfläche. Volker kannte sich aus und war auch schon verschwunden um wegen der Möbel zu verhandeln. Gila und Rina betraten zunächst ein recht großes Geschäft. Es wurde alle für den Norden unentbehrlichen Utensilien angeboten, auch ein Haufen Krempel, wahrscheinlich für etwaige Touristen bestimmt. Wunderschöne Holzmöbel, Lampen, Decken, auch Bekleidung, hauptsächlich landestypische für die kalte lange Jahreszeit waren in breiter Vielfalt auch in guter Qualität zu passablen Preisen im Angebot. Es gab eine Unmenge zu sehen. Doch die Frauen wussten, dass ihre Reise noch weit war, so begaben sie sich in einen anderen

angrenzenden Raum, der recht stilvoll und gemütlich als Restaurant eingerichtet war. Sie entschlossen sich, einen Eiskaffee zu trinken und auf Volker hier zu warten. Man könnte zur Sicherheit hier auch ganz gefahrlos mal die Toilette aufsuchen. Einige Leute, offensichtlich Schweden, unterhielten sich lautstark. Da kam Volker, sichtlich zufrieden. Er bestellte sich ein Bier und meinte, dass man in einer Viertelstunde weiterfahren solle. Er war seine Ladung losgeworden und hatte einen akzeptablen Preis erzielt. „Ihr seid meine Glücksbringer“, sagte er froh, „ich konnte den Transporter leer räumen, hätte ich gar nicht gedacht. Wir werden jetzt schneller fahren können, die Möbel waren sehr schwer. Was würdet ihr davon halten, wenn wir einen kleinen Abstecher machen? Ich kenne hier einen See, der es Wert ist, ihn gesehen zu haben. Das Wasser ist super klar, man könnte mal reinspringen.“ Die Frauen waren begeistert. Das

würde ihnen so gut tun, zumal die Hälfte des Weges noch vor ihnen lag und es war sehr heiß. Volker schaute mit gerunzelter Stirn zu den Schweden rüber, die immer noch lautstark vor ihren Gläsern saßen. „Was sagen die?“, fragte Gila. „Sie mokieren sich einfach über alles und geben an wie hundert bekackte, lausige Affen“, gab Volker grimmig zurück. „ Ihr solltet wissen, dass die Schweden und Finnen sich nicht sonderlich verstehen. Die Schweden dünken sich etwas Besseres zu sein. Sie schauen geringschätzig auf die Finnen herab.“ Volker wurde allmählich wütend und rief etwas zu den krakeelenden Schweden. „ Du kannst schwedisch?“ staunte Rina. „ Ein bisschen.“ „Was hast du gesagt?“, fragte sie. Rina bekam keine Antwort. Volker beobachtete die Männer, die nun auch etwas riefen. Es schien nichts sehr Freundliches zu sein, denn Volkers Mine verfinsterte sich noch mehr. Gila wurde unruhig, stand auf, um nach der Bedienung

Ausschau zu halten. Sie wollte hier weg. Das fehlte noch, jetzt in einen handfesten sinnlosen Streit hinein zu geraten, lag ihr absolut fern. Volker und Rina standen auch auf, gingen am Tisch der Schweden vorbei. Plötzlich streckte einer der Kerle sein Bein aus und Volker kam ins Straucheln, drehte sich aber blitzschnell um und versetzte dem Beinsteller einen Faustschlag ins Gesicht, dessen Nase sofort stark blutete. Rina sah entsetzt, dass ein anderer von den Männern ein Messer zückte. Kurz entschlossen und ohne zu überlegen ergriff sie eine in Reichweite stehende Flasche, um sie dem Angreifer mit dem Messer über den Schädel zu hauen. Alles geschah sehr schnell, auch mit recht wenig Lärm, dennoch waren inzwischen einige Leute herbeigeeilt. Gila lehnte, zur Salzsäule erstarrt, am etwas entfernten Tresen. Der mit dem Messer war reichlich benommen, schwankend, aber stand noch aufrecht auf dem Boden, mehr als verdutzt, das Messer noch in

der Hand. Der Beinsteller betupfte sich seine blutende Nase. Volker beachtete sie nicht und verließ ohne sich umzudrehen, hoch erhobenen Hauptes, gefolgt von Rina, den Raum. Keiner hinderte sie. Gila war wie vom Donner gerührt und schloss sich den mutigen Kämpfern fassungslos an. Volker stieg ins Auto und lies den Motor an. Die Frauen sprangen schnell hinein und ab ging es. „ Danke, hast du gut gemacht“, sagte Volker anerkennend zu Rina. „Diese miesen hinterfotzigen Arschlöcher! Ich hab das Messer auch gesehen, er war aber zu weit weg. Manche können ganz gut damit umgehen, wenn er es geworfen hätte, würde ich vermutlich jetzt ziemlich schlechte Karten haben. Das Schwein.“ „Reflexhandlung“, meinte Rina nur, man könne manchmal nur so noch, einen eskalierenden Streit beenden. Gila sagte gar nichts. Vermutlich hatte Rina Recht und instinktiv richtig gehandelt. Aber es hätte auch

anders kommen können. Das wäre nicht witzig. Volker schaute zu Gila, die immer noch leichenblass dasaß, „ Male dir jetzt bloß nicht alle Eventualitäten aus“, sagte Volker sanft. „Es ist nichts passiert, außer einer blutigen Nase und einer Beule am Schädel. Die haben es nicht anders verdient, die haben provoziert und zwar sehr beleidigend, außerdem waren sie besoffen und zwar nicht zu knapp. Mir stellt übrigens niemand ungestraft ein Bein. Nicht solche dämlichen Typen. Mache dir also keine Sorgen und jetzt fahren wir trotzdem und gerade deswegen zum Baden an einen wunderschönen See.“

das haus

Es war nun schon tiefer Nachmittag, aber noch sehr warm. Es würde lange hell sein. Eine kleine Stunde Erholung nebst Erfrischung war nun für alle sehr willkommen. „Hier müssen wir halten, näher kann ich nicht heran fahren. Nehmt eure Badesachen mit, “ sagte Volker, „ da vorne ist er schon“, und zeigte in die Richtung, wo vermutlich der See lag. Sprach’s und verschwand im Unterholz. Die Frauen kramten ein wenig in ihren Reisetaschen und förderten erstaunlich schnell ihre Badeanzüge und zwei kleine Handtücher zu Tage. Dann gingen sie zügig Volker hinterher. Der See lag vor ihnen, von Bäumen und blühenden wunderschönen Sträuchern umgeben und an der Spitze konnte man durch eine Öffnung über ausgedehnte Wälder in weites Land blicken. Scheinbar war man auf einer Anhöhe. Die Sonne stand genau über der fantastischen Öffnung, die in ein

scheinbares Traumland zu schauen gestattete. Der See glitzerte verführerisch und lockend, ein sanfter Luftzug kräuselte das glasklare Wasser, am anderen Ufer schwammen einige Wasservögel. Gila schaute in den wundervollen Himmel, musste an einen kleinen Text denken, den sie mal verfasste. Der Himmel kann Menschen immer wieder nur mit Azur und seinen weißen Wolken begeistern. Man blickt nach oben und fühlt sich beschwingt, gut gelaunt, Sorgen treten in den Hintergrund, Wolken regen immer die Fantasien an und verleiten zu träumen. Wolken Ziehen scheinbar langsam unter dem blauen Himmel dahin, wechseln ständig die Form und verändern ihre Farbe, willkürlich anmutend. Mein Augenpaar wandert langsam mit und begleitet die abenteuerlichen Formen bis sie aus

dem Blickfeld verschwunden sind. Aber der träge Wind lässt neue Gebilde vorüberziehen, die an eigentümliche Fabelwesen erinnern oder ganz plötzlich auch andere Assoziationen bewirken. Ein Zusammengleiten und Auseinanderfließen der besonderen Art, zeitlich kaum einzuordnen, nicht vorhersehbar, wechselhaft, immer neu, faszinierend. Das große Spiel der Elemente, das gewaltige Spiegelbild eines ganzen Lebens. Völlig ungerührt, unbeteiligt schweben sie erhaben über mir und ich spüre aus meiner Perspektive die Grenzen des menschlichen Seins. Seltsam ist nur, dass ich die Botschaft freundlich, gelassen ja völlig selbstverständlich aufnehme und in diesem Moment sich die Gedanken absolut ruhig und natürlich

verselbständigen Gila löst sich und schaut auf das andere nahe Ufer. Plötzlich tauchte dort eine Gestalt auf und winkte. Es war Volker. Ansonsten war keine weitere Seele zu erblicken. Die Frauen zogen schnell ihre Badesachen an und gingen über einen winzigen Sandstrand in das erfrischende Wasser. Der See war nicht sehr tief. Man konnte den Grund sehen. Er wirkte irgendwie zivilisiert, fast wie künstlich angelegt, dennoch wieder ganz natürlich. Es war ganz still, nur das leichte Plätschern der nun auch an das andere Ufer schwimmenden Frauen. Dort wartete lächelnd Volker. „ Ich möchte euch etwas zeigen“, sagte er, „kommt mit.“ Gila und Rina kamen an Land, schritten wieder über einen kleinen Sandstrand vorsichtig hinter Volker her. Sie liefen über weiches Moos zwischen den Bäumen und duftenden Sträuchern.

„ Es ist ein angelegter Weg“, flüsterte Gila Rina zu. „ Ob hier etwa einer wohnt?“ Volker hatte die Frage gehört und wies auf eine vor ihnen liegende Lichtung. Darauf stand ein niedriges recht großes Gebäude, wie ein kleines Schloss anmutend, nur dass es ganz aus Holz bestand, versehen mit wundersamen Schnitzereien. Es duckte sich förmlich, die Fenster waren fast zu ebener Erde, alle mit stabilen Läden versehen. Es gab diverse Türmchen, Erker, Nischen. Alles wie im Märchen, sehr traditionell, doch sehr neu aussehend. Sie gingen um das Haus herum und vor dem breiten Eingangsbereich stand eine ältere, grazile, sehr schlanke Frau mit langen weißen Haaren, die von einem Reifen gehalten wurden. Sie trug ein leichtes, langes sehr schönes dunkelgrünes Kleid. An den Armen dezenter Silberschmuck, um den Hals ein weiches Tuch in der Farbe des Kleides. Sie lächelte Volker an und sagte auf Deutsch: „ Wie schön, Volker, dass du wieder einmal

hereinschaust. Wir haben uns lange nicht gesehen, leider ist Karl nicht zu Hause. Er bringt Studenten zum Flughafen. Oh, und du hast sogar Besuch mitgebracht. Stell mir doch deine Begleitung bitte vor. Ihr seid über den See gekommen, “ sagte sie wieder lächelnd, „ein schönes Fleckchen Erde, nicht wahr.“ „ Das sind Rina und Gila aus Deutschland. Sie wollen Pertti besuchen. Ich bringe sie nach Ivalo. Und das ist meine Freundin Karla“, sagte Volker strahlend, und zu Rina und Gila gewandt: „Sie ist mit Karl mein Geheimtipp nur für ganz außergewöhnliche Urlauber. Sie sind mein Märchen in Finnland. Ich bringe sonst kaum jemanden hier her. Aber bei euch will ich eine Ausnahme machen.“ Und dabei lächelte Volker Rina verdächtig lange an. „ Da ist was im Busch“, dachte Gila, „warum sollte Rina nicht auch mal in einen hineinkriechen. Na ja, eher denn umgekehrt.“ Gila grinste verstehend. Vielleicht hatte ja Rina Volker das Leben gerettet

mit ihrer beherzten Tat. Karla fragte die Frauen, ob sie denn schon einmal ein traditionelles finnisches Haus gesehen hätten, sie würde es ihnen bei Interesse gerne zeigen. Vielleicht, wenn sie eine kleine Erfrischung zu sich genommen hätten. Volker nickte den Frauen zu. Schon kam Karla federnden Schrittes mit einem Tablett, auf dem drei Gläser mit einem tiefblauen Getränk standen. Es schmeckte super. „Das ist ein reiner Waldfruchtsaft. Ich stelle ihn selber her. Er ist aus dem vergangenen Jahr. Die diesjährige Beerensaison beginnt erst zögernd. Ach, setzt euch doch.“ Auf der überdachten Holzterrasse standen zwei bequeme Holzschaukelstühle, ein großer stabiler rustikaler Tisch mit mächtigen Füßen und eine ebenso stabile Bank, auf der Volker und Karla Platz nahmen. Eine große weiße Katze lag bereits auf ihr. Sie rührte sich nicht. „Hast du nicht auch so eine?“ sagte Gila, „ die ist uns vergangene Nacht aufs Kopfkissen

gesprungen.“ Ja, sagte Volker gedehnt, das ist eigentlich Tarjas, sie hat sie dagelassen, diese Hexe und seine Mine verdunkelte sich unmerklich. Karla lächelte fein:“ Sie ist eine Tochter jener, “ und zeigte auf ihre Katze. „ Volker hat manchmal kein gutes Wort für Hexen. Möchtet ihr nun das Haus von innen sehen?“ Sie stand auf, wartete keine Antwort ab und begab sich ins Haus. Die Frauen folgten ihr zögernd aber immer neugieriger werdend. Zunächst erschien es etwas dunkel, die Läden waren zum Teil geschlossen. „Es ist wegen der Hitze, “ rief Karla, “so bleibt es angenehm frisch.“ In den Nischen, an den Wänden waren überall Bücher, auch sehr viele uralt aussehende Bände. Die Räume gingen ineinander über, Türen gab es nicht. Ein wunderschöner großer Essplatz in einem Erker, nicht weit davon, fast inmitten der

Räumlichkeiten der Küchenbereich mit einem großen modernen Herd und einem mit Kohle beheiztem, auf dem große Töpfe standen. In diversen Regalen gab es unendliche Gefäße mit Gewürzen, die auch getrocknet unter der Decke befestigt waren. In den offenen Schränken gab es allerlei keramisches Geschirr, Küchenutensilien schön mit vielen frischen und trockenen Sträußen dekorativ angeordnet. Von der Küche führte eine steile Treppe nach unten. „ Unten sind die Vorratsräume und unser Maschinenraum“, sagte Karla lachend, „wir sind auch modern, Karl ist ein großer Techniker und Bastler.“ Im Wohnbereich gab es gemütliche Sessel, Sofas mit Felldecken, großen Kissen, ein Klavier, auch andere Instrumente, alte, sehr schöne, große Bilder mit zum Teil abstrakten Motiven, sehr seltsam, ein wenig melancholisch wirkend, etwas düster. Teppiche lagen auf guten Holzdielen, ein paar Stufen führten in das Arbeitszimmer, einem geräumigen Bereich mit

einer modernen großen Computeranlage. Im Innensektor des Haus gab es auch gewissermaßen einen Wellnessbereich, die Sauna, die in keinem finnischen Haus fehlt, sanitäre Einrichtungen, eine Ruhezone, darüber wölbte sich eine Glaskuppel, viele grüne Pflanzen. Das Haus war mit vielen Lampen ausgestattet, Altes und Neues gut kombiniert, und es standen Kerzen in den unterschiedlichsten Leuchtern überall gut verteilt herum. Ein schönes Haus mit vielen Details, alle liebevoll mit außerordentlichem Geschmack zur Geltung gebracht. Es schien sich hier die Tradition mit der Moderne gepaart zu haben. Über allem lag eine unglaubliche Harmonie und Ruhe, aber auch ein Hauch von Melancholie und geheimnisvoller Kraft, die aus der Vergangenheit zu kommen schien. Die Frauen betrachteten stumm und beeindruckt dieses merkwürdige Haus, deren Inhalte und seltsamen Details sie nicht so schnell erfassen

konnten. Eine ganz besondere Ausstrahlung ging von der Küchenregion aus mit ihrer finsteren Treppe in den Keller, in den sie auch nicht geführt wurden. „Wir sind ständig am Bauen, „ sagte Karla, „ganz besonders der untere Bereich ist noch lange nicht fertig. In der langen, eiskalten Polarnacht, wenn wir mitunter abgeschnitten sind, dann wird es immer lebensnotwendiger, dass alles funktioniert. Wir haben oft Gäste, müssen also mit allem gut versorgt und ausgestattet sein.“ Gila und Rina bedankten sich für die Hausbesichtigung und waren allerdings wiederum auch froh, wieder im Freien zu sein. Volker meinte, man müsse nun auch wieder aufbrechen, denn es war noch ein gutes Stück Weges zurückzulegen. So gingen die drei den gleichen Weg zurück, winkten einmal freundlich zurück, um dann durch den kleinen hellen See zu schwimmen, genossen dabei noch einmal den unvergleichlichen Ausblick, dann stapften

sie durch den weißen Sand, durch die Büsche zum Auto. Sie schlüpften schnell aus den Badeanzügen in ihre Jeans und T-Shirts, sprangen in den Transporter und schon ging es los in Richtung Straße. „Was sind das für Leute, die sich fern ab einer Ortschaft ein so tolles Haus bauen können?“ fragte Rina und „wie alt mag diese Frau sein, trotz der weißen Haare wirkte sie irgendwie recht jung?“ „Sie ist 75, sagte Volker, „ sie war Professorin in Deutschland und ihr Mann war aber irgendwie in der Industrie ein hohes Tier. Es gab wohl immer Bezugspunkte in die höchsten Kreise Finnlands. Beide haben sehr gutes Geld verdient, wohl auch von Haus aus immer gut betucht, er hat mit Erfolg spekuliert und sich dann von allem gelöst. Die zwei haben hier Land gekauft und dieses Haus erbaut, viel mit eigenen Händen aber auch sehr viel mit ziehendem Volk, Studenten aus der ganzen Welt haben an diesem Haus gewerkelt, natürlich unter

fachkundiger Anleitung. Karla hat immer alle bekocht. Sie ist eine hervorragende Köchin, kennt jedes Kräutlein, weiß, was zu tun ist, wenn einer mal ein Wehwehchen hat. Sie ist eine Seele von Mensch, voller Weisheit, eine gute Hexe. Und sie kennt Gott und die Welt, an ihrem Tisch sitzen gerne Künstler, Intellektuelle, auch ganz einfache Menschen aus der Region, unterhalten sich nächtelang. Ganz besonders in der langen Polarnacht finden hier gemütliche Treffen von Zeit zu Zeit statt. Man hilft sich auch bei der Beschaffung lebenswichtiger Dinge. Im Sommer sind hier manchmal vereinzelte Feriengäste, oft prominente Leute, die sich auch einmal die Zurückgezogenheit leisten wollen. Es gibt noch ein kleineres Gästehaus. Das große Haus ist eine Wucht, findet Volker, es wäre natürlich nur dem Anschein nach traditionell, denn rein technisch gesehen ist alles auf höchstem Niveau. Das ist Karls Welt.

Karla ist für das Ambiente engagiert, für die Nostalgie, ihre besondere Aura erfüllt das gesamte Haus, sie ist die Seele. Sie unterhält unzählige Kontakte mit den Finnen, widmet sich auch der Urbevölkerung und deren Geschichte, dem Kulturgut, den Überlieferungen. „ Sie hat was Mystisches“, warf Rina ein. „Ja, das ist wohl war, sagte Volker, „ sie hat die vielfältigsten Fähigkeiten, sie ist eine sehr kluge aber gleichermaßen auch geheimnisvolle Frau. Die Leute hier sprechen von ihr immer mit Respekt. Man ist hier oft sehr abergläubisch. Das bewirkt die Nacht.“ Nun, es war Sommer und alle fühlten sich ganz wunderbar erfrischt und fuhren neuen Abenteuern entgegen. Der Zwischenfall mit den streitlustigen Schweden war fast vergessen.

weihnachtshorror

„Hinter uns fährt ein Auto“, bemerkte Gila. „Hab ich schon gesehen“, brummte stirnrunzelnd Volker. Jetzt geben sie auch noch Lichthupe. Shit!“ Am Heck des Autos erschien eine Schrift. Volker schimpfte: „Das kann nichts Gutes bedeuten, wir müssen anhalten. Ihr sagt erst einmal gar nichts. Ist vielleicht besser so.“ Ihm schwante Unheil. Zwei Männer in Uniform sprangen aus dem Auto und kamen auf den Transporter zu. Sie sagten etwas, zeigten ihre Ausweise. Alle stiegen aus dem Fahrzeug, die Frauen sahen sich etwas betreten an. Volker beantwortete Fragen und zeigte dann auf die Frauen, er schien einige Erklärungen abzugeben. Die Uniformierten nickten und machten sich Notizen. Dann debattierten sie noch eine Weile. Volker schüttelte mehrfach den Kopf. Schließlich trennte man sich. Volker kam ärgerlich wirkend

zu den Frauen, die sich abseits gehalten hatten. „Wir müssen aufs Revier nach Rovaniemi. Die Schweden haben sich beschwert. Sie würden von uns böswillig angegriffen worden sein. Allerdings scheint die Polizei nach Befragung des Bedienungspersonals in dem Restaurant der Variante der Schweden nicht sehr zu glauben. Man will Euch ebenfalls anhören. Der eine der Schweden ist wohl der Sohn einer angesehenen schwedischen Persönlichkeit, hieß es.“ Volker fluchte. Sie hatten erst ein knappes Drittel des Weges hinter sich gebracht. Behörden sind in Finnland nicht besonders flexibel und schnell in ihren Handlungen. Man braucht in jedem Fall Nerven und Geduld. Volker rät den Frauen, nur das Notwendigste zu sagen und auch darauf hinzuweisen, dass sie zügig weiterreisen müssten, wegen des Abflugtermins zurück nach Deutschland. Verhaltet euch ruhig, zurückhaltend und korrekt aber bitte freundlich. Einfach so, wie ihr sicher auch seid.

Nur nicht hysterisch werden. Weiber würden manchmal mit Keiferei Probleme lösen wollen, Volker dachte an Tarja. Nun, man würde es durchstehen. Keiner der drei fühlten sich verantwortlich für die Schlägerei. Gila war’s mulmig in der Magengegend. Sie würde aber ganz sicher die Ruhe bewahren und freundlich die Wahrheit sagen. Rina versprach sich auch zu bremsen. Sie hatte einen unverkennbaren russischen Akzent. Leider mag man in Finnland die Russen nicht sehr. Das hat historische Hintergründe. Alles hing nun von der Einstellung des Beamten in Rovaniemi ab. So folgten sie dem Polizeiauto und waren bald angekommen. Man begrüßte sie dezent freundlich, etwas reserviert, in deutscher Sprache, bot ihnen einen Kaffee an. Die Frauen wurden aufgefordert, ihre Pässe vorzulegen. Der Polizeibeamte war ein sympathisch wirkender Mann. „ Schildern sie bitte den Vorfall aus ihrer Sicht“, wandte er sich an Gila.

Sie hatte nicht viel gesehen und wegen der Sprachunkenntnis auch die Worte nicht verstanden. Nur Volkers Übersetzung könne sie wiedergeben. Auch sah sie später, dass mit voller Absicht Volker ein Bein gestellt wurde. Dann wurde Rina befragt, die ihre Reaktion mit der Flasche erklären musste. Der Beamte nickte mehrmals. Er schien wohlwollendes Verständnis aufzubringen. „Nun, meine Damen, “ sagte er, „ ich bedaure sehr, was ihnen in unserem Land zugestoßen ist, wir möchten mit diesem Vorfall keine internationalen Verwicklungen auslösen“, sagte er lächelnd. „Mitunter werden kleine Vorfälle ungeheuer aufgebauscht. Sicher gibt es die Möglichkeit einer gütlichen Einigung. Der Vater eines der schwedischen Herren, die hier offensichtlich zuviel tranken und sie provozierten, bat uns, ihnen seine Entschuldigung zu übermitteln.“

Der Polizeibeamte war wirklich sehr höflich und freundlich. Die drei Reisenden waren

sichtlich erleichtert. Natürlich würde die Anzeige zurückgezogen werden, hieß es. Es wäre auch schön, wenn sie das Ganze schnell vergessen könnten. In dem Restaurant war nämlich ein Journalist just zu diesem Zeitpunkt zugegen und er hat sogar Bilder schießen können. Nicht auszudenken, was für eine Story so ein Anlass für einen Skandalreporter bedeuten könnte. Wie ich sehe, haben sie außerdem noch die russische Staatsbürgerschaft“, wandte sich der Beamte an Rina, “ das kompliziert die Angelegenheit noch mehr. Wir wollen keine Probleme dieser Art, auch keine Publikationen in der regionalen Presse. Der Herr aus Schweden wäre derselben Auffassung. „ Das ist schon OK“, lies sich Gila vernehmen, „ wir wollen hier nur in Ruhe unseren Urlaub verbringen, uns das Land anschauen, wir werden kein Interview geben, um einen sinnlosen Streit aufzublasen. Leider sind wir

sehr aufgehalten worden, vielleicht können wir hier in ihrer Stadt übernachten?“

„ Bitte sind sie unser Gast“, sagte der Polizist, er schien erleichtert. „Einen Augenblick, ich möchte das für sie arrangieren.“ Er begab sich in ein Nebenzimmer und telefonierte, redete laut, dann immer ärgerlicher werdend. Volker grinste, schaute aber irgendwie sehr zufrieden und gleichermaßen belustigt aus der Wäsche. Jetzt erschien der Beamte wieder. Er sah etwas zerknirscht aus.

„ Also, meine Damen, ääh…es ist ein kleines Problem entstanden. Hm, Hm, er räusperte sich, es ist mir unangenehm, ich habe nicht an eine große Tagung gedacht, die morgen in unserer Stadt beginnt. Die Hotels sind alle hoffnungslos ausgebucht.“

Er schien zu grübeln. Plötzlich ging ihm wohl ein Licht auf, seine Mine erhellte sich.

“ Ich glaube, es gibt doch noch etwas. Ich will schnell noch einmal telefonieren. Sie

entschuldigen.“

Er verschwand wieder im Nebenraum und kehrte schnell wieder zurück.

„Also, wenn es ihnen nichts ausmacht, könnten sie bei „Santa Claus“ übernachten. Die Frauen sahen sich an, zuckten mit den Schultern, fragten wo der Haken wäre.

„ Nun, ein paar Kilometer vom Airport entfernt, der übrigens sich direkt auf dem Polarkreis befindet, gibt es das Joulupukin Pajakylä das „Dorf des Weihnachtsmannes“. Dort im Gästehaus des Weihnachtsmannes könnten sie schlafen. Es ist allerdings alles auf Weihnachten ausgerichtet, wenn auch die eigentliche Saison verständlicherweise im Winter stattfindet. Dann ist dort der Teufel los. Eltern mit ihren Kindern kommen aus der ganzen Welt, um hier dem echten Weihnachtsmann zu begegnen. Jetzt würde man für sie ein Zimmer herrichten. Aber falls sie wollen, können sie selbstverständlich die

skurrilsten Weihnachtsartikel erwerben. Die Geschäfte haben immer geöffnet.“

Er sah die Frauen erwartungsvoll an. Gila und Rina nickten lächelnd. Man würde also mitten im Sommer mal beim Weihnachtsmann nächtigen, was sollte dagegen sprechen. „ Sie brauchen die Übernachtung nicht zu bezahlen, auch das Frühstück nicht“, sagte der Beamte eilfertig.

„ Sehr schön“, sagte Rina, „wir nehmen ihre Einladung an. Wo ist es?“ „Wir bringen sie natürlich hin“, war die schnelle Antwort. Ein bisschen zu schnell, fand Gila, sagte aber nichts. Es war spät geworden. An Volker gewandt, sagte der Beamte, dass er für ihn eine gesonderte Lösung finden müsste. „Kann ich sie mal unter vier Augen sprechen?“ Volker stand auf, „gehen wir ins Nebenzimmer.“ Die Männer verließen den Raum. Rina und Gila warteten mit gemischten Gefühlen, was sollte dies nun wieder. Eigentlich

wollten sie sich ungern von Volker trennen. „Vielleicht gibt es beim Weihnachtsmann nur ein bewohnbares Gemach“, meinte Gila. „In einem Raum lässt man hier offiziell Männlein und Weiblein nicht schlafen. Es gibt auch keine gemischte Sauna. Immer keusch und züchtig getrennt. Aber warum man jetzt nebenan tuscheln muss, ist mir nicht klar.“ Volker erschien und beruhigte die Frauen. Man hätte ihm einen Schlafplatz auf dem Revier angeboten. Er grinste:“ In der Ausnüchterungszelle!“ Er kenne eine solche und diese hier wäre so unübel nicht. Man würde ihn ja nicht einsperren. Im Übrigen hätte er schon weitaus schlechter genächtigt, er könne überall schlafen. Man würde sich morgen rechtzeitig beim Frühstück sehen und dann zügig gen Norden fahren. Gila und Rina sollen sich nur ruhig zum Weihnachtsmann bringen lassen, vielleicht würden sie ihn ja sehen und einen Wunsch erfüllt bekommen, fügte er noch

augenzwinkernd hinzu. Somit verabschiedeten sie sich und gingen gewissermaßen unter Polizeischutz zu einem Streifenwagen, um zu Santa Claus gebracht zu werden. Rina meinte, dies wäre einmalig, mit Polizeigewalt wäre sie noch nie zum Weihnachtsmann gebracht worden, was wenn man ein Gedicht aufsagen müsse? „Im Sommer besteht keine Gefahr“, wusste Gila, “Weihnachtsmänner sind nur im Winter scharf auf huldigende Sprüche. Sie fuhren durch ein großes Tor, alles beleuchtet. Es glitzerte und flimmerte als wenn es tatsächlich bereits Weihnachten wäre. Überall standen Figuren, die an das Fest erinnerten. Eine seltsame Situation, irgendwie lächerlich um diese Jahreszeit. Man ging in ein schönes Holzhaus und im Empfang stand eine junge Frau in Tracht, begrüßte sie zuvorkommend auf finnisch, dann in gebrochenem Deutsch. Der Polizist verabschiedete sich und verschwand samt

seinem Streifenwagen. Die Frauen wurden höflich in ein geräumiges Zimmer geleitet, welches mit einem großen Kamin, wunderschönen Holzmöbeln, einladenden Ledersesseln und einem riesigen überdachten Bett ausgestattet war. Dazu gehörte ein geräumiges Bad mit jeglichem Komfort. Neben dem Bett lag eine kleine Schaltkonsole. „Lass uns schlafen gehen“, schlug Gila vor, “ wir haben morgen noch viel vor. Stell mal den Wecker deines Handys, damit wir rechtzeitig aufwachen. Die Frauen schlüpften also aus ihren Klamotten und sanken in ein äußerst bequemes Bett. „ Ich möchte mal wissen, was diese Schalter hier bedeuten“, sagte Rina, und drückte auf einen Knopf. Das Licht ging aus und an der Zimmerdecke leuchtete wie an einem dunklen Nachthimmel ein Meer von Sternen, leise ertönte eine anmutige Musik, an der großen Wand erschien ein verschneiter Wald, mit

Gebimmel wurde plötzlich ein großer mit Geschenken beladener Schlitten sichtbar. Die davor gespannten Riesenrentiere wurden vom Weihnachtsmann durch den Wald gelenkt, über eine weite verschneite Ebene, immer weiter. Er schien durch die ganze Welt zu fliegen. „Man kennt das ja aus der Werbung, sagte Gila stöhnend, gleich wird Beckenbauer für Telekom oder Konsorten die Trommel rühren. Drück mal einen anderen Knopf.“ Der Wald, der Schlitten und alles andere verschwanden, neue Bilder waren zu sehen. Man befand sich in einer Art Shoppingmeile. Diverse bis zum Stehkragen mit Weihnachtsramsch angefüllte Regale, Geschäfte, Restaurants, alles weihnachtlich hoffnungslos übersättigt, schien die zwei in ihrem Bett fast zu erschlagen. Dazu unmissverständliche Klänge, Kinderstimmen, Flötentöne, seliges Gebimmel, der Weihnachtsmann rief gnadenlos ununterbrochen „Ho, Ho, Hoo und läutete drohend seine große Glocke.

„Rette uns, rief Gila verzweifelt “ erlöse uns vor weihnachtlicher Apokalypse.“

Rina drückte einen weiteren Knopf und der Weihnachtsbaum im Zimmer begann flackernd und blinkend recht hell zu erstrahlen. „ Einen Knopf noch „ bat Rina, “dann gebe ich es auf. Nach dessen Betätigung ging das künstliche Feuer im Kamin an und es begann seltsam nach Lebkuchen, Tannen und Räucherkerzen, zu duften. Der Weihnachtsmann läutete immer noch und rief mit tiefer Stimme unverdrossen sein albernes Ho, Hooo. Gila sprang nun aus dem Bett und rannte auf den Flur, um nach Hilfe Ausschau zu halten. Vielleicht war ja noch einer da, der dem Spuk ein Ende bereiten könnte. Hinter dem Empfangstresen war ein mattes Licht zu erkennen. Dort saß ein alter Mann und las in einer Zeitung, ein Fernseher zeigte Bilder von fliegenden Rentierschlitten. „Oh, gütiger Himmel“, dachte Gila, wohin sind

wir geraten?“ Gila grüßte dennoch höflich und fragte den Mann, ob er sich mit der Technik im Zimmer auskennen würde. Der schaute hoch, lächelte und hob die Schultern. Gila winkte und bedeutete damit, sie zu begleiten. Er möge sich die Sache wenigstens anschauen. Vielleicht weiß er dann, wie das Teufelszeug ausgeschaltet wird, hoffte sie. Der Alte erhob sich, er hatte sie offensichtlich verstanden und trottete Gila zum Zimmer hinterher. Im Schlafgemach der Frauen war noch immer der Bär los, oder der Weihnachtsmann samt Gefolge besser gesagt, bimmelten, was die Glocke hergab. Es flimmerte und glitzerte, darüber hinaus wie es schien aus jeder Ritze und aus anderen unsichtbaren Löchern entwichen immer wieder neue weihnachtliche Düfte. Rina saß völlig aufgelöst und reichlich hilflos, auch schon ziemlich entnervt wirkend in dem großen Bett.

„ Gila“, wimmerte sie“ ich habe noch einen

Knopf betätigt, da sind Rollläden runtergerasselt, wir können nun kein Fenster mehr öffnen. Ich werde jetzt mit aller Wahrscheinlichkeit in Kürze irre.

“ Sie sah den alten kleinen Mann in der Tür stehen, sprang aus dem Bett, sank vor ihm auf die Knie und rief Hände ringend:“ Bitte, bitte, rette uns vor dem Weihnachtsmann!“

Der Alte strich ihr sanft lächelnd übers Haar und ging zur Schaltkonsole, drehte sie hin und her, schüttelte den Kopf und zuckte mehrmals mit den Schultern, dann legte er sich auf den Boden, kroch ächzend unter das Bett und plötzlich war es dunkel. Alles war erloschen und es war herrlich still. Man hörte es stöhnen und der Erlöser sagte nur: „Nix Strom mehr!“ Die Frauen hörten ihn noch lachen, dann waren sie allein.

„Stille Nacht, heilige Nacht“, meinte Gila trocken und versuchte die Badtür zu finden, stieß sich den Kopf, denn die Tür war offen,

Mist verfluchter, ertastete einen Lichtschalter und mit dem Licht aus dem Bad fanden sie auch wieder in ihr Bett. „ Mir wächst eine Beule“, seufzte Gila, „ dennoch gute Nacht, meine Liebe, die haben wir uns gründlich verdient.“ „ Ach, wären wir doch auch in eine Ausnüchterungszelle gegangen, meinte noch Rina sinnend. Also, dann schlaf und träum was Schönes…vielleicht von Santa Claus?“

„Sei ruhig, kein Wort, sonst erwürge ich dich in der heiligen Nacht“, murmelte Gila. Dann war endlich Ruhe. Das Handy piepte. Gila saß steil im Bett. Im Raum war es finster. Nur aus dem Bad schimmerte ein Lichtschein. Die Frauen standen auf, erfrischten sich im Bad, sammelten schnell ihre Sachen zusammen, um erleichtert, wenn auch nicht ganz ausgeruht, wieder den warmen hellen Sommertag zu begrüßen. Im Empfang war keine Menschenseele

zu erblicken. So legten sie den Zimmerschlüssel auf den Tisch und verließen aufatmend die weihnachtliche Welt. Vor dem Tor stand der Transporter. Volker stand rauchend davor und erwartete freundlich lächelnd Gila und Rina. „ Na, war’s schön beim Weihnachtsmann“?

Rina richtete unmissverständlich ihre Augen gen Himmel und Gila tastete nach ihrer Beule. „Wir sind lebend davongekommen, Folgeschäden sind nicht ausgeschlossen“, meinte sie leise leicht gequält das Gesicht verzogen.

„Ja, Touristen bekommen hier was geboten, da bleibt kein Auge trocken. Aber wir sollten was Frühstücken. Man hat uns in einem Bistro ganz in der Nähe einen Tisch reserviert. Wir sind eingeladen. Also steigt endlich ein und lasst uns hurtig dort hin fahren. Ich brauche was zwischen die Kiemen.“

Und ab ging es. Die Frauen verspürten jetzt auch Kaffeedurst und Appetit auf ein kräftiges Frühstück. Man

sollte immer einen Tag in Ruhe mit einem guten Frühstück beginnen. Man ist dann weitaus besser gewappnet. Es war tatsächlich ein kleines, sehr nettes Bistro. Nachdem Volker mit der Bedienung ein paar Worte wechselte, nahmen sie im Sonnenschein unter einem Schirm auf der Terrasse Platz. Es saßen bereits einige Leute an den Tischen und frühstückten genüsslich, leise in Gespräche vertieft. Leckere Sachen wurden gebracht, Kaffee, Saft, Eier, Marmelade, frische Brötchen, Käse, Schinken und frisches Obst. Die drei waren begeistert.

„Wie ist es dir in deiner Ausnüchterungszelle ergangen?“ fragte Rina kauend." Konntest du ein Auge zu machen in dem Etablissement? Und gab es etwa weitere „Gäste“?

„ Nö, ich war Stargast. Habe wohlbehütet gut geschlafen, alles vom Feinsten. Ich bin zufrieden. Aber bei euch gab es wohl Turbulenzen und deutete fragend auf Gilas Beule?“ Die Frauen schilderten nun schon

wieder lachend die nächtlichen Vorkommnisse und fanden, dass sie diese Nacht zumindest so schnell nicht vergessen würden. Allerdings wären ihnen zunächst sämtliche weihnachtliche Ambitionen abhanden gekommen.

„Na, die brauchen wir ja auch vorläufig nicht“, meinte Volker. „Nach dem Frühstück müssen wir dann aber los. Es ist noch weit bis Ivalo.“ Plötzlich trat ein etwas lässig gekleideter Mann mittleren Alters, Sonnenbrille, halblanges Haar, etwas ungepflegt wirkend, mit zerknittertem Leinenjackett, an ihren Tisch. Er hatte eine Zeitung in der Hand und bat höflich, in gebrochenem Deutsch, kurz Platz nehmen zu dürfen. Man gestattete dies großzügig. Sie waren ohnehin fertig mit dem Essen, wollten nur noch den Kaffee austrinken und sich dann auf den Weg machen. Der Mann stellte sich als Journalist der regionalen Tageszeitung vor und wollte sich eigentlich nur mal mit den Menschen unterhalten, die ihm eine so nette

kleine Story lieferten.

„Sie ist schon erschienen“, sagte er stolz und klopfte mit der Zeitung auf den Tisch. „ Mit Bild, wollen sie mal einen Blick darauf werfen?“

Rina blies die Backen auf, denn sie war in malerischer Pose mit der Flasche über dem Kopf des Mannes, der so schnell mit dem Messerzücken war, zu erkennen. Der Typ hatte ein Messer in der Hand, auch das war sehr deutlich zu sehen. „ Das ist aber sehr dreist, sagte Gila, sie hatten keine Genehmigung das Bild zu veröffentlichen.“


„ Deshalb sitze ich jetzt an ihrem Tisch, man hat sie gestern ziemlich abgeschirmt. Ich hatte keine Möglichkeit sie zu fragen. Sie wurden bei Santa Claus gut bewacht. Ich hatte keine Chance und sie, er wandte sich an Volker, befanden sich ja noch besser in Gewahrsam“, dabei grinste er so, dass Volkers Mine sich

verdüsterte. „ Sie werden Ärger bekommen, sagte Gila. Nun uns geht dies nichts an, wir werden jetzt unsere Reise durch ihr schönes Land fortsetzen und diesen Vorfall hinter uns lassen. Wir haben Urlaub. Lass uns aufbrechen Volker. Einen schönen Tag noch für sie“, wandte sie sich an diesen Skandalreporter, stand auf und rief noch, dass sie nur noch schnell mal auf die Toilette ginge. Rina folgte ihr. Volker stand nun auch auf. Der Journalist verabschiedete sich leicht verkrampft und drückte Volker die Zeitung in die Hand. „ Das Bild ist immerhin auch ein Beweis, das sollten sie wenigstens anerkennen. Aufwiedersehen und gute Weiterreise!“ Volker sprach noch kurz mit der Kellnerin und begab sich langsam zum Fahrzeug. Als Rina und Gila von der Toilette kommend durch den Gastraum gingen, erhielten sie noch einen gut gefüllten Picknickkorb und einen freundlichen Abschiedsgruß. „ Donnerwetter, wer hätte das

gedacht, man will uns wirklich bei Laune halten“, meinte Rina, „die sind ja echt nett.“ „Wahrscheinlich hat man nicht mit der schnellen Arbeit des Zeitungsfuzzis gerechnet. Wir haben jedenfalls nichts genehmigt und kein Interview gewährt. Man kann uns nichts vorwerfen. Bin gespannt, was in dem Artikel steht. Volker muss es uns übersetzen. Wir werden irgendwo noch diese Zeitung kaufen.“ Gila und Rina gingen nun schnell zum Auto. Volker saß bereits lesend am Steuer. „Oh, Du hast schon eine“, sagte Rina, Was steht also dort geschrieben, übersetz mal bitte.“ „Na Ja, die Skandalpresse halt, genau dieses wollte man sicher verhindern. Es ist nicht unser Verschulden, dass der Schmierfink zum Zuge kam. Er wird sein Fett weg kriegen. Eigentlich ist das Ganze hochgradig lächerlich. Ich denke, uns wird man in Ruhe lassen. Mir reicht es auch irgendwie. Ich will jetzt hier weg. Mit euch kann man aber auch was erleben.

Hier steht also: Junge Russin verhindert Messerwurf Unweit der Hauptstadt von Finnisch-Lappland Rovaniemi gab es in einem bekannten Restaurant einen unangenehmen Zwischenfall. Betrunkene, sich über Finnland abwertend äußernde, schwedische Touristen attackierten verbal drei deutschsprachige Gäste. Einer dieser Gäste wies sie wegen der Bemerkungen zurecht. Beim Verlassen des Restaurants stellte ein Schwede dem Mann ein Bein, dieser strauchelte, konnte sich aber zum Glück fangen und versetzte dem Beinsteller einen kurzen Schlag auf die Nase, die sofort blutete. Dies veranlasste offensichtlich den anderen jungen, stark alkoholisierten Schweden sein Messer zu ziehen. Eine sehr beherzte mit russischem Akzent sprechende junge Frau, ergriff eine Flasche, um Schlimmeres zu

verhüten. „So, das war das. Hier habt ihr diese Zeitung für eure Reisememoirien. Ich fahre jetzt los. Ich schätze vier bis fünf Stunden brauchen wir bis Ivalo.“

tango

So dämmerte wieder jeder vor sich hin. Gila und Rina waren noch reichlich müde, versuchten ein wenig zu entspannen. An Schlaf war nicht zu denken, das Auto machte zuviel Krach. „Hast du mal mit Pertti telefoniert, weiß er dass wir erst heute kommen?“, fragte Gila. „ Ja, vorhin ganz kurz. Er lässt euch grüßen und erwartet uns heute gegen Abend. Irgendwas ist mit ihm. Er war nicht sehr gut drauf. Irgendein Problem scheint ihn zu belasten. Aber er sagte, dass er sich freut.“ Gila konnte sich denken, dass Pertti mit seinem schlechten Gewissen fertig zu werden hatte. Sie schwieg dazu. Volker brauchte die Gründe dafür nicht zu erfahren. Auch wenn er noch so fragend rüberschaut. Rina nickte mit geschlossenen Augen. Sie hatte im Moment andere Sorgen, denn ihr Bild war in der Zeitung. Sie wollte diesen fragwürdigen Ruhm nicht. Eine saudumme Geschichte! Aber

man stelle sich vor, der Kerl hätte tatsächlich sein Messer eingesetzt. Nicht auszudenken, das hätte ein tragisches Abenteuer werden können. Die schreckliche Nacht im Weihnachtshorror war dagegen eine Lachnummer. „Wir sind Glückskinder“, lies sich Rina, ihre Gedanken abschließend, vernehmen. „ Natürlich sind wir das“, sagte nun auch Gila im tiefsten Brustton ihre Überzeugung. „Amen, alles wird gut“, schloss Volker die sinnreichen Feststellungen der Frauen. Man lachte nun befriedigt. An den Fenstern zog der Wald in seiner romantischen Unberührtheit vorbei. Wenn sie nicht in einer lauten, heißen Klapperkiste sitzen würden, die sich mehr oder weniger mühte Kilometer zu fressen, könnte man meinen, die wundervolle Welt würde um sie herum, extra für sie, völlig arglos und in ganzer Schönheit eine stille Sondervorstellung geben. Die Kiefernspitzen tanzten im Sonnenschein mit den niedrigen blühenden Büschen ein

betuliches Menuett. Der leichte Wind lies das Buschwerk hin und wieder ein wenig aufbauschen, wie die umfangreichen Röcke schöner Damen, die sich vor ihren Kavalieren hin und her drehen. Die Kiefernherren nickten ihnen, durch den Wind bewegt, huldvoll bedächtig zu. Manchmal schauen sie auch auf die Nachbarin. Das kommt vor. Aber jeder hat seinen Platz. Es gibt hier keine Verwechslungen. Beständigkeit ist das Wichtigste, jede Entwurzelung würde ja schließlich irgendwann mit dem Tod enden. Keiner möchte das so schnell. Ganz selten kommt ein Mensch und stört diese heilige Ordnung. Hier scheint man noch zu wissen, auch um den Preis ewig gestrig zu sein, dass gute, feste Wurzeln lebensnotwendig sind. Wie schnell wird man sonst zu Feuerholz. Man landet im Kamin des Lebens, ist einen kurzen Augenblick im Mittelpunkt und furchtbar wichtig. Doch dann ist da nur noch graue Asche

übrig. Sie erfreut niemanden, landet in der Tonne mit all dem Müll des Alltags verbunden. Das ist doch sehr schade und eigentlich auch sehr traurig. Mit ihrem Gefährt fuhren sie inmitten der Tanzenden wie ein aufrechter alternder Zeremonienmeister, den man duldet, eigentlich aber kaum braucht. Alle beherrschen hier diesen uralten Tanz voller Alles ignorierender Anmut aufs Trefflichste. Manchmal lichtet sich der Wald und gibt den Augen mal kleinere, auch größere Seen und weite Ebenen preis. Ortschaften sind selten, Fahrzeuge ebenfalls. Die Strasse scheint nur für sie geschaffen. Hinter einem Dorf sitzt ein Junge am Straßenrand. Als er uns kommen sieht, springt er auf und winkt. Volker hält an. Der Junge, er mag dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein, lächelt und fragt etwas, deutet auf einen großen Rucksack und ein Bandonium. Volker fragt die

Frauen, ob sie etwas dagegen hätten, einen Passagier mitzunehmen. Er würde hinten sitzen. Nein, natürlich nicht, warum auch. Der Junge sah nett und freundlich aus. Volker öffnete die hinteren Türen und der neue Fahrgast sprang hinein. Weiter ging die Fahrt. Volker öffnete noch das Innenfenster zum Laderaum, so dass er den Mitfahrer ein wenig beobachten konnte. Man weiß ja nie, schließlich war ja alles hinten verstaut, was sie für ihre Reise mitgenommen hatten. Nein, es gab da keine Reichtümer. Man würde sie sicher nicht beklauen. Das war ja noch ein Kind und im Guten käme der Bursche sowieso nicht so schnell alleine aus dem Auto. Volker war manchmal etwas misstrauisch. Er hatte schon viel erlebt. Es gab reichlich frühreife Knaben, die mit allen Wassern gewaschen waren und zuweilen auch dubiosen Gruppen angehörten. Das wäre das Letzte, was sich Volker wünschte, dass eine Herde wild gewordener unreifer Affen über sie herfiele. Der

Junge hatte ihm 10 Euro gegeben, mehr hätte er nicht. Er wollte sich an den Spritkosten beteiligen. Das war soweit in Ordnung. „Was willst du in Ivalo“? fragte Volker in den Rückspiegel blickend. Der Junge kam an das Fenster und sagte, er würde Tangospieler sein und dort einer Band vorspielen. „Vielleicht nehmen sie mich, dann brauche ich nicht in meinem Heimatdorf zu verrotten. Dort gibt es fast nur alte Leute und ein paar versoffene Trottel. Außerdem habe ich in Ivalo einen Onkel, bei dem ich vorerst wohnen könnte. Der hat Geld, ein Werbegraphikstudio und ein Fitnesscenter mit etlichen Angestellten. Er hat mich auch zu dieser Band vermittelt“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Na, dann lass mal was hören“, forderte Volker seinen Passagier auf. Du hast Gelegenheit zu einer Generalprobe. Die Damen werden deine Juri sein.“ An Gila und Rina gewandt, gab Volker sein

Gespräch mit dem Jungen wieder. Die waren sofort hoch erfreut. Gegen Musik gab es keine Einwände. Im Gegenteil. „Wir lieben Tango“, riefen beide wie aus einem Mund. Es rumpelte hinten, denn ganz so einfach war es wohl doch nicht, dort im Laderaum eine Sitzposition zu finden, die das Spielen des Instrumentes halbwegs ermöglichte. Doch dann ertönten Klänge, die völlig unerwartet, was die Lautstärke und das Temperament, auch was die Virtuosität anbelangte, alles übertraf. „Donnerwetter!“ rief Rina und klatschte in die Hände. Auch Gila spendete eifrig Beifall. Das war ja ganz großartig. Die Frauen wollten mehr hören. Volker schmunzelte. Er wusste, dass die Finnen äußerst fanatische Anhänger des Tangos waren. Es gab in den Städten, manchmal sogar auch Dörfern, diverse Tanzclubs. Die Tangomusiker erfreuten sich eines sehr hohen Beliebtheitgrades, zunehmend auch bei der jüngeren

Bevölkerung. Der junge Musiker genoss sichtlich den Beifall, fühlte sich angespornt und spielte und spielte. „ Noch zwei Stunden bis Ivalo. Wir liegen gut in der Zeit. Es ist außerdem wohl egal, wann wir ankommen. Pertti ist eine Nachteule. Es wird ihm nichts ausmachen. Man könnte sich also eine kleine Rast gönnen und dabei mal den Picknickkorb kontrollieren“, schlug Volker vor, “ in der nächsten Ortschaft ist eine Tankstelle und auch eine Werkstatt. Irgendwas stimmt nicht. Ich höre da so verdächtige Geräusche. Macht euch aber keine Sorgen, das bekomme ich schon hin“, beruhigte Volker die Frauen, die ein wenig irritiert schienen. Volker fuhr nach einer Viertelstunde in Sodankylä ein und da war auch schon eine kleine Tankstelle. Alle stiegen aus, froh sich die Beine vertreten zu können. An einem Imbisstand tranken sie eine kalte Fanta und warteten auf Volker, der schon mit einem dicken Mann im Arbeitsanzug verhandelte. Dann

gingen sie um den Transporter, versuchten unters Auto zu schauen. Der Werkstattmensch, es schien zumindest so, dass es einer war, schüttelte den Kopf. Schließlich nach längerem hin und her, öffnete Volker die hinteren Türen, dann zeigte er auf den Jungen. Der dicke Mann lächelte, nickte und Volker fuhr mit dem Auto in die Werkstatt. Rina meinte, die hätten irgendwelche Geschäfte gemacht, die mit der Reparatur des Autos zusammenhängen mussten. Aber welche? Sie wollte hingehen. „ Bleib hier, wir werden es schon noch früh genug hören. Wenn das Auto kaputt ist, dann sind wir aufgeschmissen. Wir sollten Volker einfach in Ruhe verhandeln lassen. Schließlich kennt er die Leute. Wir wollen ihn nicht auch noch nerven oder gar verärgern. Wir machen auf keinen Fall Stress“, sagte Gila in ihrer ruhigen Art. „ Notfalls schauen wir uns mal im Ort um und suchen uns ein nettes Plätzchen für unser Picknick.“ „ Na, gut“, lenkte Rina ein, ihre

Ungeduld bezähmend. „Du hast doch die Karten dabei, die könnten wir uns ja zum Spaß mal legen, dann wissen wir, was uns noch erwartet. Wenigstens ob Gutes oder Böses!“, meinte sie augenzwinkernd. In dem Moment kamen die Männer aus der Werkstatt. Volker ging zu den Frauen und dem Jungen. Seine Mine war ein wenig ernst. Er musste ihnen und insbesondere dem kleinen Passagier einen Vorschlag unterbreiten. Mit den Frauen gibt es sicher kaum ein Problem, aber würde der Junge mitspielen? Bloß gut, dass er ihn überhaupt mitgenommen hatte. „ Hört mal alle zu, wir haben ein Problem mit meinem Transporter. Genauer gesagt, ohne eine Reparatur durchzuführen, können wir nicht weiter fahren, sonst wird die Scheiße größer. Der Werkstattmeister meint er könne zwar das nötige Ersatzteil besorgen und auch den Schaden beheben, aber es wird eine Weile dauern bis wir weiter fahren können. Die Sache

wird auch nicht ganz billig und eigentlich hätte er auch gar keine Zeit, denn sein Schwiegervater würde heute 70 Jahre alt. Kurz, ich habe ihm angeboten, dass unser Fahrgast den Geburtstagsgästen ein wenig aufspielt, wenn er mir seine Hilfe nicht versagen würde. Der Meister wäre sehr einverstanden, denn er hatte sich selber sehr um etwas Lifemusik bemüht aber leider nichts bekommen. Wenn wir uns dann vielleicht zwei Stunden in diese Gesellschaft begeben würden, dann bekäme ich auch einen bezahlbaren Preis.“ Volker wandte sich an unseren Musikus und redete auf ihn ein. Der nickte mehrmals. Somit war die Sache beschlossen. Volker trabte nun wieder in Richtung Werkstatt. Alle anderen hinterher. Der Junge holte sein Instrument aus dem Auto, während Volker mit dem Meister sprach. „ Los geht es“, rief Volker, „wir fahren zur Geburtstagsfeier, soll hier ganz in der Nähe in einer Kneipe sein.“ Man stieg in einen großen

alten Volvo und fuhr durch den Ort. Als sie an einem Blumenladen vorbeikamen, bat Gila schnell mal anzuhalten. Sie wollte dem Jubilar wenigstens einen kleinen Strauss schenken. Das Restaurant war recht groß, sehr festlich und erstaunlich gediegen, man sah es von außen nicht. Die Fenster waren weit geöffnet und man saß beim Kaffee und Kuchen und schnatterte munter aufeinander ein. Die Gesellschaft bestand aus ungefähr fünfzig Personen, alte und junge Leute, natürlich auch eine Reihe Kinder. Die typische Familienfeier halt. Scheinbar feiert man so auf der ganzen Welt Großvaters Geburtstag. Vor der Tür stand eine Vielzahl an Autos. Man kam also auch aus den verschiedensten Ecken des Landes. Wie dies immer so ist. Die Familien vergrößern sich und driften auseinander. Der Anlass ist willkommen, sich einmal wieder zu sehen, außerdem wird Opa geehrt. Ein Hoch auf das Geburtstagskind, welches in der glücklichen

Lage ist, großzügig einzuladen. Die jüngeren Leute haben meist nie genügend Mittel, um eine derartige Feier auszurichten. Das Leben ist teuer und wer will schon wegen einer Familienfeier Erspartes opfern, falls überhaupt etwas vorhanden. Schnell ist sämtliche sauer verdiente Kohle wieder ausgegeben. Die Konsumgesellschaft hat natürlich auch alle jungen Finnen fest im Griff. Es gibt wohl Arbeit, aber nur vorwiegend in den Städten und hier ist das alltägliche Leben sehr teuer. Wirklicher Luxus ist wenigen vergönnt aber es gibt ihn wie überall. Normale Leute müssen bescheiden leben und man staune, das geht sogar, ohne dass dieselben darüber todunglücklich sind. Nein, sie sind freundlich, sehr gastfreundlich. Gila hatte es schon früher sehr wohltuend erlebt. So wurden die Ankömmlinge freundlich empfangen. Schwiegervater, ein großer, drahtig wirkender, grauhaariger Mann, der einen

schwarzen Nadelstreifen Anzug trug, begrüßte sie nach kurzer Einführung durch seinen Schwiegersohn und lud zum Kaffeetrinken ein. Gilas Blumenstrauß nahm er hocherfreut an sich und gab ihn seiner Frau, einer kleinen, zierlichen, auch echt elegant gekleideten Dame. Im Restaurant gab es eine kleine freie Fläche, weiter hinten sah man eine Musikanlage. Scheinbar wollte man später ein Tänzchen wagen. „Das wird ja lustig, dachte Rina. Neben der Tanzfläche sah sie einen schwarzen kleinen Flügel stehen. Sie lächelte erstaunt. Ein Flügel hier, das ist kaum zu glauben, wahrscheinlich ist er verstimmt, ewig nicht berührt. Wahrscheinlich dient er nur zur Dekoration. Die vier Neuankömmlinge nahmen an der Tafel Platz. Der Kuchen schmeckte super. Plötzlich kam Schwiegervater zu ihnen, er hielt eine Zeitung in der Hand, und sprach kurz mit Volker. Der nickte und deutete auf Rina. „Oh Gott“, dachte Gila, sie hatte die Zeitung

gesehen und ahnte Fürchterliches. Man hatte sie offensichtlich erkannt. Der Buschfunk funktioniert auch hier. Skandale erfreuen des Menschen Herz. Schwiegervater aber lächelte ganz milde und sprach die verdutzte Rina in klarem Russisch an. Gila verstand Bruchstücke. Es waren anerkennende Worte. Er lobte offensichtlich ihren Mut. Dann nahm er unseren Musikus bei Seite und stellte einen Stuhl auf die freie Fläche, hielt eine kurze Ansprache, was die Gäste veranlasste laut und frenetisch zu klatschen. Er zeigte schwungvoll auf den Jungen, der schon mit seinem Instrument startklar auf dem bereitgestellten Stuhl saß. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Das Schnattern wich einer erwartungsvollen Stille. Unser Passagier gab alles, er spielte mit einer wahren Inbrunst, hingebungsvoll, augenscheinlich die Welt um sich herum vergessend. „ Der Bengel hat was auf dem Kasten“, flüsterte Rina. „ Aus dem kann was

werden, wenn er an die richtigen Leute gerät“. Die Leute waren ebenfalls sehr begeistert, sie spendeten großen Beifall, verlangten Zugaben und erhielten sie. Hochrot, total stolz verneigte sich der junge Künstler lächelnd immer wieder. Schwiegervater stand auf und sprach wieder ein paar Worte. Es waren sehr freundliche Dankesworte. Dann deutete er auf den Flügel, hob bedauernd die Schultern und brachte unseren erfolgreichen Musikanten zu seinem Platz. Volker meinte:“ Vor kurzem hätte hier noch ein Pianist wundervolle Musik gemacht aber der würde jetzt in der Großstadt studieren, hätte leider keine Zeit gehabt, seinen Großvater zu besuchen. Gila stieß Rina an:“ Willst du nicht…?“ Rina schüttelte den Kopf. „ Doch, trau dich, bitte, versuch es“, drängte Gila. Rina zierte sich. „Ich habe doch keine Noten“. Volker stand auf und wechselte mit Schwiegervater einige Worte, worauf dieser in einen Nachbarraum ging und einen ganzen Stapel

mit großen Heften holte. Er ging schnurstracks auf Rina zu und legte sie ihr auf den Schoß. „Schauen sie mal rein. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihnen etwas gefällt und sie sich diesen schönen Flügel einmal näher betrachten würden. Vielleicht entlocken sie ihm ein paar Töne. Unter den Noten sind auch bekannte Tangotitel. Wir lieben hier alle diesen Tanz“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Wir sind schier versessen danach. Bitte geben sie sich einen Stoß.“ „ Das hast du mir eingebrockt“, drohte sie Volker, „wer weiß, was das noch wird!“ Sie ging mit Schwiegervater zum Flügel. Der Bandoniumspieler hinterher. Rina öffnete den Deckel der Tastatur und schlug ein paar Akkorde an. Klang nicht schlecht! Schwiegervater winkte ein paar Männer heran und diese öffneten den Flügel, schoben ihn ein wenig vor. Rina setzte sich, blätterte in den Noten. Es waren bekannte Stücke, nicht sehr schwierige, hatte sie schon früher mit Schülern

gespielt. Also, was soll’s. Außerdem schien der Flügel nicht sehr verstimmt zu sein. Kein Problem, nur ein wenig Aufregung. Warum sollte sie nicht auch so hemmungslos und selbstvergessen spielen wie dieser Junge? Nichts denken, nur spielen, alle Leute ringsherum ignorieren, nur sie und das Klavier. Es gibt nichts anderes. Rina begann zu spielen. Sie war nun allein aber nicht einsam. Die Tasten des Instrumentes fühlten sich glatt und kühl an, angenehm kühl, nicht abweisend. Sie lockten und schienen sich ganz allmählich zu erwärmen. Es ging so leicht, fast so leicht wie zu Hause. Aber etwas war anders, denn sie war ja nicht Daheim. Wo bin ich eigentlich, dachte Rina und hielt inne. Das Stück ist noch nicht beendet, fühlte sie. Weiter ging es bis sie zu den Schlussakkorden kam. Rina erhielt begeisterten und sehr herzlichen Applaus. Die Leute standen auf, lächelten ihr zu und Schwiegervater schüttelte strahlend Rinas

Hände. Er dankte ihr gerührt für diese große unerwartete Freude. Diese Musik wäre eines seiner wertvollsten Geschenke, sagte er und geleitete sie zu ihrem Platz. „Bitte bleiben sie zum Abendbrot. Sie sind alle herzlich eingeladen. Ich muss mich jetzt wieder den anderen Gästen widmen“, sagte er fast bedauernd, „man sieht sich ja immer seltener“, und mischte sich unter seine liebe Verwandtschaft. „Was hat er gesagt?“, fragte Volker, denn Russisch verstand er gar nicht. „Wir sind zum Abendbrot eingeladen und meine Musik hat ihm gefallen“, entgegnete Gila nun auch ein wenig geschmeichelt. Der Beifall war wirklich nett. Ein gutes Gefühl auch mal als Solist, Anerkennung zu erhalten. Der Applaus schien echt und von Herzen zu kommen. Rina freut sich darüber. Wie oft war sie nur Begleitung anderer Musiker, stand im Schatten der Hauptakteure und musste dennoch ähnlich viel Leistung bringen oder sogar mehr, denn man

erwartete perfekte Anpassung. Das konnte Rina immer. Perfekte Anpassung, Hintergrund, Untermalung des Solisten, damit dieser noch mehr leuchtete. Das ist eine wichtige Arbeit, ohne Zweifel. Ein guter und fairer Solist weiß diese selbstverständlich sehr zu schätzen. Nur den Lohn heimst er ein, denn er ist der Star. Wie seltsam leicht kann man diese Tatsache auf fast alle Bereiche des Lebens übertragen. Einer steht vorne, einer ist ganz oben und verbeugt sich für dankende Huldigungen seiner großartigen Leistung. Die ihn tragenden Mäuschen wühlen grau im Hintergrund, gnädig erhalten sie dann und wann ein paar Krumen vom Tisch des Herrn, denn er muss sie am Leben und bei Laune halten. Ohne sie wäre er ein Nichts. Doch so spielt die Welt. Nicht jeder hat das Zeug und die Courage im Rampenlicht zu stehen, denn dies ist auch gefährlich. Wehe, wenn man nicht gut genug ist, dann fliegen die Tomaten und das wären die harmlosesten

Wurfgeschosse. Wer ist immer gut? Wer will ständig von allen Seiten beäugt werden? Wenn ja, welcher Charakter hält ständiges Bauchpinseln aus? Der Große verleugnet sein Wesen, verschanzt sich im Innersten, denn er ist immer draußen. Das wird erwartet. Schließlich fehlt ihm die Kraft wieder auf Dauer klein zu sein. Ist er es geworden, dafür sind die so zahlreichen Schicksalsschläge mit ihrer todsichren Trefferquote zuständig, verdirbt er einsam an der Spitze, am ausgestreckten Arm derer, die an ihm verdienten. Auch die Mäuse wenden sich dem nächsten Virtuosen zu. Volker schaut bewundernd auf Rina. Alle tun das, auch unser junger Musikus, der den Tango so liebt, wie alle hier. Rina sagt.“ Schluss jetzt, ich bin hier nicht das achte Weltwunder, aber es hat Spaß gemacht, es einmal für kurze Zeit sein zu dürfen. Was wohl unser armer Transporter macht? Volker, da kommt der Meistro der Werkstatt in Zivil. Er hat sich fein gemacht,

vermutlich ist das Auto wieder fahrbereit. Frag ihn doch mal, dann wäre mir wohler.“ Aber der füllige Finne kommt schon an den Tisch und meint, dass nun wieder alles bestens sei, man könne beruhigt damit wieder auf die Piste. Sprach’s und ging zu Schwiegervater, der bereits ein wenig zu glühen schien. Es gab eine Menge Leute, mit denen er auf die Gesundheit anzustoßen hatte. Die Gesellschaft blieb nun nicht mehr träge auf ihren Plätzen hocken, sondern man ging von Tisch zu Tisch oder mal raus, um sich die Beine zu vertreten und es bildeten sich Grüppchen. Man sprach auf alle Fälle deutlich den Getränken zu. Die Reisenden hielten sich tapfer zurück, obwohl laufend einer kam, ihnen auf die Schulter klopfte und nachschenken wollte. Keiner muss hier verdursten. Volker pichelte so leise ein Glas nach dem anderen. Der rote Wein schmeckte. Gila sah es mit Besorgnis. Volker bemerkte die vorwurfsvollen Augen der Frauen. „ Ich kenne

solche Blicke“, sagte er grinsend, “ habt euch nicht so, alles im grünen Bereich, unser Auto steht vor der Tür. Schwiegervater hat alles beglichen. Er war von der Musik sehr angetan. Wir sind Glückskinder. Das Leben ist immer wieder überraschend gnädig mit den Verdammten.“ Er nahm befriedigt einen tiefen Schluck. „ Amen“, meinte Rina trocken. Inzwischen wurde das Büfett, welches im Nachbarraum aufgebaut wurde, eröffnet. Die Gäste strömten alle in diese Richtung und kehrten zufrieden lächelnd, manche schon leicht schwankend, mit gut gefüllten Tellern an ihre Plätze. Offensichtlich passte nach all dem Kuchen ein Abendbrot allemal in die Körper der Feiernden. Feiern heißt Essen und Trinken. Feiern heißt aber auch Musik und Tanz. Nun, man hatte schon ein wenig von dem Programm recht gut absolviert. Zunächst wurde gespachtelt was das Zeug hielt, auch unsere Reisenden holten sich einige leckere

Spezialitäten vom Büfett. Es fehlte wahrlich an nichts. Volker trank aber mehr als dass er von den Köstlichkeiten aß. Gila hatte ein Auge auf ihn. „Könntest du den Transporter fahren?“ fragte Gila ihre Freundin. Sie könne dies, was wäre dabei. Auf der Straße ist nichts los und bis Ivalo ist es laut Karte nicht mehr ganz so weit. „Noch ist es nicht dunkel aber wir sollten aufbrechen, ehe Volker vielleicht total blau wird, wir ihn nicht mehr bewegen können und wir hier auch noch übernachten müssten. Wir haben auch nicht ewig Zeit“, gab Gila zu Bedenken. Rina bat Volker nun mit der allerharmlosesten Freundlichkeit, sich jetzt vom Gastgeber zu verabschieden und sich allmählich auf den Weg zu machen und sie würde auch sehr gerne, wenn er es denn erlauben würde, einmal das Auto fahren. Sie hätte eigentlich eine Vorliebe für größere Fahrzeuge und wäre früher auch immer mit einem Transporter herumgekutscht. Gila war

versucht die Augen zu verdrehen, lies es aber lieber. Wenn Männer angetütert sind, dann sind sie zuweilen seltsam wachsam. Und Rina säuselte weiter: Sie wäre ganz bestimmt eine gute und sichere Autofahrerin und Volker könne sich ein Stündchen ganz beruhigt aufs Ohr legen. Wenn wir denn in Ivalo sind, dann müsse er sowieso den Weg weisen als Ortskundiger. Bis dahin gäbe es ja schließlich straßenmäßig keinerlei Probleme. Volker nickte bestätigend und erhob sich bedächtig. Ein wenig müde fühlte er sich schon. Die Hitze, der Wein, der Tag als solches und der vorherige Tag, diese dämliche Schwedenbrut, wobei eigentlich alles dennoch gut ausgegangen war, aber alles machte irgendwie doch sehr müde. Er würde die zwei Stündchen schlafen und dann wäre er wieder voll da und man wäre vor Ort, am Ziel gewissermaßen. Bei Pertti würden alle eine Koje finden und alles wäre somit in bester Ordnung.

„ Ich denke, du bist verlässlich und du kannst was, auch als Frau. Ich vertraue dir meinen alten Zausel an und ich werde hinten ein wenig ruhen“, verkündete nun Volker würdevoll an Rina gewandt. „Der Tangospieler möge vorne Platz nehmen.“ Dann schritt er majestätisch und kerzengrade zu Schwiegervater und gab ihm artig die Hand, bedankte sich formvollendet und verlies hoch erhobenen Hauptes, gefolgt vom Tangomusikus den Saal. „Wat fürn Krieger“, konnte sich Gila nicht verkneifen. Die Frauen gaben ihrem Gastgeber auch die Hand und bedankten sich herzlich, winkten den übrigen Gästen noch einmal zu und rannten dann schleunigst Volker hinterher. Der war schon in den Transporter gekrochen und lag mit geschlossenen Augen ausgestreckt im Laderaum. Der Junge saß gehorsam vorne und wartete. Rina schmiss die hintere Tür zu und setzte sich hinters Lenkrad. Gila stieg ein und ab ging’s in Richtung

Norden. Diesmal ereignete sich nichts Aufregendes, die männlichen Reisenden schliefen und die Frauen hingen ihren Gedanken nach. Der Transporter tuckerte und stuckerte wie gehabt, die Hitze hatte nachgelassen. Man musste nur geradeaus fahren, draußen war es immer noch hell, die Landschaft unverändert und beruhigend. Was hatte sie hier mit den Erlebnissen der verrückten Menschheit zu schaffen. Nichts. Gila dachte daran, wie es wohl sein würde, Pertti nach so langer Zeit des Schweigens zu begegnen. Sie nahm sich vor, sachlich und freundlich zu sein und auf das Erheben des Zeigefingers zu verzichten. Sie wollte erst einmal hören, was er zu sagen hat, dann würde man sehen. Kein Zoff oder sinnloser Streit sollte die Reise trüben. Sie würde Klarheit erhalten und mit oder ohne Geld wieder nach Hause fliegen in ihr Leben mit Rainer. Dafür hatte sie sich entschieden. Nie würde sie davon

lassen. Gila dachte lächelnd an die Zeit der Umsetzung ihrer Lebenspläne mit Rainer:

gilas rückblick

Wochen über Wochen hatten wir Schnee und Kälte. Das war wirklich kein Wetter für uns. So träumten wir vom Frühling, der fast alle Menschen verzaubert und darüber hinaus alle guten Hoffnungen wachsen lässt, sämtliche Grautöne aus unseren Köpfen verbannt und jede Menge Tatendurst hervor bringt. Jedenfalls stellen wir uns dieses in unserem grenzenlosen Optimismus immer so vor, jedes Jahr aufs Neue. So kam es, dass wir alle Kräfte frei setzten, um endlich zusammen zu ziehen. Wir wollten das nämlich. Allerhand Kopfarbeit ging unter anderem diesem Wollen voraus, das ewige Abwägen, das Für und Wider, bis es wirklich reichte, denn ich wollte nicht über den endlosen Grübeleien wegsterben oder gar alt und hässlich werden. Also wurde der Entschluss gefasst und alle anderen Überlegungen, die da bis zur Beendigung des Daseins als werktätiger Mensch

reichten und dem imaginären Leben danach, wurden ganz schnell vergessen. Wenn wir Glück haben, gelangen wir nebenher auch dahin, aber zu zweit, was ich mir ungleich köstlicher vorstellte. Die Wärme eines Partners neben mir und das fast sofort, das war es, was mir fehlte, schon lange. Ich bin nämlich kein Single, kein wirklicher, bin da so reingerutscht, was selbstverständlich auch sein Gutes hatte ohne Zweifel. Diese Etappe musste einfach sein, für meine Menschwerdung gewissermaßen, meinetwegen nennen wir es auch Persönlichkeitsfindung oder –Bildung. Kurz, die Zeit war reif, alles passte, warum also das Zögern? Einen Umzug vorzubereiten…lächerlich! Wir sind Profis, wir beherrschen alle Geheimnisse eines Umzuges, haben wir diese Prozedur doch schon so oft mehr oder weniger erfolgreich durchlebt. Stress, Arbeit, Unruhe und Chaos…ha, das weiß man doch, wir kennen

das und wissen auch über den Schwund bzw. den möglichen Bruch. Wir werden alles im Griff haben und gewissermaßen als Sieger hervorgehen. Ein Umzug ist ein Spuk, der vergeht. Man besorgt Kartonagen und packt einfach alles ein. Nun, es war da so Einiges...auch die Oma. Nein, die Oma musste nicht verpackt werden, oder eigentlich wieder doch, denn sie musste ja unweigerlich mit, mit samt ihrem ganzen, großen Haushalt. Zunächst einmal hieß es, allen Mut zusammenzunehmen, um sie in den abenteuerlich anmutenden Plan einzuweihen. Sich noch einmal zu verändern, war für sie nämlich nicht mehr vorgesehen. Was, wenn sie nicht wollte? Ich glaube, sie hatte lange vorher schon den Braten gerochen, sich ein Verhaltensmuster gestrickt, das Für und Wider, vor allem aber die Alternativen für sich abgewogen. Sie wollte

nicht. Eigentlich wollte sie es nie wieder wagen, nie wieder den gewohnten Trott verlassen, sich nicht in die Ungewissheit einer neuen Umgebung stürzen auch nicht mit aller Hilfe. Doch was wäre der Ausweg, was bliebe? Allein zurück bleiben oder mit mir in Unfrieden leben, meinem Lebensglück im Wege stehen? Welche Mutter möchte das wirklich? Die Oma ist auch eine Mutter, meine nämlich, die mich liebt, mich braucht auch und vor allem mich mit meiner Sorge um ihr Wohlergehen. Ist es doch teilweise die wundervolle Geborgenheit, die sich so wohltuend auf Seele und Gemüt auswirkt. Es sind nicht nur vornehmlich die Kinder, die dieses als selbstverständlich erwarten und für sich ganz natürlich beanspruchen. Eigentlich wird sie von jedem gesucht. Ja, irgendwie schon, auch von Omas, vielleicht gerade von ihnen. Sie glauben, genug gegeben zu haben, möchten nun nehmen und noch ein wenig genießen, wie lange das nämlich

noch möglich ist, weiß der Himmel. Dafür springt man schon mal ins kalte Wasser. Somit war das Problem aus der Welt, die Entscheidung gefallen. Wir waren erleichtert, dennoch folgte erst jetzt die Hauptarbeit. Gedanken in die Tat umzusetzen ist etwas anders als sie nur zu verkünden. Es hieß einen geordneten Rückzug bei gleichzeitigem Vorwärtsmarsch zu organisieren, wozu wir nunmehr fest entschlossen waren. Als erstes wollten wir uns sammeln, Wärme tanken, Ruhe aufnehmen. Also düsten wir am 1. Feiertag an Weihnachten los in eine köstliche Oase für wärmebedürftige, liebeswerte Faulenzer. Nach einer Woche waren wir so breit, windelweich und flaumig wie Entendaunen…auch ein wenig gerupft. Geldbörsen leiden immer bei derlei Vergnügen. Doch es war schön und ich bin dankbar. Oft

schwimmen meine Gedanken noch im warmen Wasser am Kaminfeuer, verweilen und kuscheln sich in superbequeme Liegen, die zum Lesen leichter Lektüren einluden, hören das Zirpen der Grillen im alten Gebälk, nebenher einen duftenden und aromatischen Apfel kauend. Das war Wärme. Nur ist alles einmal zu Ende, es wurde allmählich Zeit, Zeit zum Packen! Packen! Mir wurde warm beim Packen, auch während des einhergehenden Wegwerfens. Ich hatte so viel Überflüssiges gehortet, dass mir ganz schlecht wurde bei dem Gedanken es entsorgen zu müssen. Meine Mutter hatte noch mehr in den Schränken gelagert. Eigentlich braucht man nur einen Bruchteil dessen. Ob alle Menschen in diesem Überfluss an Nutzlosem leben? Sehr belastend dieses Hab und

Gut. Nun, der geborene Wegschmeißer bin ich nicht, dennoch kann ich mich trennen. Eine Eigenschaft, die zumindest für mich über Jahre schwer zu erarbeiten war. Immer wieder neige ich dazu abzuwägen, mir Ausreden zurechtzuformen, die plausibel genug erscheinen die diversen unnützen Besitztümer noch ein wenig zu behalten. In meinen Minuten der Einsichtigkeit komme ich zu der schier unglaublichen Erkenntnis, dass man nur aus einer Tasse trinken kann. Wozu also Unmengen an Geschirr in die Schränke stopfen, gehöre ich doch nicht zu den feurigen Frauen, die mit Tassen werfen, um ihr Temperament abzureagieren und somit ständig Nachschub beanspruchen müssen. So wird in unserem Fall schließlich entschieden, nur das Notwendige zu behalten. Alles andere wechselte den Besitzer, denn es gab Interessenten, die sich überreden ließen, unsere

Gaben gnädig anzunehmen. Kurz, die Habe konnte erfolgreich reduziert werden. Das eigentlich wahre Problem war ja auch nicht der Wust an Hausrat und Mobiliar, sondern bestand in der Aufgabe, eine passende Wohnung für die Oma zu finden, auch eine bezahlbare. Wohnungen aufzutreiben heißt, zähe Geduld zu zeigen, sich cool den Anforderungen zu stellen. Mein Gott, meine Mutter soll sich wohl fühlen, dann geht es auch uns gut und das nicht nur wegen des guten Gewissens. Die Angelegenheit entpuppte sich als Nervenzerreißprobe, wobei Gelassenheit zu zeigen, immer unser aller Bestreben war. Immer, fast in jeder Lebenssituation ist man mit Gelassenheit vorne, doch wie oft hat sie uns stillschweigend verlassen und wir müssen dann mit unserer aufkommenden Nervosität fertig werden, was ungleich schwerer ist, zumal sie tunlichst zu verstecken war, wegen der

Ansteckung. Unzählige Wohnungen werden besichtigt, für unangemessen befunden und weiter ging die Suche. Die Zeit saß uns bereits inzwischen im Nacken, denn die alte Wohnung war gekündigt, auch mein Arbeitgeber erhielt von mir, ein wenig triumphierend, die Kündigung, hatte der mich doch jahrelang reichlich gepiesackt. Der Abschied von dieser Arbeitsstelle ist mir mehr als leicht gefallen…es war mir ein innerer Vorbeimarsch, auch mit der Gewissheit zunächst in die Arbeitslosigkeit zu sinken, mit Sperrfrist, eine Härte, die ich in Kauf nehmen musste, zähneknirschend zugegebenermaßen. Irgendwie wird alles dennoch funktionieren, dachte ich…nur die Liebe zählt, heißt es doch immer so schön. Darauf vertraue ich auch immer noch, was soll das Jammern. Eines Tages bin ich Rentner, vorher vielleicht noch Zeitarbeiter, Hinzuverdiener, Ein-Euro-Jobber oder Hausfrau, nur Hausfrau…eine liebende

Hausfrau, was selbstverständlich etwas völlig anderes, neues wäre. Ich werde mich zu arrangieren haben. Jawoll, das kann ich und ich will das auch. Nur eine alleinstehende Oma-allein-betreuende berufstätige Frau wollte ich nicht bis zum St.Nimmerleinstag bleiben. Ich würde unmerklich verschroben werden, auch unattraktiv und immer unfähiger, mich zu verändern oder eine neue Partnerschaft zu wagen. Jeder Mensch braucht mehr, viel mehr, einen motivierenden Partner, den passenden, dem man nicht laufend so mir nichts dir nichts über den Weg läuft. Und damit das mal klar ist, dieses ist ein Wunder und die sind selten, sehr selten. Wenn aber, dann sollte man schon mal fähig sein, sein Leben verändern zu wollen, auch einen damit verbundenen Umzug zu überstehen. Zu der weisen Erkenntnis gekommen, waren wir fest entschlossen, Nägel mit Köpfen zu verwenden, um sicher zu gehen, dass die Sache

auch Hand und Fuß hat. Schließlich will ich an diesen Nägeln mein künftiges Leben aufhängen. So ging es weiter. Ich packte und schmiss weg, löste mich lächelnd von meinem verbrauchten Leben um sauber in ein neues hinüber zu gleiten. Fast gelang es mir, die Oma in meine Begeisterung zu involvieren. Ich wollte mir das auch unbedingt einreden. Komisch, mein Wohlbefinden hängt meistens von den Stimmungen meiner Lieben ab. Sind wir nicht alle abhängig vom Befinden anderer Menschen, allerdings sollte man versuchen, immer der Auslöser positiver Empfindungen zu sein, das strahlt ab und kehrt wieder zu uns zurück. Ich möchte gerne daran glauben. Ob es mir immer gelingt, das ist leider ziemlich unsicher. Aber was ist schon sicher? Nichts. Beseelt von dem Guten, was da kommen wird in so naher Zukunft, kann ich so ziemlich alles wegwerfen, was nach alten Zöpfen riecht.

Ob mein Optimismus in allen Punkten von der Familie geteilt wird, wage ich zu bezweifeln aber es ist mir egal, ich bin nun wieder entscheidungsfreudig und frage nicht nach allen Eventualitäten, die drohen könnten. Ich packte weiter, mit Feuereifer, geradezu rot glühend. Im Übrigen lief alles bestens, wir fanden, auch einem Wunder gleichend, eine Wohnung wie für die Oma gemacht. Allerdings auch in letzter Minute und es war wie so oft im Leben ein reiner Zufall. Fast sind wir stolz auf unsere Zufälle, denn sie verändern unser Dasein zur Abwechslung auch einmal in positivster Weise. Nun, auch dies passiert nur, wenn wir ein wenig nachhelfen oder Wege frei machen, denn positive Zufälle sind Raritäten, die aufgestöbert werden müssen. So, jedenfalls war der Abschluss eines entsprechenden Mietvertrages nur noch eine Fleißaufgabe für den Makler, schließlich sollte

der auch für sein Geld etwas vorweisen. Weiter ging es mit organisatorischen Problemchen wie die Miete eines Autos und das finden von Umzugshelfern. Das stellt man sich nun aber wirklich einfach vor, gibt es doch zahllose Menschen, die nur so auf Jobs jeglicher Art lauern und nur auf eine Vermittlung über unser Arbeitsamt warten…denkt man und vergisst dabei den hohen Beschäftigungsgrad der Beamten. Haben sie doch Größeres zu tun als so kleine Nebentätigkeiten zu vermitteln, sie versinken einfach in ihren Vermittlungsaufgaben, die Armen. Schließlich erbarmte sich eine Mitarbeiterin des besagten Amtes und schickte arbeitswillige Menschen, die gibt es nämlich immer noch. Das werte ich als ein gutes Zeichen, wenn auch nicht alle bereit waren einen Stundenjob anzunehmen. Dennoch erschienen die jungen Männer pünktlich und halfen emsig, bekamen die versprochene Kohle,

auch etwas mehr, weil Fleiß muss belohnt werden. Übrigens war einer, ein Russe, am eifrigsten, am anstelligsten und am bescheidensten. Das sei hier nur mal am Rande erwähnt…wahrscheinlich ein Zufall. Die Studenten waren auch in Ordnung. Also wir waren zufrieden. Keine Sorge, für uns blieb noch ausreichend Arbeit übrig und der Transport des gesamten verbliebenen Hab und Gutes lag auch in unseren Händen, eine hübsche Verantwortung über eine uns wohlbekannte Wegstrecke von vierhundert Kilometern. Man muss aufpassen, dass der Tank nicht leer ist, denn schnell wird es ein Abenteuer, wenn keine Tankstelle in der Nähe und beim Aussteigen aus dem LKW muss der Abstand zum Boden beachtet werden, er ist irgendwie höher als beim herkömmlichen Auto. Das wird einem dann auch schmerzhaft bewusst, auch kann mal ein Fernseher in Schieflage geraten,

allerdings wird er von diversem Geraffel wieder gestützt, so dass Schlimmeres verhütet wurde. Die Oma saß eisern und ergeben in ihr Schicksal und war relativ guter Dinge, so schien es wenigstens. Sie hat Nerven…ein Hoch auf die Oma. Meine Fahrweise war an diesem Tag soweit in Ordnung und ich war ein wenig stolz auf mich. Womit hier mal angedeutet wird, dass es sonst mit meiner Autofahrerei nicht weit her ist. Warum sollte ich das nicht zu geben, ich mag eben das Fahren mit dem Auto nicht, ohne die Notwendigkeit dieser „Kunst“ zu verkennen. Somit hält sich mein Lernwillen diesbezüglich in engen Grenzen und ich fahre nur, wenn es sich überhaupt nicht umgehen lässt. Möglich, dass somit die Routine ausbleibt. Keiner versteht das. Heutzutage ist Autofahren cool, ein jeder kann es oder glaubt das zumindest und benimmt sich entsprechend herzhaft im Straßenverkehr. Man hupt und setzt sich durch, schreit und flucht, gestikuliert,

was milde ausgedrückt ist. Ich bin wohl zu nett. Nett könnte man oft auch mit dämlich gleichsetzen, man kommt ins Hintertreffen als Landpomeranze, als Schneckengetriebe am Steuer. Ich setze immer noch auf heiles Ankommen, was mir bisher auch gelang, eine gute Figur gelingt dabei nicht unbedingt, mich kümmerts wenig, ich lebe…noch! Ich kutschiere also meine Mutter mit dem bis zum Stehkragen voll bepackten Auto zum Ziel und freue mich meines Lebens. Mein Rainer ist mit dem großen Hirsch schon gelandet und hatte seine Erlebnisse, die auch nicht von Pappe waren. Wir hatten viele Hürden genommen und waren glücklich am Ziel zu sein. Was ging mich nun noch Bayern an, eine Lebensetappe war das, sie lag hinter mir, eine erkenntnisreiche Zeit, sie war nicht vertan, habe mich entdeckt und das, was ich will. Das war zuweilen Schwerstarbeit. Sie hat sich gelohnt. Ich muss darüber nachdenken, wann mir

jemals Höchsteinsatz gebührend entlohnt wurde und komme zu dem Schluss, dass es eigentlich nie geschah. Um so mehr bin ich erfreut und gleichermaßen erstaunt, dass man sich selber entlohnen kann für den Aufwand sich selber zu erkennen, keiner leidet und muss mir etwas geben, ich gebe es mir selber und wie, wer jetzt was anderes denkt mag ein Schelm sein. Und ich bin alt darüber geworden, allerdings im positivsten Sinne, ohne mich alt dabei zu fühlen, es sind nur Jahre vergangen. Sie reuen mich nicht. Sie waren wohl notwendig. Die Langsamkeit einer Spätzünderin lässt grüßen! Aber sie fühlt sich super wie noch nie. Wer kann das schon noch von sich sagen. Die Welt hallt wider vom Jammern und Klagen unzufriedener, unglücklicher Menschen. Mitnichten will ich das Leid meiner Spezies verniedlichen…es ist vorhanden. Nur manchmal kann man etwas dagegen ausrichten, wenigstens um das eigene Los zu verbessern und

genau das taten wir. Bis heute, so scheint es, mit Erfolg. Ich fühle immer noch Wärme, dachte Gila. Das soll so bleiben.

am ziel

„Wir sind jetzt in Ivalo“, lies sich Rina vernehmen. Sie stieß unseren Anhalter an und rief noch einmal laut nach hinten: “Aufwachen, müder Krieger!“ Seltsame Laute ertönen, eher ein Grunzen. Der Junge neben Rina öffnete bewegungslos die Augen und sagte etwas. Von hinten kam ein OK. Rina hielt an und stieg aus, um die Türen zu öffnen. Gila sprang auch aus dem Auto, ging mit nach hinten. Volker lag immer noch regungslos auf dem Rücken und gab keinen Ton von sich. Gila und Rina sahen sich an, jede packte ein Bein und eins, zwei, drei hatten sie ihn nach vorne gezogen. „Ich ergebe mich ja“, protestierte Volker, “ lasst mich endlich los, ihr brutalen Weiber. Bin ja schon wach. Steigt wieder ein, wir wollen erst unseren Fahrgast nach Hause bringen, es ist

nicht weit.“ Volker schien sich gut erholt zu haben. Er setzte sich ans Steuer und man nahm die alten Plätze wieder ein. Der Junge verzog sich nach hinten, auch er wirkte munter und fidel, voller Zuversicht. Er würde es schaffen, nur Gutes lag vor ihm, oder wenigstens Besseres als das bereits Erlebte, glaubte er. Jeder glaubt das. Ein guter Glaube. Sie gelangten an ein recht großes und modernes von weitläufigen Rasenflächen und hohen Bäumen umgebenes Haus. Dem Eigentümer musste es gut gehen. Manchen geht es halt dem Anschein nach gut. Ob da nun wirklich heile, saubre Welt ist, bleibt immer im Verborgenen. Jedenfalls hatten sie den jungen Anhalter als angenehme, sogar nützliche Begleitung kennen gelernt, wünschten alles Gute für die Zukunft und verabschiedeten sich herzlich. „So, jetzt fahren wir zu Pertti, “ sagte Volker. “Ich weiß, wo sein Boot liegt. Es ist groß genug,

dass wir dort schlafen können. Aber es gibt sicher eine Menge Gesprächsstoff. Pennen könnt ihr später. Ich glaube, Pertti freut sich auf unseren Besuch. Er ist auch so ein Eigenbrötler, der selten Gäste begrüßt.“ Gila meinte nur, dass man sehen wird. Sie fühlte sich ein wenig unsicher, denn sie hatte ein Thema zu besprechen, welches nicht ganz witzig war. Schließlich war sie ja nur deswegen hier, um es aus der Welt zu schaffen. Pertti weiß dies sicher, zumindest ahnt er, welche Fragen auf ihn zu kommen, entsprechend wird sich seine Freude auf ihren Besuch in Grenzen halten. Was Volker wusste, war Gila nicht bekannt. Vermutlich nichts, denn die Männer hatten es nicht mehr so dicke miteinander. Wenn eine Freundschaft einmal einen erheblichen Knacks hat, und die Kommunikation weitestgehend eingestellt wird, dann wird kaum über peinliche Schuldensituationen ein vertrauensvoller

Austausch stattfinden. Wahrscheinlich ist man nur höflich und spricht als friedfertiger Mensch dann nur noch über unverfängliche, wenig wichtige Dinge. Manchmal lebt eine Freundschaft wieder auf, falls es Berührungspunkte gibt und die Beteiligten es gleichermaßen wollen. Gila war es weitestgehend egal, ob die Männer sich wieder ernsthaft verständigen könnten. Das war nun wirklich nicht ihr Problem. Sie wollte nur, dass dieses Zusammentreffen harmonisch und ohne sinnloses Besäufnis stattfindet. Ein gutes Gespräch in aller Sachlichkeit, in freundlicher Atmosphäre, die Beantwortung ihrer Fragen, vielleicht eine Absprache über Rückzahlungsmodalitäten. Das wäre ein gutes Ergebnis. Erleichtert und gelöst würden sie nach Hause fliegen. Volker steuerte den Transporter durch den Ort und dann wieder über eine Waldstraße bis eine sehr schöne aber auch einsame Bucht sichtbar

wurde, in der am Ufer nur ein einziges recht großes Segelboot vertäut war. Eine Treppe führte zum Wasser hinunter. Ein Steg, um auf das Boot zu gelangen, war nicht zu sehen. Volker hupte und sprang aus dem Fahrzeug. „Der Kerl müsste eigentlich an Bord sein“, knurrte er vor sich hin. Volker entschloss sich, noch einmal zu hupen. Dies tat er nur widerwillig, denn in die stille Natur passte ein derartiges Geräusch absolut nicht hinein. Nichts rührte sich auf dem Boot. Volker war nun ein wenig ungnädig, schließlich hatte er sich mit den Frauen angemeldet. Irgendwie fühlte er sich verantwortlich. So rief er laut und vernehmlich: “Pertti, altes Arschloch, komm endlich aus deiner verlausten Koje, sonst fluten wir deinen Kummerkasten.“ Die Frauen waren die Treppen der Anlegestelle hinunter gegangen und versuchten so den Skipper an Bord zu erspähen. Hinter Volker klappte nun laut eine Autotür, der

fuhr entgegen seiner Art etwas hastig herum und sah Pertti grinsend vor sich stehen. „Du bist mir vielleicht ein Krieger“, sagte der lachend, „und untersteh dich mein Boot unerlaubt zu berühren, es wird euch nämlich für die Nacht sicheren Unterschlupf gewähren“. Die Männer umarmten sich freundschaftlich und gingen zu Gila und Rina runter, die nun erwartungsvoll aufgestanden waren, um Pertti zu begrüßen. Gila stellte Rina vor und sie sagte artig Hallo. Gila meinte, es wäre ein Abenteuer in Finnland einen alten Freund zu besuchen, aber sie freue sich nun endlich das Ziel ihrer Reise erreicht zu haben. Irgendwie gequält lächelte Pertti, fand aber, dass sie trotz bestandener Abenteuer noch reichlich munter aussähen und deshalb ihm sicher ein wenig bei der Vorbereitung des Abendbrotes helfen könnten. Er hätte dafür gerade nur noch einige Zutaten beschafft. “Ihr könnt mal die Kiste aus dem Auto holen.“

Dann drehte er sich um und begab sich an den Waldesrand. Die drei blickten ihm leicht verdattert hinterher, eigentlich waren sie ja noch gut gesättigt. „Pertti ist beleidigt, wenn wir jetzt ablehnen“, sagte Volker „ ihr müsst euch unbedingt, was rein zwingen. Gehen wir die Kiste holen.“ Pertti kam mit einem Riesenbrett vom Wald. Er hatte den Steg dort deponiert. „Es ist meiner und der hält was aus“, sagte er. Seitdem mir schon einer geklaut wurde, zerre ich dieses Monstrum immer ins Gebüsch in der Hoffnung, nicht dabei beobachtet zu werden. Ob ihr es glaubt oder nicht, man braucht hier alles und denkt manchmal alles gehört allen oder leiht es sich halt nur mal aus, ohne den Eigentümer darüber in Kenntnis zu setzen.“ Man brachte also diverse Tüten, eine große Kiste mit allerhand Flaschen, Gemüse, Brot etc, an

Bord. „Holt euer Zeug aus dem Auto“, riet Pertti, „man weiß ja nie.“ Die Frauen und Volker gingen also nochmals hoch, um ihre Klamotten zu holen, auch die Schlafsäcke und turnten an Bord. Pertti polterte schon in der Kombüse. Gila wusste, dass er leidenschaftlich gerne kochte und gut kochte. Volker war mit dem Gasgrill beschäftigt und Rina deckte bereits neben ihm auf Deck den Tisch, denn sie dachte, dass Pertti und Gila vielleicht gleich jetzt die brennende Frage unter vier Augen klären könnten. Ein wenig würden ja die Essensvorbereitungen dauern und das Unangenehme klärt man lieber sofort, dann würde es hinterher vielleicht entspannter zugehen. Einmischen wollte sie sich sowieso nicht und inzwischen könne man ja ein bisschen mit Volker rumblödeln. Gila hatte auf einmal auch Lust auf einen ordentlichen Wodka. Nein, sie wollte sich nicht zuschütten. Aber sie wollte

Spaß und die Zungen ein wenig lockern, einfach einen schönen Urlaubsabend genießen. Ein Wodka hat noch niemandem geschadet. Sie kramte in ihrem Gepäck und förderte eine Flasche zu tage. „Na Volker, “ sagte sie lächelnd“, wollen wir uns einen auf die Freundschaft genehmigen?“ Der warf einen kurzen Blick auf die Flasche und meinte, dass ja schließlich dies ein sehr guter Grund wäre, anzustoßen. Einer schadet nicht. Man könne auch Brüderschaft trinken. Das wäre eigentlich so Sitte. „Im Ernst?“ fragte Rina harmlos, „ich dachte, das macht man, wenn man vom SIE zum DU kommen möchte.“ „Ja, ja, „ entgegnete Volker „gieß erst mal was ein und dann kommen wir auch zum DU.“ „Das heißt, dann komme ich auch zu DIR“, sagte Rina frech, „Und außerdem habe ich keine Gläser.“ „Und wir haben auch keinen Zimmerservice,

nicht einmal einen Butler“, meinte Volker trocken. Sie einigten sich total unfein, einen Zug aus der Flasche zu nehmen. „ Na Bitte, geht doch“, sagte Volker und küsste Rina ganz unbrüderlich auf den Mund. „Womit ich ein wenig bei DIR wäre. Du darfst jetzt wieder zu dir kommen.“ Rina sagte nur: „Nicht unübel für ein westdeutsches Halbblut im Norden!“ „Mir sann innerlich hitzig, genauso wie Russinnen aus Bayern im Norden, gä, “ konterte Volker. Sie lachten und fühlten sich gut. In der kleinen Küche des Bootes ging es nicht ganz so locker zu. Pertti filetierte einen großen Fisch und Gila bereitete Salat vor. Gila fragte nun, das Schweigen unterbrechend, es war ihr etwas peinlich, wie es denn so ginge und ob alles mit den Kindern in Ordnung wäre. Pertti nickte, ja den Kindern ginge es gut, sie wären ja bei Ulla und Matti im Augenblick auf der Insel. Das wäre dort immer sehr schön für sie. Alle

Freiheit der Welt hätten sie dort und wären darüber hinaus gut versorgt. „ Du weißt ja, sagte Pertti“, sie sind dort die Enkel und es ist fast heile Welt, eine Frau kümmert sich. Manchmal bin ich nicht Mapa genug.“ „Hm“, Gila sagte nichts weiter dazu. Pertti war dran und er wusste das. „ Ich weiß natürlich, warum du hier bist“, er sprach langsam, “du willst wissen, wann ich dir deine Kohle endlich zurückgebe. Ich hätte dir schreiben müssen, dass es mir schlecht geht, das ich nichts bewegt habe, dass ich es nicht geschafft habe aus dem Sumpf zu kommen, aber ich habe dich immer hingehalten und habe nur gehofft, dass du meinen Zwangsoptimismus teilen kannst. Ich bin nicht einen Schritt weiter, kämpfe um das nackte Überleben, bin oft umgezogen, obwohl dies für die Kinder nicht gut ist, aber ich konnte die Mieten nicht zahlen. Dieses Boot ist meine letzte Zuflucht.

Hier wohne ich nun und versuche immer irgendwie Geld zu verdienen aber es ist nie mehr als wir zum Leben unbedingt brauchen. Nie ist etwas übrig geblieben, um eine Schuld abzutragen. Ich habe noch mehr Schulden. Es ist insgesamt einfach hoffnungslos. Die Mutter zahlt nichts, hat sie noch nie. Ich habe keine Unterstützung. So sieht es aus. Ich bin nicht gerade ein Glückspilz. Habe wohl versagt auf ganzer Linie. Wenn ich einen Job bekäme mit regelmäßigem Gehalt, dann würde ich an dich ganz bestimmt monatlich was abstottern“. Er seufzt. „Schlimm für einen Kerl eine derartige Bilanz zu ziehen und noch viel schlimmer ist es, dass ich gerade dir so etwas angetan habe. Du hattest soviel Vertrauen. Ich hätte es nicht nehmen dürfen. Die Versuchung war aber zu groß und meine Rosinen im Schädel noch größer. Lange habe ich wirklich geglaubt, hier Fuß zu fassen, habe auch auf meine finnischen Freunde

gebaut. Was geschissen. Jeder denkt nur an sich. Du bist ein weißer Rabe“, sagte er zu Gila gewandt, „du solltest so etwas nie wieder tun. Man kann den Menschen nicht vertrauen. Selbst wenn sie von Grund auf ehrlich sind, die Umstände nehmen ihnen alle ehrlichen Vorsätze. So müssen auch sie sehen, wie sie sich durchs Leben schlagen. Es gibt absolut keine Alternative, keine Moral und Gerechtigkeit gibt es sowieso nicht, “sagte er hart und schwieg, säbelte dabei verbissen an dem Fisch herum. „ Du hast geglaubt, ich würde es nun nicht mehr brauchen, weil ich einen Partner gefunden habe. Du hast gedacht, sie ist versorgt, sie ist glücklich, sie wird es verschmerzen. Sie wird es vergessen.“ Gila war sehr ernst geworden. „ Du dürftest noch wissen, dass ich alles verstehe, wenn man mit mir spricht. Du hast einfach den Kontakt abgebrochen, dich davon gestohlen und zwar ohne Erklärung. Das ist nicht fair. Das habe ich nicht verdient. Du

hättest deine Lage schildern können. Es wäre besser gewesen, wenn du wenigstens ehrlich gesagt hättest, was Sache ist, dann hätte ich dich verstanden. So behandelt man seine Freunde nicht. Das ist feige und dein Verhalten ist mir fremd. Das heißt nicht fremd, es entspricht nicht meiner Vorstellung von deinem Charakter. Aber vielleicht kenne ich dich doch nicht wirklich. Möglicherweise habe ich von dir damals eine idealisierte Vorstellung gehabt. Ich habe mir wohl schlicht etwas vorgemacht. Ich wollte einem guten Menschen helfen. Erspare mir weitere Begründungen nach dem Warum. Es war blauäugig. Es ist sicher sehr schlimm, dass ich meine Kohle abschreiben muss, aber viel schlimmer ist, dass du zu mir nicht ehrlich warst. Ich habe mich getäuscht. Ja, du hast mich lange hingehalten und mir immer wieder von irgendwelchen gewinnbringenden Aufträgen oder in Aussicht stehenden guten Jobs was vorgeschwätzt. Ich verstehe das nicht, denn du

weißt ja wohl noch, dass ich sowieso keine Rechtsmittel habe, um dich zur Zahlung zu zwingen. Mal abgesehen davon, dass du momentan nichts hast. Dann habe ich wenigstens die Wahrheit verdient und nicht diesen Abgang ohne Worte.“ Gila hatte sich ein wenig in Rage geredet und Pertti hatte sie nicht unterbrochen. Er fühlte sich mehr als beschissen. Das Gefühl kannte er aber bereits zu genüge und er hatte diese Hilflosigkeit so satt. Kein Mann erträgt auf Dauer Erfolglosigkeit. Er wusste auf Gilas Vorwürfe nichts zu entgegnen. Sie hatte schlicht Recht. Er hätte ihr immer ehrlich begegnen müssen. Es ist so schwer, das eigene Unvermögen zuzugeben. Seine ehrgeizigen Pläne sind nicht aufgegangen. Er mochte Gila. Er hatte sich früher Hoffnungen gemacht, dass sie vielleicht auch nach Finnland auswandern würde. Sie wären ein gutes Paar. Doch Gila wollte nicht. Sie schob ihre Mutter vor. Es war

eine Illusion, eine Seifenblase, die endgültig zerplatzte als Gila ihm mitteilte, dass sie sich in Deutschland für einen anderen Mann entschieden hatte. Damit war diese Hoffnung tot. Gila als Freundin zu behalten erschien ihm so sinnlos. Das Geld würde immer zwischen ihnen stehen. Man muss an Freunde Schulden zurückzahlen. Er würde es auf absehbare Zeit nicht können. Daran zerbricht jede Freundschaft. Es gäbe kein Vertrauen mehr, jeder Kontakt wäre dadurch vergiftet. Musste man dies alles aussprechen? Gila hat einen Freund, einen Partner. Sie braucht keinen Freund in Finnland, der ihr geliehenes Geld nicht zurückgeben kann. Was sollte das Ganze? Er muss seine Kraft für die Kinder aufwenden. Die sind wichtig. Nichts anderes. Pertti war verbittert. Alles war schief gelaufen. Es gibt nichts mehr zu sagen. Jeder lebt sein Leben. Und seines war im Arsch. „Ich mag es nicht, wenn du jetzt schweigst oder

nur deiner Verbitterung freien Lauf lässt“, sagte Gila, „ ich bin hergekommen, um mir Klarheit zu verschaffen, um mit dir zu reden. Für mich ist das wichtig. Wie soll es also weitergehen?“ „Es ist vieles passiert“, sagte Pertti bedächtig, „in deinem Leben und in meinem, nichts kann man ungeschehen machen, deshalb lohnt das Lamentieren nicht. Du hast natürlich Recht, man stößt Freunde, die einem so geholfen haben nicht dermaßen vor den Kopf. Ich will mich für meinen schweigsamen Rückzug entschuldigen, obwohl es keine Entschuldigung gibt. Ich habe Scheiße gebaut und ich spür dies am allermeisten, weil man in Scheiße nicht gut leben kann. Habe immer geglaubt, das Ruder herumreißen zu können, ist mir wohl nicht gelungen. Bis heute jedenfalls nicht. Ich weiß auch nicht, wie es weitergehen soll. Irgendwas geht immer. Den Satz kann ich aber mittlerweile aber auch nicht mehr hören“, sagte er leise. „Ich denke wir essen heute Abend schön und

unterhalten uns über andere Dinge. Ihr habt Urlaub und es ist Sommer. Gila, ich kann dir das Geld vorläufig nicht zurückzahlen, auch nicht in kleinen Raten. Ich muss die Kinder durchbringen. Das ist schwer und ich weiß auch nicht wie. Du hast einen schlechten Deal gemacht mit mir. Vergessen werde ich jedoch deine Hilfe nie und wenn es mir doch einmal besser geht, dann bist du die erste, die es merkt, denn dann kommt was rüber, das musst du mir glauben. Ich bin kein Betrüger, ich bin nur bisher ein erfolgloser Kämpfer. Ich hoffe für dich, dass du deshalb nicht in schwere Bedrängnis gerätst, dass es dir in deiner Beziehung gut geht und dass deine Entscheidung, mir geholfen zu haben, nicht dein Leben beeinträchtigt oder gar vergiftet. Ich hätte dir das schreiben sollen aber ich kam mir immer so schäbig vor und wusste nicht, ob du es verstehen könntest, dass man so scheitern kann, dass gar nichts geht. Es war mir immer

alles furchtbar peinlich und unangenehm und ich habe mich tatsächlich davon gestohlen, habe jedes Mal, wenn ich soweit war, dir zu schreiben, die Sache auf später verschoben. Tja, und dabei ist es geblieben. Dass du hierher fliegst, um mit mir zu reden, daran habe ich im Traum nicht gedacht. Das heißt, ich habe mir wohl manchmal gewünscht, dass du noch einmal zu Besuch kommst, aber es nie für wirklich möglich gehalten. Du hast ja auch deine Mutter wohl noch zu betreuen?“ „Ja“, antwortete Gila, „sie braucht mich noch. Beenden wir also nun das Gespräch über dies verfluchte Geld, wenn du kannst, dann wirst du es zurückzahlen. Ich glaube dir und wünsche dir viel Erfolg und auch weiterhin Lebensmut. Kannst ja hin und wieder ein Zeichen geben. Was ist daran so gefährlich oder ehrenrührig? Mach es und du erhältst eine freundliche Antwort. Ich bin nicht dein Feind.“ Gila hatte nun genug gehört. Er hatte es nicht

geschafft, hatte seine Pläne nicht verwirklichen können, warum auch immer. Gila konnte nichts daran ändern. Wahrscheinlich würde sie tatsächlich von ihrem Geld keinen Cent wieder sehen. Das war jetzt klar. Sie würden eventuell ganz lockeren Kontakt halten. Die Sache ist Vergangenheit. Sie muss sich nun nicht mehr zermartern. Es gibt Handlungen, die sind geschehen und nichts ist daran zu reparieren oder gar rückgängig zu machen. Gila machte einen dicken Punkt. Doch sie lächelte dabei ein wenig, denn Pertti war kein kaltschnäuziger Betrüger, dessen war sie sich irgendwie sicher. Oder machte sie sich wieder etwas vor? Darüber lohnte es sich nun wirklich nicht nachzudenken. Einmal ist es genug. Pertti nickte und brummte, dass er sich sicher mal melden würde. Ihm war ein wenig wohler. Das Gesprächsthema hatte sich erschöpft, es war alles gesagt. Gila war ruhig und sachlich geblieben, wenn auch vorwurfsvoll, aber das war

ja wohl auch ihr gutes Recht. Sie war versöhnlich und schien ihm zu glauben. Er hatte die Wahrheit gesagt, wenn auch nicht die ganze, denn er hatte ihr nicht von seinen Versuchen erzählt aufzugeben, die Kinder von der Mutter wieder nach Deutschland holen zu lassen, um dann neue Wege zu gehen. Er hatte seine Depressionen verschwiegen, die Angst vor Metastasen, ja, auch den jämmerlichen Versuch, ganz Schluss zu machen mit sich und der Welt. Das sollte niemand erfahren, denn dies wäre wirklich feige. Es geht weiter. Er würde es schaffen. Immer hatte er sich diese Sätze vorgebetet. Bis jetzt hat immer wieder ein neuer Tag begonnen. Daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Von draußen ertönte Gelächter. Volker und Rina waren gut drauf und schienen die anderen beiden kaum zu vermissen. Pertti brachte den Fisch und Gila den Salat, Brot und den Wein. Beide schauten irgendwie gelöst aus. Die

Verkrampfung war fast einer gewissen Heiterkeit gewichen. „Alles im grünen Bereich?“ fragte Rina an Gila gewandt. Die nickte, war aber dabei ernst geblieben. Sie hatte absolut keine Lust nun noch einmal vor Volker und Rina das unerquickliche Thema zu berühren. Ihr war nun nach Ablenkung und Geselligkeit. Hunger hatte sie nicht, aber man darf Perttis Gastfreundschaft nicht enttäuschen. Ein wenig Fisch und Salat geht immer noch rein. Volker beschäftigte sich mit dem Grillen und Pertti suchte ein wenig brauchbare Musik und ein paar Bilder von den Kindern. Leise fragte Rina noch einmal, ob wirklich alles in Ordnung sei. Gila meinte nur, dass sie noch ausreichend Gelegenheit hätten über die Misere zu sprechen. Jetzt wollte sie den Abend freundlich und harmonisch verbringen und morgen würden sie in aller Ruhe und hoffentlich ohne Zwischenfälle wieder nach

Kello fahren, denn dann ging auch bald der Flieger nach Deutschland, nach Hause. Gila wollte nun wieder nach Hause zu Rainer. Sie wusste genug und hatte auch genug. Ihr Bedarf an Abenteuern war gedeckt. Irgendwie sehnte sie sich nach vertrauter Umgebung und wollte lieber wieder mit Rainer zusammen sein. Bei ihm und mit ihm fühlte sie sich viel besser, auch sicherer, einfach gut aufgehoben. Ein schönes Gefühl. Rina hatte scheinbar Vergnügen und Spannung, jede Menge Eindrücke. Sie genoss diese Reise auf ihre unbeschwerte Art und das war gut so. So aßen sie den köstlichen Fisch, tranken den weißen kühlen Wein, ein wenig weißes Brot und frischen gemischten Salat. Das Wasser war wie ein Spiegel, die Luft wie Seide, kein Lüftchen regte sich. Allmählich wurde es dunkel. Es war schon spät. Pertti hatte Kerzen geholt und unterhielt sich mit Volker, der nun ihre Abenteuer auf der Herfahrt schilderte. Die

Frauen blätterten in dem Fotoalbum. Die Kinder waren recht groß geworden, fand Gila. „Wie sprecht ihr zu Hause“, fragte Gila „deutsch oder finnisch?“ „Na, deutsch vorwiegend, manchmal finnische Ausdrücke aber oft auch englisch. Sie sollen soviel wie möglich lernen, Sprachen zu können ist immer von Vorteil, um später einen Job zu bekommen. Finnisch können wir alle natürlich inzwischen perfekt. Die Kinder hatten es ganz schnell drauf wegen der Schule. Kinder lernen super und hemmungslos ganz besonders das Sprechen einer fremden Sprache.“ Gila stöhnte, wie Recht er hatte. Man muss einfach gezwungen werden oder in dem betreffenden Land leben, wer weiß das nicht. Sie kam sich zuweilen ob ihrer fehlenden Sprachkenntnisse furchtbar blöd vor. Aber Kurse zu besuchen bringt nicht viel, wenn die Anwendung nicht gefordert ist. Man verlangte heute auf dem Arbeitsmarkt sichere

Englischkenntnisse in Wort und Schrift. Fast jedes Angebot beinhaltet diese Voraussetzung, natürlich sollte man auch jung sein und flexibel, ortsunabhängig. Nein, das hatte Gila nicht zu bieten. Die Chancen noch eine Stelle zu bekommen waren fast Null. Sie würde Hausfrau bleiben und in das Rentnerleben hinüber gleiten. Das war so gut wie sicher. Rainer meinte, sie solle nicht aufgeben und sich immer wieder bewerben. Gila würde es sicher auch immer wieder versuchen, aber jedes Mal eine neue Enttäuschung hinnehmen müssen. Das geht vielen Menschen so. Nicht mehr gebraucht zu werden, nicht mehr arbeiten zu dürfen, altes Eisen zu sein. Dieses Gefühl teilte sie mit Zigtausenden. Nichts Außergewöhnliches, eine stinknormale Alltagserscheinung, die wegzustecken ist. Vielleicht kann eine Frau diese Situation eher verkraften als ein Mann in dem Alter, noch dazu, wenn er schulpflichtige Kinder zu versorgen hat. Aber an ihrer

Verantwortung für kleine eigene Kinder gewissermaßen im Großvateralter sind sie selber Schuld. Sie nehmen sich eine junge Frau, setzen Kinder in die Welt und müssen dann natürlich bis übers Rentenalter hinaus an der Verantwortung knabbern. Das bringt zusätzliche Sorgen. Aber die Kerle wollen junge Frauen. Manchmal rächt sich dies. OK, wo die Liebe hinfällt, lässt sie vernünftige Erwägungen nicht aufs Trapez. Da geht alles andere hoch, nur der Verstand bleibt im Keller. Jeder weiß das. Hinterher. Man lebt in der Gegenwart, was viel später sein wird, weiß niemand und es ist nicht relevant den Teufel an die Wand zu malen. Sicher, sicher. Es gibt soviel weise Sprüche, was man machen soll und was nicht. Gila schwoll schon der Kamm, wenn sie daran dachte. Man sollte und man muss, diese Sätze waren ihr zuwider, ganz besonders dann, wenn sie unendlich weise nach dem Malheur gesprochen werden. Schließlich

entscheidet jeder mündige Mensch und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Man muss deshalb nicht in Mitleid zerfließen aber Mitgefühl sei doch gestattet, auch Mithilfe um aus der Scheiße zu kommen. Das ist menschlich, wenn Menschen sich helfen. Das ist aber leider sehr selten. Man wundert sich dann zuweilen, wenn es dennoch geschieht in einer Gesellschaft, die keine Nächstenliebe kennt, nur ununterbrochen von ihr predigt. Natürliches Geben und Nehmen zwischen Menschen, auch außerhalb der eigenen Sippe, das ist schon ein Unding, ein nicht vertretbares Risiko. Ganz abgesehen mal davon, dass die Familie dies bei Kenntnis argwöhnisch, möglicherweise sogar mit Neid verfolgen würde, denn ob es nur die Sorge um die Gebende ist, erscheint äußerst fraglich. Sie würden es auf alle Fälle ablehnen, denn zuerst müssen immer die eigenen Leute bedacht werden und eigentlich auch ausschließlich, solange Bedürftigkeit zu

verzeichnen ist. Das ist allerdings wohl immer der Fall. Somit hätte also kein Fremder einen Anspruch. Man sollte nicht von einem Anspruch reden. Niemand hat Anspruch, jeder darf über sein Eigentum verfügen. Es sei legitim, auch davon zu verschenken bzw. jemandem zu helfen, schlimme Zeiten zu überbrücken. Man müsste Bedürftigkeit definieren und auch die Eigenschaft „fremd“. Sind alle Nichtblutsverwandten fremd? Nein. Wer legt fest, was oder wer fremd ist? Dies kann doch nur der Betreffende für sich selber tun. Dieses fremd ist eine Eigenschaft, ein fließender Zustand, der sich bis hin zum vertraut entwickeln kann. Auch der umgekehrte Vorgang ist denkbar und durchaus alltäglich. Man kann sich so sehr entfremden, wenn das Umsichkümmern vernachlässigt wird, warum auch immer. Absichtlich oder aus der gefährlichen Unbedachtheit heraus, Menschen verlieren sich dabei nicht nur aus den Augen. Sie

verlieren auch das Interesse aneinander. Wie bedauerlich und schmerzlich. Ein achtsamer Umgang mit Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten ist scheinbar anstrengend. Man glaubt, deshalb darauf verzichten zu können. Mit wirklich Fremden geht man oft viel vorsichtiger, diplomatischer, auch feinfühliger um, aus Höflichkeit, aus Furcht oder Achtung, gar Respekt? Mit den vertrauten Menschen wird Schindluder getrieben, man verletzt sie bedenkenlos, glaubt, sie könnten alles verkraften und verstehen, würden alles verzeihen, kennt die Grenzen nicht und macht damit oft alles kaputt. Gilas Gedanken flogen träge, ein wenig trübe, fast resignierend um die Ecken. Sie blätterte noch immer in dem Fotoalbum, konnte dem Gespräch der anderen nicht beiwohnen, die inzwischen etwas lauter geworden waren. Sie hatten ein paar Gläser Wein Vorsprung und es sah so aus als würde da Rinas Flasche auch schon an Inhalt stark

verloren haben. Das wird sich nicht vertragen, alle werden Kopfschmerzen bekommen. Gila warf einen Blick auf die Flaschen und sah Rina an. Die verstand und beruhigte, es würde allen wirklich gut gehen und Gila solle bloß nicht so ernst dreinschauen. Das bringt nichts. Natürlich nicht, Rina hatte Recht. „Ich bin müde“, sagte Gila, „wo darf ich schlafen?“ „Also gut“, Pertti erhob sich“ ich zeige euch die Kojen.“ Irgendwie wirkte er auch etwas müde, aber vielleicht war er bloß enttäuscht, dass Gila sich zurückziehen wollte. Sie war so ernst. „Wenn ich ihr bloß diese Kohle wieder geben könnte“, dachte er, dann würde sein Gewissen ihm nicht so zusetzen. „Sie wird mir nie verzeihen, ich bin ein altes Arschloch“, dachte er während er voran ging, um ihr den Schlafplatz zu zeigen. „ Hier könnt ihr es euch gemütlich machen, du und deine Freundin. Wenn du ein Bad brauchst,

dann spring ins Wasser. Es ist sauber und gar nicht so kalt. An Bord ist auch eine Chemietoilette, kannst aber auch in den Wald gehen.“ „Nee, nee, lieber nicht“, meinte Gila, „dort ist es mir nicht geheuer“. Sie erinnerte sich an das letzte diesbezügliche Walderlebnis und verzichtete diesmal. Aber eine kleine Runde schwimmen wäre vielleicht eine ganz gute Idee. „Ich geh ins Wasser“, sagte sie, „geh ruhig wieder zu den anderen und unterhalte dich, bald ist dein Besuch wieder weg. Man muss jede schöne Stunde auskosten. Nur ich bin jetzt nicht so der ganz große Spaßmacher. Und schau mich nicht so an, ich nagele dich nicht ans Kreuz. Habe nur Mut, es kommen schon wieder bessere Zeiten, aufgeben wäre idiotisch. Außerdem geht das gar nicht. Es gibt immer mal wieder einen erfreulichen Zufall und alles erscheint in einem anderen Licht. Man muss halt

warten können, ohne tatenlos zu verharren, aber wem sage ich das. Du weißt das ja.“ Pertti hatte ihr regungslos zugehört. Wie versöhnlich sie ist. Sehr selten diese Art von Frau. „Du hast Recht“, ich werde noch ein wenig mit rumquatschen. Die anderen zwei sind gut in Stimmung, warum sollte ich ihnen den Abend mit meinen Sorgen verderben. Vorher muss ich dich aber wenigstens einmal umarmen, einfach so, weil ich dir dankbar bin, dass du mir noch Mut machst. Du bist außergewöhnlich.“ Er nahm sie kurz in den Arm und verließ schnell die Kajüte. Was er fühlte war seine Sache. Gila hatte es verdient, endlich gefunden zu haben, wonach sie immer suchte. Ihr Mann in Deutschland kann sich freuen, dachte er noch, dann setzte er sich zu Volker und Rina. Volker schwätze schon wieder von seiner Goldmine, Rina schaute ihn lächelnd an und es sah aus als würde sie an gänzlich andere Dinge

denken. Inzwischen war es wirklich dunkel geworden. Doch die Sterne und der Mond erhellten die warme Nacht. Es platschte. Gila war im Wasser. Sie schwamm herum, legte sich auf den Rücken und sah einen wundervollen Sternenhimmel über sich. Sie hörte Rinas Lachen und fühlte sich plötzlich so leicht und gut, als wenn wirklich alles in Butter wäre. Möglicherweise ist von ihr die Problematik zu sehr dramatisiert worden. Das Leben ist doch so schön und alles kann man irgendwie lösen. Ob sie das Geld gleich, später oder gar nicht wieder bekam, was hatte das schon für eine Bedeutung. Sie war glücklich und gesund und Pertti war kein Ganove. Das sollte wirklich genügen. Er würde ihr Freund bleiben. Freunde sind doch keine Institutionen für Geldanlagen. Sie sind Menschen, die mal Pech und sicher auch wieder Glück haben werden, dessen war sie sich sicher. Ist es ihr nicht ähnlich ergangen, mal oben mal unten. Es wird immer so

weitergehen, die unendliche Ebbe und Flut, ein lebendiger Wechsel, der nie inne hält.

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Hörbuch

Über den Autor

Helgaschreibt
Ich bin 1950 in Berlin geboren, bin unendliche Zeiten zur Schule gegangen, habe brav studiert und in diversen Firmen artig gearbeitet, bin nunmehr das dritte Mal verheiratet, habe zwei erwachsene, tolle Kinder und gehe endlich meinen Neigungen nach, die sich auf kreativer Ebene bewegen.

Ich bevorzuge die Satire, die Ironie, mag Methapher, die aber die Botschaft nicht verschleiern, eher krasser hervortreten lassen. Gerne nehme ich den typischen "Michel", den modernen Spießbürger, die großen Schlappen unserer Gesellschaft aufs Korn. Aber manchmal möchte ich auch poesievoll den Sinn des Lebens unterstreichen, allerdings immer den Boden der Tatsachen, stets lebensbejahend, im Auge behaltend. Ich liebe den Witz mit Geist und biete viel Hintergründiges an. Das Lachen über sich selbst aber auch über die allgegenwärtige Dummheit im Allgemeinen, scheint mir trotz aller schlimmen Erfahrungen immer geholfen zu haben, mich aus brenzligen Phasen oder Situationen zu bringen.

Ein intensives Nachdenken, Aufarbeiten mit einhergehendem Aufschreiben, und nicht zuletzt die eigene Malerei, sind meine Methoden mit dem Leben im positivsten Sinne umgehen zu können.

Falls sich jemand für meine Malerei interessiert, der besucht bitte meine kleine Online-Galerie. (im Augenblick noch in Beabeitung...die neusten Bilder fehlen..)

http://helga-siebecke.magix.net

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Die Reise
Nun endlich habe ich es geschafft. Kein leichtes Unterfangen,
die knapp 330 Seiten kleingedruckten Textes am Monitor zu lesen.
Und meine Meinung zu diesem Buch ist:
-Der Weg ist das Ziel-
Ohne großartige Effekthascherei bewegt sich die Haupthandlung, nämlich die Reise nach Nord-Finnland, einem bestimmten Ziel entgegen, welches männlich ist und Pertti heißen wird.
Dies ist definitiv kein Buch atemberaubender Emotionen oder sensationsgieriger Aktivitäten, die in einer scheinbar unberührten Naturlandschaft stattfinden.
Sondern eher eine Art unspektakulärer Bilanz, mehr ein erkenntnisgewinnendes Fazit und dass es sich durchaus lohnt, gelegentlich auch über sein eigenes Leben nachzudenken.
Worin sieht man eigentlich seinen eigenen Lebensmittelpunkt?
Was ist einem im Leben wichtig und wen kann man auf seinem Weg durch dieses Leben vertrauen? Und wem besser nicht.
Weiterhin wird umfassend die Frage erörtert, ob denn ein Loser in der Gesellschaft auch immer gleichzusetzen ist, mit einem Verlierer als Menschen…
Wenngleich sich auch die Handlung anfangs etwas schwerfällig in Bewegung setzt und mit einem geheimnisvollen, ja scheinbar unerklärlichem Verschwinden der Hauptprotagonistin beginnt, wird schnell klar, das sie sich in Begleitung ihrer Freundin nur eine Auszeit gönnt, um Abstand von dem zu gewinnen, was sie täglich umgibt. Kein Wunder, ist sie doch selber schon lange arbeitslos und obwohl sie ausreichend und hoch qualifiziert ist, schwinden dennoch mit jedem weiteren Jahr die Hoffnungen auf einen erfolgversprechenden Job. Geld scheint mir hier aber dennoch nicht die vordergründige Triebfeder zu sein, obwohl es auch darum geht und eine gewisse Rolle spielt.
Viel wichtiger hingegen scheinen allerdings die Menschen und ihre Charaktere...
Ich persönlich hätte „Gilas Rückblick“ allerdings etwas aufgearbeitet und vor den Beginn der Reise vorverlegt, so fühlte ich mich an dieser Stelle etwas herausgerissen aus der Reise, die ja im eigentlichen Sinne das Ziel ist.
Das Kapitel „Tango“ hingegen, empfand ich als das menschlich beste in diesem Buch...

Unterm Strich: Gut gemacht, Helga.

LG Louis ;-)
Vor langer Zeit - Antworten
Helgaschreibt Ein großes Dankeschön! Du hast Dich durchgekämpft und in wunderbarer Form alles auf den Punkt gebracht. Ich freue mich sehr, dass Du nicht aufgegeben hast dabei.
Mir ist durchaus bewusst, dass alles etwas verwirrend ist, denn die Gedanken der einzelnen Protagonisten werden immer wieder eingestreut. Ich wollte keinen "Reißer" schreiben, sondern eine nachdenkliche, auch poesievolle Reise, die aber dennoch nicht langweilig wirken soll, so gibt es ein paar Abenteuer unterwegs. Nicht alles ist aus den Fingern gesogen, einiges ist erlebt. So vermischt sich Erdachtes und Erlebtes. Die Vorstellung der Personen ist wohl auch etwas langatmig. ich habe wie immer einfach drauf los geschrieben. Ich glaube, das merkt man. Es ist nicht so gut, wenn man bei einem größeren Buch so vorgeht. Ich schreibe und schreibe, so wie es aus der Feder fließt, das hat Vorteile und Nachteile. Professionell ist das sowieso nicht.

Danke für Deine Mühe aber auch fürs Lob unterm Strich!

LG Helga
Vor langer Zeit - Antworten
Willy 7.18 Uhr- bin auf Seite 29 und werde am Wochenende weiter- und wahrscheinlich auch gleich zu Ende lesen. Ehegeschichten sind eigentlich nicht mein Fall, aber hier ist es doch etwas anderes und schreibst wirklich gut. Ansonsten kommt wieder bei mir der Prolet durch- dieser Rainer- eigentlich ein Netter- ist mir nicht besonders sympatisch.
Bis demnächst vorerst und
LG
Sweder
Vor langer Zeit - Antworten
Helgaschreibt Die Reise beginnt erst noch...man muss sich erst ein wenig hineinlesen, die Figuren kennen lernen etc., da braucht es Geduld...aber dann wird es ganz sicher skurril, versprochen. Schön, dass Du Dich ranwagst.

Danke erst einmal!

LG Helga
Vor langer Zeit - Antworten
Willy Hat etwas gedauert, aber heute 20 Uhr am Ende.
Das Buch gefiel und wehalb und warum im Einzelnen schreibe ich dir privat, aber bei BX- da ich hier nicht so bewandert bin. Habe ein schöne Wochenende und LG
Sweder
Vor langer Zeit - Antworten
Helgaschreibt Danke für den ehrlichen Kommentar via PN. Du hättest ihn ruhig hier drunter stellen können. Man darf bei mir immer auch andere Ansichten zum Buch haben. Leider haben sehr wenige Leser den Mut, sie zu vertreten. Aber nur durch sie kann man sich entwickeln. Das ist meine Meinung.

LG Helga
Vor langer Zeit - Antworten
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