Kurzgeschichte
Die Stimme

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"Die Stimme"
Veröffentlicht am 04. Januar 2014, 36 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Wolfgang Voß
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Über den Autor:

Mein Username Hanafubuki kommt aus der japanischen Sprache und bedeutet "Kirschblütenschnee". Damit wird genau der Moment des Herabfallens der Kirschblüten in Japan bezeichnet. Dieser Moment der Vergänglichkeit ist ein beeindruckendes Naturschauspiel.
Die Stimme

Die Stimme

Die Stimme

„Stadtzentrum. Bitte in Fahrtrichtung rechts aussteigen. Übergang zum Regionalverkehr, zur S-Bahn, zur U18 und U11“, schallt es durch das Abteil.

'Irgendetwas stimmt hier nicht', dachte Tobias, der aus seiner Lektüre gerissen wurde. Er steckte das Buch in den Rucksack, dessen Löcher AC/DC Anstecker zusammenhielten, und beobachtete die Fahrgäste der S-Bahn. Es war wie immer. Sie saßen oder standen, wobei sie mit müdem, manchmal verträumtem Blick aus dem Fenster schauten, lasen, sich unterhielten oder ihre Handys bedienten.

„Zug nach Herdenfelde. Einsteigen bitte.“

Mit einem Schlag spürte er ein Kribbeln in

seinem Bauch. Diese Stimme! Er hatte sie noch nie gehört, obwohl er die Linie täglich benutzte. Sie elektrisierte ihn und ließ den Waggon in bunteren Farben erstrahlen.

Draußen huschte eine städtische Winterlandschaft vorbei, bestehend aus Fahrzeugen, deren Dächer und Motorhauben mit Schnee bedeckt waren.

Tobias fieberte von einer Haltestelle zur anderen der schönen Stimme entgegen, bis diese ihn aufforderte: „Endstation! Bitte aussteigen. Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen.“ Er hatte seine Haltestelle verpasst und würde zu spät zur Arbeit kommen.

Er fuhr mit derselben Bahn wieder zurück und eilte in sein Büro.

Tobias begann die Arbeit mit einer gründlichen Zeitungsanalyse. Eine fett gedruckte Überschrift auf der dritten Seite erweckte seine Aufmerksamkeit: „Die S8 hat eine neue Stimme“. Er las den Artikel, der die neue Sprecherin der S-Bahn vorstellte, die er täglich benutzte.

Sie hieß Sandra Lenz. 'Was für ein schöner Name', dachte Tobias.

Er sah den Artikel, der wenig Privates über die Sprecherin preisgab, mehrfach durch. Sie war zwei Jahre älter als er und interessierte sich für Fremdsprachen.

In seiner Fantasie sah er eine Schönheit mit schwarzen langen Haaren, blauen Augen und einer prima Figur, die von langen Beinen getragen wurde, vor sich.

Er musste sie treffen. Das Internet half, indem es ihre Telefonnummer offenbarte.

„Kennst du ein wirksames Liebesritual?“, fragte Sandra ihre Freundin, die in Magie und Hexerei bewandert war. „Ich möchte einen Freund haben, der mich liebt, aber weil ich nun einmal so bin, wie ich bin, finde ich keinen.“

Sophie wusste um den Kummer der Freundin. Sie antwortete: „Also, der Zauber wirkt bei zunehmendem Mond und am besten an einem Freitag. Verbrenne Weihrauch, zünde eine rote Kerze an, nimm eine rote Schnur in die Hand und mach einen Knoten hinein. Dann sprich: ‚Im Namen von Erzulie. Möge sich ...“

Sandra zuckte zusammen, weil das Telefon klingelte. „Wer ruft mich denn jetzt noch an?!“

Sophie drückte ihr den Hörer in die Hand.

„Wer ist dort bitte?“ Sandra schwieg. Je länger sie zuhörte, desto bleicher wurde sie. „Nein, das geht nicht. Wirklich nicht.“ Mit einem knappen „Tschüss“ beendete sie das Gespräch.

Sophie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte von Natur aus rote Haare, auf die sie stolz war. „Wer war das?“

„Ein Mann.“

„Wer? Was wollte er?“

„Mich treffen.“

„Wie bitte?“ Sophie musste sich erst sammeln, ehe sie unter schallendem Gelächter hervorbrachte: „Ich war doch erst

dabei, dir das Ritual zu lehren. Und da wirkt es bereits!“ Sie beugte sich vor: „Nun erzähl doch!“

„Er hatte meine Stimme in der S-Bahn gehört. Angeblich gefällt sie ihm, und er will mich kennenlernen.“ In Sandras Augen glitzerten Tränen. „Der haut doch gleich wieder ab, wenn er mich sieht.“ Sie zog ihren Rock über die Knie und sprach weiter: „Mich nimmt doch keiner.“ Sie schluchzte, ihre Schultern bebten.

Sophie dachte nach. „Du hättest dich mit ihm verabreden sollen. Vielleicht ist es einer, der das Wahre in dir erkennt.“ Sie nahm das Telefon und drückte darauf herum. „Aha, seine Nummer wurde gespeichert.“

Sandra konnte nicht verhindern, dass ihre Freundin den Unbekannten anrief, sich für sie

entschuldigte und ein Rendezvous vereinbarte.

In Sandras Ohren pulsierte das Blut, als sie Sophie anschrie. „Hau ab! Verlasse meine Wohnung.“

Die Freundin wandte all ihre Redekunst auf, um Sandra zu besänftigen und zu überzeugen, sich mit diesem Mann zu treffen.

Tobias saß in der S8 und hörte die Stimme, deren Besitzerin er in einer Stunde treffen würde. Er hatte ein grummelndes Gefühl im Bauch, doch sein Herz hüpfte vor Freude. „Semmelweisplatz. Bitte in Fahrtrichtung rechts aussteigen. Übergang zur U1“, umsäuselte ihn die Stimme.

Er stieg aus und wäre beinah ausgerutscht.

Er fluchte, weil nicht gestreut war. Die Winterkälte zwickte in seine Ohren. Seine Füße glitten über den vereisten Untergrund, die Arme balancierten, an ein normales Gehen war nicht zu denken.

Bevor er das vereinbarte Restaurant betrat, klopfte er den Schnee von der Kleidung. Er schaute sich um. In der hinteren Ecke saß eine Frau. Vor ihr lag ein Märchenbuch auf dem Tisch und darauf ein Fotoapparat. Das war das vereinbarte Zeichen.

Er ging auf sie zu, doch sie reagierte nicht. Tobias verlangsamte seinen Schritt. 'Wie sieht denn die aus?', ging es ihm wie eine Explosion durch den Kopf. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste er ihre knollige Nase, die fleischigen, dicken Lippen sowie das

unsymmetrische Gesicht. Zum Fliehen war es zu spät, sie musste ihn gesehen haben. Er sprach sie an: „Hallo, ich bin Tobias Voigt, ich hatte mit Ihnen telefoniert und ...“

Er wunderte sich, da sie ihm den Kopf zuwandte, jedoch mit ausdruckslosen braunen Augen an ihm vorbei schaute.

Er wischte mit seinem Taschentuch über die Stirn und setzte sich ihr gegenüber.

Sie sagte: „Guten Tag, ich bin Sandra, Sandra Lenz.“

Da war sie wieder, diese wohlklingende Stimme, nach der er so verrückt war. Er konnte nicht verstehen, dass der Mensch, der zu ihr gehörte, so hässlich sein konnte. Sie war blind, was ihn zusätzlich aus der Fassung brachte.

Er schwieg, saß einfach nur da. Auch Sandra sagte nichts. Die Stille lastete auf ihnen, bis es Tobias nicht mehr aushielt und sagte: „Ja, eh, ich glaube ich muss jetzt gehen. Entschuldigen Sie bitte, es geht nicht anders.“ Er stand auf und eilte zum Ausgang.

Die rothaarige Frau vom Nachbartisch hatte alles beobachtet. Sie setzte sich zu Sandra, die leise, ohne Tränen weinte.

Sophie sagte: „Es tut mir leid, auch dass meine Rituale nicht geholfen haben.“

Sandra erwiderte: „Bei so viel Hässlichkeit, wie bei mir, ist eben nichts zu machen.“

Sophie streichelte die Hand der Freundin und meinte: „Du, ich habe da eine Idee ...“


Nach dem missglückten Treffen kam Tobias

spät und mit vor Kälte tauben Fingern in seiner Wohnung an, da die S-Bahn wegen eingefrorener Weichen nicht fuhr. Er kochte sich einen Grog, als das Telefon klingelte. Am Apparat war Sandra, die ihm einen verlockenden Vorschlag unterbreitete: Sie bot Geld, wenn er mit ihr eine Woche in den Alpen verbringen würde. Sandra hatte ein Berghütte sowie ein kleines Vermögen geerbt. Da sie blind war, bräuchte sie eine Begleitung und hatte an ihn gedacht. Als sie den Betrag nannte, hielt er die Luft an und sagte zu. Mit dem Geld könnte er seinen erträumten Urlaub auf Hawaii finanzieren.

Nächste Woche sollte die Reise beginnen. Er hatte ein schlechtes Gewissen.


Sandra hatte ihren Rucksack gepackt.

Sophie wuselte um sie herum und sagte: „Gib mir mal deinen Finger, ich muss ihn anritzen, ich brauche dein Blut.“

Sandra glaubte, nicht richtig zu hören und wollte mit einem „Du spinnst wohl?“ protestieren, als sie einen Schmerz im Zeigefinger verspürte. Obgleich sie mit der Hand zurückzuckte, schaffte es die Freundin, Blut herauszuquetschen.

Sophie tröpfelte mit einer Pipette je drei Tropfen des Blutes in zwei kleine Flaschen, die sie sofort wieder verschloss und der Freundin in die Hand drückte. „He pass auf. Ich habe dir diesen Liebestrunk für eine dauerhafte Liebe zurechtgemixt. Er besteht aus Rotwein, deinem Blut, drei Prisen Dreck,

drei Mur ...“

„Hör auf, ich will es nicht wissen“, unterbrach sie Sandra. „Du mit deiner Hexerei, sie wird mir nicht helfen, sie hat mir noch nie geholfen.“

Trotzdem ließ sie die zwei Flacons in ihre Umhängetasche gleiten. „Diese ganze Aktion hier ist eine dusslige Idee. Ich sollte alles stoppen.“

Sophie schüttelte den Arm der Freundin: „Du sagst nicht ab!“ Beim Sprechen dehnte sie die Vokale, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Es ist deine Chance.“ Sie ließ Sandras Arm los und sprach weiter: „Ich packe dir das Glas mit den Rosenblütenblättern und dem dazugehörigen Text für das entsprechende Ritual in den

Rucksack. Und vergiss nicht, dabei seinen Namen zu nennen.“

Es klingelte. Auf der Straße wartete Tobias mit seinem Wagen. Sophie schubste Sandra nach draußen, da sie sich sträubte. Sie verabschiedeten sich. Sophie winkte, bis das Auto um die Ecke verschwand.


Inzwischen sind einige Tage vergangen. Sandra und Tobias hatten sich in der Berghütte eingerichtet. Er bewohnte eine kleine Kammer, in der auch sein Bett stand.

Aus seinem Fenster sah er eine Berglandschaft, deren Hügel in der Sonne weiß funkelten. Der Himmel erstrahlte in einem winterlichen Blau. Es war ein Platz fernab der Welt. Er liebte diese Ruhe. Nur

das hässliche Entlein störte, doch er dachte an das Geld, das er erhalten würde.

Sandra benötigte seine Hilfe kaum. Er war erstaunt, wie gut sie sich ohne Sehvermögen zurechtfand. Sie umhüllte ein Hauch von Kräutern, Zedernholz und Maiglöckchen, der ihn auf magische Weise anzog. Er konnte sich das nicht erklären.

Tobias staunte über ihre Fähigkeiten. Auch heute beobachtete er, wie sie draußen die Nase in die Höhe reckte, um das Wetter zu erschnüffeln. Zunächst hatte er darüber gelacht, doch ihre Vorhersagen trafen stets zu.

Sie tastete sich durch die Tür in das Wohnzimmer, in dem das Holz im Kamin knackte und eine Wärme verströmte, die die

Behaglichkeit des Raumes erhöhte.

„Ein schlimmer Schneesturm naht, er wird bald hier sein“, orakelte sie.

Tobias kniff seine Augen zusammen. „Hoffentlich können wir morgen nach Hause fahren."

Sandra fragte: „Du bist froh, mich bald verlassen zu können?“ Ihre Stimme zitterte.

„Was erwartest du eigentlich? Dass ich dein Liebhaber werde? Niemals, so funktioniert das nicht.“ Er verließ das Zimmer.

Sandra suchte Trost in den mystischen Ritualen, die ihr Sophie empfohlen hatte. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wurde von Tobias unterbrochen, der die Tür aufriss. „Du sag mal“, er zögerte, ob er sein Ansinnen vorbringen sollte, beendete aber den Satz mit

„Was machst du denn da!“

Sandra hockte auf dem Läufer vor einer angezündeten Kerze, um die sie einen Teppich aus Blütenblättern gestreut hatte. Darüber schwebten in Wellenbewegungen ihre Hände, sie flüsterte seinen Namen.

Sie bebte etwas, bevor sie antwortete: „Ich hexe.“

Tobias lachte: „So siehst du auch aus, genau wie eine Hexe!“ Während er dies sagte, schaute er auf das Gerät, das unter dem Fernseher stand.

Sandra schluchzte.

„War doch nicht so gemeint“, brummte er in ihre Richtung. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, fuhr er fort: „Du sag mal, das ist doch eine Soundbar. Ist die mit Bluetooth?“

„Weiß ich nicht.“ Sie wischte sich die Tränen ab.

Tobias fand eine Fernbedienung, legte sein Smartphone vor sich hin und drückte auf beidem herum. „Es klappt“; sagte er schließlich. „He du, ich habe hier tolle Musik, darf ich die mal anhören?“

Sie wollte ihn aus dem Zimmer verweisen, als Bässe auf sie einprallten. Sie kannte diesen Song. Wider Willen sprang sie auf, da die Musik ihren Körper bewegte.

Tobias staunte nicht schlecht. Mit perfektem Headbanging hüpfte sie vor ihm herum. Er schloss sich den heftigen Kopfbewegungen an und stapfte mit seinen Füßen zum Takt.

Sie rief: “Thunderstruck, mein Lieblingstitel“ und sang mit.

Ihm gefiel, wie sie beim Singen das Wort „Thunder“ betonte. Diese Stimme. Da war sie wieder.

„Mensch, toll, hol mal den Rotwein aus der Küche.“

Tobias stoppte die Musik, verließ das Wohnzimmer, um es mit gefüllten Gläsern wieder zu betreten. „Das war der Rest. Warte, ich öffne gleich noch eine Flasche.“ Er verschwand erneut.

Sandra nutzte die Gelegenheit. Sie nahm die beiden Flacons, die ihr die Freundin gegeben hatte, aus dem Schreibtisch und mischte die fragwürdige Mixtur in den Wein.

Der Wind trieb sein Unwesen. Er rüttelte an der Tür und ließ Holzbalken mit ächzendem Geräusch knarren. 

Tobias kam mit der geöffneten Flasche zurück.

„Das ist aber ein Unwetter. Der Sturm häuft den Schnee vor der Haustür an. Hoffentlich kriegen wir die morgen auf.“ Er legte einige Scheite in den Kamin, die mit knisternden Geräuschen gegen ihre Verbrennung protestierten. Doch sie hatten keine Chance. Die Flammen bleckten nach ihnen.

Er drückte ihr das Glas in die Hand und nahm das andere. „Im Wein funkeln kleine rote Sternchen“, sagte er und hielt das Kristall gegen den Feuerschein des Kamins. Sie prosteten sich zu.

„Ich möchte gern einmal ein AC/DC Konzert besuchen. Doch als blindes Huhn getrau ich mir das nicht allein. Meine Freundin kriegen

keine zehn Pferde hin“, erwiderte Sandra.

Tobias stellte die Musik wieder an, die das Heulen des Sturmes übertönte. Beide rockten durch das Zimmer. Sie sang mit, kannte jeden Text. Wie lange sie so tanzten, wussten sie später nicht mehr.

Tobias wurde durch einen lauten Knall geweckt. Er wollte sich erheben, doch an seinen Gliedern schienen Gewichte zu hängen. Sein Kopf drohte zu explodieren, der schmerzende Druck nagte in seinem Gehirn. Er schaute sich um. Sandra lag auf den Dielen an der Tür und schlief. Ihn hatte es wenigstens auf dem weißen Plüschläufer dahingerafft. Er setzte sich auf.

So sehr er sich auch anstrengte, erinnern

konnte er sich an nichts. Hatte er etwa ...? Tobias schaute zuerst an sich herunter und anschließend zu Sandra. Sie beide waren vollständig bekleidet. Er atmete auf.

Auch Sandra regte sich und öffnete die Augen. Mit einem Ruck sprang sie auf und tastete sich ab. Sie hatte wohl den gleichen Gedanken wie Tobias. Ihr schwaches Seufzen drückte Enttäuschung aus. „Oh, mein Kopf. Mir ist übel. Was ist passiert?“

„Es sieht aus, als sind wir beim Tanzen einfach umgekippt.“ Sein Blick ruhte auf Sandra, die sich an der Türklinke festhielt. „Sag mal, du Hexe, hast du irgendetwas in den Wein geträufelt?“

Sandra antwortete nicht. Sie ging in ihr Schlafzimmer.

Vor der Tür jaulte der Sturm. Tobias stöhnte, als er sie durch die Schneemassen drücken musste, um sie zu öffnen. Er stapfte hinaus und peilte die Lage. An Heimfahrt war nicht zu denken. Meterhoch lag die weiße Pracht auf den Wegen, zog sich die Baumstämme empor und umhüllte deren Zweige.

Sandra stand vor der Tür und winkte Tobias heran. Während sich seine Füße unter dem Schnee zu ihr wühlten, rief sie: „Das Dach ist undicht. Auf meinem Bett liegt Schnee.“

Tobias bestieg eine Leiter, die er hinter der Hauswand gefunden hatte, um sich den Schaden anzusehen. Einige Sprossen hatte er noch vor sich, doch die Leiter begann zu schwanken. Der Sturm hatte ein leichtes Spiel. Die Leiter kippte und schleuderte

Tobias in die Tiefe. Mit einem Schrei krachte er auf dem Boden auf. Er hatte ein Gefühl, als wolle ihm jemand die Beine ausdrehen. Sandra stürzte auf ihn zu. Er konnte sich nicht aufrichten, so sehr er es versuchte. Die Schmerzen übermannten ihn mit Dunkelheit.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Sofa des Wohnzimmers. Seine Beine waren verbunden. Sandra saß ihm gegenüber im Sessel und sah an ihm vorbei, so als befände sich ein interessantes Muster an der Wand.

Er sprach sie an: „He, Sandra. Ich bin wach.“

In ihren Körper kam Bewegung. „Wie geht es dir?“

Tobias antwortete mit einer Gegenfrage: „Hast du mich auf das Sofa gelegt und verbunden?“

Sie nickte.

Das Ticken der Uhr drang immer deutlicher an seine Ohren. Die Realität hatte ihn wieder. Nach einer Weile sagte sie: „Ich wollte Hilfe holen, doch nichts geht mehr, weder Telefon, Internet, noch Strom ... wir kommen hier nicht weg.“

Tobias fand die Situation zum Heulen. Seine schmerzenden Beine verlangten einen Arzt. Stattdessen meinte er: „Haben wir ausreichend Lebensmittel?“

„Kein Problem. Wir verhungern nicht.“

Und so harrten sie aus. Tobias war auf Sandras Hilfe angewiesen. Seine Beine knickten sofort weg, wenn er versuchte, sich zu stellen oder gar zu laufen.

Sandra brachte ihm das Essen, half bei der

Körperpflege, unterstützte ihn, wo immer es notwendig war. Zwischendurch setzte sie sich zu ihm, um sich auszuruhen. Dann fing sie an zu reden. Ihm war das nicht recht, doch konnte er nicht ausweichen.

Gestern erzählte sie ihm von ihrer Kindheit: „Niemand wollte mit mir spielen. Ich war oft allein.“

„Warst du schon immer blind?“, fragte er, nur damit er überhaupt etwas sagte.

„Ja, ich kenne es nicht anders. Eine Ursache wurde nie gefunden.“

„Hmm“. Ihm fiel keine bessere Antwort ein.

„Ja, ich bin von Geburt an blind, aber auch hässlich. In der Schule sagten sie mir ins Gesicht: ‚Du bist hässlich. Es war grausam. Ich hatte niemanden zum Reden.“ Sie

schluckte. „Ich ging nur raus, wenn es unbedingt sein musste. Obwohl ich nicht sehen konnte, spürte ich, wie mich alle anstarrten und über mich lachten. Beim Laufen beugte ich mich stark nach vorn, damit die Haare mein Gesicht verdeckten. Und ...“ Sie sprach nicht weiter, da Tobias schnarchte.“

Sie ahnte, dass er sich verstellte.

Sandra setzte ihre Kopfhörer auf, um sich an der Musik zu berauschen.

Der Urlaub in den Alpen liegt bereits zwei Wochen zurück. Sandra hatte Hilfe geholt, sobald das Telefon wieder funktionierte. Ein Hubschrauber transportierte sie und Tobias in das Tal. Er kam sofort ins Krankenhaus,

während Sandra von ihrer Freundin abgeholt wurde.

Sie hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört, obwohl sie ihm das versprochene Geld überwiesen hatte. Vielleicht war er noch im Krankenhaus? Doch sie hatte mit diesem Kapitel abgeschlossen.

Sandra saß in ihrer Wohnung, die Freundin war bei ihr.

„Ihr seid nach dem Trinken des Weines einfach so umgefallen?“ Sophie konnte es nicht glauben. „Das kann nicht von meinem Liebestrunk kommen. Da war doch gar nichts weiter drin ...“

Sandra unterbrach sie: „Hör doch endlich auf. Ich will von deiner Hexerei nichts mehr wissen!“ Sie setzte noch ein „Basta“ hinzu.

Das Handy klingelte. Sophie reichte es ihr.

Tobias lag mit seinen komplizierten Knochenbrüchen im Krankenhaus. Er hatte viel Zeit und dachte oft an die Geschehnisse in den Bergen. Er hörte Sandras Lachen, ihre S-Bahndurchsagen, ihre klare Stimme, die so einen markanten Kontrast zu der Sandpapier-Stimme des AC/DC Sängers Brian Johnson bildete. Sie hatte sich so gefreut, an diesem Abend, ist voll aus sich heraus gegangen. Ihre Bewegungen beim Tanzen hatten es ihm angetan.

Sollte er es tun? Seine Clique würden sich an sie gewöhnen müssen. Sandra war so anders. Doch das war ihm egal. Tobias fühlte sich gut, als er zum Telefon griff. Gleich

würde ihn ihre Stimme elektrisieren.

Sie hielt das Telefon an ihr Ohr. „Hier Sandra.“

Als sie hörte, wer sich am anderen Ende der Leitung befand, stellte sie den Lautsprecher an.

Sophie erkannte Tobias. Er erklärte Sandra, dass er sie gern wieder treffen würde.

„Wie ... wieso?“, stammelte Sandra. Sophie warf ihr einen wütenden Blick zu und stieß sie an. Sandra verstand, was die Freundin damit meinte: Sie sollte zusagen.

Tobias antwortete: „Ich weiß nicht. Naja, du bist freundlich, zuverlässig, auf dich kann man bauen. Du hast mich so toll gepflegt. Äh ..., ich habe noch nie ein Mädchen wie dich

getroffen.“

Sophie beobachtete, wie eine tiefe Röte das Gesicht ihrer Freundin zum Glühen brachte.

Er sprach weiter: „Ich habe noch eine Karte für das AC/DC Konzert in Berlin übrig. Hast du Lust mitzukommen?“

Sandra schwieg. Die Freundin stupste sie erneut an. Sandra antwortete: „Aber ich bin doch so hässlich.“ Mehr bekam sie nicht heraus.

Sophie verdrehte die Augen.

„Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, war seine prompte Antwort.

Sandra glaubte, in einer anderen Welt zu sein. „Ich komme sehr gern mit“, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme.

Das Gespräch war beendet. Mit einem lauten

„Hurra“, fiel sie ihrer Freundin um den Hals. „Wenn ich dich nicht hätte. Vielleicht haben die mystischen Rituale und dein toller Liebestrunk doch geholfen! Ist meine allerbeste Freundin eine richtige Hexe?“ Beide lachten.


Impressum

copyright der Texte: Brigitte Voß copyright der Bildmaterialen: 

Wolfgang Voß Tag der Veröffentlichung: 04.01.2014 Alle Rechte vorbehalten

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Über den Autor

hanafubuki
Mein Username Hanafubuki kommt aus der japanischen Sprache und bedeutet "Kirschblütenschnee". Damit wird genau der Moment des Herabfallens der Kirschblüten in Japan bezeichnet. Dieser Moment der Vergänglichkeit ist ein beeindruckendes Naturschauspiel.

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schnief Eine wunderbare Geschichte !!!
Liebe Grüße Manuela
Vor langer Zeit - Antworten
hanafubuki ich danke dir, auch für die Geschenke.
Liebe Grüße
Gitti
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Hallo Gitti,
ich hab´s doch noch geschafft heute Dein Bücherregal zu durchstöbern und bin dabei einer faszinierenden Stimme gefolgt. Das hässliche Entlein mit dem goldenen, doch verletztem Herzen. Ein Thema, das immer wieder Stoff für Geschichten bietet. Wie Du die Geschichte anbietest gefällt mir gut - nein, sehr gut - weil ... ich einfach Deinen Schreibstil mag.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
hanafubuki Liebe Kara,
ich freue mich wegen deines tollen Lobs und der Geschenke. Da wird einem ja ganz warm ums Herz. Tausend Dank und einen schönen Abend.
Gitti
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baesta Also, leider habe ich die Geschichte erst heute gelesen und mitbekommen, dass Du damit am Storybattle teilgenommen hast. Also das wäre für mich auch ein Platz auf dem Treppchen gewesen. Sehr schön geschrieben.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
hanafubuki Hallo Bärbel,
danke, dass du dich an meine "Stimme" herangewagt und mich dafür beschenkt hast, denn offensichtlich hat sie dir gefallen.
Liebe Grüße
Gitti
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Caliope ich gestehe,ich hätte, gewettet und getippt du würdest den dritten Platz belegen, nachdem ich die Finalisten noch ein Mal las......
lG
Birgit
Vor langer Zeit - Antworten
hanafubuki Hallo Birgit,
nein, leider ist dem nicht so. Ich hatte es erhofft, doch so bin ich immerhin im Finale gelandet.
Danke.
Liebe Grüße
Gitti
Vor langer Zeit - Antworten
Flebia Die Geschichte hat mich gepackt, von der ersten Seite an! Und das hat angedauert, bis zum Schluss! Einfach toll!
Vor langer Zeit - Antworten
hanafubuki Danke für deinen lieben Kommentar und die Coins.
Vor langer Zeit - Antworten
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