Science Fiction
Ein postapokalyptischer Roman - Leseprobe

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"Von all den möglichen Realitäten ist diese sicher keine, die wir uns wünschen werden."
Veröffentlicht am 21. Dezember 2013, 56 Seiten
Kategorie Science Fiction
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Skyla Lane ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die sich für die Tiefen des menschlichen Charakters interessiert. Vorzugsweise schreibt sie SF und Thriller. Sie wurde 1986 in Königs Wusterhausen geboren, ist verheiratet und lebt heute mit ihrer Familie in einem Dorf südlich von Berlin.
Von all den möglichen Realitäten ist diese sicher keine, die wir uns wünschen werden.

Ein postapokalyptischer Roman - Leseprobe

Titel

Skyla Lane OPERATION ROTER HIMMEL   Inhalt Prolog Von toten und sterbenden Menschen Unter Wölfen Der Vorhof zur Hölle Waschbären Ein Toast auf wahre Helden Badlands Bisons und Männer Guter Sektor, böser

Sektor Die Visage der Hoffnung Freie Männer Leben und Sterben Goodland Epilog

Prolog

Big Al war Mechaniker und arbeitete für Cliff Winston auf der Upper East Side. Er besaß nicht viel Grips, was nichts zur Sache tat, weil seine Hände die geschicktesten von ganz New York waren. Als es passierte, wies er grade Pete Benders zurecht, der den Wagen eines Kunden in Sand gesetzt hatte. Später hat er mir erzählt, dass er in dem Moment wirklich glaubte, den armen Pete mit seinem Wortschwall umgebracht zu haben. Er wäre ganz verrückt geworden und hätte den Jungen bei den Schultern gepackt und durchgeschüttelt, wie er im Leben noch keinen geschüttelt habe. Pete aber sei mausetot geblieben und da hätte

er den alten Cliff gesucht, und den ebenso mausetot in seinem Büro gefunden. Er kauerte seinen massigen Körper neben Cliffs Leiche und blieb dort viele Minuten sitzen, bis ihn das Poltern und Knallen draußen am Times Square so in den Wahnsinn trieb, dass er aufsprang und nachsah. Es muss Big Als Glück gewesen sein, dass Gott ihm zwei starke Hände in die Wiege gelegt und am Verstand gespart hat, denn er realisierte das Sterben auf den Straßen auf seine ganz eigene Art und Weise. Später sagte er mir, er hätte helfen wollen. Wollte sich um die Leute kümmern, die überall herumlagen, drehte aber durch, weil er nichts ausrichten konnte. Danach

hätte er alles nur noch verschwommen gesehen und wäre über Leichen und ramponierte Autos getaumelt. Als wir uns in der Park Avenue über den Weg liefen, sah er aus, als wäre er durch ganz Manhattan gesprintet. Wahrscheinlich mochte ich Big Al deswegen so sehr. Wenn man flennend über unzählige Tote stolpert und glaubt, der einzige Überlebende zu sein, dann ist selbst ein speckiges Gesicht wie das von Big Al eines der schönsten, die man je gesehen hat. Ich war fünfundzwanzig, als das große Sterben seinen Höhepunkt in dieser apokalyptischen Darbietung fand. Inzwischen nähert sich das dritte Jahr

danach, und von der Welt, wie wir sie kannten, ist nichts mehr übrig. Eine komplette Zivilisation, boom, einfach weg. Die Leute in den Straßen sind umgefallen wie Scheißhausfliegen; kein Schimmer, warum es mich nicht erwischte. Aber ich glotzte sie an, als würden sie mich alle verarschen. Als wäre das der größte Gag der Geschichte. War‘s vermutlich auch, obwohl niemand gelacht hat. Eine Million Menschen lebten damals noch in New York und sie alle krepierten innerhalb von Stunden. In meiner Gegend hielt sich das Chaos in Grenzen, doch am Times Square brach die wahrhaftige Hölle aus. Big Al hat es mir gesagt, und der wusste es doch am

besten. Das Ende unserer Welt hatte ich mir anders vorgestellt. Es war keine Todesflut, die die Menschheit niedermachte. Es war weder der nukleare Zerstörungskrieg, noch der terroristische Superanschlag. Aber in den letzten Jahren hatten uns viele Infektionswellen heimgesucht, und Tausende waren gestorben, bevor es zum endgültigen Kahlschlag kam. Im Fernsehen hieß es bis zum bitteren Schluss, sie hätten alles im Griff und niemand, wirklich niemand, müsste sich Sorgen machen. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich mich morgens zu Mom in die Küche setzte und das uralte Radio aus Grandmas Zeiten anschaltete. Bevor alles zu Grunde ging,

bevor es kein Live TV, Strom und nichts mehr gab, sagten die Sprecher der Behörden, dass alles unter Kontrolle sei. Alles wäre cool, Mann. In der nächsten Sekunde hörte die Welt auf, zu atmen, und jeder, den ich kannte, war einfach tot. Ich wette, dass die wenigen Überlebenden diesen Augenblick genauso in Erinnerung haben wie ich; den Moment, indem absolute Stille einkehrte, als hätte jemand auf den Lautlosknopf gedrückt. Ich meine nur den Sekundenbruchteil, bis meine Mom auf den Boden sackte; den, in dem nicht mal die Sperlinge zwitscherten oder der Wind wehte. Danach erst kam der gewaltige Badaboom: zusammenkrachende Autos und Busse,

abstürzende Flugzeuge, entgleisende Bahnen und der ganze andere Dreck. Wen’s erwischte, der hatte Pech. Und wer nicht aufpasste und zwischen kollidierende Karren geriet, klebte breit geschmiert auf den Straßen von New York. Einige Blocks weiter explodierte die Bäckerei von Bobby Bing, weil ein Hubschrauber in sein Dach krachte, und ich schätze, die halbe Westseite des Hudson war später so ausradiert wie ein Schuhladen im Ausverkauf. Es war mein Vorteil, dass ich ziemlich flinke Beine und eine gehörige Portion Glück besaß, denn obwohl Stunden danach die ganze Stadt in einem überdimensionalen Flammenmeer versank, lebte ich noch und

lag unter keinem Haufen aus Metall und Beton begraben. Doch egal, wo ich hinrannte; egal wie laut ich brüllte und Leute bei den Schultern packte und durchschüttelte: Es stand keiner mehr von ihnen auf. Aus ihnen wurden auch keine Zombies oder Vampire oder weiß der Teufel. Sie lagen überall verstreut, als wären sie an Ort und Stelle eingeschlafen. An Mom erinnere ich mich am besten. Sah friedlich aus; saß zusammengesunken neben der Spüle und hielt ihr Brötchen in der Hand, als würde sie es später essen. Ihre Augen waren geschlossen, doch auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Zumindest sehe ich sie so in meiner Erinnerung. Wenn ich ehrlich bin, zähle ich sie heute zu

den Glücklichen. Hätte ich die Wahl gehabt, ich wäre auch lieber eingeschlafen. Hätte mir eine ganze Menge erspart. Es gibt viele Bilder in meinem Kopf, die ich am liebsten vergessen würde. Manchmal denke ich an Candy Mackenzie, wenn ich die Erinnerungen mit Schnaps runterspüle. Wir lernten uns kennen, als meine zusammengewürfelte Gruppe Sektor Sieben fand; das war ein halbes Jahr nach dem großen Sterben. Als es passierte, war sie bei ihrer Vorschulklasse gewesen. Stand am Lehrerpult und starrte auf zehn kleine Körper. Sie sagte, sie hätte die Kinder angeschrien; dachte, die würden sie verscheißern. Sie rannte raus in den Flur,

doch es blieb still. „Kein Witz“, hatte sie zu mir gesagt, als wir in unserer improvisierten Kneipe aus Wellblech saßen. „War kein Witz gewesen, Chris.“ Candy erzählte es mir an dem Abend, an dem sie sich ihr Hirn aus dem Schädel pustete. Ich kann’s verstehen. Da hätte auch der stärkste Schnaps der Welt nichts gebracht. Da hätte gar nichts geholfen. Damals waren wir ein gutes Dutzend gewesen, das New York verließ. Als wir auf weitere trafen, hier und dort kleine Gruppen aus anderen Städten, hatte sich unsere Zahl schon wieder dezimiert. Candy hielt zwölf Monate durch, aber so stark wie sie waren nicht

viele. Wir haben Candy ein Grab geschaufelt. Hinter den Schutzwällen, als wir Sektor Sieben unser neues zu Hause nannten. Ihr Grab war das erste, doch mit der Zeit kamen mehr dazu. Manche von uns beendeten es selbst, andere kippten wegen der Hitze um oder erfroren im Winter. Es waren etliche, die wir aus ihren Hütten trugen, und auch heute hat sich daran nicht viel geändert. Ich hatte das Gefühl, die Erde wollte es einfach beenden. Keine Ahnung, ob daran was Wahres war, aber zumindest strengte sie sich sehr an.

Von toten und sterbenden Menschen

„Siehst du das, Al?“ Ich schaute durchs Fernglas hinüber zu den Wäldern, in denen Jim und ein paar andere von uns das Holz für den Winter fällten. „Was denn?“, fragte Big Al, während er sein Fangnetz tiefer in den Fluss brachte. Die Strömung war sanft; genau richtig, um ein paar fette Fische ins Netz zu lotsen. Al hatte ohnehin ein Händchen für die Viecher, und von uns allen machte er immer den größten Fang. Während sich in seinem Eimer ein Dutzend Forellen tummelten, gluckerte in meinem nur ein alter Barsch vor sich hin. Und der war auch noch so mickrig, dass er im dem

rostigen Bottich kaum auffiel. „Da hat sich was bewegt“, murmelte ich und presste meine Augen gegen das Fernglas. „Mann, Glade!“, hörte ich Leslie flussaufwärts brüllen. „Pack endlich das Scheißding weg und mach dich an die Arbeit!“ Ich zeigte Leslie den Mittelfinger und nahm das Fernglas runter. „Falls es Wölfe sind, hoffe ich, dass sie dir zuerst in den Arsch beißen. Ich schwöre, dass sich da was bewegt hat!“ Leslie kam aus dem plätschernden Fluss gestakst und riss mir das Fernglas aus der Hand. Wütend spuckte er in meinem Eimer. „Red keinen Mist, du hast nur

keinen Bock auf‘s Fischen. Hast uns doch gestern schon den gleichen Müll erzählt, und gewesen war gar nichts! Wegen dir dürfen wir jetzt Doppelschicht schieben. Am liebsten würde ich …“ Er hob drohend die Faust, doch das Räuspern hinter seinem Rücken brachte ihn aus dem Konzept. „Lass Chris in Ruhe, Leslie”, sagte Big Al mit seiner sanften Stimme, die jedes Baby in den Schlaf wiegen könnte. Dabei war Al so kräftig wie ein Ochse und passte kaum durch unsere Türen, aber seit wir uns kannten, hatte er noch keiner Fliege was zu Leide getan. Was nicht hieß, dass Großmäuler wie Leslie keinen Schiss vor ihm hatten. „Ich meine ja nur“, brummte Leslie in

seinen Schnauzer und zuckte mit den Achseln. „Wenn wir heute wieder keinen Fang anschleppen, gibt’s im Sektor Ärger. Und wenn die Neuen bleiben sollten – wir wissen doch alle, dass wir kaum genug Fressen für uns zusammenkriegen. Spricht nur niemand aus. Sieben Mann mehr durchboxen …“ Leslie schüttelte seinen knochigen Schädel und kaute auf den spröden Lippen herum. „Wir verrecken noch alle, weil der Pfarrer keine Bitte abschlägt. Erst dieser Knasti vor ein paar Wochen, und jetzt die nächsten Schnorrer. Würde es nach mir gehen, würden die rausfliegen. Und zwar sofort!“ „Du bist ein sehr gemeiner Mensch.“ Al schmiss sich sein Netz über die Schulter

und trottete ins Wasser zurück. „Wir krepieren, Chris“, flüsterte mir Leslie zu. „Der Riese kapiert das nur nicht. Genauso wie Pater Brannon. Sieben Mann mehr, fuck! Wir sind jetzt schon so gut wie tot!“ „Das sind aber auch sieben Paar Hände mehr. Wir könnten Hilfe gebrauchen.“ Doch ich sah den einsamen Barsch in meinem Eimer und fragte mich, wie viel Wahrheit und wie viel Lüge in meiner Antwort steckten. „Nein, Chris, vergiss es! Das sind sieben Mäuler mehr, die wir stopfen müssen. Vier von denen sind Frauen. Die fällen kein Holz oder gehen jagen; die heulen, wenn’s ans Ausweiden geht. Guck dir doch Carol

oder Mel an. Mir reichen schon die beiden Heulsusen. Auf noch mehr Schwächlinge habe ich keinen Bock.“ Ich wollte das Gespräch einfach nur beenden und blickte wieder in den Wald am anderen Ufer, doch Leslie verpasste mir einen Klaps auf den Hinterkopf. „Hör endlich auf hier alle zu verschrecken und geh wieder an die Arbeit!“ Auf ihn hätten wir in jedem Fall verzichten können.   * Bis zum frühen Abend hatten sich meine Eimer nur unwesentlich gefüllt, aber Al

hatte mir zwinkernd ein paar seiner Fische reingeworfen. „Meine sind voll bis zum Rand“, hatte er mir erklärt und meine halbherzige Gegenwehr mit einer stummen Geste fortgewischt. Für Al waren diese Dinge selbstverständlich: Dinge wie Nächstenliebe, Mitgefühl, Hingabe - er ließ sich nie auf Diskussionen ein, und wenn ich ehrlich war, hatte er mir auf diese Weise schon unzählige Male aus der Patsche geholfen. Wir gehörten zu den letzten, die an diesem Abend in den Sektor zurückehrten. Auf dem Weg dorthin, gingen mir Hundert verschiedene Szenarien durch den Kopf, die mein ungutes Gefühl erklären

würden. „Ich sollte mit Pater Brannon sprechen, oder?“ Atemlos lief ich neben Al her, als wir den schattigen Wald verließen und die verborgene Ebene erreichten, in der Sektor Sieben lag. Aus der Entfernung konnte man bereits die beiden Holztürme sehen, in denen bewaffnete Wachen Tag und Nacht patrouillierten, damit niemand heimlich durch’s Tor kam. Allerdings war unsere Palisade nur aus Holz und rostigen Nägeln zusammengeschustert; wir konnten froh sein, dass der Wald die starken Winde aufhielt. Und so versteckt unsere Lage hier war, gab’s auch keine Probleme mit

Plünderern. „Weil du was im Wald gesehen hast?“, fragte Big Al, stellte einen Eimer ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war wieder einer dieser ultraheißen Tage. „Glaubst du, Jimmy und seine Leute hatten wirklich Ärger?“ „Keine Ahnung. Aber ich schwöre, dass sich was im Wald bewegt hat. Mag sein, dass uns ein Rudel aufgefallen wäre, aber … ach, ich weiß es doch auch nicht. Er sollte es einfach wissen.“ Ich wickelte mir ein nasses Tuch um den Kopf, dann liefen wir weiter. Ich hasste nasse Tücher, doch viele Alternativen hatten wir nicht. Die Sonne brannte uns Tag für Tag die Haut von den Knochen,

und das Duschen im Sektor wurde im Wochenrhythmus organisiert. Die am Fluss zu tun hatten, machte das wenig aus; den anderen schon. Wenn man erst kurz vor der Dämmerung zurück war, schaffte man es nicht mehr runter zum Wasser. Außerdem wagte sich im Dunkeln keiner raus. Als wir das Tor passierten, fiel mir zuerst die kleine Meute auf, die sich um Leslie gescharrt hatte. Ich hätte drauf gewettet, dass er sie gegen die Neuen aufhetzte. „Im Grunde hat er recht, oder?“ Für einen Moment blieb ich stehen und starrte zu ihnen hinüber. Leslie gestikulierte wild; im Anstacheln war er verdammt gut. „Letzten Winter haben wir es kaum gepackt. Wie

soll das mit sieben Leuten mehr funktionieren?“ „Tori ist letzten Winter gestorben.“ Al verzog das Gesicht zur jammernden Grimmasse. Tori war erst achtzehn und eine von unseren jüngsten Mitgliedern gewesen. „Sie ist erfroren und nicht verhungert. Wären wir mehr gewesen, hätte wir mehr Holz fällen können.“ „Aber wenn wir mehr sind, verbrauchen wir auch von allem mehr.“ Übel, dass ich es wie Leslie sah, richtig erbärmlich. Aber eigentlich war es eine einfache Rechnung. Statt mir zu widersprechen, nahm Al seine Eimer und ging weiter. Er war ein guter Kerl, viel besser als wir alle zusammen. Sah die Dinge meistens so, wie man sie

früher gesehen hätte: den Schwachen helfen, die Armen unterstützen. Doch heute gab es keinen moralischen Grundsatz mehr; nicht, wenn man überleben wollte. Wir alle waren arme Schweine geworden, wir alle waren schwach. Die Schwächsten von uns waren die Angearschten. Die Stärksten von uns waren die, die es noch einen Tag länger packten. Genaugenommen passte Big Al nicht in diese neue, fremde Welt. Sein sanftes Herz passte nicht rein. Clemens Blosse kam uns entgegen. Er trug sein Klemmbrett unter den Achseln und zückte es geschäftig, als er vor uns in die Hocke ging und in die Eimer blickte. „Guter Fang“, nuschelte er in seinen grauen Bart, obwohl er kaum älter war als

ich. „Jeweils zwei volle Eimer. Gut gemacht, Jungs. Dafür kriegt ihr die doppelte Ration.“ Blosse war ein Witzbold. Doppelte Ration, sehr lustig. „Ist Pater Brannon in seiner Hütte?“ Ich reichte Blosse meine Eimer, wie er stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm. „Muss ihn dringend sprechen.“ „Schon wieder Hirngespinste?“ „Nein, Mann. Sag mir einfach, wo er steckt.“ Blosse klemmte sich sein Brett unter die Achsel und hievte einen der Eimer hoch. „Der Chef ist im Warenlager.“ „Herzlichen Dank“, gab ich spöttisch zurück und verabschiedete mich von Big

Al. „Wir sehen uns beim Essen.“   * Das Warenlager war aus dem gleichen Material wie unsere Hütten: Sperrholzplatten und alte Campingwrackteile. Es war allerdings länger und ohne Fenster, obwohl die Größe mehr Schein als Sein war, weil wir sie nie voll bekamen. Dabei horteten wir neben Konserven auch Schaufeln, Forken und Klamotten. Im Prinzip war es ein Sammelsurium an Dingen, die es früher in Hülle und Fülle gegeben hatte, und die heute als Schatz betrachtet

wurden. Pater Brannon saß auf den Treppenstufen zum Eingang und hatte sein altes Gesicht in den Händen vergraben. Obwohl er unser Anführer war, gab er eine frustrierend gebrechliche Gestalt ab. Seine Stärke lag aber nicht in seinen Muskeln, sondern in seiner Güte. „Pater Brannon?“ Ich blieb im Schatten des Vordachs stehen und musste hüsteln, damit er mich wahrnahm. „Haben sie einen Moment Zeit?“ „Sicher“, seufzte er, obwohl sein Gesicht vergraben blieb. „Um was geht es, Christopher?“ „Um … Ist alles in Ordnung, Pater?“ Der Pater sah mich traurig an. Er lächelte,

doch seine Augen waren gerötet. „Ich habe über die Neuankömmlinge nachgedacht. Es ist eine schwere Entscheidung und ich überlege, ob ich abstimmen lasse.“ Ich setzte mich zum Pater auf die Treppe und starrte über den Platz vor unseren Füßen. Sektor Sieben war ein staubiger Flecken Erde, auch wenn er umgeben von Wäldern und Wiesen war. Unsere Leute aber, und die drei Jahre, die wir hier schon lebten, hatten das Gras niedergetrampelt und nur Staub und Erde zurückgelassen. „Glaubst du, unsere Gemeinschaft würde sich zu ihren Gunsten entscheiden, mein Sohn?“ Ich lächelte schwach und sah Pater

Brannon in die grünen, stumpfen Augen. „Nein, Pater. Das würde sie nicht.“ „Und du, Christopher?“ Ich mochte es nicht, wenn er mich Christopher nannte. Das erinnerte mich zu sehr an meine Familie, die sich nie auf Chris einigen wollte und stattdessen den größten Mist erfand. Also zuckte ich nur mit den Schultern. „Meine Meinung zählt nicht. Ich bin nur der Idiot, der überall Gespenster sieht.“ Es sollte witzig klingen, doch eigentlich klang es bloß verbittert. Niemand hier nahm mich für voll. „Ich halte viel von deiner Meinung. Du denkst weiter und bist vorsichtig. Vorsicht ist nicht gleichzusetzen mit Angst.“ Pater Brannon wirkte müde, als er sich am

Geländer hochzog und ans andere Ende des Sektors blickte. Der Siebte war nicht groß; lediglich eine kleine Ansiedlung von Überlebenden, die das Beste draus machen wollten und es doch zu nichts brachten. Banker lebten hier, Immobilienmakler und Kneipenwirte. Niemand, der wirklich wusste, wie man Hütten baute oder Zäune reparierte. Und trotzdem überlebten wir schon seit drei Jahren; wahrscheinlich, weil der Pater einen guten Draht zu ihm da oben hatte. Er gehörte zu den wenigen, die an ihrem Glauben festhielten. „Du unterschätzt dich, Christopher. Und fürs Schwarzsehen ist unser lieber Doktor zuständig. Glaube mir, würde ich Dr. Crusher zum Fluss schicken, würde er mit

ganz anderen Nachrichten wiederkommen.“ Ich tat es dem Pater gleich und grinste. Crusher war in Ordnung, obwohl er wirklich nur das Grauen erwartete und nicht müde wurde, davon zu sprechen. Doch er hatte auch einiges im Kopf; verstand zwar nichts vom Gemüseanbau, hatte dafür aber das Notstromaggregat wieder in Gang gesetzt. Auf diese Weise trug er etwas für unsere Gemeinschaft bei; von mir konnte man das nicht sagen, denn ohne Big Al taugte ich nicht mal zum Fischen. „Also, warum wolltest du mich sprechen?“ Ich rang mir ein entschuldigendes Lächeln ab. „Weil da draußen etwas ist. Ich bilde mir das nicht ein, Pater. Gestern ist es

dort gewesen, und heute auch. Wenn es doch ein Rudel Wölfe ist …“ „… werden wir auch damit fertig, Christopher.“ Der alte Pater seufzte tief und fuhr sich durch sein graues Haar. Viel hatte er davon nicht mehr: oberhalb seiner Schläfen zeigten sich erste kahle Stellen. „Wenn du willst, dass die Menschen dir vertrauen, musst du lernen, auch ihnen zu vertrauen. Es sehen viele fähige Augen zwischen die Bäume. Wären dort Wölfe, hätten sie auch die anderen bemerkt.“ „Und wenn es keine Wölfe sind? Die Neuen haben auch von Überfällen geredet. Wenn die in Cody waren, ist das nicht weit von hier entfernt. Unser Zaun schützt vielleicht vor Tieren, aber gegen die

Plünderer sind wir chancenlos.“ Pater Brannon legte mir nur seine Hand auf die Schulter und blickte zuversichtlich über den Sektor. „Was besitzen wir schon, das zu plündern sich lohnt?“   * Big Al und ich hatten uns einen Platz am Lagerfeuer gesichert, verdrückten unsere Rationen und genossen die Gemütlichkeit der lodernden Flammen, die uns das Ungeziefer vom Leib hielten. Abends kehrte im Lager immer eine gespenstische Ruhe ein, weil die meisten zeitig schlafen gingen und man nur noch das Knacken in

den Wäldern hörte, das der Wind zu uns ins Tal trug. Big Al mochte diese Geräusche, und ich glaube, den guten Big Al konnte auch nichts aus der Fassung bringen. Mir dagegen sträubten sich die Haare, wenn ich in der Ferne das Biegen der Kiefern hörte. An diesem Abend saßen wir auf einen umgesägten Baumstamm und schaufelten gebratenes Fleisch in uns rein. Meine Maiskörner hob ich mir bis zum Schluss auf, weil sie satter machten als der winzige Streifen Rehrücken. Zumindest besser als Eichhörnchen, sagte ich mir. Und Eichhörnchen stand fast jeden zweiten Tag auf der Speisekarte. Uns gegenüber saßen Leslie und die dürre Melanie

Clarkson, die an ihrem Fleischspieß nuckelte, dass mir bald die Galle hochkam. „Du siehst geknickt aus.“ Al stellte seinen Teller zur Seite und machte die Beine lang, bis sie fast die Glut berührten. Wir hielten unsere Feuer klein, damit sie keine ungebetenen Gäste anlockten. „Was hat der Pater gesagt?“ „Nicht viel“, murmelte ich zwischen zwei Maiskörnern und spülte kräftig mit Wasser nach, damit sie schneller sättigten. „Hast du ihm wieder von deinen Hirngespinsten erzählt?“, mischte sich Leslie ein, der seine verfluchten Ohren auch überall haben musste. „Du machst dich doch nur lächerlich, Chris. Dass du das nicht

kapierst.“ „Halts Maul, Leslie.“ Ich merkte, dass mich auch die dürre Mel ansah. „Was ist?“, fauchte ich sie an. „Ich hab doch gar nichts gesagt!“ „Komm, beruhig dich.“ Al tätschelte mir den Arm und legte dann ein Holzscheit nach. Er räusperte sich, ehe er weitererzählte. „Jimmy und seine Leute sind noch nicht zurück.“ „Nun pisst euch deswegen doch nicht gleich ein.“ Leslie schüttelte seinen zottligen Kopf, der dringend eine Haarwäsche nötig hatte, und warf den Pappteller in die Glut. „Ihr seid allesamt Loser. Wenn es hart auf hart kommt, werden Typen wir ihr die ersten sein. Und

sollte der Pater ernsthaft in Erwägung ziehen, diese verlausten Neulinge aufzunehmen, Alter, ich sag es euch, dann habt ihr nichts mehr zu lachen!“ Er sprang von seinem Platz auf und verschwand in der Dämmerung Richtung Hütten. Immer das letzte Wort, der gute, alte Leslie. Dreckskerl. „Er wettert schon den ganzen Tag gegen die Gruppe.“ Mel sah mich prüfend an, als wolle sie in meinen Augen lesen, was ich davon hielt. „Wenn er so weiter macht, hat der den ganzen Sektor hinter sich und der Pater kann nichts mehr tun.“ „Glaubst du?“ Al wirkte todunglücklich. „Klar. Es ist doch schon ein Wunder, dass die es bis hier gepackt haben. Wenn sie

weiter ziehen müssen, wäre das fatal. Die arme Samantha hat sich den Fuß verknackst und kann kaum laufen. Außerdem haben sie einen Jungen dabei, der ist höchstens sechszehn. Der kann doch keine Waffe benutzen.“ „Klar kann er das. Hab doch gesehen, dass eine an seinem Gürtel baumelt.“ Mein scharfer Ton überraschte mich, doch trotz der Umstände hatte ich mich noch immer nicht an Teenager mit geladenen Knarren gewöhnt. Mel zuckte mit ihren mageren Schultern. „Trotzdem. Um diese Jahreszeit sind ihre Chancen gleich Null. Es ist Hochsaison. Leslie ist ein riesen Arschloch.“ „Ich muss mir mal die Füße vertreten.“ Ich

stand auf und reichte Al meinen Teller, damit er nicht wie Leslies im Feuer landete. Als er mich fragend anblickte, lächelte ich dümmlich. „Muss mal für kleine Jungs.“ Nachdem ich die Grube aufgesucht hatte, zog es mich zum Tor. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und weil noch nicht alle von uns zurück waren, brannten zwei Fackeln neben den Wegen, die nach Draußen führten. Bald würde es stockfinster sein und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jimmy freiwillig Überstunden schob. Mich beschlich der nagende Gedanke, dass er entweder jeden Moment hereinspaziert kam oder gar nicht mehr auftauchte. Er und sein Trupp hatten

nur eine Knarre mit, weil wir nicht mehr entbehren konnten, und müssten sie es wirklich mit einem Wolfsrudel aufnehmen, würden die neun Schuss nicht viel ausrichten. Ich stellte mich vor den zusammengeschusterten Eingang aus Holzpfosten, Brettern und Sperrholzplatten und blickte rüber zum Wald. Sah mittlerweile wie ein finsteres Loch aus, doch ich verdrängte das mulmige Gefühl und lief weiter, wurde aber von einer bissigen Stimme aufgehalten. Ich drehte mich um und blickte in Bulldogs hartes Hau-drauf-Gesicht. Es war jetzt das dritte Mal, dass wir uns gegenüberstanden, und trotzdem lief mir der gleiche Schauer über

den Rücken wie die Male davor. „Bei Anbruch der Nacht soll keiner mehr raus, Junge. Was kapierst du daran nicht?“ „Ich wollte mich nur umsehen.“ „Glotz woanders und beweg deinen Arsch wieder rein. Lockst unnötig die Aufmerksamkeit anderer auf uns.“ Wow, Arschloch. Ich ging kommentarlos zurück zum Tor, doch als ich mich umdrehte, stand Bulldog noch immer hinter mir. „Was soll das?“ Dafür, dass er gerade mal einen Monat bei uns lebte und sich vor der Gemeinschaft drückte, wo es nur ging, machte er ziemlich schnell einen auf Oberaufseher. Dem Pater passte es gut, wenn jemand auf die Schäfchen achtete,

doch vor allem Leute wie Leslie, die gerne Streit vom Zaun brachen, hatten mit Bulldog ihre lieben Probleme. Aber selbst Leslie hielt meistens vor Bulldog seine große Klappe. Deswegen war er auch ständig stinkig. „Ich pass nur auf, dass du keinen Ärger machst.“ Doppeltes Arschloch, Mann. „Hast du Jimmy reinkommen sehen?“, fragte ich einfach, weil ich keinen Bock mehr hatte, drum herum zu quatschen. Und für einen Idioten hielten mich sowieso alle. Bulldog kniff seine Augen zusammen, doch dann schüttelte er unerwartet seinen kahlrasierten Schädel und blickte zum zweiten Wachturm

rauf. „Hey, Sunnyboy!“, zischte er durch die Zähne. Als sich Chesters gebräuntes Gesicht zeigte, deutete er in den Wald. „Ist der Holzfällertrupp wieder drinnen?“ Chester schüttelte seinen Kopf, genau wie Bulldog. Im Gegensatz zu ihm schien er sich deswegen aber nicht das Hirn zu zerbrechen. „Die brauchen öfter länger. Jimmy und die anderen kommen gleich.“ Bulldog sah mich wieder finster an. „Warum schiebst du dann diese scheiß Panik, Junge?“ „Ich schieb überhaupt keine Panik. Ich wollte mich nur vergewissern, okay? Heute am Fluss habe ich was zwischen den

Bäumen gesehen. Gestern auch schon, und ja …“ Ich schnaubte genervt. „Man hält mich deswegen für bescheuert, meinetwegen. Aber was ich gesehen habe, das habe ich gesehen.“ Und jetzt leck mich, du Arsch. Manchmal wünschte ich mir, weniger feige zu sein und öfter meine Meinung zu sagen. Was konnte es mich schon kosten außer einen Schlag in die Fresse? Ich machte kehrt, doch jetzt war es Bulldog, der mich zurück hielt. „Hast du dem Alten davon erzählt?“ Ich wette, jemand wie er konnte das Wort Pater nicht in den Mund nehmen, ohne dabei in Flammen aufzugehen. Witzige Vorstellung,

irgendwie. Ich zuckte mit den Schultern. „Sicher. Aber wahrscheinlich hat er Recht. Sorry für die Störung.“ Ein Grinsen wollte mir nicht gelingen, aber zumindest schaffte ich es, Bulldog dabei anzusehen, ohne vor Angst zu schlottern. In dem Moment aber, als ich mich wieder abwenden wollte, sah ich was in der Ferne und trat einen Schritt zur Seite, um an seiner massigen Gestalt vorbei zu gucken. „Was ist das?“ Ich dachte erst, ich wäre nun völlig durchgeknallt, doch als ich mich Bulldog zuwandte, glotzte er genauso starr in Richtung Wald. „Ist das ein

Mann?“ „Chester!“, brüllte Bulldog, und ich fuhr heftig zusammen, als er an mir vorbei sprintete. „Zum Teufel, bist du blind? Wer rennt auf uns zu?“ Wir sahen Chesters Kopf aus dem Turm blicken, dann blitzte sein Fernglas auf. „Das ist Jimmy!“, rief er zurück. „Bei Gott, der rennt, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihm. Er winkt! Aber ich sehe keine Wölfe, da ist gar nichts, außer …“ Chester verstummte, und noch im gleichen Augenblick hörten wir den Schuss, der Jimmy umnietete. Obwohl eine gute halbe Meile entfernt, starrten wir rüber und sahen zu, wie unser Mann bewegungslos im Gras liegen

blieb. „Schlag Alarm!“, rief Bulldog und ehe ich mich versah, drückte er mir eine Pistole in die Hand. Es brach eine solche Hektik los, als Chester die Glocke läutete, dass ich mir selbst im Weg stand und beinah gegen den Turm lief, um Bulldog zum Tor zu folgen. „Wagen!“, schrie Chester plötzlich. Keine Sekunde später sahen auch wir die Lichter der Autos, die mit donnernder Geschwindigkeit auf uns zu rasten. „Da kommen drei Wagen auf uns zu! Überfall! Überfall!“, brüllte er über’s ganze Gelände. Bulldog packte mich, als ein weiterer Schuss losging. Er riss mich zu Boden,

doch da klatschte etwas neben uns auf die Erde. Es war ein mausetoter Chester, dessen Augen so weit aufgerissen waren, als wollten die Augäpfel gleich rausquellen. Auf der Stirn klaffte ein Loch, in das ich locker meinen Daumen hätte bohren können, und unter seinem platten Schädel bildete sich innerhalb von Sekunden eine matschige Lache. Nur weil Bulldog mir ordentlich ins Gesicht fauchte, kam ich wieder zu mir und konnte mich von Chesters Anblick losreißen. Ich rannte Bulldog nach, um das Tor zu schließen, doch es war schon zu spät. Als sich unsere Blicke trafen, konnte ich es in seinen Augen lesen. Zu spät. Die Palisaden hielten Wölfe fern, aber

keine Männer, die es drauf anlegten. Dafür waren sie damals und zu keiner Zeit gedacht gewesen. Unser Fehler. Unsere Schuld. Und wie es aussah auch unser aller Ende.


ENDE DER LESEPROBE

Impressum

© 2013 Skyla Lane Operation Roter Himmel 15711 Königs Wusterhausen Erhältlich bei Amazon als eBook

http://bit.ly/operationroterhimmel

und als Taschenbuch http://www.amazon.de/dp/1494724936



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Über den Autor

Skyla
Skyla Lane ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die sich für die Tiefen des menschlichen Charakters interessiert. Vorzugsweise schreibt sie SF und Thriller. Sie wurde 1986 in Königs Wusterhausen geboren, ist verheiratet und lebt heute mit ihrer Familie in einem Dorf südlich von Berlin.

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