Romane & Erzählungen
Nachtzug - Epilog

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"Nachtzug - Epilog"
10 S.
10 S.

Nachtzug - Epilog

EPILOG

Der Zug hat seine Endstation fast erreicht, wird allmählich langsamer, vorsichtiger. Bewohntes Gebiet, abertausende, schlafende Seelen. Nur noch ein Halt, dann wird seine Reise beendet sein. Schon sind die Lichter der Stadt zu erahnen, die Nacht wird erneut durchbrochen von spärlich beleuchteten Straßen, die uns nun wieder begleiten. Marie sitzt am Fenster und betrachtet mich im Spiegelbild, so wie sie es schon die ganze Fahrt über getan hat. Bald, wenn die Stadt die Dunkelheit vertrieben hat, wird sie mich kaum noch erkennen können.

Wie schön sie doch ist, immer noch, trotz all den Jahren die hinter ihr liegen, hinter uns. Gern hätte ich sie in den Kommenden, Letzten auch noch begleitet, nicht nur als heimlicher Beschützer der hin und wieder in einer Reflektion auftaucht. Aber das Leben hat seinen Preis gefordert, vor allem die erste Hälfte davon, und ich habe ihn gezahlt. Damals, als wir im Taumel der Liebe durch die Stadt geschlendert sind, ein Spätsommertag, genau wie heute, hätte ich mir nicht vor stellen können, wie es

wäre, alt zu sein, und miteinander alt zu werden. Die Jahre verflogen, und plötzlich waren wir es. So wie sie mich jetzt sieht, seh ich sie auch, sehe wie sie einst war, und heute ist, alles zusammen, in einer Person. Ich sehe das junge, unbeholfene Mädchen, verliebt in den größten Frauenheld der Schule. Sie erzählte mir von der Nacht mit ihm, ihrer Flucht und der grenzenlosen Enttäuschung. Ich erzählte ihr nicht von dem Taxi, welches ich gerufen hatte, um sie in der Nacht sicher zum Bahnhof zurück zu bringen. Bis heute erinnert sie sich nicht daran.

Ich sehe die Frau, die mich, auch wörtlich, heraus gezogen hat aus dem Strudel, unter Tränen und mit der letzten Kraft, aller Kraft die sie auf bringen konnte. Die Frau die mich eines Abends in ihr Auto gesetzt hat, mit mir hinunter zum Fluss gefahren ist, um am Ufer meinen teuersten Anzug, und den Inhalt der schwarzen Aktentasche mit den silbernen Streifen zu verbrennen, und mich danach ins Wasser stieß, nur um mich wenig später wieder heraus zu fischen. Ihre Methoden waren schon immer etwas unkonventionell, aber in dieser Nacht hat sie mir gezeigt, was

wichtig war in meinem Leben, und was nicht. Das mein Leben wichtig war, nicht nur für sie. Gott war ich wütend gewesen, kurz bevor ich dann nass bis auf die Haut, erschöpft und unendlich müde zusammenbrach im Schilf. Sie war es, die mir die Staffelei geschenkt hat, signiert mit rotem Wachsmalstift, und sie war es auch, die mich dazu ermutigte, wieder mit dem zu beginnen, was ich immer schon am besten konnte. In ihren Augen kann ich immer noch das wunderbare Feuer sehen, das Leuchten, als sie zum ersten Mal das kleine Haus am Fluss betrat, und sich sofort darin verliebte. Ich sah

es noch tausende Male, immer wenn ich von meinen Reisen zurück kehrte, wenn ich ihr die Geschichten erzählte, die ich gesammelt hatte. Auch als Josi vor der Tür stand und uns einlud, mit ihrer kleinen, selbst gemalten Karte. Sie war so stolz. Nun ist sie auf dem Weg zurück, nach hause. Ich begleite sie, so lange es mir erlaubt ist, so lange ich es kann. Sie weiß, dass ich in ihrer Nähe bin, auch wenn sie mich nicht mehr berühren, und nur noch selten sehen, oder erahnen kann. Sie ist immer noch stark, meine Marie.

Der Zug hat den Bahnhof erreicht, fährt nur noch Schritttempo, bald wird er vollends zum Stillstand gekommen sein. Das Abteil ist leer, bis auf die alte Frau mit dem sonnengelben Koffer in der Hand, die sich bereit macht, diesen Ort zu verlassen, an dem sich all ihre Erinnerungen zusammen gefunden haben. Auf dem Bahnsteig genau gegenüber, macht sich ein anderer, letzter Zug auf die Reise, in die entgegengesetzte Richtung. Marie sieht noch ein mal zum Fenster hinaus und erblickt dort drüben, im hell erleuchteten Innenraum des Zuges, einen

älteren Mann, der einsam in die Nacht hinaus schaut. Er lächelt still in sich hinein, sein Blick im Nirgendwo. Im laufe seiner Reise wird er wohl auch den Raum mit Erinnerungen füllen, fast Vergessenes wieder zum leben erwecken. Ich vermag nicht zu sagen, ob er auch einen Begleiter hat, oder eine Begleiterin, im Spiegelbild, aber ich kann es ihm nur wünschen. Es muss immer einen letzten Zug geben, er ist der Anfang der Stille, der Wächter der Nacht, bis der Morgen kommt, und ein neuer Tag anbricht. So wie es unzählige Tage davor geschah, und sich vermutlich noch für lange Zeit

wiederholen wird. Immer werden in seinem Inneren Menschen zu finden sein, deren Leben irgendwann aus den Gleisen geraten ist. Und es wird andere Menschen geben, die sich nicht nur auf das Reparieren von Schienen verstehen, sondern auch helfen, rechtzeitig die Weichen zu stellen, wenn ein Streckenabschnitt unbefahrbar wird. Sie werden Erinnerungen hinterlassen, die lebendig bleiben, über den nächsten Tag und den Tod hinaus.

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10 S.

Hörbuch

Über den Autor

JanosNibor
Eigentlich nur ein ganz normaler Nerd, der Technikbegeistert ist und viel zu viel Zeit damit verbringt, Dinge zu tun, die ihm Spaß machen, aber kein Geld bringen :)

Nebenher noch Kunst und Kultur-begeistert, Naturliebhaber, ehrenamtlich tätig und irgendwie nie richtig erwachsen geworden. Aber wer will das schon!

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MarieLue Eine sehr schöne Geschichte über die Menschen, die in unserem Herzen weiterleben, sich in uns "spiegeln", so lange wir es erlauben. Hat mir sehr sehr gut gefallen!
Dennoch: Es sind noch einige Schreibfehlerchen drin.
Herzliche Grüße
Marie Lue
Vor langer Zeit - Antworten
JanosNibor Die "Auflösung" zum Nachtzug, bitte erst lesen wenn ihr die letzten Teile auch gelesen habt, damit man die Zusammenhänge versteht :)
Prolog:
http://www.mystorys.de/b99730-Romane-und-Erzaehlungen-Nachtzug.htm
1. Teil:
http://www.mystorys.de/b99882-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
2. Teil:
http://www.mystorys.de/b99949-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
3. Teil:
http://www.mystorys.de/b100013-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
4. Teil:
http://www.mystorys.de/b100079-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
5. Teil
http://www.mystorys.de/b100211-Kurzgeschichte-Nachtzug.htm
Grüße, Janos
Vor langer Zeit - Antworten
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