Kurzgeschichte
Winterstarre

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"Was auch immer dich berührt, es wird dich nie wieder loslassen."
Veröffentlicht am 12. Dezember 2013, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Eigenfotographie
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich ...bin Österreicherin ...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte ...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist ...lese quer durch viele Genres ...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken
Was auch immer dich berührt, es wird dich nie wieder loslassen.

Winterstarre

Winterstarre

Eisig kalter Wind bog die kahlen Äste der Rotbuchen durch, die unterdessen erfolglos versuchten, die Eiszapfen abzuwerfen, die schwer an ihnen hafteten und sie teilweise bis zum Boden dehnten. Nur einigen Fichten gelang es durch das stetige Hin und Her kleine Schneelawinen auszulösen, die sich auf dem Waldboden zu unförmigen Haufen sammelten. Wie das Schnauben einer gewaltigen Lunge hörte sie sich an, diese Luft, die so plötzlich und unaufhaltsam wieder und wieder zuschlug. Der schmale Pfad, der sich gewöhnlich zwischen den Bäumen durchschlängelte,

war nicht mehr zu erkennen, so voller Schnee war er. Einzig die Fußspuren eines Rehs verrieten, wohin die Reise gehen sollte. Jene und die Erinnerung der jungen Frau, die durch die kniehohen Schneewehen stampfte. Ihr langes schwarzes Haar war bereits mit weißen Flocken gesprenkelt und ihre Hose bis zu den Oberschenkeln nass, doch all dies schien sie nicht zu bemerken. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass ihre Augen nicht zu sehen waren, doch ein aufmerksamer Beobachter hätte sehr wohl die Spuren von vergossenen Tränen erkannt, die an ihren Wangen prangten. Wenig später rollte eine solche ihr Gesicht hinab und fiel lautlos in den

Schnee, der sie aufsog und nicht mehr hergeben würde. Und so wie diese Träne, die so klein und unbedeutend gewesen war, bevor sie ganz einfach von dieser Welt entschwand, fühlte sich auch das Mädchen, das mit langsamen, fast zittrigen Schritten den Pfad entlangging. Rund um sich herum nahm sie nichts wahr, da ihr Innerstes so voller Schmerz aufzuschreien schien, alles andere verschluckte, nebensächlich machte, einfach falsch erscheinen ließ. All ihre Gedanken kreisten um jenen Mann, der seit dem Beginn ihres Lebens so unheimlich wichtig gewesen war. Jener Mann, der ihr beigebracht hatte,

stets die höchsten Bäume zu besteigen, um auch noch die besten Kirschen zu erwischen. Jener Mann, der sie immer dazu ermutigt hatte, ihren eigenen Weg zu gehen, egal wie viel ihr dabei auch in die Quere kommen sollte. Jener Mann, der sie so hoch in die Luft geworfen hatte, dass sie manchmal fast glaubte, einfach ihre Flügel entfalten und fortfliegen zu können. Jener Mann, der sie mit so einfachen Dingen zum Lachen gebracht hatte. Jener Mann, dem sie nie wirklich hatte zeigen können, wie wichtig er ihr war. Jener Mann, der nun nicht mehr da war; von einem Moment zum anderen einfach fort, an einem Ort, an dem sie ihm nicht folgen konnte.

Jener Mann, den sie vermisste. Neue Tränen verließen ihre Augenwinkel und teilten das Schicksal der vor ihnen geweinten. Unbeirrt setzte die junge Frau ihren Weg fort, bis sie schließlich den bekannten Pfad verließ und zwischen einigen Bäumen verschwand. Vorsichtig bog sie Äste zur Seite und kämpfte sich einen Weg durch das Dickicht. So lange war es her, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war. So unendlich lange und doch fühlte es sich an, als wäre sie nie fort gewesen. Immer tiefer drang sie in den Wald ein, bis sie schließlich eine kleine Lichtung erreichte. Im Frühling, immer dann, wenn es bereits zu tauen begonnen hatte, war sie mit ihrem Vater

hierhergekommen. Die Sonne hatte meist so wunderbar geglitzert auf der Wasseroberfläche des kleinen Baches, der die Wiese in zwei fast gleich große Teile gliederte. So hatten sie sich jährlich an diesem wunderbaren Ort für ein paar wenige Stunden niedergelassen, um ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Heute jedoch gab es keine Sonne. Die Wärme, die dieser Fleck Erde ansonsten ausgestrahlt hatte, wich einer Kälte, die selbst durch die Kleidung hindurch kroch und unbarmherzig in das darunter liegende Fleisch biss. Nichts desto trotz ließ die junge Frau sich mitten auf der Lichtung nieder, auf einem großen Stein,

nahe des Baches und zog die Beine an. Und ihre Gedanken schweiften, wanderten weit und noch viel weiter bis in die Vergangenheit; zogen glückliche Tage hervor, sonnendurchflutete Wiesen, herbstlich bunte Wälder, das lachende Gesicht eines Menschen, den sie nie wieder sehen würde. Ungewollt entrang sich ein leises Schluchzen ihrer Kehle. Wie war es möglich, dass es ihr all die Jahre nichts ausgemacht hatte, so weit fort von zu Hause zu leben, so wenig Kontakt zu ihren Eltern zu haben und jetzt, da ihr dies nicht mehr möglich sein würde, jetzt plötzlich tat diese endgültige Entfremdung so unvorstellbar weh? Sie

verstand es nicht und wenn sie sich noch so sehr den Kopf darüber zerbrach. Es wollte ihr einfach nicht klar werden. Warum musste ein Mensch erst sterben, damit sie erkannte, wie wichtig dieser einmal gewesen war, wie wichtig er immer noch war. Warum war es gerade die Liebe, die so unermesslich großen Schmerz verursachen konnte? Leise weinend schaukelte sie vor und zurück und bemerkte in ihrer Trauer nicht, dass es zu schneien begonnen hatte. Sacht und völlig lautlos fielen die Flocken vom Himmel, tanzten im Wind, wirbelten umher, bis eine davon auf das Gesicht der Weinenden fiel und sofort schmolz. Unvermittelt stockte der jungen

Frau der Atem. Für einen Moment hatte sie geglaubt, eine Silhouette am Waldrand entdeckt zu haben, eine vertraute Gestalt, die sich ihr näherte, um gleich darauf hinter einem Vorhang aus Schnee zu verschwinden. Hastig richtete sie sich auf, wischte die Tränen weg. „Papa?“, fragte sie in den Wald hinein, doch es antwortete nur der Wind, der die Eiszapfen zum Klirren brachte. Innerlich schalt sie sich selbst für diese Naivität, aber sie war sich doch so sicher gewesen. Weitere Schneeflocken benetzten ihr vom Weinen erhitztes Gesicht. Und im nächsten Augenblick war es ihr,

als würde sie seine Stimme hören, ganz leise, fast flüsternd. So wie er es immer getan hatte, wenn er ihr etwas besonders Wichtiges zu sagen hatte. „Weißt du, Marina, jede einzelne dieser Schneeflocken hat so einen unvorstellbar weiten Weg hinter sich. Sie entsteht, folgt dem ihr vorherbestimmten Schicksal, übersteht jeglichen Sturm, nur um schließlich auf der Haut eines kleinen Menschen zu vergehen. Und doch weiß ich, ist sie glücklich, diese Schneeflocke, die sich sehr wohl darüber im Klaren ist, dass sie nicht ewig währt, doch gerade das macht sie so einzigartig. Was auch immer sie erlebt

hat, was auch immer in ihr schlummerte, es zerfließt mit ihr, wenn sie sich auflöst und doch bleibt sie bestehen, denn was auch immer dich berührt, sei es auf der Haut oder aber auch in deinem Inneren, es wird dich nie wieder loslassen. Es wird immer bei dir sein.“ Diese Worte aus ihrer Erinnerung verblassten nur langsam, klangen in ihr nach und neue Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln. Jedoch waren es Tränen, die ungeweint bleiben sollten, denn nun war ihr endlich klar geworden, weshalb sie hierhergekommen war. Noch einmal tauchte sie in ihrer Vergangenheit ein und lauschte ihrer Antwort. „Und wenn ich dich jetzt berühre?“,

hatte sie gefragt, als sie gerade einmal sechs Jahre alt gewesen war und hatte ihren Vater mit dem Finger in die Seite gestupst, woraufhin er hatte lachen müssen. Liebevoll hatte er ihr durchs Haar gestrichen und gesagt: „Bei mir funktioniert das nicht mehr.“ „Wieso denn?“, hatte das Kind erschrocken gefragt. Er hatte wieder nur gelächelt und gemeint: „Weißt du, Kleines, dich trage ich schon bei mir, seit du diese Welt betreten hast. Und ich werde dich nie loslassen.“ „Du bist auch in mir“, hatte sie erwidert und er hatte nur wieder so wunderbar gelacht.

„Du bist auch in mir“, flüsterte die junge Frau in die Luft und sie meinte jedes einzelne Wort so wie sie es sagte. Ein geliebter Mensch konnte nicht einfach so von einem Tag auf den anderen verschwinden. Nicht einmal der Tod konnte das bewerkstelligen, denn solange irgendjemand die Erinnerung weitertrug, solange würde auch der Mensch weiterleben. Das Schneegestöber hatte zugenommen, trübte bereits die Sicht. Der Himmel schien nahtlos in das Land überzugehen. Und die einzelnen Schneeflocken fielen,

hüllten die Landschaft in ein weißes Gewand und vergingen in der Masse. Auch die junge Frau ging nun, mit festerem Schritt, hatte den größten Teil ihrer Trauer im Schneegestöber zurückgelassen. Die Erinnerung aber würde bleiben, würde in ihrem Innersten blühen. Möglicherweise einmal einschlafen, aber immer wieder von neuem erwachen. Und sie wusste, so lange sie sich an ihn erinnerte, solange würde er auch weiterleben, in ihr selbst. © Fianna

12/12/2013

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Fianna
Ich
...bin Österreicherin
...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte
...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist
...lese quer durch viele Genres
...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken


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merowinger99 An einigen Stellen hatte ich Gänsehaut bekommen.
Und das passiert bei mir eher selten.
Ein emotionales kleines Meisterwerk.

Danke.
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Eine solche Reaktion freut mich natürlich ganz besonders :-)

Dankeschön für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
roxanneworks Du hast eine Geschichte mit stimmungsvollen Bildern und wunderschönem Inhalt erzählt, liebe Fianna...
wie die Schneeflocke, leben auch wir Menschen im Kontext des großen Ganzen, haben unsere Bestimmung zwischen Werden und Vergehen - letztendlich scheint nicht von Bedeutung, wie wir gelebt - sondern wie wir geliebt haben......

Ganz liebe Grüße
roxanne
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass sie dir gefällt, auch wenn es wohl nicht wirklich ein Märchen ist.

Danke dir für's Lesen, den Kommentar und die Coins!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Phil_Humor Können Orte die Energie speichern, tummeln sich noch die Erinnerungen an Orten, die man lange Zeit sich selbst überlassen hat - sind die Erinnerungen flüchtig, oder haften sie an diesem Ort? Verstecken sich vielleicht nur? Ein wenig Geduld und sie lugen hervor. So wie in Deiner Story. Als die Tochter das Gefühl hat, als sei ihr Vater irgendwie doch präsent, hört sie seine Worte; immerhin tut ihr der Ort gut. Wer weiß, vielleicht überschneiden sich an solchen Orten die Welten, und es sind tatsächlich Portale zu anderen Zeiten? Zeiten, in denen die noch da waren, die man sehr gerne wieder dabei hätte.

Melancholisch; schön geschrieben.

LG
Phil Humor
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Wäre schön, wenn es so wäre.

Dankeschön für deinen ausführlichen Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Katniss Ja es ist schön beschrieben jedoch sind die zeilen etwas weit unten gerutscht aber nicht so wichtig, gut geschrieben
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass es dir gefällt.

Also bei mir zeigt es die Zeilen eigentlich ganz normal an. Ich weiß nicht genau, woran das liegen könnte.

Danke dir für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Zentaur mit sehr schönen Zeilen hast du beschrieben, das die liebsten Menschen immer im Herzen bei dir sind und wärme geben.
lg Helga
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Fianna Freut mich, dass es ankommt.

Danke dir für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
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