Fantasy & Horror
Vision - Die Auserwählten

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"Carina ist anders: Sie besitzt die Gabe - Sie ist das Auge."
Veröffentlicht am 25. November 2013, 794 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Mein Name ist Mia und ich liebe das Schreiben über alles. Meine Hobbies sind zudem die Musik und der Sport. Ich bin sehr kreativ und vernarrt in gute Fantasy- und Historien-Romane. Deswegen habe ich beschlossen einmal den Versuch zu wagen, um zu sehen, wie meine Geschichten so ankommen. - Ich hoffe sie gefallen euch!
Carina ist anders: Sie besitzt die Gabe - Sie ist das Auge.

Vision - Die Auserwählten

Antecendes trium, Natus est Videntis, eorum potentia inscii, vitae complevit cum cognoscente. Secunda vero, dormientes Tamquam novitius, male intellectis ab omnibus, reviviscente sicut dea. Tertia et ultima, Nox quoquam quae non videt, in aurora a venatrix. Uterque, destinata senioribus.

uiguit sicut gigans. creatas ut regina. Determinaverit in crepusculo, sanguinem ruber caelo. Tempus venit, commutatio appropinquare.


»» Die Erste von Dreien,

geboren als Seherin, ihrer Macht unbewusst,

ihr Leben vollendet als Weise.

Die Zweite dagegen,

eingeschlafen als Novizin, von allen verkannt, erwacht als Göttin.

Die Dritte und Letzte,

zur Nacht eine Schwebende, die Niemand sieht,

bei Morgengrauen eine Jägerin.

Jede von ihnen,

bestimmt zur Ältesten,

gediehen als Kriegerin, geschaffen als Königin.

Bei Dämmerung entschieden,

blutrot der Himmel. Die Zeit ist gekommen, die Veränderung naht. ««


Glaubst Du an Schicksal? Nein? Ich auch nicht...

Das hätte ich zumindest geantwortet, wenn man mir während meiner Kindheit diese Frage gestellt hätte. Mein Glaube war auf eine harte Probe gestellt worden, als ich vor einigen Jahren erfahren hatte, wer ich wirklich war. Kurz darauf hatte das Chaos auch schon begonnen. Und ich hatte ihn getroffen. Wir hatten nie einen längeren Zeitraum zusammen verbringen können, ohne dass es irgendwann zu einer Auseinandersetzung kam. Dazu waren wir einfach zu verschieden. Das Problem war bloß: Irgendwie kamen wir nicht voneinander los.


Carina





Als ich sie das erste Mal sah, war sie so gut wie tot. Sie hatte im Schnee gelegen, in einem weißen Kleid und kaum noch geatmet. Trotzdem hatte sie es irgendwie geschafft. Dummerweise hatte ich mich dazu breitschlagen lassen, ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen. Und seitdem hatten wir es nicht mehr geschafft uns längerfristig zu trennen. Irgendeine Katastrophe führte uns immer wieder zusammen...


Neoras

CARINA


Mein Leben war wirklich gut verlaufen. Es war alles geordnet gewesen, ich war sogar brav gewesen und hatte fleißig gelernt. Doch alles änderte sich schlagartig, als damals in einer Kälteperiode die Commini kamen. Die Commini sind Magier, böse Magier, die ihre Macht dazu gebrauchten, anderen Schaden zuzufügen und sich daran zu bereichern. Sie waren Banditen und zwar von der schlimmsten Sorte, hatte mir meine Großmutter immer eingeschärft – um genau zu sein, waren sie ein Spähtrupp der Sucher. Ach ja: Ich heiße Carina und bin die Tochter von Jupiter, einem Magier der achten Corona, was einfach soviel hieß, dass er ziemlich gut war, in dem, was er tat. Meine Mutter kannte ich nicht, ein Jahr nach meiner Geburt war sie

verschwunden und nie mehr wieder gekommen. Seit dem Tod meines Vaters lebte ich bei meiner Großmutter und ihren Freunden. Wir waren Schausteller; Niedere Magier, die kleine Zauber bewältigen konnten, um damit Menschen zu unterhalten. Das 'niedere' durfte man hierbei nicht so wörtlich nehmen. Es stand einfach bloß dafür, dass wir in der Hierarchie des Reiches weiter unten standen. Mit unseren Kräften hatte das absolut nichts zu tun!

Saphira war die 'sagenhafte Seilkünstlerin', Mino der 'Jongleur mit den vielen Gesichtern', Julius bereitete Unglaubliches mit seinen Minimoffs vor (Minimoffs waren die akrobatischsten magischen Miniaturtrolle der Dimension), die alte Orelia war unsere Wahrsagerin und meine Großmutter Delira war eine der begabtesten Elementkünstler des Reiches. Und ich? Ich beherrschte im Vergleich zu den

Anderen nicht sehr viel. Ich konnte weder wahrsagen, noch kam ich wirklich gut mit den Minimoffs klar - diese kleinen Biester machten es einem aber auch wirklich nicht leicht. Das Einzige, worin ich halbwegs begabt war, waren magische Tricks. Und so ließ ich auf den Märkten der Städte Gegenstände fliegen, verschwinden oder des öfteren auch erscheinen. Auf jeden Fall zogen wir in unserer kleinen Gruppe seit vielen Jahren von Stadt zu Stadt und erstaunten doch von Mal zu Mal wieder die Bewohner.


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In besagter Nacht kamen sie dann. Die Commini. Wir hatten am Tag zuvor auf einer Waldlichtung Halt gemacht, weil es angefangen hatte zu schneien und die Pferde mit unseren Sachen nicht mehr vorangekommen waren. Lautlos ritten die Banditen durch den Schnee

und pirschten sich an den Wagen von mir und meiner Großmutter heran. Wir saßen drinnen vor dem angezündeten Kamin und ich versuchte erfolglos das Feuer zu einer Kugel zu bändigen. Ich verstand nicht, wie Großmutter nur so viel Geduld mit mir haben konnte. Sie machte die wunderbarsten Figuren aus den Flammen, einen Bären oder einen Schwan zum Beispiel. Meist ließ sie es aber auch einfach nur Sternschnuppen regnen. Plötzlich flog die Tür mit einem Knall auf und dort standen sie mit pechschwarzen, flatternden Mänteln. Ban und seine Crew. Ban, der von allen nur “Captain” genannt wurde, blickte sich im Zimmer um. Großmutter sprang auf und brachte sich in Angriffsposition. Ich begriff gar nicht so schnell, was da eigentlich passierte, da umkreisten sich die beiden schon. Das einzige was ich tun konnte, war verwirrt drein zu

schauen mich schließlich ängstlich vor dem Kamin zusammenzukauern. “Du weißt was ich will, Delira, oder?”, ertönte die rauchige Stimme des Captains. Er beobachtete Delira aufmerksam, dann aber glitt sein Blick zu mir. Er musterte mich gründlich, von oben bis unten. Er lächelte und seine Augen funkelten golden im Licht des Kamins. Es hätte wunderschön ausgesehen, wäre das Lächeln nicht so gierig gewesen. Doch Ban starrte mich an wie eine Trophäe - wie etwas von hohem Wert - und jagte mir damit riesige Angst ein. “Glaubst du wirklich, dass du sie bekommst? Ich würde sie dir nicht einmal tot überlassen!”, lachte Großmutter zynisch auf. Mir lief es kalt den Rücken runter, trotz der Wärme, die im Wagen herrschte. Sie meinten mich. Das war mir sofort klar. “Soll es wieder so kommen, wie in der einen Nacht, als dein dummer Sohn den Fehler beging

sich mir zu widersetzen? Dieser Knecht von Magier dachte tatsächlich, dass er mich besiegen könnte.”, höhnte Ban gehässig. Mir wurde schwindelig. Mein Vater starb also gar nicht durch einen Unfall? Und wieso wollte dieser Kerl mich unbedingt haben? Großmutters Körper bebte gefährlich und man sah, wie sie den letzten Funken an Selbstbeherrschung verlor. “Ziehe niemals den Namen meines Sohns in den Dreck!”, zischte sie, ihre Augen glühten vor Wut. Sie ließ sich in einem Ausfallschritt nach vorne fallen. Auf einmal machten sich die Flammen des Kamins selbstständig und schossen wie Wellen auf den Anführer der Commini zu. Dieser hob nur die Hand und die Feuerwand zerbarst zu einer kleine Kugel. Ban warf die Kugel einmal in die Luft. Dann ein zweites Mal. Der Captain fing an zu lachen, es dröhnte über die ganze Lichtung hinweg und ich

wunderte mich im Nachhinein, wieso keiner der Anderen davon aufgewacht war – Zu diesem Zeitpunkt standen nämlich noch Bans Männer vor unserem Wagen. “Sie weiß es nicht, oder?”, schlussfolgerte Ban und spielte mit den Flammen. Er schaute etwas irritiert drein und ließ seinen lauernden Blick nochmals über mich gleiten. Was weiß ich nicht? Was zur Hölle war hier eigentlich los? Ich fühlte mich immer noch wie ein Stück Vieh, dass zwangsversteigert werden sollte. Ban war der Söldner und Großmutter die Bäuerin. Dann kam wieder das gehässige, aber doch leicht irritierte Lachen von Ban. “Sie weiß es tatsächlich nicht.” Er schüttelte den Kopf, als ob er es nicht glauben könnte, und wandte seinen Blick wieder von mir ab, um weiter mit dem flammenden Ball zu spielen. Schließlich drehte er sich minimal in Richtung der Türe um und gab seinen Leuten ein Zeichen. Eine kleine

Handbewegung, die ein wenig aussah wie das Abschütteln von Wasser. Mir war sofort klar, was er meinte: Schnappt euch die Anderen. Aber darüber durfte ich jetzt nicht nachdenken. Ich musste mich zuerst um mich selbst kümmern. Auch wenn das sehr egozentrisch war. Obwohl Ban seinen Männern das Zeichen gegeben hatte, hatte er Großmutter die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen und hatte nebenher sogar noch mit der kleinen Kugel gespielt. Er warf den Ball nun wieder ein wenig in die Höhe. Dieses Mal schneller als vorher. Man sah seinem Gesicht an, dass er nachdachte. Es schien, als ob er für einen Augenblick nicht bei sich war. Diesen Moment wollte ich ausnutzen, um mich etwas aufzurichten. Das war ein Fehler gewesen. Die Feuerkugel wurde nämlich dummerweise exakt in diesem Augenblick blau und flog mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit auf mich zu. Ich schrie

panisch auf und landete äußerst unsanft wieder auf dem Boden. Ich wusste, Großmutter verheimlichte mir etwas. Und dieses ‘Etwas’ sorgte gerade dafür, dass wir ums Überleben kämpfen mussten. Was war es? Was nur? “Sag es mir.”, flüsterte ich leise und schielte ängstlich auf die blauen Flammen, die fröhlich zuckend vor meiner Nase schwebten. Großmutter drehte sich leicht zu mir, sah den Captain aber immer noch mit wütenden Augen an. “Querìda, du weißt, dass ich dich liebe, aber das geht nicht!” Sie wollte gerade zum nächsten Angriff übergehen, als von draußen Geschrei ertönte. Die Tür flog wie schon beim Eintreffen Bans auf und Julius trat mit wehenden Haaren ein. Er sah den Captain und zischte wütend. “Verschwinde aus meinem Zirkel, Ban, und zwar sofort. Sonst kannst du was erleben!”, kam so in ungefähr zwischen seinen zusammen

gekniffenen Lippen hervor. Der Captain lachte nur laut auf. “Und das sagt mir wer?”, fragte er gehässig. Ban bemerkte Großmutter, die diesen Moment der Unachtsamkeit ausgenutzt hatte und von hinten an ihn herangeschlichen war, zu spät. Sie hatte Wasser in Fäden aus einer Schale gezogen und noch in der selben Bewegung zu einer Klinge gebändigt. Diese drückte sie ihm nun an die Kehle. “Du kannst dich jetzt wehren. Dann stirbst du.”, wisperte sie kalt. “Oder du schnappst dir deine Bande und verschwindest. Dann werde ich dich verschonen... Dieses eine Mal.” Sie machte eine kurze Pause. “Entscheide dich und zwar schnell. Meine Geduld ist nämlich am Ende.” Ich sah, wie sich das breite Grinsen des Captains auf einmal in eine wütende Fratze verwandelte. Großmutter drückte ihm die Klinge noch stärker an die Kehle und Blut floss

aus der entstandenen Wunde. Wasser konnte hart sein wie das stählerne Schwert einer unserer Ritter und mindestens ebenso scharf. Erst recht, wenn man es bändigte. Ban fing an zu röcheln. Ich hatte die ganze Zeit beim Kamin gesessen und dem Schauspiel zugesehen. Nun richtete ich mich auf und sah zwischen Julius, dem Captain und meiner Großmutter hin und her. “Lass ihn gehen.”, sagte ich entschieden. Großmutter sah mich mit versteinertem Blick an. Verwirrung spiegelte sich darin. Julius wollte etwas sagen, aber ich unterbrach ihn. “Weißt du noch, was wir uns einmal geschworen haben?” Ich sah Julius an. “‘Wir werden niemals jemandem mit unserer Magie schaden.’”, zitierte er und schaute betreten auf den Boden. Und was beinhaltet dieser Satz? Genau, das Gegenteil von dem, was wir gerade tun! “Ich weiß, Carina.”, sagte er dann. „Und wieso

willst du dann deine eigene Vereinbarung brechen?“, tadelte ich ihn sanft. “Aber dieses Wesen ist ein Monster.”, versuchte Julius mich erfolglos zu überzeugen. Ban wand sich weiter und Großmutter drückte das Messer nur noch stärker an seine Kehle. “Und er hat deinen Vater auf dem Gewissen”, fügte sie hinzu. Ihre Augen sprühten vor Wut. “Er ist trotzdem ein Mensch. Außerdem verhältst du dich gerade nicht viel besser als er... Als ich mich einmal mit Saphira gestritten habe, hast du mir doch auch erzählt, dass Rache keine Lösung sei.” Ich wusste, dass der damalige Streit absolut kindisch war, gegenüber dem, was hier gerade geschah. Aber etwas Besseres war mir auf die Schnelle einfach nicht eingefallen. „'Besondere Vorfälle fordern besondere Ausnahmen'. Erinnerst du dich noch?“, fragte sie bitter. Ich zog den Kopf ein, gab aber nicht nach. „Das hat dein Vater immer gesagt... Bevor

dieses 'Ding' und sein Herr gedacht haben, sie müssen sich ein neues Spielzeug suchen und sich da dummerweise für dich entschieden hatte.“ Sie spuckte mir die Worte fast schon verächtlich vor die Füße. Trotzdem lockerte sie das Messer um Bans Hals. Die Wunde klaffte dort immer noch. Ein kleiner Wink mit dem Finger und ich hätte sie schließen können. Es wäre kein Problem gewesen und hätte mich nur minimal Kraft gekostet. Aus irgendeinem Grund, sperrte sich mein Geist aber dagegen. Der Gedanke, dass er meinen Vater ermordet hatte, hinterließ einen zerfressenden Schmerz in meiner Brust. “Ruf deine Crew zusammen und sag ihnen sie sollen verschwinden. Falls ihr nochmal bei uns auftaucht, setze ich mich nicht mehr für euch ein.”, sprach ich, von plötzlicher Wut erfasst und hob langsam den Kopf. Meine Augen leuchteten gefährlich auf und mir

brummte der Schädel. Da stand er, der “große Ban“, der Captain, der Anführer der berühmt berüchtigten Commini und zitterte wie ein kleines Kind, dass Angst vor einer Horde großer Jungs hatte. Dieser Mann hatte dafür gesorgt, dass ich meinen Vater viel zu früh verloren hatte. Ich war kurz davor auszurasten und die unbändige Wut in meine Magie fließen zu lassen. Dann konnte weiß Gott was passieren. Als Julius den Weg zur Tür endlich frei machte, war ich erleichtert. Großmutter nahm die Klinge von Bans Kehle und trat einen Schritt zurück. Dieser verharrte noch einen kurzen Augenblick und ich warf ihm einen Blick zu, der hätte töten können. “Hast du mich nicht verstanden?”, fragte ich kalt. “Du. Sollst. Verschwinden. Geh schon. Du bist frei...”, spuckte ich ihm die Worte ins Gesicht. “Vorerst.”, fügte ich noch hinzu, als

Ban sich nochmals umdrehte. “Falls wir uns nochmals irgendwo begegnen sollten, garantiere ich für nichts mehr!” Ich war fast schon überrascht wie schonungslos ich das sagte. Großmutter trat wieder einen Schritt nach vorne und drängte Ban so hinaus. Er warf mir einen letzten eiskalten Blick zu und Großmutter stieß ihn auf die Lichtung. “Jungs,”, brüllte er. Die Commini, die Saphira und Orelia gefasst hatten, sahen ihn verwirrt an. “Lasst die Weiber los. Wir ziehen ab!” Man hört Gemurmel. Verwirrtes Gemurmel, wütendes Wispern. Ich sah sogar die eine oder andere verärgerte Miene. Orelia und Saphira waren ebenso verwirrt. Schließlich stießen die Commini sie weg und liefen zurück zu ihren Pferden, die sie im Schatten der Bäumen platziert gehabt hatten. Orelia und Saphira dagegen landeten im Dreck. Der Mond drehte sich ein Stückchen und beleuchtete den

“Captain”, der sich mit geschlagener Miene zu uns umdrehte. Um seine Mundwinkel zuckte es und Ban setzte noch ein letztes Mal sein teuflisches Grinsen auf. Wir starrten ihn weiterhin einfach nur an. Seine Miene verzog sich und seine Augen blitzten. “Dafür werde ich mich rächen. Das schwöre ich euch.”, zischte er wütend, drehte sich um und ging mit wehendem Mantel in den Wald, seiner Crew hinterher. Julius lief auf Orelia und Saphira zu. “Alles in Ordnung?”, fragte er. Die beiden nickten. “Wo ist Mino?“ “In seinem Wagen.”, krächzte die alte Orelia und zeigte auf ihre Stirn. “Dem haben sie einen saftigen Schlag auf den Kopf verpasst.” Julius zog besorgt eine Augenbraue hoch und rannte zum Wagen des Jongleurs. “Blöde Banditen. Stören mich einfach beim Kartenspielen...”, murrte Orelia weiter. Wäre

ich in diesem Moment bei Verstand gewesen, hätte ich wahrscheinlich gelacht. Saphira, die sich inzwischen aufgerappelt hatte, half der Wahrsagerin hoch. Ich hatte während der ganzen Zeit nur auf der Treppe zu Großmutters und meinem Wagen gestanden und ins Leere gestarrt. Nun verscheuchte ich den Nebel, der sich wie ein Schleier über meine Augen gelegt hatte, und drehte mich langsam zu der Stelle um, wo Großmutter vorher gestanden hatte. Wo war sie? Ich schaute suchend über die Lichtung und wollte gerade einen Suchzauber losschicken, als Julius mit dem von Kopfweh geplagten Mino aus dessen Wagen kam und quer über die Lichtung zu mir schaute. “Sie ist im Wageninneren.”, sagte er. “Geh zu ihr. Ich glaube, sie wird dir alles erklären!” Ich fragte Julius nicht woher er das wusste (er würde sowieso wieder die gleiche Antwort geben: Dass er es eben wusste und ich nicht nach dem ‘warum’ fragen sollte), sondern

nickte dankbar und drehte mich nun vollends um. Dann atmete ich einmal tief ein und betrat den Raum, der in all den Jahren mein Zuhause gewesen war und mir auf einmal so fremd erschien. Sollte meine gesamte Existenz auf einer Lüge aufgebaut worden sein? Das war die Frage, die mich am meisten quälte. Großmutter saß beim Kamin, den sie wieder entzündet hatte und schaute traurig in die Flammen. “Was habe ich nur getan? Was habe ich nur getan.”, murmelte sie und eine Träne rollte über ihre Wange. Ich wollte ihr böse sein, weil sie mir etwas verheimlicht hatte. Aber als ich sie da so sitzen sah, war ich eher erschrocken. Meine sonst so starke, lebensfrohe Großmutter saß zusammengesunken da, den Kopf auf die Hände gestützt. Ich machte einen Schritt auf sie zu. Sie hörte mich wohl nicht. Ich tat einen zweiten

und auch einen dritten Schritt. Schließlich stand ich hinter ihr. Wie von selbst legte sich meine Hand auf ihre Schultern. Sie schreckte hoch und fuhr herum. “Was verheimlichst du mir?”, fragte ich. Meine Stimme klang etwas drohend, obwohl ich ihr einen liebevollen Klang verleihen wollte. Was immer Großmutter getan hatte, sie hatte sicherlich nur das Beste für mich gewollt, oder? Die Bändigerin drehte sich wieder zum Feuer um und ich dachte schon sie wollte gar nicht mit mir reden, als sie auf den Platz neben sich klopfte. “Setz dich.”, sagte sie, ihre Stimme klang nun stabiler als vorhin. Ich nahm Platz und schaute sie erwartungsvoll an, obwohl ich eigentlich nicht wusste, was mich erwartete. Großmutter schaute ins Feuer und ließ wieder Sternschnuppen regnen. Ich schaute sie weiter an und ignorierte das ach so

vertraute Schauspiel. “Was sagt dir der Name Morgana?”, fragte sie mich und schaute immer noch in die Flammen. “Sie war eine der berühmtesten und mächtigsten Magier aller Zeiten. Sie konnte angeblich sogar bestimmen, wer auf den Thron gesetzt wurde und wer nicht.”, flüsterte ich, meine Stimme war plötzlich rau. Großmutter schluckte. “Das ist alles richtig.”, murmelte sie. “Aber eines hast du vergessen...”, sie drehte den Kopf langsam zu mir um und schaute mich traurig lächelnd an. “Was?”, fragte ich. “Was habe ich vergessen?” Ich war neugierig, aber auf der anderen Seite wollte ich es auch nicht wissen, weil ich Angst hatte, dass mein ganzes Weltbild plötzlich zusammenbrach. Und so geschah es dann auch. “Sie ist deine Mutter.” Dieser Satz kam ohne Vorwarnung aus Großmutter heraus. Ich starrte sie mit offenem

Mund an. Das war ein Witz, oder? Großmutter konnte das nur als Scherz gemeint haben. Aber diese schaute mich nur mit ernsten Augen an und wartete auf meine Reaktion. Als keine kam, erzählte sie weiter. “Dein Vater und sie haben sich ein paar Jahre vor deiner Geburt kennen gelernt. Auf Loteron, der heutigen Festung des Königs.” “Was wollte sie da?”, fragte ich, nachdem ich meine Stimme wieder erlangt hatte. Die berühmteste Magierin aller Zeiten, die Frau, die ich wegen ihrer unglaublichen Kräfte immer verehrt hatte ist meine Mutter? Ich blinzelte nur ungläubig. “Deine Mutter war damals für ein paar Monate auf die Burg zurückgekehrt um einen ihrer engsten Vertrauten zu besuchen. Den Hausmagier des alten Königs, Deydros.” “War Vater nicht bei ihm in der Lehre?”, unterbrach ich Großmutter verwirrt. Das Geheimnis, das sie versucht hatte vor mir zu

verbergen, hatte anscheinend doch ein größeres Ausmaß, als ich angenommen hatte und meine Beunruhigung wuchs. “Ja, dein Vater war zu dieser Zeit bei Deydros in der Lehre und auch ich hielt mich auf Loteron auf, weil ich Jupiter begleitet hatte.”, erwiderte sie. “Es kam, wie es kommen musste. Orelia hatte in dieser Zeit häufiger Andeutungen dazu gemacht, allerdings habe ich damals nicht begriffen, was sie mit alldem gemeint hatte...” “Orelia war auch auf der Burg?”, fragte ich überrascht. Großmutter nickte. “Auch Julius und Mino waren zu dieser Zeit dort anwesend.”, erklärte sie doch recht gelassen weiter. Meine Augenbrauen zuckten. “Julius, weil seine Miniaturtrolle nun fertig ausgebildet waren und er sie dem König vorstellen sollte und Mino, weil er zu dieser Zeit noch auf der Burg gelebt hatte. Wie bereits

gesagt, lernte dein Vater Morgana schließlich kennen und war von ihrer Schönheit bezaubert.” Großmutter machte eine kleine Pause. “Er erzählte mir, dass sie die schönste Frau sei, die er jemals zuvor gesehen hatte. Und sie hatte dazu auch noch Köpfchen!” Ich fing an zu lachen, das passte wirklich zu Vater... Großmutter lächelte auch ein wenig. “Dein Vater merkte schnell, dass Morgana vor allen Dingen von Männern beeindruckt war, die ihre Arbeit gut verrichteten und auch mit Magie gut und sinnvoll umgehen konnten. Dein Vater arbeitete in diesen Monaten sehr viel und erreichte so auch eine ganze Menge. Da Morgana sich sowieso die meiste Zeit bei Deydros aufhielt, war es für ihn leichter sie zu beeindrucken. Sie respektierte seine Arbeit und schaute ihm oft dabei über die Schulter. Er nahm Tipps und Kniffe von ihr freudig entgegen und lernte schnell. Morgana begann sich schließlich immer mehr für ihn zu

interessieren. Doch bald darauf musste sie die Festung wieder verlassen und dein Vater sah sie für die nächsten beiden Jahre nicht wieder.” Ich sah sie aufmerksam an. “Morgana war noch jung, sie wollte reisen, viel reisen und auch dein Vater hatte ähnliche Gedanken, nachdem er seine Lehre bei Deydros abgeschlossen hatte. Er war nun ein fabelhafter Zauberer und gut aussehend noch dazu! Sowohl Morgana als auch Jupiter zog es auf die Insel Yéremija, die Drachen beherbergte.” Meine Augen fingen an zu leuchten. “Die Insel gibt es heute noch. Sie gehörte einmal zu diesem Reich, wurde dann aber ausgestoßen, weil die Bewohner andere Magie praktizierten, als wir. Die Insel liegt nordwestlich vom Festland, etwa 40 Meilen vor der Walfisch-Küste.” “Hast du mir nicht einmal gesagt, dass dahinter nichts als Nebel ist?”, fragte ich, inzwischen hatte ich es mir inzwischen gemütlich gemacht. Meine Vergangenheit war anscheinend

interessanter, als ich erwartet hatte. “Du hast Recht, Querìda. Die Magier Yéremijas produzieren diesen Nebel, weil sie sich vom Festland abschotten wollten, um mögliche Angriffe zu vermeiden. Das alles ist aber schon mehrere Jahrhunderte her. Deswegen geriet die Insel auch immer mehr in Vergessenheit. Morgana und dein Vater nahmen unabhängig von einander Kontakt zu einem Inselbewohner auf, den sie beide kannten und der brachte sie nach Yéremija. Sie waren beide sehr überrascht, als sie sie sich wiedertrafen und dann erfuhren, dass sie sogar den selben Kontaktmann gehabt hatten. Beide entschieden sich, vorübergehend auf der Insel zu bleiben. Sie erforschten die dort praktizierte Magie und verliebten sich. Diese Liebe stand jedoch unter keinem guten Stern. Sie war eine Adlige von höchstem Rang und er war nur ein kleiner, wenn auch begabter Zauberer.” Ich runzelte die Stirn. Ich wusste ja, wie das

ganze schlussendlich ausging. Die verschwand und er wurde umgebracht. Aber dass es so eine klischeehafte Liebesgeschichte gewesen war, die meine Eltern verbunden hatte, hatte ich wirklich nicht geahnt. Großmutter strich mir über den Arm, fachte das Feuer wieder hoch und machte uns Tee. “Wie ging es weiter?”, drängte ich. Großmutter gab mir eine der gefüllten Teetassen und setzte sich wieder neben mich. “Sie hielten trotzdem an ihrer Liebe fest, wenn sie auch geheim war. Schließlich wurde Morgana schwanger und du kamst auf die Welt. Das sorgte für große Probleme.” “Wieso?”, fragte ich verwirrt. “War ich als Baby so unerträglich?” “Nein, nein!”, lachte Großmutter. “Du warst ein wahrhaft bezauberndes Mädchen. Das bist du ja immer noch! Nein, aber wenn herausgekommen wäre, dass dein Vater und Morgana ein Kind gehabt hätten, hätten sie dich

töten lassen!” “Was?”, fragte ich entsetzt. “Wieso?” “Zur selben Zeit prophezeite eine der angesehensten, magischen Priesterinnen des Reiches, dass ein Kind geboren werden würde. Im dritten Monat, im Jahr des goldenen Mondes.” Das traf auf mich zu. Was stimmte nicht mit mir? “Dieser Teil der Prophezeiung wurde für Außenstehende nie bekannt. Den anderen Teil wirst du aber kennen. ‘Ein Mädchen wird geboren sein. Tochter eines Gewöhnlichen und einer Magierin des magischen Dreiecks.’” Großmutter holte tief Luft. “Morgana war so eine Magierin. Mit ihr auch noch Anaxandra, die heute Herrscherin über die Eisfälle und die Gletscher im südlichen Teil des Festlands ist und Yasmina, Herrscherin und Hohepriesterin von Zhyphiron, der Insel der Priesterinnen, die südwestlich vom Festland

liegt, gut versteckt zwischen Nebelschwaden und Wellen. Morgana wäre heute wahrscheinlich die Herrscherin von Yéremija.” Erneut macht sie eine Pause. “Die Prophezeiung besagt weiter, dass dieses Mädchen die Kraft haben würde, die Zukunft zu sehen und eine neue Ordnung schaffen würde. Es wurde auch prophezeit, dass es Krieg geben wird und das nur dieses Mädchen ihn beenden kann.” “Weil sie die Gabe besitzt.”, führte ich den Satz erschrocken flüsternd zu Ende. “Dies wurde vor über hundert Jahren schon einmal prophezeit. Auf Yéremija. Sie wussten, dass es das Mädchen eines Tages geben wird. Sie wussten es vor allen anderen.” Großmutter verstummte. “Soll ich weiter erzählen oder willst du das Ende lieber nicht hören?”, fragte sie nach einer Weile leise. “Erzähl weiter!”, forderte ich sie beunruhigt

auf. “Nun gut, dann zurück zu dir.”, fuhr Großmutter fort. “Deine Eltern und du lebten ein Jahr lang gut versteckt in den Bergen, doch dann wurden sie entdeckt. Morgana musste sofort fliehen, um deine Sicherheit und die deines Vaters zu gewähren. Denn sie wussten beide, dass du das Mädchen bist, dass in der Prophezeiung der Priesterin und in der Yéremijas gemeint war.” Meine Augen wurden groß. Großmutter schaute mich mit glühenden Augen an. “Carina.”, sagte sie monoton. “Du bist die Seherin. Auf dich wartet ein Großteil des Volkes seit mehr als einem Jahrhundert!” Ich versteifte mich. Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. “Ich beherrsche doch nur ein paar kleine magische Tricks. Und damit soll ich das Reich vor einem Krieg bewahren?” Panisch schaute ich mich um. Dann fiel mir

noch etwas viel Schlimmeres ein. „Oder soll ich vielleicht sogar eine Schlacht anzetteln? Ohneinohneinohneinohnein...“ Ich schüttelte wie wild den Kopf, das konnte wirklich nicht ihr Ernst sein. “Du denkst schon wieder zu weit, Kleines. Jede Magie und auch jede Kunst muss sich erst entfalten, Querìda. Das weißt du doch.” Ich nickte stumm, immer noch erstarrt. “Es ist so, Carina. Die Seherin beherrscht zwei Bereiche der Magie und noch eine weitere Kunst.”, erklärte Großmutter. Ich schaute weiterhin in das flackernde Feuer des Kamins. Das gab mir Sicherheit. Etwas, das sich nicht innerhalb der letzten Minuten verändert hatte. “Fahr bitte fort.”, wisperte ich leise und Großmutter erzählte weiter. “Diese drei Bereiche sind erstens, die Kunst des Elementbändigens.” Ich schnaubte belustigt. Genau, ich und Elementbändigen. Ich konnte doch noch nicht

einmal richtig schwimmen! Und wenn es um das Anzünden des Kamins ging, verbrannte ich mir regelmäßig meine Finger. “Ich kann verstehen, dass du das nicht glaubst, Carina.”, fuhr Großmutter fort. “Das kann auch daran liegen, dass das bevorzugte Element deines Vaters und auch deiner Mutter ‘Luft’ war.” Mein Blick glitt langsam zu ihr. Glauben konnte ich das Ganze immer noch nicht so wirklich. “Und der zweite und dritte Bereich?”, fragte ich vorsichtig. Großmutter lächelte. “Den zweiten Bereich beherrscht du schon recht gut. Die Magie an sich. Das bedeutet, dass du ein paar magische Tricks beherrschst. Zum Beispiel etwas herbeizaubern oder eine Suchformel beherrschen. Der dritte Bereich, und das ist für dich vermutlich der schwerste, ist die Kampfkunst. Jeder hat seine eigene Taktik und findet irgendwie und irgendwann

eine Waffe, die perfekt zu ihm passt.” Kampfkunst? Ich sollte also mit einem Dolch oder einem Schwert kämpfen? Ich, die sich schon an normalen Stricknadeln übel verletzte? Das konnte alles nur ein Scherz sein.

Geständnisse

Der Sonnenaufgang war wunderschön. Rote, orangene und violette Farbstreifen glitten am Horizont entlang. Es sah einfach magisch aus. Weniger magisch war allerdings die Tatsache, dass sich über Nacht meine Welt komplett auf den Kopf gestellt hatte. Nun stand ich hier, mit einem Becher Hagebutten-Tee und lehnte mich müde an den Türrahmen. Meine Haare waren zerzaust und meine Augen geschwollen. Nachdem Großmutter in dieser Nacht mit ihren Erzählungen geendet hatte, war ich erst einmal geschockt gewesen, dann überrascht und schließlich hatte ich angefangen zu lachen. Ein verzweifeltes, verletztes Lachen, weil ich so lange belogen worden war. Ein geschocktes, fast irres Lachen, weil mir eine so große Aufgabe bevorstand und ich Angst hatte. Große Angst. Der Laut war wohl entsetzlich gewesen, denn

Großmutter, die die ganze Zeit nur still dagesessen hatte, war heftigst zusammen gezuckt. Sie war aber am Kamin sitzen geblieben, hatte ihre Knie zwischen die Arme gezogen und sich sanft hin und her gewogen. Dabei hatte sie das Feuer, das sich blutrot verfärbt hatte, aufmerksam beobachtet. Mich hatte sie keines Blickes gewürdigt. Endlich hatte ich dann das getan, was ich eigentlich schon den gesamten Abend hatte tun wollen: Ich hatte mich auf dem Boden zusammen gekauert und angefangen zu weinen. Großmutter war weiterhin nur dagesessen und hatte in die Flammen gestarrt. Mein Schluchzen war durch den Wohnwagen gehallt und die Tränen eine nach der Anderen auf den Holzboden geplatscht. Großmutter hatte sich immer noch ausschließlich für das züngelnde Feuer interessiert. Ich hatte doch nur gewollt, dass sie zu mir kam, mich in den Arm nahm und mir

beschwichtigend sagte, dass alles nur ein böser Traum gewesen wäre und wir morgen weiter in Richtung Stadt fahren würden. In diesem Moment hatte ich mir so sehr gewünscht, dass mein Vater nicht tot und meine Mutter irgendeine Magd gewesen wäre. Dann wäre mein Leben normal! Ich würde mit ihnen auf einem Bauernhof leben, ein Pferd haben und Schweine füttern. Und im Sommer hätte ich die Kühe auf die Weide gebracht und abends wieder nach hause getrieben. Das war meine Traumwelt, mein Paralleluniversum. Die Realität hier sah leider ganz anders aus. Ich war vor Trauer und Selbstmitleid praktisch ertrunken. Endlich war Großmutter aufgestanden, hatte die Flammen mit größter Ruhe zur Glut zurück glimmen lassen, mich heulendes Elend vom Boden aufgehoben und kurz und sanft an sich gedrückt. “Schhh...”, hatte sie nur gemurmelt, während

sie mich zu meinem Bett getragen hatte, weil ich vor lauter Weinkrämpfen nicht hatte laufen können. Wieso, war es mir immer wieder durch den Kopf geschossen. Wieso ausgerechnet meine Eltern? Wieso ausgerechnet ich? Die Dunkelheit, die in meinem Zimmer an den Wänden geklebt hatte, hatte mich innerlich fast zerfressen. Ich war in noch tiefere Verzweiflung gestürzt, weil mir durch die Leere, die in meinem Zimmer geherrscht hatte, noch mehr bewusst geworden war, wie alleine ich eigentlich war. Eine Mutter, die verschwunden und höchstwahrscheinlich tot war. Ein Vater, der oben im Himmel weilte und eine Großmutter, die mich mein ganzes Leben lang belogen hatte. Irgendwann war ich dann eingeschlafen. Ein traumloser, totengleicher Schlaf war über mich gekommen und ich war im Nachhinein froh, der Realität für eine kleine Weile entflohen gewesen zu

sein. Die violetten Streifen am Himmel waren verschwunden. Auch die anderen Farben verblassten langsam und wurden von einem strahlenden Blau ersetzt. „Heute wird wohl ein schöner Tag werden.“, dachte ich resigniert. Konnte es nicht einfach einmal regnen wenn ich traurig und sauer war? Dann würde das Wetter wenigstens zu meiner Laune passen und ich könnte mich einfach abschotten und in meinem Bett verkriechen... Ich nahm noch einen Schluck Tee und schaute weiter über die Lichtung. Morgen oder vielleicht übermorgen würde ich abreisen, das hatte ich heute beim Aufstehen beschlossen... “Wie geht es dir?”, hörte ich eine sanfte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Großmutter stand da, mit einer Decke um den Schultern, zerzaustem Haar und roten Augen. Sie sah unendlich müde aus und ich musste

mich bemühen, kein Mitleid mit ihr zu bekommen. “Was glaubst du denn? Meine Zukunft steht fest und ich weiß noch nicht einmal ob ich bei dem, was auf mich zu kommt, überleben werde...”, sagte ich so zynisch wie möglich. Großmutter schaute mich weiterhin ruhig an. Ihre Augen fixierten dabei meinen Blick. “Es tut mir Leid, Carina. Wirklich.”, sprach sie, als ich es schließlich geschafft hatte, mich aus ihrem Bann zu befreien. Ich drehte mich von ihr weg und schaute in den Himmel. Mir lief plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken und ich zog die mitgebrachte Decke noch enger um die Schultern. Großmutter war ein paar Schritte auf mich zugegangen und legte mir nun sanft die Hand auf die rechte Schulter. “Ich wollte dich einfach nur beschützen, Liebes.”, versuchte sie weiter zu erklären. Ich schnaubte belustigt. Beschützen. Genau.

“Du hättest mich beschützen können!”, flüsterte ich heiser. Eine Träne rollte über meine Wange. Wütend wischte ich sie weg. “Hättest du mir von Anfang an alles erzählt, hätten wir uns verstecken können.” Großmutter seufzte leise und rieb sanft meine Schulter. “Glaubst du wirklich, dass du dich versteckt hättest, Querìda? Ich weiß wie es ist, wenn an einem das Schuldgefühl nagt. Du wärst gegangen und hättest dich deinem Schicksal gestellt. Und möglicherweise wärst du sogar gestorben.” Ich senkte meinen Kopf. “Das glaub ich nicht.”, brummte ich, obwohl mir bewusst war, dass sie Recht hatte. “Natürlich, Liebes. Du übernimmst doch immer die Verantwortung... Für alles. Und das hättest du auch für die Menschen da draußen getan... Nicht das etwas dagegen spricht. Aber du warst damals doch noch so jung. Ich konnte es dir

einfach nicht erzählen. Wahrscheinlich hättest du gar nicht aufbrechen können, weil du an der Wahrheit zerbrochen wärst!”, führte sie mir weiterhin vor Augen. Ich wusste, dass es wahr war. Natürlich hätte ich das nicht verkraftet. Wenn ich jetzt schon solche Probleme damit hatte es zu verstehen, wäre es vor drei oder vier Jahren sicherlich nicht anders gewesen. “Ich weiß es doch.”, krächzte ich und eine weitere Träne rollte über meine Wange. Ich kniff meine Augen zusammen, um zu vermeiden, dass ich nun richtig anfing zu weinen. Es funktionierte nicht. “Ich bin einfach nur verletzt. Ich fühle mich von allen betrogen und verraten. Ich habe das Gefühl das mein ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut ist.” Ich versuchte zu Lachen, doch es hörte sich eher wie ein Schluchzen an. “Es stimmt ja auch. Ich meine, wer erwartet schon, dass seine Mutter eine Magierin des magische Dreiecks

ist?” “Ist bei euch alles in Ordnung?”, hörte ich plötzlich eine krächzende Stimme neben mir. Ich drehte mich weg und versuchte die Spuren, die die Tränen hinterlassen hatten zu beseitigen. “Ist schon gut Orelia. Carina und ich unterhalten uns bloß ein wenig.”, erwiderte Großmutter in einem Tonfall, der wahrscheinlich sagen sollte, dass sie verschwinden solle. Ich hörte wie sie wieder wegging. Sie murmelte noch so Einiges vor sich hin. In der Zwischenzeit hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. „Wieso ich?“ Ich sah sie starr an. „Wieso die Prophezeiung, wieso überhaupt Krieg – Wieso ich?“ „Das sind ziemlich viele Fragen auf einmal.“ Ich hatte das dringende Gefühl, dass sie versuchte mir auszuweichen. Ich hatte es zuvor

mit weinen versucht und mit flehen, ich hatte keine Lust mehr darauf. Erschöpft sah ich sie also an. „Großmutter, bitte. Ich, ich kann nicht mehr. – Wieso das alles?“ “Komm mit rein, Kleines.”, sprach diese nun zu mir. Sie legte ihre Hand an meinen Arm und zog mich mit in den Wagen hinein. Ich ließ es widerstandslos zu. Sie hatte gewonnen. Drinnen angekommen drückte Großmutter mich auf den Teppich holte mir einige Kissen und sorgte dafür, dass ich mich hinlegte. Sie legte die Decke über mich und feuert den Kamin an. Dann schloss sie die Wagentür. Der Kamin schlug schnell hohe Flammen, was wohl auch dem Einwirken von Großmutters Feuermagie zu verdanken war. Großmutter holte das Brot, das sie am vorigen Tag gebacken hatte aus dem Schrank und schnitt einige Scheiben davon ab. Ich lag weiterhin nur auf dem Teppich,

beobachtete das Feuer und schaute hin und wieder aus dem Fenster. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Der Geruch von frischem Früchte-Tee stieg mir in die Nase. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Großmutter mit einer Kanne und einigen Beeren und Früchten an den Kamin gegangen war und angefangen hatte zu Kochen. Sie hängte den Teekessel über dem Kamin ein und senkte die Flammen ein wenig ab. Danach lief sie zurück zum Schrank, holte Marmelade, Butter, zwei Teller und noch eine Tasse für sich aus dem Schrank. Ich hatte ja schon eine. Das alles stellte sie auf den Boden, neben mich. Sie ging nun in ihr Zimmer holte sich auch eine Decke und nahm auf dem Weg den dampfenden Teekessel vom Feuer herunter. Großmutter drückte mir eine Tasse in die Hand und schenkte Tee ein. Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich eigentlich fror. Meine Finger prickelten merkwürdig, als sie mit der warmen

Tasse in Berührung kamen. “Iss.”, sagte Großmutter, nahm eine Scheibe Brot, strich Butter darauf und noch einen Hauch von Marmelade. Vorsichtig setzte ich die Tasse auf den Boden, griff nach dem Brot und biss hinein. Dann schloss ich die Augen. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Oh ja, ich hatte Hunger, großen Hunger! Großmutter, die mich die ganze Zeit beobachtet hatte, lachte nur leise. Ich wollte mich nicht mit Großmutter vertragen, nach all dem, was sie mir verschwiegen hatte. Aber ich war dummerweise noch nie ein Mensch gewesen, der nachtragend war. Ich weiß nicht mehr genau wann es war. Mit einem Becher Tee in der Hand begann sie dann zu erzählen. Ich wusste nicht, dass die Historie dieses Konfliktes so weit zurückreichte. Im Grunde hatte alles wohl vor mehreren

hundert Jahren mit der Schlacht von Kum – einer Stadt in den heute von Königin Yasmina regierten Eisfällen – begonnen. Die Ursache dieser Schlacht waren die anschwellenden Konflikte zwischen der Oberschicht des Reiches Loteron und dessen Mittel- und Unterschicht gewesen. Von den Magiern und magischen Geschöpfen wurde verlangt, dass sie sich für eine der beiden Seiten entschieden, auch in den umliegenden Kolonien – der Kompereor-Region, Zhyphiron, Yéremija und den Eisfällen. Sowohl der König, als auch das Volk gingen stark davon aus, dass man sich jeweils ihnen anschließen würde, jedoch beschlossen alle Regionen unabhängig voneinander, neutral zu bleiben, um die Situation nicht noch weiter anzuheizen. Sowohl der damals regierende König als auch das Volk bezichtigten die Magiergilden des Verrates, weshalb es im gesamten Reich zu

Hinrichtungen kam. Letzten Endes hatten sich die Menschen dann allerdings doch gegen die Oberschicht erhoben. Wie von den Magiern befürchtet, kam es zu einem unglaublichen Gemetzel und unzählbar vielen Toten. Am Ende gewannen die Armeen des Königs. Dieser verfiel nun in Größenwahn, er wollte die Kolonien wieder vollständig unterjochen und unternahm Dementsprechendes. Kompereor kapitulierte recht schnell. Die anderen drei Inseln schotteten sich vollständig ab. „Auch wenn es allem Anschein nach nur eine Legende ist. Man sagt bis heute, dass das magische Dreieck nur entstand, um das Gleichgewicht wieder einzustellen. Dafür wurden im gesamten Reich kostbare Reliquien verteilt, sechs an der Zahl. Zwei bilden immer ein Paar, sie gehören untrennbar zusammen. Wer alle sechs Reliquien zusammenführt, erhält

eine magische Macht von unvorstellbarem Ausmaß.“ Großmutter lächelte mich leise an. Ich schaute ungläubig. „Aber wie gesagt.“ Sie ging zu mir und nahm mir meinen Becher Tee aus der Hand. Nachdem sie ihn auf die Theke gestellt hatte, sah sie mich an. „Es ist dieses Mal wirklich nur eine Legende.“ Ich erinnerte mich nur noch daran, dass ich in mein Zimmer gegangen war und mich hingelegt hatte. Ich war so erschöpft gewesen, dass ich überraschend schnell eingeschlafen war. Ich hatte wieder einen dieser eigenartigen Träume. Der erste seit fast einem Jahr. Dieses Mal war es so, dass ich irgendwo im Grünen saß. Viele Bäume und Büsche waren um mich herum, die Sonne schien. Ich fühlte mich wohl und war entspannt. Die Blumen vor mir waren

so wunderschön, dass ich mir unbedingt einen Kranz aus ihnen flechten wollte. Ich stand auf, pflückte einige von ihnen und schaute mich ein wenig um. Dort, am Horizont, sah ich eine Burg, die ein paar Meilen entfernt war und auf deren Turmspitze eine wunderschöne goldene Flagge thronte, mit einem verschlungenen Symbol aus roter Farbe darauf. Ich fing an die Blumen, die ich gesammelt hatte ineinander zu flechten. Immer so, dass keine Farbe neben der Anderen war. Schön sah es aus. Plötzlich flogen eigenartige Vögel über mich hinweg. Riesengroß und Schuppig... Ich konnte es kaum glauben: Es waren Drachen! Über der Burg drehten sie ab und es fing an Geschosse zu Regnen. Pfeile wurden abgeschossen und Feuer direkt hinterher. Geschockt starrte ich ihnen hinterher. Lieber Himmel, ich war in einen Angriff geraten! Ich richtete mich schlagartig auf und versuchte panisch

aufzustehen. Inzwischen waren die Drachen wieder an der Wiese angelangt, auf der ich irritiert das Schauspiel beobachtete. Hoffentlich würden sie über mich hinwegfliegen. Bitte... Aber es kam anders. Wieder regnete es Pfeile. Doch diese steckten um mich herum alles in Brand. Entsetzt drehte ich mich im Kreis. Einen Ausgang, ich suchte einen Ausgang aus dieser Feuerwand. “Komm zu mir”, hörte ich plötzlich eine seidene Stimme hinter mir. Ich fuhr herum. Eine Dame schwebte dort ein Stückchen über dem Boden und hielt mir die Hand hin. “Komm.”, hörte ich die Stimme wieder, doch die Lippen der Dame bewegten sich nicht. Ich wurde fast magisch von ihr angezogen. Ich wollte sie unbedingt berühren. Sie war so wunderschön. Lange Schwarze Haare, die ihr mindestens bis zur Hüfte reichten und in wallenden Locken über ihre Schultern flossen.

Ein geradezu himmlisches blaues Kleid, dass sich eng an ihren Körper schmiegte und sich schließlich in einem weiten Rock um ihre Füße bauschte. “Komm zu mir, Kleines.”, hörte ich die Stimme ein drittes Mal. Dieses Mal gehorchte ich. Zwei Schritte und schon stand ich vor ihr. Sie berührte mich nur kurz an der Stirn. Eine Berührung, die mir Energie durch den Körper schoss und dafür sorgte, dass sich alles plötzlich so leicht anfühlte. Was war das nur? Bevor ich es herausfinden konnte, wurde alles weiß und ich schoss erschrocken aus meinem Bett hoch. War das wieder eine Vision? Oder nur ein alberner Traum? Es hatte sich doch alles so real angefühlt! Ich stand auf und musste mich erst einmal orientieren. Verwirrt rieb ich mir die Augen und schlurfte nach draußen. Dort saßen Julius, Mino, Orelia, Delira und Großmutter beim

Essen. “Na. Auch endlich aufgewacht?”, begrüßte mich Mino mit breitem Lächeln. Großmutter, die mit dem Rücken zu mir saß, drehte sich um. Ich lächelte schlapp in die Runde. “Ist irgendetwas passiert?”, fragte Großmutter sofort besorgt. Sollte ich es ihr erzählen? Sie macht sich doch sowieso schon Sorgen um mich... Wenn ich jetzt noch mit diesem irrwitzigen Traum anfange, denkt sie wahrscheinlich, dass ich den Verstand verloren habe oder etwas dergleichen... Großmutter schaute mich weiterhin fragend an. Langsam zog sie eine Augenbraue nach oben. “Querìda?”, fragte sie auffordernd. Ich gab mich geschlagen und seufzte tief. Wo sollte ich nur anfangen? “Stell dir vor, du sitzt auf einer riesigen Blumenwiese mit wunderschönen Orchideen...”, begann ich, nachdem ich eine Weile überlegt hatte. Großmutter lächelte.

“Es wird noch interessanter, glaub es mir.” Vielleicht wollte ich sie vorwarnen. Vielleicht wollte ich aber auch nur, dass sie mich daran hinderte weiter zu erzählen. In diesem Moment wusste ich gar nichts mehr. Ich wusste nicht, ob ich mit jemandem reden wollte oder nicht. “Plötzlich fliegen Drachen - die es ja eigentlich gar nicht mehr gibt - über dich hinweg und beschießen eine Burg, die ein paar Meilen weiter liegt. Daraufhin taucht eine Frau in einem langen blauen Kleid auf, mit wunderschönen schwarzen Haaren. Sie berührt dich am Kopf, alles wird strahlend weiß und du wachst auf. Wärst du dann nicht auch etwas desorientiert?”, gab ich zurück. Julius zog eine Augenbraue hoch, Orelia seufzte und Großmutters Gesicht erstarrte. “Was?”, fragte ich verwirrt. “Gibt es noch ein Geheimnis, das ich wissen sollte?” Ich hatte das Gefühl, dass Großmutter mir schon

wieder etwas verheimlichen wollte. Sie zappelte praktisch wie ein Fisch im Netz. “Nein, Querìda. Ich habe dir alles gesagt was ich weiß. Aber dieser ‘Traum’, den du hattest...” Sie räusperte sich und in mir machte sich Unbehagen breit. Großmutter atmete tief ein. “Das war wahrscheinlich eine Vision. Zumindest der Teil mit der bombardierten Burg.” Sie seufzte und schaute zu Boden. Ich hatte also doch recht gehabt. In mir machte sich aber keine Zufriedenheit breit, sondern Nervosität. Was konnte es schon bedeuten, wenn man von einem Angriff träumte? Nichts gutes mit Sicherheit! “Die Frau, die aufgetaucht ist, war vermutlicherweise Morgana. Und das ganze damit eine Art Initiation.”, erklärte Julius leise. „Sie hat ihre Prägung auf dir hinterlassen, Kleines. Ab jetzt können König Marlon und sein Gefolge dich magisch

orten.“ Wie bitte? Ich starrte ihn entgeistert an. Zeit, ich brauchte doch noch mehr Zeit! Ich musste schließlich noch so viel lernen. Vor allen Dingen wenn meine Zukunft so aussah, dass ich irgendwann von brennenden Pfeilen und Drachen bedroht werden würde Panik machte sich in mir breit. “Es tut mir leid, Querìda. Aber wir müssen morgen mit deinem Training anfangen.”, flüsterte Großmutter monoton. Dann hob sie ihren Kopf und durchbohrte mich praktisch mit ihrem Blick. “Du musst so schnell wie möglich abreisen.”

Traum

“Das wird niemals gut gehen...”, hörte ich Mino murmeln, als er Großmutter und mir beim Kampftraining zu sah. Die letzten beiden Tage hatte ich vollständig damit verbracht, meine magischen Fähigkeiten ansatzweise zu verbessern, so gut es eben innerhalb von zwei Tagen möglich war. Jetzt waren körperliche Übungen angesagt. Und auch wenn ich es noch nicht erwähnt hatte: Ich hasste es wirklich. Eigentlich musste ich Mino Recht geben. Der Begriff ‘Kampftraining’ war wahrscheinlich etwas zu hoch gegriffen. Wir hatten Stöcke aufgestellt und ihnen Köpfe aus Stroh gebastelt. Unsere “Krieger” sahen im Großen und Ganzen eher wie Vogelscheuchen, als wie tödliche Kampfmaschinen aus. Großmutter zerlegte eine Strohpuppe nach dem anderen. Ich dagegen fuchtelte nur hilflos mit meinem

Schwert herum und versuchte es Julius, der neben uns stand und mir Anweisungen gab, dabei nicht um die Ohren zu schlagen. “Nein, Carina. Was habe ich dir gerade eben gesagt? Arbeite mehr mit den Beinen.” Zur Demonstration ließ er sich ohne jegliche Probleme in einen Ausfallschritt fallen, schlug eine Rolle und sah dabei sogar noch elegant aus. Himmel war das peinlich. Meine Frustration hatte bald ihren Zenit erreicht. “Halte das Schwert erst einmal mit beiden Händen fest.” Ich tat wie geheißen. “Genau. Und jetzt machst du einen Ausfallschritt nach vorne.” Der Ausfallschritt kam und ich fiel ausnahmsweise nicht um. “Gut. Halte das Schwert oben, Carina. Auf dem Boden bringt es dir nichts!” Ich schnaubte wütend. Er sagte das so, als sei das alles ein Kinderspiel, er wusste ja nicht, was für Schmerzen ich schon in den Muskeln

hatte! “Jetzt holst du von rechts hinten aus. Das Schwert vom Körper weg und ungefähr auf der Höhe deiner Schultern.” Ich ächzte, führte den Befehl aber aus. “Sehr gut, du hast es gleich geschafft. Jetzt kannst du es machen wie es dir beliebt. Entweder schlägst du dem Grafen von Strohhausen jetzt einhändig den Kopf ab. Mit Rechts. Oder du lässt beide Hände am Schwert und enthauptest eure Lordschaft eben mit beiden Händen. Wie es euch beliebt, Mistress. Die Entscheidung liegt ganz bei euch!” Er machte eine übertrieben tiefe Verbeugung und meine Großmutter, die soeben ihr Training beendet hatte, musste sich ein lautes Lachen verkneifen. Wenn sie sich schon über mich lustig machen wollten, gut. Dann würde ich mitspielen. Ich holte mit der rechten Hand aus und der ‘Kopf’ von Lord Strohpuppe rollte über das Gras.

“Es war mir eine Ehre gegen euch gekämpft zu haben, euer Ehren.”, lächelte ich strahlend und machte einen tiefen Knicks. Das Problem war bloß, dass ich das schwere Schwert vergessen hatte, das ich immer noch in der Hand hielt, und nun unglücklicherweise das Gleichgewicht verlor und seitlich weg kippte. Direkt auf den Kopf der Strohpuppe. Anscheinend sah das ziemlich komisch aus, den Großmutter fing laut an zu lachen, Julius stimmte mit ein und schon hörte man auch Minos tiefen Bariton über die Lichtung klingen. Ich saß nur beleidigt auf dem Gras, zupfte mir das Stroh aus den Haaren und schaute den anderen dabei zu, wie sie vor Lachen sogar anfingen zu weinen! Bravo, ich war doch Seherin und kein Hofnarr, oder? “Komm Schon, Carina. Steh wieder auf!”, rief Julius lachend, lief zu mir hin und streckte mir die Hand hin.

Großmutter und Mino standen immer noch schmunzelnd im Hintergrund. Jetzt spielte er sich auch noch als großartiger Held auf, der das arme Burgfräulein aus der misslichen Lage retten möchte. Na warte. Genervt seufzend griff ich nach Julius Hand. Ohne große Anstrengung zog er mich hoch. Als ob ich nichts wiegen würde. Beleidigt schaute ich ihn an. Er grinste nur frech. Wieso benahm er sich plötzlich so... so arrogant? Ich stand mit verschränktem Armen vor ihm. Dann lächelte ich kurz kalt. “Ich soll hier doch die Kampfkunst erlernen, nicht wahr?”, fragte ich in spitzen Ton und mit verkniffenen Lippen. Julius nickte verwirrt. “Natürlich. Aber Liebes, was willst du mit dieser Frage bezwecken?” In diesem Satz konnte man die Provokation fast schon riechen. Er sollte bloß nicht glauben, dass er mir auf der Nase herumtanzen könnte!

Soweit würde es nicht kommen. Wütend verzog ich mein Gesicht. “Dann sollte ich hier auch daran arbeiten können und nicht zur Belustigung des gesamten Zirkels gemacht werden. Ich darf doch wohl auch einmal Fehler machen, oder etwa nicht?”, rief ich frustriert und stampfte wütend mit einem Fuß auf. Ich spürte nur noch, wie ein wahnsinnig großer Energiestoß aus mir herausschoss und es um mich herum plötzlich anfing zu knistern. Mit einem Mal fegte ein kräftiger Wind durch die Wipfel der Schwarztannen, die um die Lichtung herum standen. Ich konnte es kaum glauben. War ich das gewesen? Das konnte doch nicht sein. Man hörte ein lautes Pfeifen. Der Wind schoss um die Bäume herum und kam auf die Lichtung zurück. Jetzt könnte er mir doch wenigstens noch den Dienst erweisen, die ganzen Strohpuppen

umzuschmeißen. Dann hätten wir die Übungslektionen für heute endlich beenden können. Ich war so unglaublich wütend. Und tatsächlich. Es schien so als hätte der Wind meinen Befehl wirklich gehört. Er drehte scharf ab und fegte auf unser Übungsfeld zu. Es krachte fürchterlich und einige der Strohpuppen und Waffen wurden ohne größere Mühe einfach umgeweht. Eben hatten alle noch gelacht, mit einem Mal waren sie aber wie versteinert. Großmutter und Mino starrten mich paralysiert an und auch Julius war definitiv erschrocken. Aus meiner kalten Wut war Entsetzen geworden. Mein Blick wanderte über das restlos zerstörte Feld. Geschockt starrte ich auf das Chaos, dann wanderte mein Blick zu Großmutter und Mino. Nein. Das konnte nicht sein. Das sollte doch nur Spaß sein. Es war doch nicht mit Absicht gewesen. “War ich das?”, flüsterte ich panisch. Vor meine

Augen flackerte es merkwürdig und ich musste zwinkern, damit es wieder verschwand. Vielleicht war ich es ja auch gar nicht gewesen. Ein Blick in die Runde bewies mir aber das genaue Gegenteil. Ich wurde immer noch angestarrt, teils ängstlich, teils fasziniert. Ich habe die ganze Verwüstung hier angerichtet. Ich war daran Schuld, dass alle plötzlich so verstört waren. Himmel hilf, was hatte ich getan? Wieso war ich nur so ausgerastet? Ich blickte Julius verwirrt an und fing mit einem Mal an unkontrolliert zu zittern. “D-d-das wollte ich nicht.”, krächzte ich, entsetzt über meinen Wutausbruch. Ich wäre am liebsten sofort los gerannt, hinein in den Wagen und hätte mich verkrochen. Aber es ging nicht. Meine Beine wollten nicht loslaufen und meine Panik wuchs. Wieso konnte ich mich nicht mehr bewegen? Julius löste sich langsam aus seiner Starre, kam in gemäßigtem Tempo auf mich zu und legte mir

mit größter Vorsicht die Hände auf die Schultern. Er hatte tatsächlich Angst vor mir. Sein Blick traf meinen. Ruhiger werdende Augen sahen in panische Augen. Dann fing er an meine Muskeln mit leichtem Druck zu massieren. “Ganz ruhig. Alles ist in Ordnung.”, flüsterte er. “Entspann dich. Es ist nichts passiert...” Ich versuchte meine verkrampften Muskeln zu lösen und bewegte meine Finger vorsichtig. Nichts passierte. Kein Baum krachte ein und es flogen auch keine Gegenstände durch die Luft. Ich merkte wie mir das Blut wieder in die Hände schoss und mit ihm auch die Energie zurück kam. “Unterdrücke es! Du wirst dich nicht noch einmal so beherrschen lassen”, war mein erster Gedanke und ich drängte die Energie mit all meiner Kraft zurück. Ich würde nicht noch einmal die Kontrolle verlieren. “Gut.”, sprach Julius, so als hätte er bemerkt,

was gerade in mir vorgegangen war (vielleicht hatte er es ja auch bemerkt, wer wusste das schon) und nahm nun im Gegenzug seine Hände von meinen Schultern. Langsam ließ ich die Schultern kreisen und mein Körper entspannte sich nach und nach. “Atme tief durch.”, hörte ich jemanden hinter mir leise sagen. Ich fuhr erschrocken zusammen. Ich hatte die anderen ganz vergessen. “Schhh... ganz ruhig. Es ist nur deine Großmutter.”, sprach Julius und sah mir wieder beruhigend in die Augen. Ich konnte es kaum glauben. Seit wann war ich denn so schreckhaft geworden? Julius nahm mich wieder sanft am Arm und mein Blick schoss hoch in sein Gesicht. “Tief ein und ausatmen. Beruhige deine Herzschläge. Dann wird es besser.”, lautete seine Antwort auf mein ängstliches Starren. Ich versuchte kontrolliert zu atmen und schaute

Julius weiter an. Ich versuchte mir einzureden, dass alles in bester Ordnung war. Niemand war verletzt worden und ich war auch nicht groß beeinträchtigt worden. Aber das mit dem beruhigen funktionierte nicht so ganz. Mein Puls raste immer noch frenetisch und auch mein Körper zitterte immer noch unkontrolliert. “Niemand ist zu Schaden gekommen...”, versuchte ich mich weiter zu beruhigen. Ich hatte die Kontrolle verloren und nebenbei die gesamte Lichtung verwüstet. Sonst war ja nicht viel passiert. Ach doch, stimmt ja: Meine Familie hatte jetzt Angst vor mir. “Es ist schon in Ordnung.”, krächzte ich in dem Versuch die anderen zu beruhigen und mich wieder in den Griff zu bekommen. Mit einem Mal waren alle meine Glieder schwer und ich hatte das Gefühl, als wäre schon mitten in der Nacht. Wieso war ich plötzlich nur so müde? Ich wollte mich

umdrehen um meiner Großmutter zu sagen, dass es mir gut ginge, taumelte aber bloß ein paar Schritte im Kreis. Meine Blickwinkel bekam an den Seiten schwarze verschwommene Ränder und ich kniff die Augen zusammen. Was passierte hier? Wieso drehte sich plötzlich alles in meinem Kopf? Ich wollte noch einige Schritte auf Großmutter zugehen, jetzt nur noch um mich an ihr festzuhalten, doch plötzlich kippte mir der Boden unter den Füßen weg und ich spürte, wie ich mit einem Mal von starken Armen gestützt, fast schon getragen wurde. “Sie ist müde. Das Bändigen muss sie sehr viel Kraft gekostet haben. Und davor auch noch das ganze Training.”, hörte ich Minos raue Stimme ganz nah bei mir. Die Arme umfassten mich etwas stärker und drückten mich sanft an eine breite Brust. Meine Augen waren geschlossen. Es war ungewohnt, plötzlich nichts mehr zu sehen und nur noch

schwer hören zu können. “Keine Angst Querìda,”, hörte ich Großmutter sprechen. “Nichts wird passieren. Du bist einfach nur sehr erschöpft.” Ich hörte plötzlich ein Brummen aus der Brust, an die ich gedrückt wurde. Ein mir sehr wohl bekanntes Brummen. Natürlich, wurde es mir mit einem Mal klar. Es war Mino, der mich da trug. Wenigstens funktionierte mein Verstand noch relativ gut. “Rina?”, hörte ich ihn leise in mein Ohr flüstern. Ich nickte schwach. Was war nur mit mir los? “Ich trage dich jetzt zu unseren Wagen hoch. Du wirst dich hinlegen und ein wenig schlafen, omne ius. [Was so viel heißen sollte wie: Alles ist in Ordnung]” “Mhm.”, war das einzige was ich noch herausbekam. Das mit dem Omne ius nahm ich Mino nicht so ganz ab. Mein ganzer Körper tat weh. Ich spürte meine Muskeln da, wo ich nicht einmal

welche vermutet hatte! Meine Erschöpfung war so groß, dass es schon fast lächerlich war. Ich konnte mir das Bild exzellent vorstellen. Ich hing wahrscheinlich halb tot in Minos Armen. Langsam wurde ich hoch gehoben. Es wackelte ein wenig und ich hatte das Gefühl als wären wir wieder auf der Fähre, die uns damals über den Hjojai-See, zurück auf das Festland gebracht hatte. Das Gefühl im Kopf war ganz genau das gleiche. Gleichmäßiges Schaukeln, hin und zurück. Bei dem Gedanken an den Wellengang von damals wurde mir schon schlecht. “Beeil dich!”, hörte ich Großmutter noch rufen. “Wieso?”, fragte Mino. “Sie ist schon ganz weiß im Gesicht und ich glaube sie verliert gleich das Bewusstsein.”, fuhr sie mit besorgter Stimme fort Was für eine Ironie, dass das Vorausgesagte im selben Augenblick eintrat. Um mich herum wurde alles schwarz und plötzlich war ich weg.

Nun ja, nicht in dem Sinne weg, aber an einem anderen Ort. Ich saß wieder auf einer mir allseits bekannten Blumenwiese, nämlich auf der, auf der ich in meiner letzten Vision von Drachen fast umgebracht und in der mir eine wildfremde schwarzhaarige Frau als meine Mutter vorgestellt worden war. Das Interessante war bloß, dass ich dieses Mal nicht allein war. Mir gegenüber saßen zwei Mädchen. Eines mit wunderschönem langem orange-rotem Haar und saphirblauen Augen. Das andere Mädchen sah auch beeindruckend aus. Warme karamellfarbene Augen schauten mir entgegen, ein sanftes Lächeln erschien und ich sah diese unglaublichen schwarzen Haare, die zu zwei komplizierten Zöpfen geflochten waren. Ihre Gewänder waren ebenso beeindruckend. Lang und seidig sahen sie aus, wie perfekt an

die Körper der Mädchen angepasst. In meinen Leinenhosen und dem grobschlächtigen Wollhemd kam ich mir zugleich etwas minderbemittelt vor. Mein Blick wanderte über die Kleider der beiden, zu ihren Köpfen und mein Blick blieb an dem sanft geschwungenen Kopfschmuck der jeweiligen hängen. Die Rothaarige trug ein Diadem. Eine absolut filigrane Arbeit, in Silber gefasste kleine Perlen und Diamanten glänzten auf ihrem Haupt. Die Schwarzhaarige trug dagegen ein rotes Stoffband an der Stirn, ein goldener Halbmond war in der Mitte darauf gestickt worden... Ich musste in diesem Moment ziemlich blöd ausgesehen haben, wie ich da so stand und die Beiden angestarrt hatte. Aber ihre Schönheit war einfach atemberaubend gewesen! Das schwarzhaarige Mädchen erhob sich. Sie hielt immer noch Blickkontakt zu mir und kam langsam auf mich zu. Als sie vor mir stand

breitete sich ein unbeschreibliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie bekam kleine Grübchen. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, an deren Fingern zwei schmale Goldringe steckten. “Ich bin Samira.”, sprach sie mit glockenheller Stimme. “Schön dich endlich kennen zu lernen, Carina.” Perplex starrte ich sie an. Nach dem ich die ganze Zeit in Samiras Augen geschaut hatte, wusste ich nun nicht wohin mit meinem Blick. Ihre Direktheit und die Freundlichkeit, mit der sie mich empfing, überraschten mich. Und vor allen Dingen: Woher kannte sie meinen Namen? Wir waren uns doch noch nie begegnet, oder? “Nein. Du hast Recht. Wie sind uns noch nie begegnet, Carina.”, sagte nun das rothaarige Mädchen. Ich konnte immer noch nichts sagen. Ich war einfach viel zu überrascht. Sie stand nun ebenso auf und kam zu Samira und mir

herüber. “Aber glaub mir. Mit der Zeit wirst du feststellen, dass du uns viel besser kennst, als du jetzt annimmst.”, erklärte sie. Ich nickte nur stumm. Vorsichtig hob das rothaarige Mädchen nun ihrerseits die Hand und strich mir kurz über den Arm, nahm ihre Hand aber direkt wieder weg. Ihre Haut war so weich gewesen, dass es mir schon fast unglaublich erschien, dass das hier nicht einfach nur ein Traum war. “Nein, es ist kein Traum.”, sprach Samira nun. “Wieso könnt ihr hören, was ich denke?”, kam es mit einem Mal aus meinem Mund heraus. “Wieso kennt ihr mich und ich euch nicht?” Das rothaarige Mädchen seufzte auf. Sie sah mich mit abschätzigem Blick an und schüttelte den Kopf. So als würde sie es irritieren, wie jemand nur so wenig wissen konnte. Wie ich zum Beispiel. “Sei nicht so gemein, Fiona! Sie kann nichts

dafür, dass sie noch nichts über uns und die restliche Geschichte weiß!”, rief Samira nun mit erbostem Gesicht auf und schaute das rothaarige Mädchen, Fiona, an. “Entschuldigung. Das war nicht so gemeint.”, nuschelte die darauf hin. Dann holte sie tief Luft. “Ich versuche es dir einmal unkompliziert zu erklären, in Ordnung?”, bot sie mir nun freundlicher an. Ich nickte wieder nur, worauf sie kurz die Augen schloss und ihre Stirn leicht kräuselte, so als ob sie überlegen müsste. “Also gut.”, begann sie. “Du hast sicherlich schon einiges über Morgana, Anaxandra und Yasmina gehört, oder?” Sie zog fragend eine Augenbraue hoch. “Sie sind die Magierinnen des magischen Dreiecks.”, antwortete ich leise und scharrte unruhig mit den Füßen. “Richtig. Dass Morgana deine Mutter ist, weißt du auch schon, nicht wahr?”, fragte sie

schonungslos weiter. Wieder bejahte ich. Dies Mädchen wussten anscheinend mehr über mich als ich selbst... “Nun gut. Anaxandra, Hohepriesterin von Zhyphiron, ist Samiras Mutter, meine ist Yasmina, die Herrscherin über die Eisfälle.” Knapp und auf den Punkt gebracht. Langsam lichtete sich alles ein wenig. Das waren also die Töchter der anderen beiden Magierinnen. “Bis hierhin mitgekommen?”, fragte Fiona eine wenig freundlicher lächelnd Ich nickte vorsichtig. “Gut. Unsere Mütter konnten ihrer Aufgabe, das Land zu beschützen, in den letzten Jahren nicht mehr wirklich nachkommen. Es stand zwar schon vorher nicht gut um Loteron, allerdings wurde es immer schlimmer, nachdem sie aufgehört haben zu tun, was sie eben getan haben. Dank der Reihe immer unfähiger gewordenen Könige, die schließlich in Marlon von Loteron gemündet ist, ist das Reich beinahe

vollständig vor die Hunde gegangen. Davon müsstest du ja auch einiges mitbekommen haben.“ Ich nickte stumm, das hatte bisher nur wenig dazu beigetragen, mit klar zu machen, was ich in diesem ganzen Chaos hier zu suchen hatten. „Und da kommen wir ins Spiel. Glaub mir, Liebes. Du bist nicht die Einzige über die es eine Prophezeiung gab... Unsere Aufgabe wird es sein, alles wieder ins Lot zu bringen und zu vermeiden das das Magische Gleichgewicht komplett aus den Fugen gerät.” Bumm. Das schlug ein wie eine Kanonenkugel. Ich blinzelte einige Male. Hatte ich das gerade ernsthaft richtig verstanden? Mein Gesichtsausdruck wandelte sich vom eben noch eher verunsicherten zu kompletter Beunruhigung. “Wie soll das bitteschön gehen? Wir sind nur drei Kinder” Ich lachte sarkastisch. Lieber Himmel. War dieses Mädchen jetzt von allen guten Geistern verlassen? Ich konnte es kaum

glauben. “Kinder mit besonderen Fähigkeiten. Außerdem müssen wir stark sein, sonst hätte die Obrigkeit nicht versucht uns als Säuglinge umzubringen.”, erklärte nun Samira nicht weniger selbstverständlich als Fiona. “Richtig.”, bekräftigte diese sie. Gingen wir einfach mal davon aus, dass dieser ganze Schwachsinn stimmte: Ich stand also auf einer Liste landesweit gesuchter Leute, die umgebracht werden sollten, zudem war ich hier mit zwei weiteren Mädchen, die zu mir meinten, dass wir unsere Welt vor einer Katastrophe retten müssten – Hatten die sie noch alle? Selbst wenn man tatsächlich davon ausging, dass das alles wahr war: Wieso zur Hölle sollte ich für so etwas bereit sein? “Natürlich bist du soweit.”, schnaubte Fiona belustigt. “Du bist zumindest so weit, dass du die Kontrolle verlieren und Chaos anrichten kannst. Also kannst du auch Verantwortung

übernehmen...“ Das alles erschien mir einfach nur wie ein wirklich schlechter Scherz. Aus welchem Grund war ich nochmal sauer auf Großmutter gewesen? - Stimmt, weil sie mir meine Zukunftsaussichten verschwiegen hatte. Wieso hatte ich mich nur beschwert? Inzwischen wäre es mir lieber, ich hätte nie davon erfahren! Dann würde ich jetzt in aller Ruhe in unserem Wagen sitzen, das Feuer im Kamin genießen und an meinen magischen Tricks arbeiten. Nur leider war das wegen gewisser Umstände nicht möglich. War ich nicht ein armes Schaf? Gefangen in einer Welt voller böser Magier und mit einer Hand voller Kinder, die (dank besonderer Zuwendung ihrer verstorbenen Mütter) die Welt retten mussten. Wo war ich hier nur hineingeraten? Irgendetwas fing plötzlich komisch an mir zu zerren. Ich hörte schemenhafte Stimmen, die mich riefen. Irgend jemand wollte mich wecken.

So fühlte es sich zumindest an. Das Ziehen hörte nicht auf, sondern wurde immer stärker. “Du wirst jetzt gleich wieder aufwachen, Carina.”, sagte nun Samira. Das Ziehen wurde heftiger. “Es wäre am besten, wenn du niemandem von unserer Zusammenkunft erzählst...”, fügte sie noch schnell hinzu. Warum das denn nicht? Nun gut. Ich wollte nicht noch mehr Probleme machen also beschränkte ich mich auf das Wesentliche. “Auch meiner Familie nichts?”, fragte ich verwirrt. “Auch deiner Familie nichts.”, sprach Fiona nachdrücklich. “Je weniger davon erfahren, desto besser. Es sind auch so schon genug.” Ihr Blick glitt zu Samira. Das Bild verschwamm an den Ecken langsam. Ich wurde panisch. Ich wollte doch noch so viel wissen! “Keine Angst. Wir sehen uns wieder.”, versuchte Samira mich nun zu beruhigen. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie

sanft. “Lass sie gehen Samira. Die Anderen machen sich schon Sorgen um sie.”, sagte nun Fiona in einem etwas schärferen Ton, legte Samira ihre Hand auf den Arm und zog sie sacht, aber entschieden von mir weg. Langsam gingen sie in die von mir entgegengesetzte Richtung davon und wurden immer schneller. Schließlich kamen sie zu einem weißen Tunnel, der auf der anderen Seite der Wiese lag. Fiona ging schnurstracks hindurch und war mit einem Mal verschwunden. Samira drehte sich nochmal kurz um und sah mich lächelnd an. “Bis bald.”, waren ihre Abschiedsworte, als sie sich wieder wegdrehte. Sie verschwand. Und ich wachte auf.

Morgen

Als erstes fiel mir auf, dass ich in meinem Bett lag, nicht mehr auf der Wiese, auf der ich vorher ohnmächtig geworden war. Wie lange war ich wohl weggetreten gewesen? Verwirrt und erschöpft blinzelte ich meinen (höchst wahrscheinlich) nächtlichen Besuchern entgegen. „Querìda?“, hörte ich die fragende Stimme meiner Großmutter. „Ihr wisst, dass es Mitten in der Nacht ist, oder?“, stellte ich verdrießlich fest. „Mitten in der Nacht schon, Rina..“, kam Minos Stimme hinzu. „Du hast mir gerade Recht gegeben, Mino“, dachte ich für mich. Was also sollte das Ganze? „Du hast allerdings einen kompletten Tag verschlafen.“, beendete Saphiras sanfte Stimme den Satz und beantwortete damit auch meine

Frage. Es dauerte eine Weile, bis dieser Gedankenzug mein Gehirn erreicht hatte. Aber als er das tat, saß ich mit einem Mal senkrecht im Bett. WIE BITTE?!? „Ernsthaft?“ Saphira, die neben mir auf dem Bett saß - irritierenderweise hatte ich gar nicht bemerkt, dass sie sich dort hingesetzt hatte - nickte vorsichtig. „Solange hatten wir doch gar nicht geredet...“, überlegte ich nun vollends durcheinander. „Mit wem geredet?“, fragte Großmutter, die gerade dabei war, sich an den Fuß meines Bettes zu setzen. Mein Kopf schoss hoch. Hatte ich das gerade eben laut gesagt? Minos interessierter Blick traf auf meinen. Es gab zwei Dinge die ich mir ab sofort merken musste. Erstens: „Habe immer eine gute Ausrede parat, falls du laut denken solltest“ und zweitens musste ich aufpassen,

dass ich nicht mehr laut dachte, dass kam jetzt schon zum wiederholten Mal vor. Falls 'Zweitens' wider Erwarten nicht funktionieren sollte, musste ich auf 'Erstens' zurückgreifen... „Ich... Nun ja,.. ich und ähh...“, fing ich an. Dann kam mir der rettende Einfall. „Vater!“, rief ich. „Ich und Vater!“ „Bist du sicher, dass die Kräuter keine Halluzinationen hervorgerufen haben, Delira?“, fragte Saphira verwirrt. Großmutter schaute unsicher. Oh nein... Jetzt hielten sie mich auch noch für krank... „Das mache ich manchmal.“, versuchte ich zu erklären. „Wenn ich einsam bin oder Vater vermisse...“ Oh je... Mir waren auch schon bessere Ausreden eingefallen. Genau das schien mir Mino jetzt auch vermitteln zu wollen, als er zu mir kam und mich zwinkernd anschaute. „Aha.“, war das Einzige, was er sagte. Dann

beugte er sich vor und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Na egal. Wenn du es nicht erzählen willst, ist auch gut. Du musst wissen was du tust.“, flüsterte er mir ins Ohr und hob seinen wuscheligen Kopf wieder. Er schaute Großmutter an: „Ich gehe mich noch kurz um Julius' Minimoffs kümmern und dann lege ich mich schlafen, ja?“ „Natürlich.“, lächelte Großmutter, dann nickte sie Saphira zu. „Du kannst auch gehen. Ich muss noch kurz eine Kleinigkeit mit Rina besprechen.“ Was aus ihrem Mund soviel hieß, wie: „Raus hier!“ Saphia erhob sich ebenso und strich mir sanft über die Wange. Dann ging auch sie zur Wagentür hinaus. Jetzt kam bestimmt gleich die Vernehmung samt Folter. Ich wand mich, aber es gab keine Ausweg mehr. Sie hatte mich sowieso wahrscheinlich bereits durchschaut. Dann kam auch schon die entscheidende Frage. „Willst du mir etwas erzählen?“, fragte

Großmutter provozierend. Ich ging vorsichtshalber nicht darauf ein. Ich wollte mein Versprechen Samira und Fiona gegenüber auf keinen Fall brechen. Nicht, weil es mir um die beiden Mädchen ging, sondern, wegen der Drohung, dass ich meine Großmutter, Mino und den Rest damit in Gefahr bringen würde.„Habt ihr noch Etwas zu Essen da? Ich habe riesigen Hunger!“ „Also willst du mir meine Frage nicht beantworten. Richtig?“, ignorierte sie mich einfach. Ich seufzte kurz, dann gab ich gab nach. „Ich kann nicht. Je weniger Bescheid wissen, desto besser...“ Großmutter runzelte beunruhigt die Stirn. „Hattest du wieder eine Vision?“, hakte sie nach. „Vielleicht kann ich dir ja helfen!“ Ich konnte das Gefühl von Hilflosigkeit aus diesem Angebot beinahe schon herauslesen. „Ich kann wirklich nicht darüber reden, auch

wenn ich es liebend gerne würde. Aber dann bekommen wir alle nur Probleme!“, versuchte ich ihr mein Verhalten begreiflich zu machen. „Vertraust du mir etwa nicht mehr?!“, fragte Großmutter verletzt. Sie saß immer noch ruhig neben mir, versteifte sich aber zusehends. Ich setzte mich vorsichtig auf. Nach der gestrigen Vorstellung traute ich mir immer noch nicht ganz. „Nein.“, antwortete ich mit einer Gelassenheit, die ich mir selbst gar nicht zugetraut hätte. Dass sie mir so etwas unterstellte tat weh. „Es würde dich und die anderen aber wirklich nur in Schwierigkeiten bringen.“ Ich hasste es, mich wegen Dingen rechtfertigen zu müssen, die ich selbst nicht wirklich verstand. Das kam mir immer so sinnlos vor. „Glaub mir, es ist besser so!“, versuchte ich es dann doch zumindest ein bisschen. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Großmutter hob den gesenkten

Kopf und schaute mich niedergeschlagen an. Dann seufzte sie, setzte an, so als ob sie etwas sagen wollte, ließ es aber schließlich doch bleiben. Stattdessen verzog sie das Gesicht ein wenig nachdenklich, entspannte ihre Miene einen Augenblick danach aber schon wieder. „In knapp vier Stunden geht die Sonne schon wieder auf. Schlaf noch ein wenig. Bei Sonnenaufgang setzen wir unser Training fort!“, befahl sie mit gespielt ernster Miene und erhob sich langsam. Ich salutierte im Gegenzug grinsend. „Natürlich, Commandante!“ Großmutter lachte darauf hin. Es hörte sich fast so an wie früher, als noch alles einfach und normal war. Man sah nur an ihrem Gesichtsausdruck, dass dieses Lachen eher krampfhaft war. Dann beugte sie sich noch ein letztes Mal vor und drückte mir einen Kuss auf die Schläfen. Im nächsten Moment hatte sie den Raum verlassen, um es sich anschließend

vor dem Kamin bequem zu machen. Ich kuschelte mich wieder in meine Decke hinein, glitt weitaus entspannter als vorher in den Schlaf zurück und fing ein weiteres Mal an zu träumen. Ohne jegliche Zwischenereignisse mir Drachen, Kriegen, Prinzessinnen oder gar meiner Mutter. Der nächste Morgen kam viel zu schnell. Lange hatte ich nicht mehr so gut geschlafen, wie in den letzten paar Stunden. Ich bemerkte verschlafen, wie jemand an meinem Bett vorbei kam, kurz stehen blieb um etwas abzustellen und dann zum Fenster ging und die Vorhänge zurückzog. Danach ging der- oder diejenige wieder hinaus, ließ den Vorhang, der meinen Bereich vom Rest des Wagens trennte aber offen. Ich hörte kochendes Wasser über dem Feuer brodeln und vernahm den Geruch von frischem Brot. Einige Sonnenstrahlen tanzten durch das Fenster auf meine Nase.Es fing an

unerträglich zu jucken und ich kratzte mir mit nach wie vor geschlossenen Augen die Nase. Es half alles nichts: Ich nieste lauthals und schoss dabei aus dem Bett hoch. Blinzelnd saß ich nun in meinem Bett und versuchte durch meine dicken, verquollenen Augen etwas von meiner Umwelt zu erkennen, was nicht einfach war, da ich meine Lider kaum auseinander bekam. Ich bemerkte aber, dass die Sonne schon fast aufgegangen war und ich sah auch, dass Großmutter vor dem Kamin werkelte. Sie kniete und rührte etwas in unserem Kessel um, was verdächtig nach ihrem 'Spezial-Kraft-Tee' roch. „Nein...“, stöhnte ich müde und ließ mich zurückfallen. Ich wollte noch nicht aufstehen. Dass ich mich hatte zurückfallen lassen, war ein großer Fehler gewesen. Der erste von mehreren an diesem Morgen. Ich hörte ein Platschen und wie irgend ein Gegenstand

scheppernd auf den Boden fiel. Dann ergoss sich auch schon ein eiskalter Schwall aus Wasser über mich. Ich schoss ein zweites Mal aus meinem Bett hoch und schrie wie am Spieß. Lieber Himmel, das Wasser war so kalt! Großmutter kam mit wehendem Mantel herein gerannt. „Was ist? Ist etwas...“, unterbrach sie sich und fing mit einem Mal schallend an zu lachen. Ich schaute verständlicherweise ziemlich blöd aus der Wäsche, aber mir war nicht nach Scherzen zu Mute. Was sollte das? „Du hast wohl die Waschschüssel übersehen, dich ich neben dich gestellt habe.“, prustete Großmutter und versuchte sich verzweifelt das Lachen zu verkneifen. Ich versuchte, eine nasse Strähne, die mir in die Stirn gerutscht war, wegzupusten, aber sie blieb einfach liegen. Was bei nassen Haaren im Normalfall auch üblich war. Aber das interessierte mich in diesem Moment nicht im

Geringsten. Ich war klatschnass und fing langsam an zu frieren. Und Großmutter? Die stand nur neben meinem Bett und lachte sich schlapp. Meiner Meinung nach war es logisch, dass ich mich, wie am Tag zuvor, mit einem Mal zur Schau gestellt fühlte. Eine unerträgliche Hitze übertrug sich von meinem Herzen auf den restlichen Körper und ich wurde wütend. Diese Wut verwandelte sich allerdings schlagartig in Angst: Genauso hatte sich der Kontrollverlust gestern während des Trainings angefühlt, als ich alles verwüstet hatte. „Ruhig Atmen.“, dachte ich. „Lass es nicht von dir Besitz ergreifen.“ Großmutter verstummte nach einiger Zeit und schaute mich besorgt an. „Alles in Ordnung, Rina?“ Ich schüttelte stumm den Kopf und versuchte weiter gleichmäßig zu atmen und die Kontrolle nicht zu verlieren. Großmutter kam langsam und

vorsichtig zu mir. „Soll ich Julius holen? Vielleicht kann er dir helfen?“, fragte sie unentschlossen. Nein! Bitte nicht... Ich schüttelte energisch den Kopf. „Atmen, ganz ruhig, Rina. Alles ist in Ordnung. Das letzte Mal hast du es schließlich auch geschafft.“, versuchte ich mir ins Gedächtnis zu rufen. Gleich war es geschafft. Ich spürte bereits, wie die Energie langsam ihren Weg zurück in meine Seele fand. Vorsichtig bewegte ich den rechten Fuß und stand schließlich, als nichts passierte, langsam auf. Die Wasserschüssel lag am Boden und das Wasser, das überall verschüttet war, sog langsam in den Holzboden ein. „Bis das alles wieder trocken ist...“, murrte ich wütend. Ich tapste einmal verdrießlich um das Bett herum. Ich benahm mich schon fast wieder so, als wäre nichts passiert. Vielleicht ging Großmutter auf die Ablenkung ein. Sie stand aber immer noch da und schaute mich unsicher

an. „Warte, ich hole dir ein Tuch zum Abtrocknen!“, sagte sie beklommen. Natürlich hatte es nicht funktioniert. Aber nun fiel mir etwas anderes auf: Ich hatte das blöde Gefühl, dass ich ihr mit meinen unkontrollierten Phasen allen ein wenig Angst einflößte, was eigentlich auch verständlich war. Ich hatte ja selbst Angst vor mir! Obwohl ich es wie jeder normal Mensch hasste, anderen Leuten Angst einzujagen. Sie bekamen dann grundsätzlich immer ein falsches Bild von mir... Ich setzte mich zurück auf das Bett. Mein Laken und das Bettzeug waren ohnehin bereits nass. Ausgezeichnet. Der Tag fing schon einmal grandios an, schlimmer konnte es eigentlich gar nicht mehr werden... Großmutter kam mit einem großen Tuch zurück und ging auf mich zu. „Zieh dir dein Hemd aus. Ich trockne alles später.“, befahl sie

unbarmherzig. Ich tat wie geheißen und stand mit einem Mal nur noch in meiner Unterwäsche da, die im Übrigen auch nass war. In meinem Zimmer. Mit meiner Großmutter. Bei offenem Fenster. Aus irgend einem mir absolut unerfindlichen Grund fühlte ich mich sehr unwohl. „Komm her, sonst wirst du noch krank.“, sagte Großmutter, und schlang mir das Tuch um den Körper. Mir wurde mit einem Mal wahnsinnig kalt und ich spürte, wie ich anfing zu frieren. Das Zittern setzte kurze Zeit später ebenso ein. Großmutter rubbelte mit ihren Händen über meine vom Tuch verdeckten Arme. Aber es half alles nicht. „Einen Moment. Ich sorge sofort dafür, dass dir warm wird.“, sagte sie mitfühlend und schloss die Augen. Ein leises, geheimnisvolles Summen ertönte. Es hörte sich auf eine gewisse Art und Weise

exotisch an und erinnerte mich an die Wildnis der Natur und die darin liegende Freiheit. Großmutter öffnete die Augen wieder. Ich zuckte erschrocken zurück. Ihre Iris leuchtete in einem warmen Rotton, der die Farbe eines Lagerfeuers hatte. Sie ignorierte meinen Rückzieher und rieb ihre Hände kurz und schnell aneinander. Im Folgenden legte sie sie schließlich rechts und links jeweils an mein Ohr und summte nochmals für einen kleinen Augenblick. Eine warme Welle fegte durch mich hindurch, wie einem ein Windstoß an einem heißen Sommertag durch das Gesicht wehte. Nun war ich diejenige, die im Gegenzug die Augen schloss. Die angenehme Wärme machte sich in jeder Faser meines Körpers breit. Es fühlte sich wundervoll an. „Besser?“, fragte Großmutter und grinste mich selbstzufrieden an. Man konnte wahrscheinlich an meinem Blick lesen, was ich im Moment

dachte. „Woher kannst du das nur so gut?“, gab ich als Antwort breit lächelnd zurück. Großmutter lächelte mich sanft an. „Geheimnisse verrät man nicht.“, meinte sie nur und ihre Augen glänzten fröhlich. „Wenn du das Ganze mit der Wäsche auch noch so gut hinbekommst, bist du genial...“, fuhr ich fort. Natürlich sagte ich das nicht ganz ohne Hintergedanken. Entweder hatte Großmutter die Finte nicht bemerkt oder sie überhörte sie gekonnt. Auf jeden Fall drückte sie mir freudestrahlend einen Kuss auf den Kopf, schnappte sich dann das Laken und die Bettwäsche und hob schließlich die Wasserschüssel auf. Zuletzt drehte sie mich herum, so dass ich die Tür sehen konnte und legte mir kurz das Kinn auf die Schultern. „Schau das du das Tuch nicht verlierst.“, sagte sie leise und schob mich durch den Türrahmen

in Richtung des Kamins. Das Feuer loderte immer noch. Großmutter schob mich näher an den Kamin heran, ging dann aber durch die Tür aus dem Wagen hinaus. Ich nahm mir ein Kissen, dass auf der Bank neben der Tür lag und tappte langsam vor den Kamin. Dort legte ich es ab, setzte mich vorsichtig darauf und schlang das Tuch noch ein wenig enger um mich. Wenn man einmal die Tatsache außer Acht ließ, dass sich in den letzten Tagen fast alles einschneidend verändert hatte, war mein Leben eigentlich wunderbar. Nun ja, jetzt im Grunde nur noch wunderbar gewesen. Aber das spielte in diesem Moment für mich keine Rolle. Ich war am leben und meine Aufgabe lag vorerst in weiter Ferne. Das versuchte ich mir zumindest einzureden. Für mich gab es derzeit keinen anderen Weg als diesen, um mich in irgendeiner Art und Weise

abzulenken. Sonst würde ich vermutlich meine Selbstbeherrschung komplett verlieren. Und das wäre weder für mich noch für meine Familie von nutzen, wie man ja bereits gemerkt hatte. Ich spürte wie die Wärme sich langsam durch meine Zehen in meinen Körper hineinschlich und sich dort ausbreitete. Und auf eine sonderbare Weise fühlte ich mich sogar wohl. Morgen würde kommen. Ich konnte die Zeit weder anhalten noch zurückdrehen. Das war mir klar. Ich musste mich endlich mit dem abfinden, was passierte, alles seinem Lauf überlassen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Das war meine einzige Möglichkeit. Zumindest die einzige wirklich vernünftige. Ich hatte wieder einmal das Gefühl, als ob mein Vater bei mir wäre, als ob er jetzt neben mir säße und sagen würde „Gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.“ und mir dann, wie es früher so typisch für ihn gewesen war, sanft über den Rücken gestreichelt

hätte. Ich merkte nicht wie Großmutter zurückkam. Ich war immer noch in Gedanken und Erinnerungen an meinen Vater versunken. Vorsichtig legte sich eine Hand von hinten auf meinen Rücken. „Ist dir wieder warm?“, fragte Großmutter, holte sich ebenso ein Kissen und setzte sich zu mir an das Feuer. Ich lächelte. „Ja, danke.“, gab ich zurück. „Gut.“, meinte Großmutter daraufhin nur. „Auch wenn ich hier noch sehr gerne länger mit dir sitzen würde, müssen wir aufstehen.“ Ich schaute sie an und zog fragend eine Augenbraue hoch. „Julius wartet.“, sagte sie und zwinkerte mir zu. „Du musst dich jetzt wohl oder übel noch einmal einige Stunden im Schwertkampf üben, Querìda.“ Ich verzog das Gesicht schmerzlich. Der Wagen war so schön warm und ich saß gerade wirklich

bequem auf meinem Kissen. Außerdem hatte ich vom letzten Training immer noch blaue Flecken und Kratzer. „Muss das denn wirklich sein?“, fragte ich gequält. Ich hatte nicht bemerkt das Julius sich in den Türrahmen unseres Wagens gestellt hatte. „Absolut.“, hörte ich nun seine Stimme und fuhr zu ihm herum. Verdammt. Ich musste meine Aufmerksamkeit wirklich schärfen. Ich schaute ihn flehend an, hoffte aber vergeblich. „Vergiss es.“, sagte er ohne Gnade, kam in das Wageninnere und ging auf mich zu. „Außerdem bist du diejenige die diese Ausbildung wirklich braucht. Für mich machen wir das hier nicht.“, sagte er hart und streckte mir die Hand entgegen. Mit meinen Augen schleuderte ich fast schon Blitze in seine Richtung. Wieso musste er immer so wahnsinnig arrogant sein? Haben das alle Männer so an sich? Mino ist doch auch

nicht so... „Entschuldigung. Das war nicht so gemeint.“, sprach er nun versöhnlich, er hatte seinen Fehler wohl bemerkt, und ging vor mir in die Hocke. „Und du solltest dir vielleicht etwas anziehen.“, sagte er und zupfte an meinem Tuch. Aus irgendeinem Grund musste ich lächeln. Julius konnte man einfach nicht widerstehen. „Ich hätte auch kein Problem damit wenn du nackt trainierst.“, sagte er mit einem Mal grinsend und erhob sich wieder. Großmutter hatte sich die ganze Zeit nicht bemerkbar gemacht, räusperte sich nun aber laut. Julius nickte zu ihr hin. „Aber ich glaube deiner Großmutter würde das nicht so ganz gefallen und außerdem ist es doch ein wenig kalt dafür.“, sagte er anzüglich und zwinkerte mit ironisch zu. Ich konnte nicht anders. Nun lachte ich laut los.

„Ich liebe dich auch.“, meinte ich nun im Gegenzug dafür. „Gib mir zehn Minuten, dann bin ich draußen auf der Lichtung. In Ordnung?“ „Genau das erwarte ich von meinem besten Soldaten.“, meinte er darauf hin lächelnd und ging zur Tür hinaus, die er dabei vorsorglich schloss. Ich hatte leider keine Gelegenheit ihm das hier jetzt hinterher zu rufen. Aber erstens: Ich bin eine SoldatIN, wenn überhaupt! Und zweitens bin ich doch auch seine einzige, oder?!

Training

Das Wetter war toll. Es war wieder ein wenig wärmer geworden und der schnell begann langsam zu schmelzen. Hier und da schaute sogar schon das erste Grün unter der Schneedecke hervor. Die Kronen der Bäume, die um die Lichtung herumstanden waren nicht mehr komplett mit Schnee bedeckt und an den Zweigen, die etwas stärker waren hingen nun kleine Sandsäcke. Julius stand vor einem dieser Bäume und hängte gerade die letzten Säcke auf als ich kam, Mino stapfte einige Meter hinter mir und hatte ebenso einen Sack über der Schulter. „Was ist da drin?“, fragte ich ihn neugierig und zeigte auf seinen Rücken. Mino grinste daraufhin und meinte nur: „Es wird dir auf jeden Fall besser gefallen als die Schwerter von der letzten Einheit.“ Julius hatte inzwischen alle Säcke verteilt und

drehte sich um. „Da bist du ja.“, rief er und kam quer über die Lichtung auf uns zu. „Ich dachte du wärst etwas schneller. Ich hatte nämlich eigentlich geplant, dass du die Säcke verteilst.“ Ich lächelte. „Dann kann ich ja froh sein, dass ich doch etwas länger gebraucht habe, nicht wahr?“, gab ich zurück. „Also. Was steht heute an? Wohl doch kein Schwertkampf, oder? Mino hat mir schon erzählt, dass es etwas mit diesem ominösen Sack hier zu tun hat.“, fragte ich Julius und nickte in Minos Richtung „Na, wenn Mino dir das gesagt hat.“, meinte Julius nur lächelnd dazu. Ich verzog das Gesicht und schaute ihn mit großen Hundeaugen an. Ich wollte unbedingt wissen, was wir heute machten. „Vergiss es! Ich verrate es dir jetzt noch nicht!“, lachte er. „Du wirst jetzt zuerst einmal vier Runden um die Lichtung herumlaufen. Zum

Aufwärmen. Danach zeige ich dir einige Übungen mit denen du deine Gelenke dehnen kannst. Sonst wird diese Einheit heute nämlich sehr schmerzhaft für sich enden.“ Mein Blick schlug daraufhin schlagartig von süß nach entsetzt um. Vier Runden?! Und das auch noch am Morgen? Die Lichtung war riesig. Wie sollte ich das schaffen ohne nebenher zusammenzubrechen? „Hopp. Mit ein wenig mehr Motivation, bitte!“, rief Julius, während er zu Mino hinging und ihm den Sack abnahm. Ich stand immer noch still. „Komm schon, Rina. Du musst die Runden wirklich laufen. Wenn du nachher eine falsche Bewegung machst und deine Muskeln davor nicht aufgewärmt waren, kannst du dich wirklich ernsthaft verletzen!“, versuchte er mir diesen ganzen Aufwand zu erklären. „Und glaub mir, diese Übung wirst du mehr mögen als den Schwertkampf. Sie ist zwar

anspruchsvoller, aber bezieht sich auch hauptsächlich auf Taktik und Konzentrationsvermögen.“, schaltete sich Mino nun ein. Ich seufzte genervt und ließ mich in einen langsamen Lauf hineingleiten. Meine Kondition war gleich null, das wusste ich mit Sicherheit, obwohl wir das ganze Jahr über unterwegs waren. Aber das gehörte wohl zu den opfern, die ich noch bringen musste wenn ich weiterhin überleben wollte. Lange rennen können ist leider eine sehr gute Möglichkeit, um zur Flucht fähig zu sein. Langsam zogen die ersten Bäume an mir vorbei. Ich versuchte mich nicht zu sehr auf die Länger der Strecke zu konzentrieren, da ich wusste, dass ich dann sofort verloren hätte. Also beschäftigte ich mich geistig mit etwas Anderem. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie lange die Winterperiode noch dauerte. Die Sonne stand schon höher als zu Anfang unseres

Aufenthalts hier und der Schnee war bereits so gut wie weggeschmolzen. Die Bäume zeigten zwar noch keine Blüten, aber man sah hier schon die eine oder andere einsame Knospe aus ihrem Winterschlaf erwachen. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern bis wir aufbrachen. Wir mussten bis zum Frühling unbedingt eine Stadt erreicht haben. Oder zumindest ein Dorf, damit wir unsere Vorräte auffrischen konnten. Obwohl das mit dem 'wir' in diesem Part nicht so ganz stimmte. Mein Zirkel würde das wahrscheinlich machen. Ich musste bis zur ersten Eisschmelze hier weg. Sonst wurde die Chance immer geringer meine Reise anzutreten ohne vorher von Ban und seiner Crew geschnappt zu werden. Ban... An den hatte ich auch schon lange nicht mehr gedacht. Was er wohl machte? Mit Sicherheit irgendwo seine Wunden lecken. Ich hatte immer noch die Hoffnung, dass irgendwann jemand auftauchte und mir erzähle, dass alles

ein Versehen gewesen war und sie mich gar nicht gemeint hatten, sondern ein anderes Mädchen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür ungefähr so groß war, wie in der heutigen Zeit noch einen Drachen zu finden. Die Bäume zogen langsam an mir vorbei. Ich wusste gar nicht mehr, wie weit ich schon gelaufen war. Wie oft war ich schon an Mino und Julius vorbei gekommen? Zwei, drei Mal? Egal. Auf eine sonderbare Art und Weise entspannte mich das Laufen sogar und deswegen machte ich einfach weiter und schlug erneut den Weg um die Lichtung herum ein. Ich hatte endlich einmal Zeit, um meine Gedanken zu sortieren, ohne das meine Großmutter etwas dazu sagte oder Samira und Fiona. In diesem Moment konnte ich mir seit geraumer Zeit das erste Mal wieder eine eigene Meinung bilden. Mir war klar, dass die ganze Situation total verfahren war und ich schauen musste, dass ich mich so schnell wie möglich auf den

Weg machte, damit ich die anderen nicht in Gefahr brachte und mit meiner Ausbildung beginnen konnte... Wobei ich davor ja erst einmal noch die anderen Auserwählten finden musste... Langsam fing mir an der Schädel zu brummen. Das war definitiv keine gute Idee gewesen über mein Leben nachzudenken. Ich hätte doch lieber bei unverfänglicheren Themen bleiben sollen. Bevor ich aber noch weiter philosophieren konnte, schallte Julius Stimme über die Lichtung. „Wie lange willst du eigentlich noch laufen, Süße? Das waren bereits mindestens acht Runden!“, fragte er laut. Acht Runden? Ich schaute verblüfft in seine Richtung. Vor mir lag nur noch ein sehr geringer Teil der Strecke. Ich hatte das Gefühl das Julius beeindruckt war und spürte ein wenig Genugtuung. Langsam beschleunigte ich meine Schritte und legte auf dem letzten

Streckenabschnitt einen Sprint hin. Julius und Mino standen nur noch einige Schritte entfernt und so ließ ich meine Beine langsam auslaufen. Jetzt war mir warm. Ich merkte was für eine Leistung ich erbracht hatte, aber meine Beine zitterten nicht und ich musste auch nicht übermäßig viel Schnaufen um Luft holen zu können. Also ich schließlich vor ihnen stand, bemerkte ich, dass Mino ein kleines Lächeln auf dem Gesicht hatte. „Ich hab meine Wette übrigens gewonnen.“, grinste er und schaute Julius an. „Um den Einsatz, den du mir schuldest, kümmern wir uns später.“ Er drehte sich um und lachte lauthals los. Julius schaute ein wenig verstimmt drein. Was war geschehen? „Hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich verwirrt. Nun zog er überrascht die Augenbrauen hoch. „Du? Ach was! Nein.“, sagte er. „Du warst um

genau zu sein eher zu gut.“ „Und ich hab dich unterschätzt.“, fügte er noch sehr leise, fast unhörbar hinzu. Jetzt musste ich lächeln. Ich hatte die Erwartungen also übertroffen. Das fühlte sich wirklich gut an. „Kommst du?“, fragte Julius als nächstes und drehte sich um. „Ich zeige dir jetzt einige Dehnübungen. Dazu müssen wir aber nach dort drüben.“, meinte er und zeigte in Richtung des Waldes. Dort lagen einige Baumstämme. Was hatte er vor? Das war die einzige Frage, die ich mir stellte während ich ihm hinterherlief. „Wir machen jetzt einige einfache Übungen. Dazu gehören das Dehnen von Waden-, Oberschenkel-, Becken, Rücken- und Schultermuskulatur. Wenn mir noch etwas anderes einfällt dehnen wir das natürlich auch.“, erklärte er. Inzwischen hatte er seine leichte Überlegenheit

wieder erlangt und grinste mich schief an. Ich lächelte zurück. Meine Motivation war seit dem Lauf gestiegen. Irgendwie fühlte ich mich entspannt, aber trotzdem konzentriert und nicht abgedriftet. „Legen wir los.“, sagte ich nur und schaute ihn erwartungsvoll an. Mein Antrieb machte Julius nervös. Zumindest kam es mir so vor. „Also gut.“, sagte er und überlegte kurz. „Wir fangen am besten mit den Beinen an. Später machen wir dann Rumpf und Arme. Die Übung ist im Grunde genommen sehr leicht. Wenn du die Technik dieser Waffenkunst beherrschst, brauchst du sie nicht mehr machen. Wahrscheinlich hättest du auch gar keine Zeit dafür wenn du angegriffen würdest...“ Ich bemerkte wie er abschweifte. „Egal.“, schloss er dann aber ab. „Auf jeden Fall ist das hier eine Übung für Oberschenkel und Waden. Und auch noch ein wenig für den unteren

Rücken.“ Die Baumstämme waren sehr dick. Julius legte sein gestrecktes Bein auf einen dieser Baumstämme. Es lag nun im rechten Winkel zu dem, was gerade stand. Ich machte es ihm nach und merkte bereits, wie es an den Innenseite meiner Oberschenkel zog. Julius schien das auch zu sehen. „Wenn es noch nicht ganz geht, dann geh mit dem Bein, das steht, ein wenig in die Knie.“, meinte er. Ich befolgte er gleich seinen Rat und bemerkte, wie das ziehen ein wenig nachließ. „Gut. Jetzt greifst du mit der Hand nach vorne und versuchst deine Zehen zu berühren.“ Ich streckte mich langsam in die Richtung, kam aber nur bis zu meinem Knöchel. „Das wird noch.“, sagte Julius, nun wieder ganz in seinem Element. „Mit der Zeit wird es leichter. Dann kannst du dich auch noch weiter nach vorne legen. Das selbe machst du jetzt auch noch mit dem anderen Bein. Berühre fünf

bis zehn Mal deine Zehenspitzen beziehungsweise deine Waden. Dann wechsle. Ich überlege mir inzwischen, was wir für die Schultermuskulatur machen können.“ „Hast du nicht vorher auch noch etwas von Becken und Rücken gesagt?“, fragte ich. „Die Übung ist auch relativ simpel. Ich zeig sie dir gleich. Aber für die Schultern hatte ich bisher noch keine Idee.“ Ich streckte weiterhin mein Bein über den Baumstamm und machte die Übung, wie Julius sie mir gezeigt hatte. Währenddessen lief dieser unschlüssig hin und her bis er schließlich eine Idee hatte. „Wir ändern die Schulterübung zu einer Brustmuskelübung ab.“, sagte er mir. Ich zuckte die Schultern und nickte stumm. Vorsichtig schwang ich mein Bein vom Stamm. „Fertig?“, fragte Julius. „Gut. Die nächste Übung ist so, dass du deine Beine durchstrecken musst, so gut es geht. Dann musst

du dich abrollen und versuchen mit den Fingerspitzen die Zehen zu berühren.“ Ich versuchte es, wie er es gesagt hatte, aber es ging nicht gut. Ich kam ein weiteres Mal nur bis zu meinen Waden. „Warte. Ich helfe dir.“, sagte er und kam zu mir. Er wollte schon die Hände auf meine Hüften legen, als er inne hielt. „Entschuldigung.“, sagte er zerstreut. „Ähm... Ist das okay für dich?“, fragte er vorsichtig. „Klar.“, sagte ich und lächelte ihm aufmunternd zu. Julius war zwar mit den Worten oft schneller mit dem Kopf, aber er respektierte die Privatsphäre eines jeden und dafür bewunderte ich ihn. Er legte die Hände auf meine Hüfte und schob diese vorsichtig nach vorne. „Spürst du das? So muss deine Hüfte stehen. Sonst wird das nichts.“, lächelte er. „Komm noch mal einen Moment nach oben.“, fuhr er

fort. Ich tat wie geheißen. Er legte mir beide Hände auf den Rücken und fuhr dann langsam daran herunter, während er in immer gleichmäßigen Abständen seine Daumen in meinen Rücken hinein drückte. „Das sind deine Rückenwirbel, die ich da abtaste.“, fing er an. „Wenn du dich hinunterrollst, musst du dir vorstellen, dass du jeden einzelnen davon abrollst. Ich hol dir gleich noch einen kleinen Stamm, damit du trotzdem Spannung hältst. Das ist besser für den Rücken.“ Ich nickte und versuchte es nochmal. Julius drückte mir in den Nacken, um beim ersten Mal den Stamm zu ersetzen. „Jeden Wirbel einzeln abrollen.“, hörte ich ihn murmeln und konzentrierte mich daraufhin. Das Hochrollen fiel dann schon etwas schwerer, weil das Gegengewicht da war, aber es

funktionierte. „Super!“, sagte er und lächelte mich an. „Ich gehe schnell den Stamm holen. Du kannst ja währenddessen noch ein paar Grätschen machen und dich damit dehnen. In Ordnung?“ „Klar.“, antwortete ich. Julius sah mich zufrieden an und lief dann schnell in Richtung unserer Wägen, wo wir einiges an Feuerholz hatten. „Also gut“, sagte ich laut. „Dann wollen wir mal.“ Ich hatte früher schon oft Selbstgespräche geführt. Als einziges Kind in unserem Zirkel war ich auch hin und wieder einmal allein gewesen und da hatte ich eben damit angefangen. Langsam ließ ich mich langsam in die Grätsche hineingleiten. „Okay. Zuerst das rechte Bein.“, murmelte ich und verlagerte mein Gewicht dabei auf meinen rechten Fuß. Ich senkte meinen Hintern weiter in Richtung Boden, hielt meinen Oberkörper dabei aber aufrecht. Das linke Bein blieb

gestreckt und ich merkte wie es leicht anfing zu ziehen. Eine kurze Zeitspanne blieb ich in dieser Stellung und wechselte dann das Bein. Dann machte ich das selbe nochmals in einer anderen Position, die Beine nicht seitlich gestellt, sondern nach vorne und hinten. Julius kam zurück als ich gerade dabei war, alles noch einmal zu wiederholen. Er hatte drei kleinere Stämme auf dem Arm. „Wieso nicht gleich noch mehr?“, fragte ich sarkastisch. „Haha.“, gab er ironisch zurück. „Du brauchst für die Brustmuskelübung nachher zwei und ich hab noch einen dabei, falls ich beschließen sollte, dass ich doch noch was nach dir werfen muss.“ Ich schnaubte. „Der war auch nicht besser als meiner.“ Julius zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Wiederholen wir jetzt die Übung von vorher nochmal oder willst du

diskutieren?“, fragte er ruhig. Ich nickte und schnappte mir einen der Stämme. Die Rinde fühlte sich zwar extrem rau an, aber ich würde mir den Stamm mir trotzdem in den Nacken legen. „Kann los gehen.“, sagte ich, nachdem ich ihn mir auf die Schulterblätter gelegt hatte. „Gut. Also wie gesagt: Vorsichtig nach vorne gehen, jeden Wirbel einzelnen abrollen und das Restliche weißt du ja eigentlich.“, fasste Julius nochmal das bereits gesagte zusammen. Das Gewicht des Stammes drückte mich förmlich nach unten. Aber ich spürte auch, wie es tatsächlich half. Fast jeder Wirbel rollte sich einzeln ab und es tat wahnsinnig gut den Rücken zu dehnen. Ich machte die Übung einige Male, beim letzten Mal nahm mir Julius den Baumstamm dann ab, als ich noch in gebückter Pose war. „Jetzt bleibst du so und schwingst einfach mal deine Arme locker hin und her.“, forderte er

mich auf. Ich tat wie geheißen und hörte mit einem Mal wie es fürchterlich in meinen Schultern knackste. Erschrocken fuhr ich hoch. „Ganz ruhig.“, lachte Julius. „Das sind bloß deine Sehnen, die an den Knochen und Muskelsträngen reiben. Das ist nicht gefährlich.“ Ich atmete erleichtert durch, war aber immer noch misstrauisch. Das hatte sich aber eindeutig anders angehört. Der Rest des Vormittags ging schnell vorbei. Ich lernte einige neue Übungen, aber auch vieles über meinen Körper. Nach der letzten Übung lächelte Julius mir dann zu. „Sind wir warm?“, fragte er neckend. „Also ich schon. Wie es mit dem Rest vom 'wir' aussieht weiß ich aber nicht.“, gab ich erschöpft lächelnd zurück. Der Schweiß lief mir in Strömen über den Rücken und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht einmal mehr einen

Apfel heben konnte, so fertig war ich. „Der Rest ist auch warm.“, gab Julius grinsend zurück. „Wir machen jetzt eine ganz kurze Pause. Ich gehe Mino in der Zeit holen und du kannst noch eine Runde spazieren gehen.“ Wieso denn das? Ich konnte doch sowieso schon nicht mehr. Ich drehte meinen Kopf von ihm weg und wollte mich schon schmollend auf einen Baumstamm setzen, als Julius nochmal die Stimme erhob. „Süße, wenn dein Körper wieder abkühlt, war das Alles hier gerade eben für die Katz. Dann müssen wir nochmal von vorne anfangen.“, meinte er. Er hatte wohl meinen entsetzten Blick gesehen. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir schon schwindelig. „Hmpf.“, machte ich nur in seine Richtung und ging dann langsam ein wenig hin und her. „Brav.“, sagte er grinsend und lief dann in schnellem Tempo zu unseren

Wägen. Wie konnte es sein, dass er jetzt noch so eine Energie hatte, während ich kurz vor dem Zusammenbruch war? War ich wirklich so schlecht in Form? Obwohl. Man musste auch bedenken, dass Julius nichts außer Akrobatik machte. Vielleicht lag es ja da dran. Der Schnee auf der Lichtung hatte begonnen abzuschmelzen, was kein Wunder war, da die Sonne ja auch schon sehr hoch stand und die Temperaturen langsam aber sicher wieder in einen angenehmeren Bereich anstiegen. Ich konnte fühlen, dass mein Herzschlag sich beruhigte und auch meine Atmung wurde wieder normaler. Wie heute morgen kitzelten die Sonnenstrahlen meine Nase wieder und ich musste mit einem Mal laut niesen. Langsam streckte ich meine Beine auch während des Laufens aus oder schüttelte sie ein wenig. Julius hatte Recht gehabt, ich entspannte mich. Andererseits kühlte mein Körper aber auch

nicht ab und das langsame und lockere Bewegen der Beine tat gut. „Na du Krieger-Maus? Hast du alles geschafft?“, hörte ich Minos donnernden Bariton hinter mir schwingen. Ich musste lachen. Jedes Mal wenn Mino auftauchte, fühlte ich mich besser. Ich liebte ihn einfach. Genauso, wie ich den Rest meiner Familie auch liebte. Für mich machte es keinen Unterschied ob leiblich oder nicht. „Ja.“, sagte ich und drehte mich mit strahlenden Augen um. „Und jetzt will ich wissen, was ich mit diesen Sandsäcken machen soll.“ Mino lächelte, als er meine Motivation bemerkte. „Messer werfen?“, fragte ich zum Spaß. Mit der kommenden Antwort hätte ich nicht gerechnet. „Fast.“, sagte Julius, ging zu dem Sack, den Mino vorher mitgebracht hatte, öffnete ihn und holte einige scharf gezackte

Scheiben heraus. Ich keuchte bewundernd auf. „Wurfsterne.“, flüsterte ich ehrfurchtsvoll und ging langsam zu Julius hinüber. Mino folgte mir. „Aber nicht irgendwelche.“, meinte er, als ich in die Hocke ging, um sie zu bewundern. Ich schaute nicht auf und strich vorsichtig über die scharfen Kanten. Schon lief an meinem Zeigefinger eine dünne Spur Blut entlang. Ich war fasziniert: Diese Dinger waren absolut tödlich. Aus einem mir unerfindlichen Grund empfand ich einen nie gekannten Nervenkitzel dafür, sie endlich auszuprobieren. Minos Stimme trat in mein Bewusstsein ein. Was hatte er gerade eben gesagt? Stimmt. Er hatte gemeint, dass das nicht irgendwelche Wurfsterne waren. Ich schaute zu ihm hoch. Meine Augen blitzten bereits vor Vorfreude. „Von wem sind sie denn?“, fragte ich neugierig. Der Hüne bekam Lachfältchen um die Augen, auch wenn diese eher traurig wirkten. „Wer war

wohl der einzige bei uns, der mit diesen tollen Teilen mehr als nur perfekt umgehen konnte.“, fragte er und schenkte mir ein leicht missglücktes Lächeln. Meine Stimmung sank ein wenig. Daran dass er in der Vergangenheit sprach wurde mir schnell klar wem sie gehört hatten. Das waren die Wurfsterne meines Vaters. Ich wusste nur zu gut, dass sie (abgesehen von mir natürlich) sein Heiligtum gewesen waren. Auf der einen Seite war ich ein wenig traurig, weil sie mich an ihn erinnerten, auf der anderen Seite war ich aber auch froh, dass mir abgesehen von den Erinnerungen wenigstens einer seiner Schätze geblieben war. „Ich war niemals so gut wie er.“, hörte ich nun Julius' leises Wispern an mein Ohr dringen. Er kniete inzwischen neben mir. „Aber ich kann auch ganz akzeptabel damit werfen und verfehle mein Ziel auch nicht immer.“ Ich lächelte traurig und legte sanft eine Hand

auf seinen Rücken. Alle hatten meinen Vater gemocht. Niemand hatte damals nach seinem Tod begreifen können, dass er nicht mehr da gewesen war. Ich und Großmutter waren nie mit unserem Schmerz allein gewesen und hatten immer Unterstützung von allen bekommen. Auch wenn es uns noch so miserabel ging. Unsere Familie war immer für uns da gewesen. Dankbar lächelte ich ihm zu. „Damit habt ihr mir ein wunderbares Geschenk gemacht.“, flüsterte ich und musste mich beherrschen nicht zu weinen. „Vielen, vielen Dank. Sie sind wundervoll.“, krächzte ich noch und wischte mir verstohlen über die Augen. Die Erinnerung an meinen Vater zog mich jedes Mal ein wenig herunter. Ich durfte jetzt bloß nicht anfangen zu weinen. Dann würde ich nicht mehr aufhören können. Mino räusperte sich. „Nun aber zurück ans Üben. Sonst werden wir hier noch alle sentimental und kommen heute zu gar nichts

mehr, was?“, versuchte er die gedrückte Stimmung zu heben, wofür ich ihm wirklich dankbar war. „Also los.“, sagte ich und erhob mich langsam. „Fangen wir an.“ Julius erhob sich nun auch und beugte sich langsam rüber, um mir einen Kuss auf den Kopf zu drücken. „Ich bin stolz auf dich.“, murmelte er noch leise an meiner Stirn und lächelte mich an. Ich versuchte mich auch an einem, aber es gelang mir nicht so wirklich. Julius und Mino hatten immer versucht meinen Vater bestmöglich zu ersetzen. Es hatte auch eigentlich immer recht gut funktioniert, bloß abends war es schwierig geworden, wenn ich im Bett gelegen und sein Gesicht immer wieder vor mir gesehen hatte. Da war ich dann glücklich gewesen, dass ich mich an meine Mutter überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ich fühlte zwar auch hier eine Leere, aber diese war da gewesen, solange ich mich erinnern

konnte und ich hatte gelernt damit zu leben. Ich schüttelte einmal schnell den Kopf. Heute war vielleicht ein Tag. Ich hatte schon lange nicht mehr so in Erinnerungen geschwelgt und musste jetzt endlich damit aufhören. Sonst war erstens mein Körper kalt und zweitens meine Konzentration ebenso dahin. Also Kopf hoch und geradeaus geschaut. Die Zukunft wartet. „Können wir?“, fragte Mino nun leise. Sie hatten mich beide eine Weile nachdenken lassen. Jetzt war ich bereit. „Klar.“, antwortete ich und lächelte nun schon etwas entspannter. „Gut. Julius erklärt dir die Technik und ich übe dann später mit dir das Drehen und Wenden deines Körpers und die Selbstverteidigung... Den Rest wirst du sehen.“, erklärte er, zwinkerte mir aufmunternd zu und machte sich dann auf den Weg, um sich selbst noch ein wenig aufzuwärmen und sich dann ein nettes Plätzchen zu suchen.

Sterne

„Gehen wir.“, meinte Julius nun. „Ich werde dir das alles jetzt erst mal sehr langsam zeigen, ohne das wir die Sterne überhaupt werfen, damit ich dich ein wenig besser einschätzen kann.“ Wir gingen in Richtung der Säcke und Julius blieb auf halber Strecke stehen, um zu beginnen. „Das sollte eigentlich kein Problem sein, wenn du so sehr nach deinem Vater kommst wie ich vermute.“, sprach er lächelnd. Eine Antwort ließ er überhaupt nicht zu, da er sofort begann, die Technik an sich zu erklären. „Es gibt verschiedene Arten der Wurfsterne. Aber alle laufen unter einem Namen.“, begann er. Ich schaute ihn aufmerksam an, die Hände vor meinem Bauch gefaltet. „Sie werden Shuriken genannt.“, fuhr er fort. „Eigentlich ist diese Waffenkunst eine

fernöstliche. Die besten Waffenmeister dort arbeiten fast nur mit diesen Sternen. Es ist sehr schwer, da man einen wahnsinnigen Feinschliff an Technik haben muss, damit man das Ziel, das man anvisiert auch trifft. Die Sterne deines Vaters sind zwar Spezialanfertigungen, laufen aber trotzdem noch unter dem Namen Hira-Shuriken, da sie ebenso vier Zacken haben, auch wenn diese nicht klassisch modelliert worden sind, sondern ihre eigene Form haben. So viel zum Allgemeinen. Das Technische ist ein wenig komplizierter zu erklären. Für den Anfang würde ich es am ehesten einmal mit dem Messerwerfen vergleichen.“, schloss er ab. „Soweit alles klar?“ Ich nickte breit lächelnd. Das Ganze würde mit Sicherheit ziemlich interessant werden, vor allen Dingen, da Julius mit solcher Begeisterung dabei war. Das Wetter war inzwischen wunderbar. Die Sonne wärmte und

mir wurde in meiner eher dickeren Kleidung schon warm, aber das bemerkte ich nur am Rande. Sogar der Schnee glitzerte durch die Strahlen und taute ein wenig an. Normalerweise hätte ich das wirklich toll gefunden, aber bei den Übungen störte es eher, da das reflektierte Licht leicht blendete. Trotzdem gelang es mir irgendwie die gesamte Umgebung auszublenden und mich komplett auf Julius und die Sterne zu konzentrieren. „Gut. Also dann machen wir jetzt Folgendes: Die Haltung des Sterns ist so, dass du ihn zwischen den Zacken hältst. Dazu verwendest du Daumen und Zeigefinger.“, erklärte er, während er sich einen der Wurfsterne nahm. Sie waren tatsächlich komplett anders, als die klassischen Hira-Shuriken. Jeder Zacken hatte auf der einen Seite nochmals vier weitere kleine, zackige Einkerbungen und gegenüberliegend einen rund geschliffenen Ausschnitt, der auf den ersten Blick weich

aussah, aber mindestens so scharf war wie ein gut geschliffenes Messer. Julius nahm den Stern und legte ihn sich vorsichtig in die Hand, Daumen und Zeigefinger zwischen den Zacken. Der Zeigefinger, der hinter der Platte lag war leicht gekrümmt, der Daumen gerade durchgestreckt. Dann gab er mir den Stern. „So jetzt du.“, meinte er dazu nur. Ich legte den Stern ebenso sehr umsichtig in meine Hand und tat es ihm gleich. „Perfekt.“, sagte er lächelnd und nahm sich nochmals einen der Sterne vom Boden. „Wichtig ist, dass du dein Handgelenk auf keine Fall locker lässt. Das darf sich nicht bewegen und muss steif sein. Zusätzlich musst du so stark zugreifen, dass dir der Stern nicht aus der Hand rutscht, gleichzeitig darfst du dich aber auch nicht verspannen. Denn nur mit einem entspannten Griff gelingt ein präziser Wurf. Verstanden?“, fuhr er fort. Ich zeigte wieder mein Verständnis und

schüttelte meinen Arm ein wenig. Das Handgelenk war steif, aber ich war trotzdem entspannt. Es fühlte sich fast schon vertraut an. „Weißt du was merkwürdig ist?“, erhob ich nun das erste Mal seit einer längeren Zeit die Stimme. Ich hob meinen Kopf und schaute ihn befangen lächelnd an. Der Shuriken lag nach wie vor kontrolliert in meiner Hand, so als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Julius zog fragend die Augenbraue hoch. „Irgendwie fühlt sich das hier alles richtig an, so als hätte ich nie etwas anderes gemacht.“, versuchte ich ihm mein Gefühl verunsichert zu erklären. Es zuckte um seine Mundwinkel und um seine Augenpartie herum bildeten sich Lachfältchen. Wollte er mich jetzt etwa auslachen? Aber ich hatte falsch gelegen. Er murmelte nur, dass ich meinem Vater wirklich „verdammt ähnlich“ sei und dass wir möglicherweise hier gerade meine

bevorzugte Waffe gefunden hatten. Mein Herz begann zu rasen. Vielleicht war ich hiermit ja wirklich überraschend gut. Ich versuchte mich wieder zu konzentrieren. Ich konnte das hier schließlich nur packen, wenn ich genau zuhörte und alles befolgte was Julius sagte. „Die Füße stellst du etwa zwei Fußlängen voneinander entfernt auf und zwar hüftbreit. Der linke ist vorne und der rechte dann klarerweise hinten.“ Während Julius das sagte, stellte ich meine Füße in diese Position. „Jetzt drehst du den rechten Fuß ein wenig nach außen, so dass du eine Art schräges V mit beiden Füßen bildest.“ Ich stellte meine Füße wieder ein. „Genau so.“, fuhr er fort, meine Füße im Blick. „Jetzt gehst du leicht in die Knie, sodass du locker Wippen kannst. Der hintere Fuß steht dabei auf den Ballen. Auf ihn musst du auch den größeren Teil deines Körpergewichts legen.“ Ich verlagerte mein Gewicht vorsichtig

und wippte ein wenig, um meine Knie zu lockern. Mein Gesicht hellte sich langsam auf und ein leichter Erwartungsschauer überlief mich. Ich hatte eine leise Vorahnung was nun folgen würde und erhielt sofort Bestätigung. „Als nächstes kommen wir nun zum Werfen...“, wollte Julius weiter erklären und ich war kurz davor einen erfreuten Schrei auszustoßen, verkniff es mir dann aber und fing stattdessen an mit den Beinen zu wackeln, was Julius natürlich auf der Stelle sah. Allerdings unterband er meine Begeisterung sofort, indem er mir einen, wenn auch nur kleinen Dämpfer versetzte.. „Ohne den Stern zu werfen... Zumindest vorerst. Kapiert? Der bleibt fix in deiner Hand, sonst nehme ich ihn dir wieder weg. Die können tödlich sein, wenn du dich auch nur ein wenig verschätzt...“, ermahnte er mich und schaute mich kritisch an. Irgendwie traute er

mir nicht, dass ich mich daran hielt. Bei meiner Vorgeschichte, was Selbstkontrolle angeht war das auch kein Wunder. Aber ich hatte verstanden. Hier war definitiv Vorsicht geboten, sonst hatte ich ganz schnell ein Problem. „Du visierst also mit dem linken Arm dein Ziel an, dabei hältst du am Anfang den rechten Arm parallel zu deinem anderen. Dann winkelst du den Arm an, sodass der Oberarm in den Himmel zeigt und dein Handgelenk sich etwas oberhalb deiner Ohren befindet. Als nächstes ziehst du dann deinen Arm in einem ruckartigen Bogen nach hinten und genauso ruckartig gehst du wieder nach vorne und klappst deinen Unterarm ab, sodass der Stern einen Bogen fliegen kann. Dabei verlagerst du dein Gewicht auf das Vorderbein, sodass das nun gestreckte hintere Bein und dein Wurfarm am Schluss praktisch in einer Linie sind – die soll durchaus ein wenig krumm sein. Hierbei muss ebenso die Schulter

steif bleiben, sie darf sich also genauso wie das Handgelenk nicht bewegen.“, berichtete er weiter. „So und das war es auch schon. Ist doch eine nette kleine Übung, oder?“, fragte er grinsend und schaute mich an. Man sah mir wohl an, dass ich leicht überfordert war mit der gesamten Situation, denn ich hatte kein Wort von dem verstanden was er gesagt hatte. Bis zu der Sache mit dem Arm anwinkeln und auf Höhe der Ohren platzieren, war ich noch mitgekommen. Aber wie sollte ich eine ruckartige Bewegung machen ohne dabei die Schultern zu bewegen?! Das wollte mir einfach nicht einleuchten. „Wie wäre es, wenn wir es einfach mal in Zeitlupe versuchen?“, meinte Julius und klopfte mir freundschaftlich grinsend auf die Schultern. „Geh doch nochmal in die Fußstellung, okay? Den Stern hast du richtig in der Hand? Perfekt.“

Ich tat alles was er sagte. Danach kam er zu mir und drückte mich ein wenig in die Knie. Jetzt stand er hinter mir, die Hände auf meinen Schultern. „Locker.“, flüsterte er mir dabei ins Ohr. „Sonst wird das nichts.“ Ich nickte. Dann hob er als nächstes meine Arme an und legte sie parallel zu einander hin. Es fühlte sich beinahe so an als wären wir ein und die selbe Person. „Wir visieren jetzt mal den Sandsack da hinten links an.“, wisperte er wieder. Ich suchte den Sack und fand ihn nach kurzer Zeit schließlich auch. Julius zog nun meinen Oberarm geringfügig nach oben. Mein Arm schaute nun ein wenig in den Himmel. Als nächstes nahm er meine Hand und zog sie nach hinten, sodass ich am Ellbogen abknickte. Die Hand hielt er auf der Höhe meiner Ohren, wie er vorher erklärt

hatte. „So. Jetzt ziehst du deinen Arm mit einem Ruck nach hinten und dann ebenso nach vorne.“ Ich versuchte es, hielt den Stern auch fest und es funktionierte tatsächlich. „Sehr gut.“, murmelte er. Julius ging einen Schritt zurück. Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihn erwartungsvoll an. Das komische Gefühl verzog sich langsam wieder. Dann überlegte er kurz und lächelte dann boshaft. „Wir scheuchen Mino jetzt von seinem Platz bei den Bäumen weg und dann darfst du den Stern einmal mit meiner Hilfe versuchen zu werfen, einverstanden?“, fragte er. Und wie ich einverstanden war, auch wenn es Mino gegenüber ein bisschen fies war. „Mino!“, brüllte Julius da auch schon quer über die Lichtung. Der Angesprochene schaute entspannt hoch. „Wir wollen anfangen!“, brüllte Julius weiter. Mino erhob sich und trottete zu uns herüber. Das dauerte zwar eine

Weile, aber als er da war begannen wir auch sofort. „Wie werfen den Stern jetzt zusammen. Ich helfe dir beim ersten Mal ein wenig.“, sprach Julius auch schon. Ich ging wieder in Position, zog meinen Arm hoch und... „Welchen Sack wollen wir eigentlich anvisieren?“, fiel mir da gerade noch ein. Julius schaute mich an. „Stimmt ja... Wir nehmen glaube ich den, der am weitesten vorne liegt für den Anfang. Das ist der da ganz in der Mitte.“, murmelte er und deutete mit der Hand knapp an meinem Kopf vorbei auf den Sack direkt vor uns. Ich nickte wieder und begab mich nochmal in die vorgeschriebene Position. Julius nahm nun mein Handgelenk und führte es langsam nach oben. Abermals war da dieses Gefühl, als ob wir im selben Körper wären. Das würde ich Julius aber ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. Sonst

bildete er sich wieder wahnsinnig viel auf sich ein. Konzentration Rina! Lass den Mist! Zum einen könnte dieser Kerl vom Alter her gesehen dein Vater sein (Julius zählte etwas mehr als dreieinhalb Dekaden, mein Vater wäre jetzt ungefähr genauso alt), außerdem ist das Hier und Jetzt wichtiger! „Wir gehen erst einmal kurz nach vorne, ohne zu werfen, damit wir auch richtig anvisieren können und dann schleuderst du ihn einfach raus, verstanden?“, vergewisserte Julius sich und fischte mich damit aus meiner Gedankenblase. Ich nickte wieder nur und lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Stern. Julius und ich peilten einmal an, zogen dann zusammen den Arm nach hinten und schleuderten den Stern schlagartig aus meiner Hand, in einer wunderschönen Bewegung nach vorne. Dieser segelte mit einer fantastischen Geschwindigkeit

gerade aus, zielgerichtet auf den Sack zu, traf ihn aber leider nicht. Er segelte knapp über ihn hinweg und blieb im dahinter stehenden Baumstamm stecken. Ich wollte schon ein enttäuschtes Gesicht machen, als Mino anfing zu klatschen. Julius hatte bisher noch nichts gesagt. Ich drehte mich verwundert um und schaute ihm ins Gesicht. Dort las ich irgend etwas zwischen Faszination und Grauen. „Also ganz ehrlich. Gegen dich möchte ich niemals kämpfen müssen, Süße.“, sagte er nun und hatte Mühe die Stimme aufrecht zu erhalten. „Das war definitiv mehr als zu erwarten war.“ Ich war erstaunt und hauptsächlich auch verwirrt. Mein Ziel war doch der Sack gewesen und nicht der Baum dahinter. „Aber ich habe doch gar nicht getroffen“, warf ich schließlich

ein. „Normalerweise trifft auch niemand. Da segelt der Stern vielleicht einige Meter und wird dann ungespitzt in den Boden gerammt!“, brummte Mino nun hinter mir. „Glaub mir. Das war wirklich richtig gut!“ Mein seliges Lächeln wurde jedoch unterbrochen, als Julius mich wieder ansah. „Dir ist jetzt aber schon klar, dass ich ab sofort keine Rücksicht mehr nehmen werde, oder?“, fragte er und lächelte gemein. „Bis du gehst wirst du jeden Tag mit mir üben müssen, ob es schneit oder nicht.“, hängte er noch an. Oh nein... Das konnte ja etwas werden. Meine Mundwinkel vielen direkt eine Etage abwärts, in eine eher weniger begeisterte Lage. „Wenn das dann geklärt wäre könnten wir ja dann auch bei mir weiter machen, oder?“, fragte Mino nun breit grinsend. „Falls du da auch überraschend gut bist, müssen wir uns definitiv etwas überlegen, um dich ein bisschen

mehr... nun ja... zu fördern.“ Himmel. Falls das der Fall sein sollte würde Mino mich mit Sicherheit nicht nur fördern, sondern auch heftigst fordern. Und dann würde ich das hier wahrscheinlich nicht ohne ernsthafte Schäden überstehen. Wenn schon nicht körperlich, dann zumindest psychisch. Irgendwie fing ich an mir Sorgen zu machen. Wenn ich schlecht war, würde es die Sache auch nicht besser machen. Dann würde er wahrscheinlich genauso hart vorgehen. Wieso überlegte ich eigentlich die ganze Zeit was sein könnte? Ich schüttelte kurz meinen Kopf um aus dem Gedankenstrom herauszukommen. Das war schon das zweite Mal heute gewesen. „Rina? Hast du mich gehört?“, fragte Mino nun ungeduldiger. Er konnte es nicht besonders leiden, wenn man nicht zuhörte, speziell dann, wenn es anfing wichtig zu werden. „Meinen Teil des Trainings können wir eigentlich auch hier machen. Zumindest für den Anfang.“,

setzte Mino an. „Ich kann dann ja gehen, oder?“, warf Julius noch schnell ein und schaute Mino fragend an. „Klar.“, meinte dieser einsilbig, ohne den Blick von mir abzuwenden. Dann fingen seine Augen mit einem Mal gemein an zu glitzern. „Du kannst wieder kommen, wenn Rina die ersten Schläge ausprobieren muss. Damit können wir dann auch den Wetteinsatz auslösen.“, säuselte er dann boshaft. Julius zog erst irritiert die Augenbrauen hoch, drehte sich als nächstes aber auf dem Absatz um und ging. „Glaubst du wirklich, dass ich mich freiwillig von einer Jugendlichen verprügeln lasse? Noch dazu einem Mädchen?!“, rief er ihm noch über die Schulter zu. „Der hat bloß Angst, dass du ihn platt machst.“, wisperte Mino nun seinerseits zu mir hinüber, drehte sich um und ging davon, um vermutlich noch einige Sachen für die Übungen

zu holen. „Und das wirst du definitiv, wenn ich mit dir fertig bin...“, rief er mir nun noch etwas lauter zu. Jetzt machte er mir wirklich Angst. Das hörte sich schon fast so an wie eine Drohung – sowohl mir als auch Julius gegenüber. Und zusammen mit dem irren Funkeln seiner Augen hätte man ihn problemlos für einen der Sucher oder der Commini halten können. Apropos Sucher. Zu denen hatte ich ja noch gar nichts erzählt. Also. Die Sucher waren auf die Auserwählten angesetzt worden. Sie sollten sie finden und zum König bringen, der dann... nun ja... Drücken wir es einmal höflich aus: eine Unterhaltung mit ihnen führen wollte. Zumindest sagte man sich das. Was man darunter zu verstehen hatte wusste natürlich jeder. Deswegen wurden sie, Pardon, wurden wir, ja auch so gut versteckt gehalten. Nach außen hin war das Königreich stabil. Doch innerhalb der Grenzen brodelte es gewaltig. Der

König war habgierig und grausam. Und zusätzlich zu dem auch noch blutjung. Er war noch nicht einmal vier Dekaden alt – was für einen König wirklich wenig war, da diese meistens frühestens mit vier oder fünf Dekaden gekrönt wurden. Unser König hatte seine Gnadentum aber bereits vor ungefähr einer halben Dekade erhalten, nachdem der alte König, der mindestens genauso unbeliebt gewesen war, unter mysteriösen Umständen verstorben war. Auch hier munkelte man, dass hinter dessen Tod der Adel stand, der wohl gehofft hatte den damaligen Prinzen auf dem Thron noch eher lenken zu können. Ihre Hoffnung war enttäuscht worden. Der jetzige König, Marlon von Loteron, war noch schlimmer. Zusätzlich zu seiner Grausamkeit veranstaltete er auch noch zu gerne ausgiebige Gelage, die er bezahlte, indem er auch noch das letzte bisschen an Steuern aus dem Volk herauspresste, sodass die Meisten am

Existenzminimum lebten – genug zu Essen für eine Person, obwohl man eine fünfköpfige Familie zu versorgen hatte, und das gerade einmal für einige Wochen. Da hatten wir wirklich Glück gehabt. Als Reisende zahlten wir nur Zoll, wenn wir in die Städte hinein wollten. Sonst blieb uns das ganze Getue um die Abgaben erspart. „Genug geträumt, Rina!“, rief Mino mit einem Mal. Er hatte die Sachen herbeigeschafft. Es waren wieder hauptsächlich Feldpuppen, die wir schon beim Schwertkampf verwendet hatten. Mein Gesicht verzog sich gequält. Hoffentlich würden wir nicht wieder diese Übungen machen. Ich beherrschte sie zwar inzwischen ansatzweise, hasste aber dieses stumpfsinnige Rumgerenne mit einer Klinge in der Hand, die fast so groß war wie ich, immer noch. „Keine Angst.“, beruhigte Mino mich auch schon. „Der Schwertkampf ist beendet. Vor

allen Dingen jetzt, nachdem klar ist, dass du mit Sicherheit mit den Wurfsternen deine Ziele eher triffst als mit einem Kurz- oder Langschwert.“ Danke. Danke. Danke. „Trotzdem fangen wir jetzt an. Du hattest lange genug Zeit dich auszuruhen!“, fuhr er sofort fort. Wir gingen ein wenig von seiner Ausrüstung weg und ich schaute zu ihm hoch, wartend auf meine nächste Anweisung. „Ich glaube das Beste wäre, wenn wir zum Beginn einmal deine Grundkenntnisse überprüfen was den Nahkampf und auch ein wenig die Flucht angehen. Also schieße los. Was weißt du darüber?“, fragte er und schaute mich neugierig an. In Ordnung. Jetzt war Nachdenken angesagt. Nahkampf konnte man nicht mit Wurfsternen angehen. Dafür musste man weiter weg stehen. Das Ganze funktionierte bloß mit einem Dolch

oder einem Messer und wenn der gerade nicht zur Hand war musste man flink sein und beweglich. Bei der Flucht kam es hauptsächlich darauf an, dass man so wenige Spuren wie möglich hinterließ und sich in einem eher dichter angelegten Gebiet befand. Flucht auf einer riesengroßen Wiese oder einem Acker war also schier unmöglich. Was fiel mir noch ein? Bei den Kämpfen mit Dolch oder Messer musste man sehr schnell sein, sich wegducken können und darauf achten, dass man dem Gegner keine Blöße gab. Dafür musste man schauen, dass er einen Teil seiner Körperdeckung vernachlässigte. Mir war klar, dass das nicht sonderlich viel war, aber trotzdem teilte ich Mino mit, was ich wusste. Dieser war genau meiner Meinung: „Es ist zwar nicht viel, aber es ist akzeptabel. Dann weiß ich zumindest jetzt, wo ich anfangen soll; Wir werden als erstes deine Nahkampftechnik ein wenig ausbessern. Und wenn dann noch Zeit

bleibt gehen wir das Thema Flucht an...“ Ich nickte tapfer lächelnd. Nahkampftechnik. Mir graute schon davor. Mino sah es wohl nicht, er war immer noch dabei zu überlegen. „Ach ja,“ fuhr er fort. „und dann lernen wir, beziehungsweise eher du, noch abzuwägen, was jetzt besser wäre. Ob Nahkampf oder nicht. Auch wenn ich mir schon denken kann, was du vorziehen wirst.“ Ich auch. Ich war schreckhaft wie ein Reh und flüchtete schon bei der kleinsten unangenehmen Sache. „Du guckst schon wieder wie ein Kalb wenn es donnert.“, brummte Mino belustigt mit hochgezogener Augenbraue. Diese spöttisch-genervte Mimik beherrschte er wirklich, wirklich gut. Und sie verfehlte ihre Wirkung nie. So auch jetzt. Ich schreckte hoch und blinzelte ein wenig verwirrt in seine Richtung, hatte mich aber schnell wieder gefangen. Himmel. Ich

musste mir endlich abgewöhnen während den Einheiten abzuschweifen. Das kostete mich bestimmt irgendwann noch einmal das Leben. Ein Kalb?! Na Dankeschön. Ich bekam sofort ein Bild von mir in den Kopf. Klein, auf allen Vieren, mit flauschigen Ohren, einer sehr, sehr langen Zunge und riesengroßen Glupschaugen. Eine wirklich gruselige Vorstellung. Ich glaube Großmutter hatte einmal erwähnt, dass die meisten Kühe sogar in Ohnmacht fielen, wenn man sie erschreckte. Da reichte schon ein einfaches „Buuh!“. Diese Viecher konnten schon selten dämlich sein. Was nicht hieß, dass ich Kühe nicht mochte, ich verstand bloß nicht, wie mit einem so großen Kopf so wenig gedacht werden konnte. Aber zurück zum Training: Nahkampf war angesagt. „In Ordnung. Fangen wir an?“, fragte ich und versuchte so selbstbewusst wie möglich zu klingen. Ich werde kein panisches Kalb sein. Auf keinen

Fall! Mino grinste und mir wurde noch unbehaglicher zu Mute. Vielleicht spielte ich doch noch besser ein bisschen verängstigtes Reh? Mir wurde die Überlegung abgenommen, als Mino mich am Arm nahm und wieder zu seinen Sachen brachte. Es waren viele Dinge und alle sehr unterschiedlich. Ich sah Dolche, aber auch Holzpflöcke. Ein kleines schwarzes Säckchen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Was dort wohl drin war? Ich griff vorsichtig danach und wollte es gerade öffnen, doch Mino kam mir zuvor. „Halt. Warte damit noch ein bisschen. Ich zeige dir nachher was darin ist und wie man sie verwendet.“ Dann musst er lachen. „Genau wie ihr Vater.“, schmunzelte er. „Genau wie ihr Vater. Komm mit. Wir stellen zwei Puppen auf und dann zeige ich dir, wo du hinzielen musst, um jemanden schnell und effizient zu Fall zu bringen oder abzuwehren.“ Ich lief hinter Mino her, wieder zurück zu

unserem Ausgangspunkt. Er hatte sich bereits eine Puppe genommen und rammte sie in den Boden. Ich versuchte eine Weitere anzuheben, bemerkte aber sofort, dass sie zu schwer für mich war, und ließ sie wieder sinken. „Was wird das denn jetzt?“, fragte Mino mit sarkastischer Verwunderung und drehte sich um. „Schaffst du es etwa nicht das Bisschen Holz und Stroh dort anzuheben, Kleines?“, neckte er mich. Ich zog nun - ebenso leicht amüsiert - meine rechte Augenbraue hoch. Es war nicht zu Übersehen, dass Mino sich auch hatte anstrengen müssen, um die Puppe zu versenken. Außerdem griff er nicht sofort nach der Nächsten, sondern legte eine kurze, als erwartungsvolles Aufschauen getarnte, Pause ein. Das fiel natürlich auch mir auf. „Interessant. Das 'Bisschen Holz und Stroh' hat dich aber auch ganz schön zum Schwitzen gebracht, mein Lieber.“, erwiderte ich anzüglich

lächelnd. Minos Mundwinkel zogen sich nach oben und mein Körper versetzte sich in Alarmbereitschaft. Nach außen hin wirkte ich zwar immer noch ganz gelassen, aber innerlich wusste ich, dass ich nach dem nächsten Satz würde rennen müssen. „Ich bin vielleicht noch jung. Und möglicherweise auch schwach. Aber du...“, setzte ich an. Mino wollte schon anfangen laut zu lachen, aber ich unterbrach ihn. Und was jetzt kam, würde ihn mit Sicherheit wahnsinnig machen. „Aber du, Mino...“ Ich schüttelte bedauernd und besorgt meinen Kopf. Schließlich ließ ich die Bombe platzen: „Kann es sein, dass du alt wirst?“ Minos Kopf ruckte nach oben. Meine Augen glitzerten herausfordernd in der Erwartung, dass mir gleich etwas entgegenfliegen würde. Bisher hatte sich aber noch nichts gerührt. Es zuckte bloß ein wenig in seinen

Fingern. Also setzte ich noch einen drauf. Er hatte mich herausgefordert, ich hatte angenommen. Jetzt würde sich gleich zeigen, wie gut ich kalkulieren konnte... Und vermutlicherweise auch, wie es um mein Talent im Sprinten stand. „Ich habe gehört, ab einem gewissen Punkt beginnt bei Männer die Altersschwä...“ Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Mino war mit einem Mal nach vorne geschnellt und versuchte mich kräftig mit beiden Händen zu packen. Dumm für ihn war nur, dass ich das bereits vorausgeahnt hatte, im passenden Augenblick seitlich weggetaucht war und mich danach schnell umgedreht hatte, um in Richtung unserer Wägen zu verschwinden. Der Punkt mit dem Wegtauchen hatte perfekt funktioniert. Aber statt zu den Wägen zu rennen, sah ich mich nun in einer ziemlich bedrohlichen Situation. Ich hatte mich nämlich in die falsche Richtung weggedreht und lief nun

in Höchstgeschwindigkeit und Harken schlagend zum auf der entgegengesetzten Seite liegenden Wald hin. Mein Kreischen war vermutlich unüberhörbar, aber das interessierte mich nicht. Wieso kreischte ich überhaupt? Das machte keinen Sinn, war irrsinnig peinlich und kostete mich nur unnötig Atem. Also schloss ich meinen Mund wieder. Außer meinem und Minos Atem hörte man nichts mehr, vielleicht noch ein wenig die Natur, aber damit hatte es sich auch schon. Trotzdem konzentrierte ich mich sehr auf die Lautstärke der Geräusche, die hinter mir gemacht wurden, mein bärtiger Freund kam nämlich schnaubend wie ein Pferd vor dem Kampf hinter mir hergeprescht. Das nächste Problem war, dass die Lücke zwischen uns immer kleiner wurde und mir nun gerade die Ideen ausgingen. Würde ich in den Wald hineinrennen, müsste ich

die ganzen Steine und Wurzeln überspringen, und dort verlief doch auch noch ein kleiner Bach, oder? Also definitiv keine gute Lösung. Die andere Möglichkeit war, dass ich versuchen könnte eine Harke nach links oder rechts wegzuschlagen und dann schauen könnte, wie schnell ich über die begrünte, feuchte, rutschige, mit diversen Übungsparcours gespickte Lichtung zu meinem eigentlich geplanten Ziel sprinten konnte. Mino klebte mir dummerweise schon fast auf den Fersen und ich war mir sicher, dass er mich schnappen würde, sollte ich mich jetzt umdrehen. Die letzte Option wäre natürlich noch Verhandeln. Aber daraus würde nichts werden, bemerkte ich schnell. Wir waren beide derzeit nicht sonderlich gewillt dazu. Außerdem war Diplomatie weder seine noch meine Stärke. Bei uns galt grundsätzlich: Ganz oder gar nicht. Mino würde mich schnappen und mich halb zu

Tode kitzeln. Und dann würden wir heute definitiv nicht mehr zum Üben kommen. Mit einem Mal hatte ich einen Geistesblitz. Natürlich! Ich konnte mir Minos Masse und seine Geschwindigkeit durchaus zu nutze machen. Außerdem war sein Reaktionsvermögen auch so gut, dass es funktionieren könnte. Ich warf den Blick kurz nach hinten. Er rannte vielleicht fünf Armlängen von mir entfernt und holte zügig auf. Ich bremste also ein wenig ab und Mino tat das, was ich vorausgesehen hatte. Er zog noch ein wenig mehr an, weil er dachte, dass er mich nun hätte. „Bitte, bitte, lass das hier jetzt funktionieren.“, betete ich stumm. Dann stemmte ich schlagartig die Fersen in den Boden, schlitterte noch ein Stückchen und machte mich dann sehr klein. Mino konnte nicht mehr abbremsen, vollführte aber – dank seiner Reaktionsgeschwindigkeit –

eine wunderbare Flugrolle über mich hinweg. Der erste Kontakt zum Boden war dann wohl nicht mehr so angenehm. Er schaffte es zwar noch sich über die Schulter abzurollen, krachte dann aber mit voller Wucht auf den Rücken und blieb liegen. Ich hatte mich auch schon wieder erhoben. Sollte ich nun zu den Anderen zurückrennen oder hierbleiben? Ich entschied mich für Letzteres, lief zu Mino hin und stellte ihm meinen Fuß auf die Brust. Nur um zu demonstrieren, wer hier der Sieger war. Er hustete daraufhin nur leicht röchelnd und zuckte mit den Lidern. Lieber Himmel. Er hatte sich doch nicht verletzt oder? Mehr fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. Ich ließ meinen Fuß aber erst einmal wo er war und stupste mit ihm behutsamer als ich ihn vorher abgestellt hatte gegen seine Brust. Mino stöhnte gequält auf. Das war der Punkt, an dem für mich klar war, dass ich wieder einmal jemanden verletzt hatte. Dieses Mal ganz ohne

Kraft von außen. Einfach nur ich. Carina. Verdammt! Ich nahm schlagartig den Fuß von Minos Brust und ließ mich auf die Knie sinken. „Nein, nein. Nicht schon wieder!“, schoss mir durch den Kopf. Dem am Boden Liegenden legte ich vorsichtig beide Hände rechts und links an den Kopf und bewegte seinen Hals umsichtig. Gut. Dieser war also nicht gebrochen. Dann hob ich mit zitternden Fingern Minos rechtes Augenlid an. Plötzlich schoss er nach oben und packte mich. Ich schrie, wie ich noch nie in meinem ganzen Leben geschrien hatte, nicht mal mehr als ich von Vaters Tod erfahren hatte. Doch jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Mino drehte mich mit Schwung auf den Rücken und fing auch schon an mich zu kitzeln. Ich schwor ihn umzubringen, wenn ich das hier durchgestanden hatte. Auch wenn das mit Sicherheit noch eine Weile dauern würde. Ach

ja. Und dann würde ich ihn bei Großmutter verpetzen.

Chaos

„Mino...“, japste ich atemlos und versuchte das Kichern zu unterdrücken. „Könntest du... wohl in Betracht ziehen...“, wieder erwischte er eine Stelle, an der ich ganz besonders kitzelig war. „... mir eine kurze Pause zu gewähren?“ Er dachte gar nicht daran. Wir beide lagen immer noch auf der Lichtung. Das Gras unter uns war nass vom Schnee und mein Körper konnte sich nicht entscheiden, ob er frieren oder schwitzen sollte. Ob es nun wegen der Kälte, der Hitze oder einfach nur wegen des vielen Lachens war (ich würde definitiv auf Letzteres tippen), auf jeden Fall bebte und bog sich mein Körper unter diesem Schrank von Mann. Mino hat meine Arme mit einem seiner Unterarme - seinem linken um genau zu sein - gegen den Boden gedrückt und auf eine mir schleierhafte Weise meine Beine am Boden festgeklemmt. Mit der rechten Hand malträtierte

er meine linke Hälfte. Ich musste wohl kaum festhalten, dass das überaus unangenehm war, speziell als er nun auch noch anfing mir in die Hüfte zu kneifen. Ich versuchte meine Arme freizubekommen, aber es war zwecklos. Mir war inzwischen auch klar geworden, wieso er mich ausgerechnet in dieser Position festgesetzt hatte. Zum einen um vermutlich meine persönliche Sphäre, wie er es so gerne nannte, nicht zu verletzen, auch wenn das für mich derzeit zweitrangig war, und zum anderen, damit ich nicht die Chance bekam, meine Knie zwischen ihn und mich zu schieben und ihn wegzudrücken. Nachdenken, Rina. Wie bekam ich ihn nur am ehesten von mir weg? Die einfachste Möglichkeit war mir soeben verwehrt worden. Ich könnte rein theoretisch versuchen, mich auf ihn zu rollen, aber wenn wir einmal unser Masse-Verhältnis außer Acht ließen, war da immer noch das Problem, was die Kraft anging.

Mino war im Gegensatz zu mir ein Bär und ich war eine Elfe. Eine verdammt kleine, zierliche, ziemlich schwache Elfe. Bevor ich weiter über eine Lösung philosophieren konnte, hörte ich ein lautes Krachen und fuhr erschrocken zusammen. Mit einem Mal hatte auch Mino aufgehört mich zu kitzeln und drehte sich auf den Rücken von mir herunter. Der Himmel war mit einem Mal tief schwarz geworden und ein frischer Wind kam auf, unangenehm eisig, sodass ich zu frösteln begann. „So leid es mir auch tut, Rina, das mit den Übungen wird heute nichts mehr werden.“, setzte Mino an und wurde schlagartig von einem weiteren lauten Donnergrollen unterbrochen. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern und kniff die Augen nervös zusammen. Gewitter waren noch nie so mein Ding gewesen. Mit Regen und Blitzen hatte ich kein

Problem. Blitze fand ich sogar wahnsinnig interessant, weil sie diese irrsinnige Energie besaßen. Magie war ja schließlich auch nicht anders aufgebaut. Man kanalisierte Energie in den Chakren seines Körpers und führte dann unter großer Konzentration mit Hilfe eines Befehls die gewünschte Handlung durch. Grundsätzlich brauchte man diesen Befehl nicht. Aber es half bei der Materialisierung der Energie, da man diese nur durchführen konnte wenn man absolut auf sie konzentriert war und das fiel eben leichter, wenn man das Gewünschte in Worte fasste. Man konnte Magie also auch als eine Sorte des Bändigens bezeichnen. Nur das man sozusagen das Ursprüngliche bändigte und kanalisierte und nicht das Resultat, wie zum Beispiel Wasser oder Feuer weiterverarbeitete. Über uns wurde der Himmel wieder von einem Grollen erschüttert. Mir jagte es einige Schauer

über den Rücken. Dieses knallende Geräusch dort oben erinnerte mich einfach immer an den Weltuntergang oder Ähnliches. Die ersten Blitze zuckten hell leuchtend etwas weiter von uns entfernt über den Himmel und man sah die dichten grauen Wolken von Osten heranrollen. Wir hatten noch maximal dreißig Minuten Zeit um unsere Strohpuppen zusammenzuräumen, die Sandsäcke abzuhängen und die Waffen in Sicherheit zu bringen. Speziell die Wurfsterne rosteten wahnsinnig leicht und auch den Messern tat übermäßig viel Wasser nicht sehr gut. Ich streckte meinen Hals und schaute mich um. Ich hatte ein ganz komisches Gefühl. Es kribbelte überall, so als stünde ich unter Strom. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Luft war voll von Energie, aber nicht die Menge, die ein herannahendes Gewitter normalerweise mit sich brachte. Sie war absolut überschwemmt davon, man konnte die Wellen die wie Fäden in der

Luft hingen, praktisch sehen. „Mino, ich glaube wir müssen uns beeilen. Mir kommt das alles hier ziemlich suspekt vor.“ Er war bereits dabei aufzustehen. „Dir auch?“, erwiderte er. Ich nickte und schaute mit sorgenvoll verzogenem Gesicht an den Himmel in Richtung der Gewitterwolken Mino streckte mir die Hand hin und zog mich hoch. Ich drehte mich einmal im Kreis und blieb mit meinem Blick bei unseren etwas weiter entfernt stehenden Wägen hängen. Ich kniff die Augen zusammen, mein Blick wechselte nun zwischen der immer schneller werdenden Gewitterwolke (Seit wann wurden Wolken schneller, wenn der Wind gleich blieb?!) und den Wägen hin und her. Kam es mir nur so vor oder zogen sie das vor Blitz und Donner inzwischen fröhlich zuckende Luftpaket an? Hier war definitiv etwas im Gange. „Siehst du das?“, fragte ich, deutete auf die

Wolken und dann zu den Wägen. „Die Wolken halten gezielt darauf zu. Und sie werden schneller.“ Mino kniff nun auch die Augen zusammen und schaute genauer hin. „Stimmt. Ich glaube wir sollten wirklich einen Zahn zulegen. Ich habe das Gefühl wir werden in kürzester Zeit ungebetenen Besuch bekommen.“ Nun hatte er mich erst Recht beunruhigt. Das Hallen des Donners war nun immer intensiver zu hören. Es war beinahe so, als ob er etwas Größeres ankündigen wollte. Und das gefiel mir überhaupt nicht. „Gehen wir die Sachen holen.“, sagte ich nun und versuchte meine Stimme ruhig zu halten. Doch das nervöse Flattern ließ sich nicht so einfach verdrängen. „Geh du die Waffen holen und verpacke sie sicher in den Leinensäcken, die bei ihnen liegen. Dann fängst du an Julius Sandsäcke von den Bäumen zu holen. Ich verstaue schnell die

Strohpuppen und helfe dir dann bei den Säcken. Verstanden, Rina? Gut, dann los!“ Die Waffen lagen ziemlich weit von uns entfernt, etwa in der Mitte der Wiese. Ich hatte bis jetzt gar nicht bemerkt wie weit wir uns gegenseitig gejagt hatten. Schliddernd und rutschend legte ich meinen Weg über das feuchte Gras zurück. Trotz dieser eher erschwerten Umstände erreichte ich das Arsenal schnell. Für jede Waffensorte war jeweils ein Sack zur Verfügung gestellt, der nochmals mit mehreren Kleineren Säcken gefüllt war, in die man die einzelnen Waffen hinein tun sollte. Sie alle waren weinrot, nur das Samtsäckchen, mit dem mir unbekannten Inhalt war schwarz. Ich sammelte vorsichtig die Wurfsterne ein und legte sie in die vorher aufgenommenen kleineren Säckchen Dann schirmte ich mit der einen Hand meinen Blick vor den Tropfen ab, es nieselte

inzwischen. Das mit den dreißig Minuten würde also ziemlich genau passen. Ich sah den Schatten eines Sterns, der hinten noch im Baumstamm steckte. Bis ich den wieder raus haben würde! Das würde lustig werden bei dem Wetter. Ich ließ die kleinen Säckchen einschließlich des einen Leerens in einen der größeren Säcke fallen, hängte ihn mir an den Gürtel und verknotete die sich daran befundene goldene Kordel. Dann griff ich nach dem Nächsten und wandte mich den Dolchen und Messern zu. Auch wenn ich eigentlich keine Zeit dazu hatte, betrachtete ich sie doch eingehend und bewunderte die filigrane Gravur, die jedes von ihnen hatte. Diese Unikate waren teilweise mit Runen, teilweise aber auch mit Namen oder Tiersymbolen geschmückt. Durch den Regen klebten meine Haare nunmehr am Kopf fest und rahmten, zusammen mit dem ganzen Wasser mein Gesicht ein. Das behindert

zwar ein wenig meine Sicht, hielt mich aber nicht davon ab gefühlvoll über die Klingen zu streichen. Schon quollen aus meinem Zeigefinger einige Tropfen Blut. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Auch wenn es keine meiner besten Eigenschaften war; aber ich hatte nun mal einen leichten Hang zu Masochismus. Und man konnte mich gerne auch als psychisch etwas angeknackst bezeichnen - das machten auch viele, wenn sie es zufällig mitbekamen -, aber ich verstand es manchmal sogar ein kleines Bisschen, wenn Leute sagten, dass sie sich nur lebendig und menschlich fühlten, wenn sie Schmerz empfanden. Das war schließlich das, was uns Menschen auszeichnete, die Empfindung von Schmerzen, sowohl physisch als auch psychisch. Dass wir ein Gewissen besaßen natürlich auch, aber das konnte man oft auch vernachlässigen, wenn man beispielsweise an gewisse Geschöpfe – ja,

ich nenne sie hier mit Absicht so - etwas weiter oben in der Hierarchie dachte, die sogar Kinder als ihre Diener hielten und das meist unter fast unzumutbaren Zuständen. Für einen Moment schloss ich meine Augen. „Tace sanguinem.“, wisperte ich leise. Auch wenn es altmodisch war, aber ich übte immer noch in den Worten der alten Magier meine Handlungen aus. Ich mochte diese neue, angepasste Sprache absolut nicht. Sie nahm der ganzen Sache die Würde und die Macht. Zumindest was den Wortlaut anging. Die Wirkung war absolut gleich. Langsam schloss sich der Schnitt wieder. Was diese Messer auch auszeichnete waren ihr Feinschliff. Sie waren nicht nur scharf, sondern glitten auch sauber, ohne irgendwelche ausgefransten Furchen zu hinterlassen, und absolut akkurat durch das Fleisch hindurch, bereiteten also nicht unnötig Schmerzen. Ich schaute auf die dünne Linie an meinem

Daumen hinunter. Heute Abend würde sie wieder komplett verschwunden sein. Das war das tolle an Magie: Man konnte zerstören, aber auch heilen. Abhängig davon, wie man sie lenkte und beherrschte. Vorsichtig platzierte ich jedes Einzelne dieser Kostbarkeiten in den Säcken und zählte nach. Die Messer waren vollständig, die Wurfsterne bis auf den einen, der im Baum hing, ebenso. Jetzt fehlten bloß noch die Pfeile, die zu Julius Bogen gehörten und das Samtsäckchen, dann war diese Sammlung hier vollständig. Die Wolken hingen inzwischen so gut wie über dem angrenzenden Wald und der Regen verstärkte sich zusehends. Ich musste mich definitiv beeilen. Das Samtsäckchen fand ich einige Schritte weiter im Schlamm. Umsichtig legte ich es in den Beutel mit den bereits gesammelten Wurfsternen. Jetzt galt es nur noch die einzelnen Pfeile und ihr Behältnis hier im Regen zu finden. Suchend

ging ich auf den Waldrand zu, als mit einem Mal ein lautes Krachen direkt neben mir ertönte. Keuchend machte ich einen Satz. Grundgütiger. Neben mir war so eben ein Blitz eingeschlagen. Und der hatte mich gerade einmal um ein oder zwei Fußlängen verfehlt. Das irritierende war, dass man an der Stelle, an der er eingeschlagen war, absolut keine Spuren sehen konnte. So als wäre er einfach durch den Boden hindurchgegangen. Ich stolperte rückwärts ein wenig in den Wald hinein. Das gerade eben war definitiv nicht normal gewesen. Auf keinen Fall! Mein Plan sah jetzt folgendermaßen aus: Ich würde die Pfeile holen und dann den Wurfstern aus dem Stamm ziehen. Die Säcke konnten bleiben wo sie sind. Ich würde in unseren Wagen zurückkehren und mich dort vor den Kamin setzen. Und darauf folgend würde ich Mino bitten mir zu erklären, was er mit diesem 'Besuch', den er vorhin erwähnt hatte, genau

meinte. Den Köcher für meine Freunde mit dem gefiederten Ende und der spitzen Schnauze fand ich ein wenig abseits gelegen an einem gefällten Baum unter dessen Krone. Bis ich sie dort herausgefischt hatte, ständig unter dem Zeitdruck, dass die Wolken immer näher kamen, dauerte es eine Weile Ich war mir jetzt schon ziemlich sicher, dass das zeitlich nichts mehr werden würde mit den dreißig Minuten. Bereits jetzt standen die Wolken so gut wie über uns. Wenn wir es rechtzeitig zu den Wägen schaffen wollten musste ein Wunder geschehen. Wie auf ein Stichwort hin begannen daraufhin die Geister und Engel dort oben ihre Badezuber auszukippen. Außer einem Vorhang aus Wasser vor meinen Augen sah ich absolut nichts mehr, bis auf einige Schatten auf der anderen Seite, die ich als unsere Wägen identifizieren konnte. Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich die

Lichtung nach Mino ab. Ich konnte ihn nirgendwo erkennen. Aber dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. Verdammt! Die Waffen. Ich schnappte mir den Köcher und stopfte die Pfeile in ihn hinein. Dann rannte ich, mehr stolpernd als gehend, zu den restlichen Säcken, packte sie und machte mich auf den Weg zu der Eiche, an der die Sandsäcke hingen. Ich brauchte unbedingt diesen Wurfstern. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick und wieder zuckten Blitze über den Himmel. So als hätte mich jemand gesehen und würde sie nun neu aufladen, um sie mir dann entgegenzuschleudern. Doch es kam nicht dazu. Plötzlich wurde ich von hinten um den Bauch herum gepackt und weggezogen. Ich zappelte wild mit Armen und Beinen. Als ich schließlich losgelassen wurde, drehte ich mich sowohl wütend als auch verunsichert um. Julius stand hinter mir.

Ich wollte gerade mit einer Schimpftirade einsetzen, als er mir rechts und links die Hände an die Wangen legte. „Alles in Ordnung mit dir?“, versuchte er gegen das Geheul des Windes und das Platschen des Regens anzubrüllen. Es gelang ihm nur minderwertig. Ich ließ das Brüllen aus diesem Grund gleich bleiben, nickte nur und streckte meinen Daumen nach oben, um ihm zu signalisieren, dass ich okay war. „Geh du zurück zu den Wägen! Ich hänge die Säcke ab und kümmere mich um Mino, hast du das kapiert?“, brüllte er weiter. Ich nickte wieder und schnappte mir meine Säcke. Doch dann fiel mir der Wurfstern wieder ein. Ich drehte mich wieder zu Julius um und öffnete den Mund um anzusetzen, aber er war bereits dabei zu den Säcken und damit auch gegen den immer stärker werdenden Wind

anzurennen. Die Wolken waren jetzt über uns und die Blitze zuckten wie schussbereite Gewehre über den Himmel, bereit auf Befehl sofort zu feuern. Und damit ging es auch schon los. Die ersten Energiesäulen stürzten vom wolkenverhangenen, grau gewordenen Firmament (Ja, es war definitiv so dunkel, dass man das schon sagen konnte!) herunter und verfehlten mich nur knapp. Harken schlagend wie ein Hase rannte ich nun auf die Wägen zu. Einen Sack am Gürtel hängend, den Köcher auf dem Rücken und den andere Sack mit den Dolchen und Messern vor mir her tragend, wurde ich von immer schneller und ungleichmäßiger einschlagenden Blitzen verfolgt. Wenn ich lebend an den Wagen ankam, würde ich definitiv erst mal schlafen. Und dann würde ich ein ernstes Gespräch mit Großmutter und dem Rest führen müssen. Es konnte einfach

nicht sein, dass sie mir tatsächlich nichts verschwiegen hatten. Erst Recht nicht, wenn das alles für so ein Szenario sorgte. Dieser Beinahe-Weltuntergang war definitiv nicht natürlichen Ursprungs. (Aus irgendeinem Grund endeten die meisten meiner Probleme mit so einem Gedankenzug. Auch das kam mir jetzt in den Sinn.) Aber ich hatte weitaus größere Schwierigkeiten in diesem Moment. Unsere Wägen lagen noch mindestens hundert Schritte weit entfernt und die Waffen an meinem Körper wurden immer schwerer. Zudem hatte ich auch das Gefühl, dass die Blitze immer schneller und präziser kamen. Wenn mir nicht schnell etwas einfiel würde ich ernsthafte Verbrennungen an allen möglichen Körperteilen riskieren und das würde mit Sicherheit alles Andere als lustig sein. Fieberhaft suchte ich, weiterhin Harken schlagend, nach einer

Lösung. Ich könnte es mit einem einfachen Schildzauber versuchen. Der zerrte zwar stark an meinen körperlichen Kräften, aber er konnte mich bis zu den Wägen vor den meisten Blitzen beschützen. Wo blieb diese überirdische Kraft, wenn man sie mal brauchte?! Kam immer dann hoch, wenn man sie am wenigsten benötigte, aber jetzt? Pustekuchen. Obwohl... Ich dachte einige Augenblicke nach. Natürlich. So könnte es funktionieren. Ich versuchte mich mit geöffneten Augen zu konzentrieren. Normalerweise war es so, dass man seine Chakren mit geschlossenen Augen öffnete, um seine innere Ruhe zu finden. Das beschleunigte die Sache. Aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich musste schließlich noch auf die ganzen leuchtenden und zischenden Blitze achten, die mir um die Ohren geschmissen

wurden. Langsam öffnete ich eine Bahn nach der Anderen. Zuerst machte ich den Kopf frei, dann folgten die Restlichen, immer näher arbeitete ich mich in Richtung meines Herzens vor – sozusagen die Quelle des Stromnetzes, dass durch meinen gesamten Körper lief... Als Letztes stand nur noch das Haupt-Chakra an, dass sich ungefähr zwei Fingerbreit unterhalb meines Herzens befand. Es war eine Art Unterbewusstsein, dass die meiste Macht speichern und kanalisieren konnte. Vorsichtig öffnete ich auch diese Tür. Würde ich zu schnell sein, würde ich eiskalt wieder hinaus geschmissen werden. Das tat zum einen ziemlich weh - man wurde nämlich meiner Erfahrung nach wortwörtlich hinaus geschmissen und flog erst einmal einige Meter nach hinten - und war zu diesem Zeitpunkt denkbar ungünstig. Die in den Dorfkneipen sollten das mal bei

Betrunkenen versuchen. Das würde hundert-pro wirken und auch zukünftige Pöbler abschrecken Dann war auch endlich dieses Chakra frei und die Energie begann durch mich hindurch zu fließen und sich zu verstärken. Der Wahnsinn! Das war das erste Mal, dass ich es schaffte sie kontrolliert über längeren Zeitraum durch meinen Körper gleiten zu lassen. Normalerweise hielt ich diese immense Kraft gerade Mal einige Augenblicke aus. Eine angenehme Wärme durchflutete meinen Körper von meinem Herzen ausgehend nach außen hin. Ich hatte fast schon das Gefühl als würde ich leuchten. Das durfte man sich jetzt natürlich nicht als eine Art menschliche Fackel vorstellen, sondern eher als eine Art sichtbare Aura, die in einem hellen Blauton leuchtete – wenn man sich überhaupt so fühlen konnte. Es war auf jeden Fall recht

seltsam. Inzwischen lief ich, innerlich hellblau glühend, ein wenig langsamer. Die Blitze um mich herum hatte ich ausgeblendet. Auf eine sonderbare Art und Weise hatte sich alles plötzlich verlangsamt und ich schien irrsinnig viel Zeit zu haben. Also gestattete ich mir kurz stehen zu bleiben. Schnell schaute ich mich um. Für einen Moment hatte ich das Gefühl außerhalb dieser Zeit und dieses Raumes zu sein. Einfach nur da und doch wieder nicht. Das Beste wäre wohl, wenn ich einen Schutzschild aus Luft herbei holen würde. Mit den anderen Elementen hatte ich es ja derzeit noch nicht so – hoffentlich würde sich das bald ändern – und ich konnte das Risiko jetzt nicht eingehen, durch eine falsche Bewegung in Brand zu geraten oder die Lichtung zu überschwemmen. Ich atmete drei mal tief und meditierend ein.

Als ich das Gefühl hatte vollkommen Herr über mich zu sein, streckte ich meine Hände seitlich aus,die Handteller gegen den Himmel gerichtet, gerade so unter Spannung, dass ich nicht verkrampft war. Ich nahm mir ein wenig von der Energie, die immer noch in und um meinem Körper herum waberte, und leitete sie über meine Hände nach außen. Als nächstes schloss ich die Augen, konzentrierte mich und vollführte mit meinen Hände kleine kreisende Bewegungen. Das konnte man als übertrieben ansehen, da es nur zwei kleine Worte waren, die ich zu sprechen hatte, aber gerade Schutzmagie konnte immens nach hinten losgehen, wenn man in ihrer Anwendung auch nur den kleinsten Fehler machte. Darauf folgend hob ich mein Gesicht und schaute zum stürmischen, wolkenverhangenen dunklen Himmel hoch. Die Regentropfen liefen mir eine nach der anderen über das Gesicht.

Doch ich empfand es nicht als Hindernis, das Gewitter machte mir nichts mehr aus. Ich erhob meine Stimme. „Aero obtempere!”, schallte es trotz des starken Donners und des heftigen Geräuschpegels laut und deutlich über die Lichtung. Die Zeit stand nun nicht mehr still und alles begann sich wieder zu rühren. Ich spürte bereits wie mir das Element um die Schulten strich. Über Schildzauber konnte man sich grundsätzlich streiten. Ja, sie waren Elementarbändigung, aber auch gewöhnliche Magier brachten sie zustande... Also war es wohl doch kein reines Bändigen. Fest stand jedenfalls, dass es eine ziemlich komplexe Angelegenheit war; sowohl für Bändiger als auch für Magier. Mich überraschte am meisten, dass es mir sogar ausnahmsweise sehr gut gelungen war. Der Schild schlang sich wie er sollte um meinen

gesamten Körper und passte sich ergonomisch an. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich von einer zweiten Haut umgeben – genau so wie es laut Großmutter sein sollte, damit er wirklich dicht war... Ein Blitz schlug wieder ein und floss seitlich an mir herunter. So als würde sich das Energienetz jetzt um mich herum spannen und nicht mehr durch mich hindurchgehen. Viel wichtiger war aber: Ich war sogar hitzeresistent! Ich fror plötzlich nicht mehr, meine Körpertemperatur hatte sich anscheinend stabilisiert und spürte auch nichts von der gewaltigen Hitze, die die Blitze ausstrahlten, und die vorher, obwohl sie nichts am Boden versengten oder verbrannten (noch ein Zeichen dafür, dass es magische Blitze waren!), sehr gut spürbar gewesen waren. Dummerweise konnte man das von Wasser nicht behaupten. Die Regentropfen vielen einfach

hindurch und landeten weiterhin auf meinem ohnehin bereits durchnässten Körper. Tja, dumm gelaufen, Carina. Zu meinen Gunsten musste man sagen: Wasser war noch nie mein bevorzugtes Element gewesen. Ich konnte ja nicht einmal schwimmen... Außerdem ist dieses flüssige Etwas doch wirklich eklig. Nass, kalt und krankheitsrisikofördernd. (Alle die anderer Meinung waren, erinnerte ich jedesmal daran, wenn sie wieder erkältet waren oder die Grippe hatten.) Irgendjemand erzählte mir später, dass ich von Weitem wirklich beeindruckend ausgesehen hatte. Mein gesamter Körper glühte laut ihm hellblau, meine Haare schwebten in der Luft und ich war ein wenig vom Boden abgehoben. Zusammen mit den ausgestreckten Armen und dem Schild musste das wirklich phänomenal ausgesehen

haben. Ich begann mich im Kreis zu drehen, den Schild fest im Griff. Schließlich senkte ich langsam meine Arme, den Zauber immer noch aufrecht erhaltend. Die beiden Jungs konnte ich nirgendwo sehen. Wahrscheinlich waren sie noch am Waldrand hinten und schützen sich vor dem Wind und den Blitzen. Ich drehte mich weiter und prompt fiel mir der Wurfstern ins Auge. Meine Entscheidung war getroffen, Langsam nahm ich den Sack, den ich vorher über den Schultern getragen und zum beschwören abgelegt hatte wieder hoch und hängte ihn zurück an seinen Platz. Ich brauchte diesen Stern. Und ich würde ihn noch holen, bevor ich zu den Wägen zurück ging, das stand fest. Also schaute ich schnell nochmals über die Schultern, ob auch niemand da war. Die Blitze

regneten immer noch vom Himmel. Da sie mir jetzt aber nur noch bedingt etwas anhaben konnten, war das vorerst einmal das Letzte worauf ich mich konzentrierte. Viel wichtiger war jetzt den Schild auch noch für diesen Umweg aufrecht zu erhalten. Sonst... Ich wollte das lieber nicht zu Ende denken. Ich setzte mich in Bewegung, immer einen Fuß vor den Anderen, immer schneller werdend, sodass ich schließlich schier auf den Baum zurannte. Der Stern steckte dankenswerterweise in Kopfhöhe, sodass ich ohne weitere Komplikationen danach greifen konnte. Ich hob bereits meinen Arm, hielt dann aber auf halbem Weg inne. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ich spürte ein leises Ziepen von Irgendwoher, und wurde nachdenklich. Was hatte ich übersehen? Ich senkte den Arm wieder. Natürlich. Wie konnte ich das vergessen?!

Wenn ich den Stern jetzt einfach so berührte, bestand die Möglichkeit, dass der Schild leicht wie eine Seifenblase zerplatzte, da ich ihn ja nur für mich angepasst hatte und nicht für Außenstehende. Aber was war nochmal nötig gewesen, um ihn auf einen Gegenstand auszuweiten? Man musste seine Energie auf das andere Objekt übertragen und es darin einhüllen; dann musste man sein eigenes Netz langsam in diesen Bereich hinüberfließen lassen und es gleichzeitig noch verstärken, damit die der Schutz konstant blieb. Hörte sich sehr komplex an... War es auch. Diese Sache hatte ich nur einmal ausprobiert. Mit dem Resultat, dass es nicht geklappt hatte. Damals war es aber nur so gewesen, dass Großmutter mich mit Wasser bespritzt hatte, sozusagen als Angriff. Das Einzige was am Schluss passiert war, war dass ich patsch nass

gewesen war. Diese Sache hier war definitv heißer – wortwörtlich. Dieses Risiko, dass damit einherkam, dass ich nicht wusste was passieren würde, konnte ich jetzt aber eigentlich nicht eingehen, da ich mir ziemlich sicher war, dass ich weder die Kraft noch die Zeit zum erneuten Heraufbeschwören eines Schildes hatte. Und die Blitze standen schon spürbar bereit und warteteten nur darauf, dass irgendwo eine Lücke entstand und sie mich versenken konnten. Denk nach, Rina! Zur Hölle noch Mal! (Normalerweise fluchte ich nicht so viel wie in letzter Zeit, aber besondere Situationen erforderten halt nunmal besondere Ausnahmen.) Mir blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, wenn ich diesen vermalledeiten Stern haben wollte. Entweder es funktionierte, oder nicht. Entweder der Schildzauber hielt oder ich wurde ins jenseits oder sonst wo hin befördert. Da gab es keine Grauzone. Man konnte ja

schließlich auch nicht 'ein bisschen tot' sein. Es gab nur hü oder hott. Also gut... Ich atmete nochmals tief durch. Bisher hatte doch alles einigermaßen gut geklappt: Das Training war erfolgreich gewesen – zumindest annähernd. Mein Schild hielt – zumindest bis jetzt. Und wenn ich Glück hatte wurde ich nicht gegrillt – zumindest bestand die Chance, dass die Energie des Schildes sich nicht neutralisierte. Wie in Trance griff ich ich nach dem Stern. Der Schutzschild zersprang in tausend Scherben. Der Blitzhagel kam. Das war's wohl.

Hilflos

So fühlte es sich also an, wenn man tot war. Irgendwie hatte ich mir das immer anders vorgestellt. Ich versuchte meine Augen gegen das grelle Strahlen, dass überall war, abzuschirmen. Es half nicht wirklich. Wie schon gesagt: Irgendwie hatte ich mir das total anders vorgestellt. Alles um mich herum war weiß und blendete ziemlich stark. Und da waren auch nirgendwo die Engel, die mich erwarten und eine Ebene weiter hätten bringen sollen. Ob nun ins “Paradies”, wie Großmutter es immer genannt hatte oder einfach nur ins nächste Leben war mir persönlich eigentlich Schnurz. Ich hatte nur erwartet, dass zumindest jemand da war, um mich zu begleiten. Natürlich wäre auch diese unendlich weite, wunderbar grüne Wiese wundervoll gewesen.

Die, auf der ich saß, als ich meine Mutter vor einigen Tagen das erste Mal 'gesehen' hatte. Merkwürdigerweise fühlte sich die Zeitspanne zwischen dem Hier und Jetzt und dem 'Damals' schon eindeutig länger an. Es war einfach absolut unglaublich, dass sich mein Leben innerhalb einem solch kurzen Ausschnitt meines Daseins komplett gedreht hatte. Inzwischen weiß ich, was Großmutter damit gemeint hatte, als sie vor einigen Monaten einmal meinte, dass erwachsen werden definitiv nicht unkompliziert sei. Wenn man dazu nur wenige Wochen Zeit hatte, spitzte sich die Lage natürlich nochmal mehr zu. Geblendet durch das helle Weiß kniff ich meine Augen zusammen und versuchte erfolglos irgendwo ein Ende dieser Ebene, man konnte es fast schon Eiswüste nennen, zu erkennen. Um mich herum war tatsächlich Nichts. Ernsthaft N-I-C-H-T-S.

Nichts. Ich versuchte mir die Situation klar zu machen. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein. Jetzt starb ich schon, ließ meine Großmutter und meine Leute in dem ganzen Schlamassel daheim zurück und dann kam noch nicht einmal jemand um mich zu empfangen. Bin ich denn ein verdammtes Telegramm? Bestellt und dann doch nicht abgeholt, oder wie? So langsam wurde ich ernsthaft wütend. Das konnte einfach nicht sein. Entweder war das Ganze hier ein ziemlich müder Scherz oder die ließen mich hier tatsächlich eiskalt alleine. Was sollte das? Resigniert stieß ich einen tiefen Seufzer aus. Diese Fragerei würde mir auch nicht weiterhelfen. Ich schaute an mir herunter, meine Arme genervt in die Seiten gestemmt. Zumindest hatten sie mir meine Kleidung gelassen... Obwohl. Irgendetwas war anders. Ich schute

wiederholt meine Kleidung an, machte einige Schritte, um zu kontrollieren ob noch alles heil war. Kein Problem, das Ganze. Mit einem Mal fiel bei mir der Groschen. Natürlich: Ich war trocken! Die durch das Wasser festgeklebten Haare fielen säuberlich über meine Schultern und meine Leinenklamotten hingen locker an meinem Körper, so wie ich sie heute Morgen angezogen hatte, als ich mich auf den Weg zu den Übungen mit Mino und Julius gemacht hatte. Heißt das nun, dass Sie meine Seele aus meinem Körper befreit hatten? Wer auch immer Sie waren, aber ich war bereits dankbar dafür, dass sie mich getrocknet hatten und ich nun nicht krank werden würde. Laut und frustriert lachte ich auf. Krank werden... Pff... Das war ja auch so eine Sache mit der ich ab jetzt wohl keine Komplikationen mehr haben würde. Wer tot war konnte schließlich nicht

erkranken. Genervt blickte ich mich wieder um. Vielleicht befand sich ja doch jemand in diesem Raum und ich musste einfach nur erstmal rufen, damit er mich bemerkte? Hörte sich zwar auf den ersten Blick (und das beim Hören!) ziemlich banal an, aber einen Versuch war es wert. Zeit hatte ich ja sowieso in Massen nach diesem unglücklichen Zwischenfall... Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, als etwas an meiner Schulter unangenehm zu zerren anfing. Irritiert drehte ich den Kopf. Niemand war zu sehen... Aber das Ziehen ließ auch nicht nach. Woher kam dieses Gefühl also? Langsam drehte ich den Kopf wieder nach vorne. Außer dem weißen Glühen konnte ich nirgendwo etwas oder jemanden erkennen. Immerhin hatten sich meine Augen inzwischen an die Helligkeit gewöhnt. Das war wenigstens schon mal etwas. Ich schaute mich weiter um, als mich plötzlich ein markerschütterndes

Brüllen zusammenfahren ließ. Dann war alles wieder still. Ich schaute mich erneut irritiert um. Meine ohnehin schon abgefahrene Paranoia verwandelten sich wohl langsam in eine ernstzunehmende Halluzination... Ich lief einige Schritte nach vorne, um nachzusehen, ob dieses Weiß nicht möglicherweise doch irgendwo ein Ende hatte. Bisher hatte ich noch keines gefunden, also lief ich, meinen Gang beschleunigend, weiter. Rechts von mir: Nichts außer weißer Leere. Links die selbe optische Eiswüste, diese Ebene wies nicht einmal die kleinste Schattierung auf. Es gab keinen Schmutz, keine Flecken, nur weiß. Überall weiß. Eine weiße durchdringende Wüste, ohne jegliches 'Etwas'. Mal ganz ehrlich. Wenn das hier das Paradies war, gefiel es mir definitiv nicht. Das helle Strahlen tat mit der Zeit in den Augen weh und... Mit einem Mal hörte ich erneut panische

Schreie und dieses Mal zusätzlich noch einen Geräuschpegel im Hintergrund, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Okay. Ich schüttelte mich verkrampft, als es mir den Rücken runter lief. Das war definitiv keine Einbildung gewesen. Bestätigt wurde ich dadurch, dass der ganze Krach immer noch nicht nachgelassen hatte. Irgendetwas fegte umher, so als würde ein Sturm herrschen. Es krachte und kreischte überall, rund um mich herum, so als würde etwas mich umkreisen. Man hörte Holz splittern, einige Detonationen, das Zischen von Feuer oder Ähnlichem und ein sonderbares Murmeln... Rasend vor Angst drehte ich mich meinerseits nun im Kreis. Da war doch gerade eben nichts gewesen... Und es war immer noch nichts da. Wo, verdammt, wo sollte hier etwas sein?! Was zur Hölle war eigentlich mit mir los? Mein Kopf fing an unkontrolliert zu zucken. Ich bekam es nur

mühsam in den Griff. Irgendetwas stimmte hier absolut nicht... Auf der Suche nach der Quelle dieses Chaos' drehte ich mich immer weiter. Der Geräuschpegel hielt an, wollte nicht versiegen. Alles wurde immer lauter: Das Kreischen, das Zerbersten von irgendwelchen Gegenständen, das Geräusch des Sturms im Hintergrund. Alleine vom Zuhören bekam ich schon das Gefühl als wäre die Apokalypse angebrochen. Und ich war mittendrin. Um mich herum sah immer noch alles friedlich und einfarbig - Konnte man Weiß überhaupt als eine Farbe bezeichnen? - aus. Und gerade das machte mich unruhig. Mein Kopf fing erneut an zu zucken. Dieses Mal war es noch schwieriger es wieder zu kontrollieren. Das hier war definitiv nicht normal. Obwohl. Was war schon 'normal', wenn man tot war? Ich versuchte mich zu beruhigen. Wahrscheinlich war ich einfach nur ein wenig

gestresst und überfordert. Mehr war es nicht. Genau. Tief durchatmen, Rina. Ganz ruhig. Ich zuckte zusammen. Der Lärm war wieder angestiegen und die Schreie wurden deutlicher. Ich hörte wie mein Name ausgestoßen wurde, immer und immer wieder. “Carina... CARINA!”, hallte es in meinem Kopf. Eine zweite Stimme kam nun hinzu. “Du kannst ihr nicht mehr helfen. Lass ab von ihr.”, murmelte es monoton. Die erste Stimme ignorierte die zweite und schrie weiter meinen Namen. Inzwischen hatte ich diese - die erste - Stimme auch erkannt. Es war die von Julius. Die andere Stimme kannte ich nicht. Ich hörte nur, wie Julius weiterhin panisch nach mir schrie. Mit einem Mal wurde mir klar, was passiert war. Daran hatte ich vorher gar nicht gedacht. Ich sank in mich zusammen, konnte aber dankenswerterweise noch stehen. Himmel hilf.

Sie hatten meinen toten Körper gefunden. In meinen Ohren war nun zusätzlich zu all dem noch ein sonderbares Rauschen eingetreten, als ob meine Empfindungen komplett gestört worden wären. In Ordnung. Das waren sie schließlich auch... Aber... “Wir werden sie mitnehmen. Nur zur Sicherheit.”, sprach als nächstes wieder die zweite Stimme. Sie hatte eine rauen Ton, sodass es mir sämtliche Härchen aufstellte. Schmirgelpapier auf der Haut, so ähnlich fühlte es sich an. Ich spürte wie Julius sich wehrte und hörte, wie er den anderen Kerl verfluchte. Es half nichts. Er verlor. Eine Welle aus Gefühlen brach über mir zusammen. Ich spürte alles; die Panik, die Angst vor dem, was kam, was sie ohne mich nun tun sollten, ob jetzt alles umsonst gewesen war, die Trauer über meinen Tod. Aber auch den Trotz, dass sie nicht realisieren konnten, dass ich nicht mehr bei

ihnen war. Das alles kam über mich. Und ich war damit komplett überfordert. Im Versuch diese Flutwellen von Trauer, Verlust und Schatten auszusperren, kniff ich meine Augen zusammen und hielt mir die Ohren zu. Ich wollte sie nicht hören, ihren Schmerz nicht fühlen. Es brachte rein garnichts. Die Schreie kamen geradewegs aus meinem Inneren. Es schrie nicht um mich herum, sondern tief in mir drin. Der Zug auf meinen Schultern war immer noch da und hatte sich zusammen mit der psychischen Belastung inzwischen zu einer Tortur entwickelt. Ich schüttelte meine Muskulatur kurz und bewegte meine Schultern, um das Gefühl abzuwerfen. Das Zerren ließ ein wenig nach, um aber im nächsten Moment noch stärker einzusetzen. Die Schreie wurden lauter, die Geräusche nahmen weiter zu. Nun fing ich selbst an zu schreien. Es war einfach zu viel. Himmel, konnte das nicht aufhören? Mein Kopf

fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Es pochte und pumpte hinter meiner Stirn wie verrückt. Stöhnend griff ich nach meinen Schläfen. Mein ganzer Körper zuckte unkontrolliert. Es fühlte sich mit einem Mal so an, als würde ich von innen nach außen verbrennen. Ich riss meinen Kopf zurück und begann zu schreien. Nicht so, wie sich meine Stimme normalerweise anhörte, sondern hohl und hoch. So als würde man mein Inneres geradewegs aus mir heraussaugen. Langsam sackte ich nach vorne auf die Knie, den Kopf immer noch nach hinten gelegt, die Augen gequält aufgerissen. Ich bewegte meinen Körper vor und zurück, in einer Art krankhaftem Pendelschwung. Früher hatte mir das immer geholfen, wenn ich schmerzen gehabt hatte, dieses Mal half es absolut nichts. Es wurde nicht besser, sondern steigerte sich immer mehr. Inzwischen schrie ich nur noch, dieses Gefühl war einfach

unerträglich. Ich packte mit meinen Händen nach meinen Haaren, so als könnte ich den einen Schmerz durch die Zufügung eines anderen aufhalten, was Schwachsinn war., aber ich war wie in Trance. Das Einzige was ich spürte war diese Folter, das Gefühl, lebendig verbrannt zu werden. Konnte diese Qual nicht endlich nachlassen? Ich rupfte mir ein Büschel nach dem Anderen heraus. Der Schmerz verging nicht. Stattdessen wurde er immer schlimmer. Ich hatte die Hoffnung, dass es nicht mehr heftiger werden konnte, aber die erneute Steigerung bewieß mir das Gegenteil. Als nächstes grub ich meine Fongernägel in meine Backen und Arme und riss meine Hände ruckartig nach unten, sodass ich blutige Striemen hinterließ. Der rote Saft aus ihnen lief nun, wie blutige Tränen, über mein Gesicht und meinen Körper und tropfte auf den weißen Boden. Einige Strähnen meiner blonden Haare

folgten. Meine Haut war inzwischen leichenblass. Krankhafterweise viel mir genau in diesem Moment ein Zitat aus einem Märchen ein, dass mir Großmutter immer erzählt hatte. Lippen, rot wie Blut. Haar, schwarz wie die Nacht. Bring mir dein Herz, geliebte Snow White. Schneewittchen. Eine meiner liebsten Geschichten. Bloß, dass in meiner Version, die sich hier gerade abspielte, Schneewittchen helle Haare hatte und die böse Königin gewinnen würde. Unterdessen konnte ich mich nur noch schwach mit den Armen abstützen. Mein Körper konnte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Alles an mir zitterte. Gleichzeitig schwitzte ich aber. Kälte und Hitze stürmten zur selben Zeit auf mich ein. Der Schmerz hatte immer noch nicht nachgelassen. Ich fragte mich, was ich getan hatte, dass man mich so bestrafte. Gut. Ich hatte nicht immer die beste Seite von mir gezeigt, war auch oft gemein gewesen. Aber das

hatte ich nun ernsthaft nicht verdient, oder? Das hatte niemand verdient, nicht einmal der schlimmste Mörder. Dieser eine Gedankenzug würde später einmal großen Einfluss auf mein Handeln nehmen, auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt nicht wusste. Aber das war der Moment, indem ich mir schwor, niemals jemandem unnötig Schmerzen zu bereiten oder ihn gar auf solch eine grauenvolle Art zu töten, wie ich sie gerade erfuhr. Auf einmal war der Schmerz weg. Einfach weg. Es war schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlte. So, als würden Millionen von Federn über meine Haut streicheln. Vermutlich war das die beste Umschreibung. Ich empfand ich eine sonderbare Behaglichkeit. Die Hitze, die vorher noch von meinem Innern ausgegangen war, hatte sich in eine wohlige Wärme verwandelt. Die Kälte meiner Haut war

verschwunden. Das Problem war bloß, dass ich dieser ganzen Situation nicht traute, was sich auch direkt als berechtigt erweisen sollte: Mein Puls ging immer schneller, flatterte geradezu. Es fühlte sich an als hätte nun jemand meine Kehle gepackt und würde zudrücken. Ich fing an zu röcheln. Dann sackte mein Oberkörper nach vorne. Langsam schnürte man mir die Luft ab. Ich versuchte mich verzweifelt dagegen zu wehren, doch immer weniger Luft strömte in meine Lungen. Das Zittern von vorhin setzte wieder ein. Verkrampft liefen mir Tränen über die Wangen, fluteten geradezu mein Gesicht. Meine Stirn ruhte auf dem Boden, der Oberkörper war gebuckelt, meine Knie gegen das Weiß unter mir gepresst. Innerlich bereitete ich mich bereits darauf vor, dass die Folter von vorhin gleich wieder einsetzen würde. Oder, dass es endlich vorbei mit mir sein würde. Ich hatte mich getäuscht. Schlagartig spürte ich

gar nichts mehr, stattdessen fühlte sich alles leicht an. Eine leichte Brise fuhr über meine Haut, sanft wie Seide umspannte sie mich. Die Striemen an meinem Arm verschwanden, der Blutstrom versiegte. Mein Körper entkrampfte und streckte sich. Meine Wirbelsäule wurde gedehnt. Ich saß inzwischen wieder schmerzlos auf meinen Knien. Es fühlte sich herrlich an, beinahe schon so herrlich, dass es weh tat. Alles war aufrecht und auf eine sonderbare Art und Weise angenehm weich. Vorsichtig stand ich auf. Die Blutungen waren verschwunden. Der Schmerz ebenso. Mit einem krankhaften Lachen, das beinahe schon in einem Aufheulen endete, drehte ich mich einmal im Kreis. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich einige Fuß breit über dem Boden schwebte, strahlend weiß und mit ausgestreckten Armen. Ich sah aus wie eine Lichtgestalt. Breit grinsend schaute ich an mir herunter. Meine Haut war nun wirklich schneeweiß,

meine Fingernägel glänzten silbrig. Die Haare flatterten in feinen Wellen um mich herum. Meine Kleidung hatte sich ebenso verändert. Die Leinenhose und das Hemd waren verschwunden, an ihre Stelle trat nun ein seidig weiches, schimmerndes Kleid. Statt Ärmeln besaß es nur zwei Tücher, die sich kreuzweise um meine Arme geschlungen hatten und locker, etwa zwei Hand breit oberhalb meiner Pulsadern endete. Der Rock des Kleides war hinten etwa bodenlang und vorne skandalös kurz. Er fiel einfach, ohne jegliche Verzierung und hörte einige Finger breit oberhalb meiner Knie plötzlich auf. Die einfachen Sandalen waren durch unglaublich weiche Lederstiefel ersetzt worden, die bis zu ihrem Schaftende geschnürt waren. Der Schaft an sich war oben einmal umgelitzt. Auf meinem Rücken thronte ein Köcher mit Langbogen und einigen Pfeilen.

Der Bogen war im Gegensatz zu meinem restlichen Gewand reichhaltig verziert mit diversen Symbolen. Einige davon konnte ich als Schutzzauber ausmachen, aber mindestens genauso viele waren mir absolut unbekannt. Das Einzige was mir geblieben war, war der Beutel an meinem Gürtel. Dieser Gürtel saß aber nicht mehr an meinem Becken, sondern auf meinen Hüften, etwa auf der Höhe des Bauchnabels. Vorsichtig entknotete ich die Bänder, die ihn zusammenhielten. Dem Himmel sei Dank. (In Ordnung, das war sarkastisch.) Die Wurfsterne waren noch da. Vorsichtig strich ich über ihre Oberfläche. Irritiert bemerkte ich, dass einige Wölbungen und Vertiefungen vorhanden waren. Ich schloss die Augen und fuhr konzentriert die einzelnen Wege nach. Es waren erneut Symbole und zwar die selben, wie die auf meinem Bogen.

Ich ging jeden einzelnen Stern durch und überprüfte meine Festselltung. Beim Vorletzten blieb ich hängen. Er war versenkt, das Metall geschunden. Umsichtig rieb ich das Ruß von seinen Zacken. Es dauerte einen Moment, aber dann glänzte er wieder fast so schön wie vor meinem “Unfall”. Ich war inzwischen durchaus zufrieden mit meiner Situation, zumindest so zufrieden wie man als Tote sein konnte, die ihre Familie allein lassen musste. Der Schmerz war weg, der Geräuschpegel ebenso. Erleichtert strich ich mit meinen Fingerspitzen über meine Hände, tastete vorsichtig nach meinem Gesicht und traute mich sogar, die nackte Haut unterhalb meines Rockes zu berühren. Alles war warm, angenehm, wundevoll, himmlich (Schon wieder diese Ironie!), ich konnte keine passende Umschreibung finden. Entspannt lehnte ich mich nach hinten und ließ

mich fallen. Der Untergrund war , obwohl ich schwebte, mindestens genauso weich, wie ich mich fühlte. Genießerisch schloss ich die Augen, die Arme ausgerbreitet und atmete tief ein und wieder aus. Man konnte kaum glauben, wie traumhaft freies Atmen war, wenn man vorher nicht einmal die Luft versagt bekommen hatte. Federleicht, so konnte man es möglicherweise nennen, ich fühlte mich federleicht. Leider währte dieses himmlische Gefühl nur kurz. Mit einem Mal setzte ein unglaublicher Sog in meinem Innern ein, meine Substanz wurde löchrig und fing an zu flimmern. Der Schmerz trat wieder auf. Zwar in abgeschwächter Form, aber es reichte aus, um mir den Rest zu geben. Aufgeweckt war so gut wie nie eine schöne Sache. Es geschah meistens ziemlich unfreiwillig und war prinzipiell immer mit erzwungenem Aufstehen verbunden. Auch bei

mir war es dieses Mal nicht anders: Normalerweise war es zwar so, dass irgendjemand meinte, er müsse die Vorhänge aufreißen, um Licht hereinzulassen oder es wäre seine Aufgabe dir die Decke wegzuziehen und dich damit aus deinen Träumen zu scheuchen. Keine bequeme Sache also. Das Problem mit der Wärme blieb mir erspärt. Mich quälte kein Temperaturunterschied, weil mir sowieso schon kalt war. Auf meinem Körper landeten nämlich nasse Tröpfchen, verteilt auf meinen gesamten Gliedmaßen, was allgemein seinen Part zu meiner Abkühlung beitrug. In diesem Moment klatschte mir etwas besonders großes Nasses ins Gesicht. Na wunderbar, meine Nase war hiermit offiziell abgeschossen worden. Mit verschlafenem Klimpern meiner Wimpern schlug ich die Augen auf. Ich lag auf dem Rücken und schaute nach oben. 'Oben' war

ziemlich milchig, musste ich mir eingestehen, und wolkig noch dazu. Um mich herum standen auch noch einige weiß verzierte Bäume.Die Schlussfolgerung brauchte ein wenig um mein Gehirn komplett zu durchdringen. Als dies aber (endlich) erfolgt war, setzte ich mich schlagartig auf. Tatsächlich! Ich sah Tannen. Jede Menge schneeverhangene Tannen! Meine Begeisterung war riesig. Ich lebte. Ich war nicht tot, ich lebte ernstahft noch. Lachend klopfte ich mit beiden Händen in den Schnee, die Flocken soben nur so um mioch herum. Die Kälte, die bereits vor geraumer Zeit begonnen hatte meinen Körper zu durchfluten, bemerkte ich gar nicht. Es dauerte eine Weile bis ich vor lauter Überschwang wieder zu mir kam. Inzwischen fielen aus dem Himmel auch wieder verstärkt weiße Flocken hinab. Obwohl, vielleicht war das auch schon vorher der Fall

gewesen und ich hatte es nur nicht bemerkt. Mit angezogenen Knien, die Hände seitlich abgestützt, um sicher zu sitzen, schaute ich mich um. Mich umgaben fast ausschließlich Bäume. Kein Wald, dafür war die Besiedlung nicht ausreichend, aber es reichte trotzdem aus, um mir die Sicht zum Horizont zumindest zum Großteil zu versperren. Ich konnte ihn nur erahnen. Suchend drehte ich meinen Kopf, ich wusste definitiv nicht wo ich war. Immerhin war es noch nicht Nacht. Sie Sonne stand, wie immer im Winter, nicht so hoch über dme Horizont. Trotzdem würde es nicht mehr lange dauern bis der bereits glutrot angehauchte Ball unterhalb der Baumwipfel war und schließlich versank. Dann hätte ich ein ernsthaftes Problem. Zum einen würde es unmenschlich kalt werden und mit einen Blick auf meinen doch schon

frierenden Körper hinunter stellte ich fest, dass ich immer noch das weiße Kleid und die Lederstiefel trug, was merkwürdig war, wenn man in Betracht zog, dass ich gar nicht tot gewesen war. Aber diese Überlegungen musst eich auf später verschieben, dafür hatte ich nun wirklich absolut keine Zeit. Die Stiefel gaben zwar warm, aber das konnte man von dem Kleid nicht behaupten ohne sich absolut ironisch anzuhören. Außerdem war es vom Sitzen im Schnee bereits völlig durchnässt an Rücken und Unterkleid, der Wind für auch schon mit seinen kalten Zungen unter meinen Rock. Zitternd zog ich die Schultern hoch, mir fröstelte. Mein Köcher, der mittlerweile neben mir lag würde vermutlich zum Jagen ausreichen, aber gegen Wölfe würde ich mich damit nicht verteidigen können. Nicht durch, dass die Anzahl der Pfeile dafür

nciht ausgelegt war, sondenr auch, weil die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit allen Pfeilen zurück kommen würde gleich Null war. Und ich hatte nicht wirklich Lust darauf, als Zwischenmahlzeit im Magen eines Untiers mit gruseligen Augen oder Ähnlichem zu enden. Wölfe waren wirklich großartig, gerade ihre Eleganz undf Schläue beeindruckten mich sehr (,zwei Eigenschaften, von denen mir leider nur eine vergönnt war), allerdings war auch ich für sie potenzielle Nahrung und mein Leben war mir dann doch zu lieb um als Steak zu enden. Mühsam rappelte ich mich auf. Die Sonne rutschte immer weiter zum Rand hin. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Schnell bewegte ich meine kalten Beine, um die verkrampften Muskeln zu lösen, was mir zumindest ansatzweise gelang. Mit verschränkten Armen, die Hände unter die Achseln geklemmt, schaute ich hüpfend, um meinen Körper warm zu bekommen, wieder an

den Himmel. In Ordnung. Die Sonne war kurz davor unterzugehen und stand deshalb im Westen. Die bedeutete wiederum, dass in meinem Rücke Osten liegen musste, zu meiner Rechten Norden und zu meiner Linken Süden. Jetzte stellte sich mir bloß noch eine Frage: Wo zur Hölle war ich eigentlich genau?! Mit ziemlich Sicherheit noch im Herrschaftbereich Loterons, das Wetter sprach zumindest dafür. Ein Plan musste her, und zwar dringend. Zuerst musste ich versuchen einen Weg aus dieser Menge an Bäumen herauszufinden. Als Nächstes musste ich mir einen Platz zum Schlafen suchen und dort ein Feuer machen. Unruhig tiegerte ich hin und her. Dafür brauchte ich Holz, das gab es hier ja in Genüge. Essen war das nächst Wichtigere und Trinken natürlich. Aber dafür konnte ich schließlich Eis schmelzen. Das mit dem Flammen-Bändigen würde mit

Sicherheit wieder etwas werden. Ich hatte aus irgendeinem Grund sogar noch die Formel für die Erzeugung im Kopf. Eine komplizierte Ananeinanderreihung von Worten in eienr bestimmten Tonlage und dann am Schluss 'ignis incende' flüstern und hoffen, dass es klappte. Konzentriert pustete ich mir eine Strähne aus dem Gesicht. “Gut.”, murmelte ich. “Fangen wir an.” Am geschicktesten wäre es, wenn ich Richtung Westen laufen würde, bis ich aus dem Wald heraus war, was vermutlicherweise nicht allzulange dauerte, da sich vor mir vergleichsweise nicht allzu viele Bäume befanden. Außerdem standen sie Richtung Osten eindeutig dichter. Ich hatte die Karte so im Kopf, dass im Osten, was die Besonderheiten der Landschaft anging, erst der Simdur-Ring kam und schließlich die Ostküste folgte. Im Süden lagen die Eisfälle und im Norden die Insel der Priesterinnen.

Westlich lag das Mardrac-Gebirge, dahinter der Bengor-Fluss und angehängt die Landoric-Wüste mit ihren vielen Stämmen und Nomaden. Nördlich des Mardarac-Gebirges war ebenfalls noch das Condol. Ein bewaldetes Sumpfgebiet, dass bis in die Kompereor-Region reichte, das hauptsächlich für seine Hervorbringung intelligenter Naturwissenschtler, Mediziner, aber ebenso für seine Bereitstellung der Berater des Königs bekannt war. Das Mardarac Gebirge war steinig, dort schneite es so gut wie nie, da von der Wüste aus zu viel warme Luft gebracht wurde, westlich davon war es sowieso zu warm. Das bedeutet also, dass ich mich östlich davon befinden musste, woraus ich wiederum schließen konnte, dass ich mich entweder im Wald der Fortuna oder im Lubir, einem Wald nordwestlich des Simdur-Rings befand. Die Insel der Priesterinnen und Yéremija kamen

nicht in Frage, da dort meines Wissens nur Laubbäume wuchsen. (Hier waren es ausschließlich Tannen.) Und die Eisfälle im Süden bestanden, wie der Name schon sagte, aus Eis. So oder so war der Westen gut, da ich, falls ich mich im Wald der Fortuna befand, auf unsere Hauptstadt Loteron und ihre umliegenden Dörfer treffen würde. Da ich sowieso bereits in wenigen Tagen zu Deydros aufgebrochen wäre, wenn ich nicht vorher ver- und wieder entstorben wäre, kam mir persönlich das gerade recht. Den Perk, ein Wald südöstlich vom Wald der Fortuna, musste ich nicht in Erwägung ziehen, er wurde von einem relativ großen Fluss durchquert und bestand deswegen zu ca. Zwei Dritteln aus Sumpf. Auch dort wuchsen nur Laubbäume. Falls ich allerdings im Lubir – er grenzte von Nord-Westen her an den Simdurring an - sein

sollte, wären die nächsten Siedlungen auch nicht weit. Der Wald der Fortuna und der Lubir lagen kartographisch gesehen nicht sehr weit auseinander. So waren es möglicherweise knapp 26 Meilen, was etwas mehr als drei Tagesmärschen entspräche. In diesem Gebiet zwischen den Wäldern siedelten hauptsächlich Bauern und Naturverbundene, denen die Stadt zu wider war. Die Lage war gut, geschützt, und der Boden war auch sehr fruchtbar. Die beiden Wälder waren reich gesegnet mit Wild, Beeren und Kräutern. Einem guten Leben stand dort also nichts im Wege – solange man das Jagd- und Sammlerrecht besaß. Und dies führte, wie in allen Gebieten unter König Marlons Herrschaft, über seine Verwalter, die Herzöge und Grafen in seinem Dienst. Sie an sich bereiteten so gut wie keine Probleme. Nur waren die Steuern und Abgaben

viel zu hoch und die Eintreiber gnadenlos grausam. Es war nicht selten, dass jemand zu Tode geprügelt wurde, wenn er nicht zahlen konnte und die Schergen sich dann an Frau und Tochter vergriffen. So lief das hier seit Jahrzehnten ab. Um genauer zu sein: Seit der alte König, der zwar streng, aber dennoch fair gewesen war, alt und senil geworden war und Marlon erst im Hintergrund und schlussendlich nach dem Tod seines alten Herrn auch offiziell die Macht übernommen hatte. Die Bauern, Handwerker und Siedler lebten am Existenzminimum, ausgepresst bis zum letzten Korn, während die Kaufleute, der Adel und vor allen Dingen die Geistlichen vergleichsweise nur so im Überfluss schwammen. Einen Fuß vor den anderen setzend marschierte ich also gen Westen. Es wurde immer kälter, die Sonne war so gut wie

verschwunden. Unterwegs sammelte ich immer wieder ein wenig Holz ein, damit ich später (wann auch immer das sein würde) nicht noch einmal welches suchen musste, sondern mich direkt um das Feuer kümmern konnte. Die Geräusche im Wald ließen mich in regelmäßigen Abständen aufschrecken. Das Geknurre und Geraschel machte mich so nervös, dass ich immer weiter lief, in der Hoffnung doch noch den Waldrand zu erreichen. Irgendwann war ich allerdings so durchgefroren, dass nichts mehr ging. Ich musste mir schleunigst etwas einfallen lassen, das Feuer würde nicht ausreichen, um mich zu wärmen, spätestens morgen für würde ich in meinem kurzen Kleid erfroren sein. Und ich hatte ernsthaft keine Lust schon wieder zu sterben, das eine Mal hatte für das Erste gereicht. Müde stiefelte ich noch einige Meter weiter.

Das Schneetreiben war inzwischen stärker geworden, die Sonne glimmte nur noch ganz wenig über den Baumwipfeln hervor, es war so gut wie dunkel. Erschöpft hob ich den Kopf und schaute durch die Bäume hindurch. Nichts. Da war absolut nichts. Nur die Dunkelheit, die sich langsam aber sicher ihren Weg durch die Bäume bahnte, bis auch der letzte Rest von ihr verschlungen worden war. Da stand ich also. Mitten im Nirgendwo, im Dunkeln, bei Schnee. Das Leben war wirklich die personifizierte Ironie. Erst musste ich sterben, um dann in einer nicht minder schlechten Situation wieder aufzwachen. Erschöpft zwang ich meine Füße dazu weiter zu gehen. Einen vor den Anderen, immer weiter. Es war nicht so wichtig, wie weit ich vorankam, nur, dass ich weiter lief. Einige Schritte klappte das noch, ich kämpfte gegen das Schneegestöber an. Dann stolperte

ich. Meine Beine gaben nach und ich fand mich auf den Knien wieder. Irgendetwas an meinem Körper brannte, wahrscheinlich hatte ich mir etwas aufgeschürft und blutete nun. Ein Schaudern durchlief mich. Ich würde aufgeben, dass wurde mir mit einem Mal klar. Ich konnte nicht mehr, meine Muskeln machten nicht mehr mit. Ich hatte das Gefühl seit Tagen nichts gegessen zu haben,... Überwältigt lies ich den Kopf hängen. Überrascht stellte ich fest, dass ich nicht einmal weinte. Es war reine Resignation, die sich in mir breit machte. Vielleicht war Aufgeben ja auch gar nicht das schlechteste, ich konnte mich ja auch nur kurz ausruhen... Nur einen kleinen Augenblick...

Neoras

“Wieso zur Hölle? Wieso?”, grummelte ich genervt. Ich maschierte inzwischen seit fast sieben Stunden durch den Schnee. Mir war kalt, meine Füße waren absolut nass, ich war hungrig (!) und hatte dieses vermaledeite Mädchen immer noch nicht gefunden. Meine Laune war also dementsprechend im Keller. Wieso machte man so viel Lärm um nichts? Die ganze Sache erschien mir persönlich ziemlich suspekt... Heute Morgen war eine ältere Frau bei uns erschienen. Ich hustete. Pah, 'älter' war gut, 'alt' traf es schon eher. Auf jeden Fall kam sie panisch bei uns, also meinem Meister und mir (seine Frau war gerade abwesend), hereingeschneit und sprach irgendetwas von den Suchern, von ihrer Enkelin und davon, dass diese irgendwie weg

sei oder tot oder... Ach, was auch immer... Deydros, mein Meister, nahm dies natürlich sofort als Grund, mich von meinem Frühstück – dem bis dato ersten ruhigen und entspannten Essen, dass ich seit geraumer Zeit hatte (nur um dies einmal zu erwähnen) – wegzuzerren und abzukommandieren. Und zwar zu meiner zweit unliebsten Aufgabe überhaupt: Menschen bei Schnee und Kälte im Wald suchen zu müssen. Und das so lange, bis sie gefunden worden waren. Das wurde nur noch getoppt vom Aufstehen vor Sonnenuntergang, um dann ohne Frühstück an die Arbeit zu müssen. Was leider wirklich jeden Tag vorkam, bis auf Sonntag - da war Gottesdienst, was nur ein wenig besser war – und die Feiertage. Trotzdem. Das hier war etwas völlig Anderes. Deydros hatte es nicht für nötig gehalten mich aufzuklären. Hatte mir nicht erzählt, was es mit

ihr auf sich hatte und ob sie für irgendetwas wichtig war... Obwohl, dass hatte sich kurz darauf wahrscheinlich sowieso von selbst geklärt. Ich sollte sie nämlich “möglichst schnell” finden und dabei “absolut keine Zeit verlieren”. So hatte er es gesagt. Ich wusste bloß, dass sie vor zwei Tagen weggebracht worden war, von “diesen barbarischen Monstern”, wie die alte Frau wütend gemeint hat. Vermutlich waren das die Sucher. Die waren nämlich wirklich barbarisch und noch einiges mehr... Zu diesem Zeitpunkt hatte... Wie hieß sie eigentlich? Nicht einmal das hatte man für vernünftig gehalten mir zu sagen... Aber egal... Das Mädchen war zu diesem Zeitpunkt anscheinend ohne Bewusstsein gewesen. Ihre Großmutter, die alte Frau, und “Julius” (vermutlich noch ein Verwandter von ihr) hatten das nicht verhindern

können. Einige Stunden später waren die Sucher dann wohl zurück gekehrt und hatten anscheinend ziemlich rabiat und aufdringlich nach dem Verbleib des Mädchens gefragt. Die alte Frau ist daraufhin scheinbar schier an die Decke gegangen, das hat sie jedenfalls errötend gestanden, und hatte die Männer mit unflätigen Verwünschungen und Anderem belegt. “Julius” sei wie man hört ruhiger gewesen und hatte gefragt, wo man das Mädchen denn 'verloren' hätte. Und wo hatten diese Idioten, die sonderbarer Weise sogar freiwillig Auskunft darüber gaben - Welcher Sucher machte sowas schon?! -, das Mädchen verloren? Natürlich im Wald. Einen kurzen Moment hatten sie sie abgelegt, nur um eine Kleinigkeit zu trinken und kurz ihre Blasen zu erleichtern. Als sie sich wieder zu dem Mädchen, dass sie

an einen umgefallen Baum gelehnt hatten, umgedreht hatten, war da “puff” (so hatte die Alte das ernsthaft erzählt und dabei sogar noch mit dem Finger geschnippt) kein Mädchen mehr gewesen. Über so viel Unfähigkeit hatte ich nur den Kopf schütteln können, die Alte hatte angefangen zu weinen und Deydros, von dem man eigentlich ein paar tröstende Worte oder zumindest eine Idee erwartet hätte?! Der hatte gestarrt. Einfach nur gestarrt. Mit einigen Minuten Verspätung war dann schließlich auch die Idee gekommen. Und er hatte es sogar geschafft der armen alten Frau ein Taschentuch zu bringen. Die glorreiche Idee? Da die Sucher das Mädchen anscheinend am kleinen See im Wald der Fortuna verloren hatten (die alte Frau hatte mit ihrer Enkelin und dem Rest ihrer Gruppe laut ihrem Bericht nördlich davon in einer Waldschneise kampiert), müsste man in dessen

Umgebung suchen. “Weit kann die Kleine ja nicht gekommen sein.”, hatte der Alte gebrummelt, mich dann breit angelächelt und gemeint, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, um meinen relativ frisch antrainierten Suchzauber (für Gegenstände/ Menschen die ich noch nie geshen hatte... Bis heute hatte ich diesen eigentlich immer für unsinnig gehalten... Wer suchte schon etwas, was er noch nie gesehen hatte?!) ausgiebig zu testen. Was für ihn soviel geheißen hatte, wie: Ich sollte mir dicke Kleidung überziehen, mir eine Karte schnappen und hinaus in den kalten Tag. Gehorsam wie ich war, hatte ich dieser Anweisung natürlich sofort Folge geleistet. Zwar nicht ohne einige leise Beschwerden, aber ich war schließlich gegangen. Als ich aus der Tür war hatte ich noch ein wenig das Gemurmel von der alten Frau und meinem Meister im Haus

gehört. Sie war wohl sehr überrscht gewesen, dass ich so bereitwillig gegangen war. Grinsend hatte ich in diesem Augenblick vor der Tür gestanden. Dann hatte sie gefragt, ob Deydros mich auch gezwungen hätte, falls ich mich geweigert hätte, das Mädchen zu suchen. Meine erwartete Antwort wäre natürlich ganz klar 'ja' gewesen. Doch Deydros hatte mich ernsthaft verblüfft: “Natürlich hätte ich ihn nicht gezwungen. Auch wenn er das nicht weiß. Der Junge hat eindeutig mehr Potenzial - und damit meine ich auch Verantwortungsbewusstsein - als er glaubt. Man muss ihn bloß hin und wieder ein wenig anschubsen, damit er das auch versteht...” Das hatte mich um ehrlich zu sein wirklich umgehauen. Und das was danach kam erst recht. “Ich weiß, dass du da draußen stehst, Neoras!”,

hatte es mit einem Mal von drinnen gerufen. Ich war errötet. Natürlich. Hätte es anders sein können? “Nun mach schon, dass du weg kommst!” Die Situation war nun wirklich peinlich gewesen. Aus diesem Grund hatte ich mich auch ziemlich schnell wütend davon gemacht. Es hatte ja auch wirklich so sein müssen. Seit wann machte der Meister mir auch ein Kompliment, dass nicht zumindest eine Spur von Ironie enthielt? “Halt! Warte!”, rief es kurz darauf hinter mir. Magda, die Tochter unseres Müllers, lief keuchend hinter mir her. Sie war wirklich ein hübsches Mädchen, das von den Meisten gemocht wurde. Siebzehn Jahre jung, gut gebaut (und damit meinte ich nicht nur ihre Figur!), lange blonde Haare... Und dummerweise ein Flittchen ohne Gleichen. Was mir persönlich relativ egal war. Ich mochte

sie sowieso nicht wirklich. (Gerade weil sie mit jedem der Kerle aus unserer Stadt anbandelte und es seit neustem aus irgendeinem Grund auf mich abgesehen hatte.) Magda wedelte mit einem Tuch in der Hand. Ich blieb stehen. Was sie nur von mir wollte? Als sie bei mir ankam rang sie erstmal herzerweichend nach Luft. Ich ließ ihr die dafür benötigte Zeit. Als sie sich wieder gefangen hatte, schaute ich sie erwartungsvoll an. “Das soll ich dir von Meister Deydros geben. Du brauchst es wohl für irgendeinen Zauber.”, brachte sie mit Mühe und Not hervor. Ich schaute anscheinend ein wenig irritiert, als ich nach dem Tuch griff und es ihr aus der Hand zog, die sie mir bereitwillig hingehalten hatte. Es war relativ klein, bestand aus rotgefärbtem Leinen und hatte an den Enden einige Fransen. Kurz ließ ich es durch meine Finger gleiten und

steckte es schließlich in meine rechte Hosentasche. Ich guckte wohl immer noch ein wenig grimmig - was bei mir definitiv normal war, wenn ich nachdachte - aber Magda bekam das in den falschen Hals. Ihre Augenbrauen verzogen sich, in der Mitte ihrer Stirn bildete sich eine kleine Wölbung, so wie immer, wenn sie kurz davor war andere zu beschimpfen. Bevor ich es ihr erklären konnte, legte sie auch schon los. “Wie wäre es, wenn du dich bedankst, statt mich so böse anzuschauen, na?”, fragte sie spitz. Die Wölbung war immer noch da. “Entschuldigung.”, sagte ich leise. “Ich wusste bloß im ersten Augenblick nicht für was ich das Tuch gebrauchen sollte, aber jetzt ist es mir klar.” Das Tuch benötigte ich, um das Mädchen zu finden. Ohne einen Gegenstand von ihr, konnte ich sie auf der Karte, die ich mitgenommen

hatte, unmöglich orten. “Ist das Ding denn wichtig?”, flötete Magda nun anzüglich, ihre Stirn glättete sich. Au weia, ich wusste worauf das hinaus laufen würde. Das einfachste war jetzt erstmal mitzuspielen und abzuwarten, was sie für diesen 'Freundschaftsdienst', wie sie es immer nannte, verlangen würde. Ich nickte und sah sie nun aufmerksam, aber auch berechnend an. Vielleicht würde sie ja einknicken, wenn ich einen auf dominant und überlegen machte? Der Hof war inzwischen gut gefüllt, Bauern trieben ihre Tiere durch die Gegend, Händler bauten ihre Stände auf, Mägde waren zum einkaufen unterwegs. Es war ja auch nur einmal in der Woche Markt. Da musste man einiges kaufen gehen, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Für einen Moment schweifte ich ab, zu den Zeiten, als ich noch als Laufbursche im Dienst von Deydros Frau war.

Gott war das wunderbar gewesen, die Frau hatte einen mit Leckereien verwöhnt... “Neo?”, fragte Magda genervt. Sie mochte es nicht, wenn sie nicht im Mittelpunkt stand oder gar ignoriert wurde. “Hallo!” Sie wedelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht. Ich schreckte hoch, mein Blick wanderte wieder zu ihrem Gesicht. Sie benutzte meinen Spitznamen. Das war definitiv kein gutes Zeichen. Jetzt fehlte nur noch die zuckersüße Stimme als Kombination und ich wäre geliefert. Dann hätte sie sich erneut etwas ziemlich Übles (und damit meinte ich etwas heftigst Anzügliches) ausgedacht. “Das Tuch ist also wichtig, ja?” Ich nickte wieder. “Dann wirst du dich doch mit Sicherheit auch dementsprechend bedanken, oder?” Ich stöhnte kurz und sah flehend zum Himmel. Die zuckersüße Stimme war bereits am Durchkommen. Jetzt würde gleich irgendeine

unangenehme Aufgabe oder Ähnliches kommen. “Guck nicht so.”, sprach sie beleidigt. Dann hellte sich ihr Blick auf. “Ich möchte nur eine Kleinigkeit...” Erwartungsvoll schaute ich sie an. “Nun mach schon Mädchen. Ich habe nicht ewig Zeit.”, dachte ich ungeduldig. “Einen Kuss.” Ich verschluckte mich an meiner Spucke. Ach du Schande. Genau so musste ich sie wohl auch angeschaut haben. Denn ihre Stimmung schlug nun tatsächlich um. “Oh, nun komm schon Neo. Sei nicht so prüde. Himmel, du bist neunzehn Jahre alt. Ich will doch nur einen Kuss!”, ereiferte sie sich nun, wobei es sich schon fast bettelnd anhörte. “Achtung!”, kam es da von der Seite. Bauer Huber trieb eine seiner Milchkühe vorbei, sodass Magda und ich uns, dem Himmel sei dank, auseinander stellen mussten, um ihn

durchzulassen. Als er durch war, trat Magda wieder zu mir. Inzwischen hatte sie Tränen in den Augen. Natürlich waren die nicht echt. Aber Magda spielte so gut Theater und wir Männer konnten Frauen grundsätzlich nicht weinen sehen ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Genau das führte meistens dazu, dass sie bekam, was sie wollte. Wie kam ich aus dieser Situation nur heil wieder raus? “Magda, komm schon...”, wisperte ich leise. Ich wollte so wenig Aufsehen wie möglich erregen. Ich war schonmal in einer ähnlichen Situation gewesen und hatte damals vergessen das Mädchen, Penny, die damals sechsjährige Nichte unseres Sattlers - einem Bär von Mann – zu beschwichtigen. So schnell würde ich die Folgen davon nicht

vergessen. Tom war nämlich wutentbrannt herbeigestürmt gekommen und hatte mich dermaßen verhauen, dass ich davon heute noch eine leicht krumme Nase hatte! Magda ging natürlich sofort auf das Beschwichtigen ein – wie erwartet: Sie heulte wütend auf. Und das in einer Lautstärke, dass sich zumindest die Frauen auf dem Platz zu uns umdrehten, anfingen zu tuscheln und mich missbilligend anguckten. Mit einem Mal war ich es Leid. “Reiß dich jetzt endlich zusammen! Du kannst jeden anderen Kerl küssen, es bieten sich ja genug bereitwillig an!” Ich bereute sofort, dass ich das gesagt hatte. Mit einem Mal verengten sich ihre blauen Augen zu engen Schlitzen. “Na warte, Neoras.”, zischte sie. (Sie benutze wieder meinen vollen Namen!) “Das wirst du noch bereuen!” Dann stolzierte sie zwischen

den Tieren, die feil geboten wurden und den Ständen der Händler hindurch. Einge Meter weiter stand Eick, der Lehrling des Schmieds. Sie lief geradewegs zu ihm hin, beugte sich kurz vor, er errötete und sie zog ihn weg. Sie warf mir dabei nochmal einen kurzen bedeutend würdevollen Blick zu. Was nun bei den beiden folgen würde war mir sofort klar gewesen. (Bei Magdas Ruf erst Recht!) Dieses Flittchen machte mich wirklich fertig und ich hatte Mitleid mit Eick. Und irgendwie ein bisschen Angst vor ihrer Rache. Aber das war jetzt alles egal, ich musste in den Wald dieses Mädchen finden. Meine Freude darüber war wirklich enorm. Und genau an dieser Stelle war ich jetzt. Ich marschierte durch den Wald, auf der Suche nach diesem Mädchen. Die Formel für den Suchzauber hatte - so wie alles heute Morgen - auch erst nach einigen

Versuchen gewirkt. Laut Vorgaben musste der Magier zuerst mindestens drei bis vier Tropfen seines Blutes auf den Gegenstand geben, der die Identität des oder der Gesuchten klarmachen sollte. Bei mir war das also das Tuch. Und da das Ding doch sehr saugfähig war, kostete es mich doch um einiges mehr an Tropfen als eigentlich geplant. Vom Zählen her kam ich am Schluss auf einundzwanzig Stück. Auf jeden Fall musste man das Blut dann von - beziehungsweise bei mir 'aus' – diesem Gegenstand auf die Karte tropfen lassen. Dabei immer schön brav die Formel murmeln. Irgendwann zog sich sich dann normalerweise das Blut zu einer einzigen Fläche zusammen, die dem/ der Gesuchten auf der Karte folgte. Wie schon gesagt: Nach einigen Versuchen hatte das auch bei mir geklappt. Ich war mir nicht sicher, ob es positiv oder doch eher negativ war: Bis kurz vor

Sonnenuntergang war mein Blut an eine Stelle mitten im Wald geschwebt. Nämlich genau dort, wo man die 'porta caeli', schwülstig ausgedrückt also die 'Pforte zum Himmel' fand, eines der alten Heiligtümer. Es gab drei an der Zahl, um genau zu sein. Eines davon befand sich auf der Insel der Priesterinnen und war dort auch dementsprechend bekannt, da es das größte von den Dreien war (ein alter Steinring von kanpp fünfzig Fuß Durchmesser). Dort fanden in regelmäßigen Abständen Weihen statt. Dann gab es noch die sogenannten Drillingsinseln die sich etwa eine Seemeile südwestlich von Yéremijas Küstenstadt Mol befanden. Sie waren bekannt, weil dort die Statuen des Magischen Dreiecks standen. Auf jeder der Inseln (es waren eigentlich eher sehr, sehr große Felsen) stand eine Statue. Eine für Morgana, die nur noch als die Verlorene

bekannt war (sie war schon seit knapp achtzehn Jahren unauffindbar), eine für Anaxandra, die Herrscherin der Eisfälle, und eine für Yasmina, die Hohepriesterin der Insel Zhyphiron, überwiegend bekannt als die Insel der Priesterinnen. Und das letzte der Heiligtümer war eben die 'porta caeli' im Wald der Fortuna. Auf jeden Fall war mein Blut über diesem Punkt geschwebt, bis vor einer knappen Stunde. Da hatte es sich ein wenig in Richtung Westen bewegt. Um dann kurz nach Sonnenuntergang wieder stehen zu bleiben. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das eher nicht so gut war. Bei dieser Kälte konnte man doch zu leicht erfrieren, speziell wenn man sich nicht mehr bewegte. Inzwischen war ich über den Waldrand hinaus, in dem Wald hinein gekommen. Ich war wirklich froh, dass ich daran gedacht hatte

zumindest meine Messer mitzunehmen. Eines steckte in meinem rechten Stiefel. Die anderen drei im Innenfutter meines Mantels. Um mich herum wurden immer mehr Geräusche laut. Ich hörte Geknurre und hin und wieder auch ein Knarzen. In der Ferne heulte ein Wolf wohl den Mond an. Genervt stapfte ich weiter. Also wenn ich dieses Mädchen nicht bald gefunden hatte würde ich mich auf den Weg nach hause machen. Mein Magen knurrte laut. Ich stöhnte leise. Wieso?Wieso nur immer ich? “Ach was soll's.”, zischte ich wütend. Deydros hatte zwar gemeint, dass ich den gerade erst erlernten Transport-Zauber möglichst noch nicht anwenden sollte, aber das hier war eine andere Situation. Außerdem hatte ich wirklich keinen Nerv mehr, noch weitere acht Stunden durch den Wald zu laufen. “Proficīscere!”, rief ich befehlend. Ich hatte

dabei den Punkt auf der Karte fixiert, über dem mein Blut derzeit schwebte. Es passierte überhaupt nichts. “In Ordnung.”, dachte ich aufgekratzt. “Ganz ruhig. Ich versuche es einfach noch einmal. Es liegt bestimmt nur daran, dass ich nicht genau weiß, wie dieser Ort aussieht, weil es sich für mich nur um einen Punkt auf der Karte handelt.” Ich holte noch einmal tief Luft. Erneut fokussierte ich meinen Blick auf den Punkt auf der Karte. Ich versuchte jegliche Aggressionen gegen diesen Tag und meine derzeitige Situation aus meinem Körper zu verbannen. Überschüssige Energie war definitiv nicht gut, in unkontrollierter Form war sie sowieso immer schlecht. Als ich das Gefühl hatte, dass ich mit meinen Gedanken komplett bei dem Punkt auf der Karte war, versuchte ich es erneut. Schon beim Aussprechen der Worte fühlte ich

mich besser und sicherer. Das “proficīscere“ kam leiser und entspannter über meine Lippen. Trotz der Dunkelheit sah ich, wie es begann um mich herum zu flimmern. Im nächsten Moment war ich vom Boden abgehoben. Innerlich bereitete ich mich auf das Gefühl vor, das jetzt gleich kommen würde. Es würde anfangen an mir zu ziehen, meine Substanz würde unmenschlich zu kribbeln beginnen. Und dann würde es einen kurzen Blitz geben und ich wäre dort, wo ich hinwollte – oder auch nicht. Da. Das Kribbeln setzte bereits ein. Mein Magen begann Saltos zu schlagen – Himmel, wie ich dieses Gefühl hasste – der Blitz kam und ich war weg. 'Weg' war eigentlich der falsche Ausdruck, ich war ja genau genommen direkt wieder bei Bewusstsein. Ich saß auf meinem Hintern im Schnee. Um mich herum sah es nicht viel anders aus als vor einigen Sekunden. Es war unter mir immer noch

alles weiß, es vielen immer noch - eindeutig mehr als nötig – Schneeflocken vom Himmel und es war immer noch dunkel. Zumindest war ich nicht vollkommen vom Kurs abgekommen. Erschöpft stand ich auf. Ich hoffte, dass ich das Mädchen schnell fand. Diese Zauber kosteten immer eine immense Kraft. Und wenn ich sie nicht bald fand, würden wir nach hause laufen müssen. Ich klopfte mir den Schnee, der wenigstens ziemlich trocken war, von meiner Hose ab, dann drehte ich mich um. Um meine Augen gegen den Schnee abzuschirmen (und dabei doch noch ein bisschen besser zu sehen) hob ich meine rechte Hand an die Stirn. Es half nicht viel. Ein Lichtzauber wäre jetzt gut. Kurz wog ich ab, wie viel Kraft mich das kosten würde. Dann entschied ich mich dafür. Ich faltete die Karte zusammen und steckte sie

in die Hose. Jetzt könnte ich sie später zwar nicht gebrauchen ohne erneut den Zauber zu sprechen, aber wann alles so lief wie es sollte, würde das sowieso nicht nötig sein. Als nächstes streckte ich die linke Hand aus und schirmte sie mit der rechten ein wenig ab, sodass das Licht später die Chance bekommen würde, sich trotz Schnee und Wind ausbreiten zu können. “Lumia!”, wisperte ich leise. Meine Handfläche glühte auf, ein kleiner Ball geformt aus weiß-goldenem Licht entstieg ihr. Er schwebte immer höher, bis er sich schließlich knapp einen Fuß oberhalb meiner Handfläche befand. Langsam drehte ich mich im Kreis, den Ball erhob ich noch ein wenig weiter in die Luft, um mehr zu sehen. Ich sah nirgendwo etwas und wollte schon aufgeben, als ich doch etwas bemerkte. Dort drüben, bei dem Stein da lag doch... Heilige Scheiße! Ich hatte sie

gefunden! Die ersten Meter rannte ich auf den leblos daliegenden Körper zu, dann wurde ich langsamer und blieb knapp zwei Schritte von ihr entfernt stehen. Da lag sie also im Schnee. Zierlich wie eine Elfe, alabasterfarbene Haut, blondes Haar... und mit einem bläulichen Farbton, so als wäre sie schon fast erfroren. “Verdammt.”, fluchte ich. Wieso hatte ich auch keine Decke oder sonst etwas mitgenommen? Ich sah sie mir als nächstes ein wenig genauer an. Großer Gott. Das Einzige was sie trug, war ein weißes Nichts von Kleid – es ging ihr gerade einmal bis zu den Oberschenkeln und war ärmellos – und kniehohe Lederstiefel. Frauen. So im Winter herumzulaufen, ernsthaft jetzt. Welches vernünftige Geschöpf tat so etwas? Auf solche abstrusen Ideen konnte tatsächlich auch nur dieses Geschlecht

kommen. Ich kniete mich neben das Mädchen in den Schnee. Vorsichtig strich ich ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie war eiskalt. Ich wollte nicht wissen, wie lange sie hier schon gelegen hatte. Der Lichtball schwebte über mir, als ich sie vorsichtig hoch hob, schwer darauf bedacht, ihren Körper nicht zu entblößen und sie nicht in irgendeiner Art und weise unschicklich zu berühren. Ach ja: Und ich versuchte natürlich sie gleichzeitig noch warm zu halten. Als ich sie schließlich mehr schlecht als recht auf einem meiner Oberschenkel platziert hatte, tastete ich sanft nach ihrem Puls. Ich legte meine Finger ein wenig unterhalb des Kieferknochens an ihren Hals. Dann konzentrierte ich mich. Ich spürte den Herzschlag, allerdings war er, wie eigentlich schon von mir erwartet, sehr schwach. Nun nahm ich sie richtig auf den Arm. Ich presste sie mit beiden Händen behutsam an

meine Brust. Kurz warf ich einen Blick nach oben, zu der Lichtkugel hin, schloss die Augen und murmelte leise: “Finite.” Das Glühen über mir erlosch, das Mädchen und ich waren nun von vollkommener Schwärze umgeben. Für einen letzten Spruch würde es wohl noch reichen. Das Mädchen in meinen Armen war nicht wirklich schwer. Sie hing einfach nur kraftlos da, also würde sie wahrscheinlich von der ganzen Prozedur nichts mitkriegen. Das Einzige, was ich noch beachten musste war, dass ihr Puls stabil blieb. Ich stellte mich gerade hin, drückte meine Schultern durch und versuchte möglichst einen Stand zu finden, in dem ich das Gleichgewicht halten konnte. Wenn das Mädchen und ich nachher gemeinsam im Wohngemach von Meister Deydros zusammenbrachen, war Keinem geholfen. Also gut. Ich konzentrierte mich auf den Raum,

indem ich gleich ankommen wollte. Auf den großen Kamin, der in der Ecke stand, die vielen Kissen, die auf Sitzbänke rund um ihn herum verteilt waren. Dann war da noch der Essbereich, mit dem massiven Tisch aus Eiche und den bequemen Stühlen. Ich stellte mir den Duft vor, der aus der Küche kam, wenn es Essen gab (das war definitiv nicht beabsichtigt, es machte meinen Hunger nämlich noch größer!) und schließlich dachte ich an den Ohrensessel des Meisters, der am nächsten zum Kamin stand und bei dem seine Frau immer Angst bekam, dass er durch das Feuer anfangen würde zu brennen und dann das ganze Haus zerstört werden würde, was natürlich Schwachsinn war... Wenn wir jetzt nicht daheim ankamen, hatte ich ein ernsthaftes Problem. Dann würde das Mädchen definitiv sterben und ich möglicherweise auch. Ich schaute kurz zu ihr herunter. Ihre vorher

eher angespannten, fratzenartigen Züge hatten sich inzwischen in eine eher ruhige Maske verwandelt. Sie wirkte auch schon nicht mehr so blau, fiel mir auf. “Proficīscere! “, wisperte ich müde. Es zog an meinen Gliedmaßen und ich bemühte mich, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Der Puls des Mädchens fühlte sich weitgehend stabil an, sodass sich meine Sorge ein wenig einschränkte. Es dauerte einige Augenblicke, dann standen wir im Wohnzimmer meines Meisters. Und das mit dem Stehen war ernst gemeint, ich war tatsächlich nicht zusammengebrochen.

Ankunft

Vorsichtig öffnete ich eines meiner Augen, nur um sicher zu gehen, dass wir tratsächlich am richtigen Ort gelandet waren. Dem Geruch zu Folge hatte es ja gestimmt, aber ich wollte mich doch noch einmal davon überzeugen, dass... Danke. Danke. Danke. Das Öffnen des zweiten Auges folgte sofort. Ich atmete tief ein und wieder aus. Wir standen tatsächlich im Wohnzimmer meines Meisters. Der Kamin war an und wer saß dort im Ohrensessel und schlief? Natürlich auch mein... Oh Moment. Das war nicht der Meister, sondern die alte Frau, die dafür gesorgt hat, dass ich in den Schnee hinausgejagt worden war. Irritiert drehte ich mich einmal im Kreis. Wo war dieser Mann jetzt schon wieder? Das

Mädchen in meinen Armen hatte ich für einen Augenblick total vergessen. Mit einem Mal hörte spürte ich an meiner Brust einen leichten Luftzug, als nächstes vernahm ich das Geräusch eines zittrigen, leicht rasselnden Atems. Als ich meine Blick nach unten richtete sah ich in reines Katzengrün... Gut mit ein paar goldenen Sprenkeln um die Iris herum, aber sonst total Katzengrün. (Ich hörte mich vermutlich gerade wie ein Mädchen an. Aber ob die Frauenwelt es glaubte oder nicht: Wir Männer sahen tatsächlich nicht nur Rot, Blau, Gelb und Schwarz-Weiß.) Dann senkten sich mit einem kurzen Zwinkern ein Fächer von schwarzen Wimpern über die Augen, um sie im nächsten Moment wieder freizugeben. Das Mädchen starrte genauso in meine Augen wie ich in ihre. Nur, dass sie irgendwie teilnahmslos wirkte.

Wie sollte es auch anders sein, sie stand schließlich unter Schock. “Ich lege dich jetzt vor den Kamin, zwischen die Kissen, damit du warm wirst. Und dann hole ich meinen Meister. Der wird dir vermutlich alles erklären können. Ach ja:”, ich nickte zum Ohrensessel hin, indem die alte Frau lag, die Augen des Mädchens folgten meinem Nicken, kamen dann aber wieder zurück zu mir. “Deine Großmutter ist da, wenn du sie brauchst.” Behutsam ging ich die wenigen Schritte zum Kamin hin und legte sie dort ab. Darauf folgend holte ich noch ein paar Kissen und schichtete sie um das Mädchen herum. Ich klaubte auch noch eine Decke von einer der Bänke und wickelte sie darin ein. Als ich mit meinem Werk zufrieden war, stand ich langsam auf. Sie hatte sich inzwischen zur Seite gedreht, zusammengerollt wie ein Kokon

und schaute mich immer noch an. Ich hatte irgendwie das Gefühl, als müsste ich bei ihr bleiben. Genauso schaute sie nämlich. So als wollte sie sagen “Geh nicht.”. “Ich bin gleich wieder da.”, sagte ich beschwichtigend (Was wollte ich eigentlich beschwichtigen?! Sie hatte doch gar nichts gesagt...) “Ich gehe nur schnell meinen Meister suchen.” Ich wollte mich bereits umdrehen, als mir doch noch etwas einfiel. “Ich heiße übrigens Neoras.” Ein ein wenig verunglücktes Lächeln brachte ich sogar über die Lippen. Dann drehte ich mich weg und wollte erneut gehen, als ich ein Wispern hinter mir hörte. Ich drehte mich um. Erstaunt bemerkte ich, dass das Mädchen die Lippen bewegte. “...psina.”, krächzte sie. Ich sah sie ein wenig verstört an. Sie begriff wohl, dass ich sie nicht verstanden hatte,

runzelte ungeduldig die Stirn und versuchte es erneut. Dieses Mal funktionierte es. “Carina.”, röchelte sie. “Ich heiße Carina.” Dann schloss sie erschöpft die Augen, mummelte sich noch ein wenig mehr ein und schlief schließlich. Mich ließ sie nun vollends beeindruckt zurück. Die Kleine hatte wirklich Stehvermögen. Fast erfrieren, gerettet werden und dann noch dazu kommen mir ihren Namen zu verraten... Respekt. Das war mindestens so kitschig wie einer der Schnulzen-Romane aus der Bibliothek, auf die die Mädels auf der Burg so abfuhren. Nicht, dass ich sowas jemals lesen würde... Ich hatte bloß davon... nun ja... Nennen wir es gehört. Ich hatte nur davon gehört. Aber egal. Ich musste dringend den Meister finden. Und wenn das hieß, dass ich ihn aus seinem Schlafzimmer von seiner Frau wegzerren musste, dann würde das eben so sein.

Verdient hätte er es auf jeden Fall gehabt. Aber wie immer hatte er auch jetzt riesiges Glück. Ich fand ihn ein Stockwerk höher, in seinem Studierzimmer, an seinem Schreibtisch vor. “Meister!”, zischte ich. Wie könnte es auch anders sein: Er hörte mich nicht. Genervt schaute ich nach oben. Dann ging ich zu ihm hinüber und berührte ihn an der Schulter. Als Antwort bekam ich ein lautes Schnarchen und ein leichtes Kopfschütteln. Ich versuchte es erneut. Dieses Mal griff ich ein wenig stärker zu. Und hatte prompt Erfolg. Deydros wurde wach und drehte sich mit erschrecktem Blick (und mindestens genauso erschreckendem Anblick, also Augenringen, verquollenem Gesicht et cetera) zu mir herum. Desorientiert rieb er sich kurz die Augen. “Neoras.”, rief er laut. “Pssst.”, fuhr ich dazwischen. “Ihre Bekannte und das Mädchen schlafen... Und vermutlich der Rest des Hauses

auch!”, wisperte ich leise. Daraufhin nickte mein Meister nur kurz. “Wie geht es ihr?”, fragte er als nächstes. “Carina?”, hakte ich nach. Verdammt, jetzt hatte ich mich verraten. Was der Meister sofort mit einem Grinsem quittierte. “Du kennst also schon ihren Namen.” “Sie hat ihn mir vorhin gesagt. Ihr geht es den Umständen entsprechend ganz passabel. Ich hab sie im Wohnzimmer vor dem Kamin hingelegt und sie in eine Decke gewickelt zwischen die ganzen Kissen gepackt. Sie war ziemlich kalt.” “War sie wach als du sie gefunden hast?” “Nein. Sie war bewusstlos; schwacher Puls und blau wie ein Eiszapfen. Sie ist nur gerade eben kurz aufgewacht, als ich dabei war sie vor den Kamin zu legen.” “Und dabei hat sie dir ihren Namen verraten.” Eine reine Feststellung, doch aus einem mir unerfindlichen Grund brachte sie mich tierisch

in Rage. “Ja. Hat sie. Könnten sie vielleicht jetzt endlich mit nach unten kommen und sich um sie kümmern, Meister? Und dann möglicherweise auch noch ihre Großmutter wecken.” “Wie? Das hast du noch nicht gemacht?!” Die Ironie triefte nur so in seiner Stimme. Dementsprechend sah mein Blick auch daraufhin aus. “Ist schon gut, Neoras. Ich kümmere mich darum. Um Carina und auch um Delira.” (Jetzt wusste ich auch wie die Großmutter hieß.) “Geh' schlafen. Wir reden morgen früh über den Rest.” Oh nein, das konnte er jetzt nicht ernsthaft bringen. Mich erst stundenlang durch den Schnee stapfen lassen und dann wieder ohne jegliche Information ins Bett schicken?! “Aber Meister...”, protestierte ich wütend. Dieser war schon auf dem Weg zur Tür

gewesen, drehte sich nun aber nochmals um. “Ich verspreche dir, ich werde dir morgen alles erzählen. Und die beiden werden auch noch nicht wieder abgereist sein. Selbst wenn sie es wollten, wäre Carina dafür viel zu schwach. Das weißt du.” Ich nickte verdrießlich. Dagegen war dummerweise nichts einzuwenden. “Also. Geh' schlafen. Wir sehen uns Morgen.” Ich wollte gerade ansetzen, als mein Magen für mich die nächste Frage übernahm. Er knurrte unüberhörbar laut. Deydros lachte leise während er die Tür öffnete. “Wenn du Hunger hast, kannst du gerne in die Küche gehen. Maria [Das war seine Frau] hat dir etwas von ihrem fantastischen Eintopf heute übrig gelassen. Er ist zwar kalt, aber...” Bevor er ausgeredet hatte, war ich auch schon auf leisen Sohlen an ihm vorbei geschossen. Sein leises Lachen immer noch im Ohr, schlich ich durch den Wohnbereich hindurch und in die

steinerne Küche hinein. Dort stand in einer großen Porzellanschüssel der Eintopf. Ich klaubte mir einen großen Holzlöffel aus einer der vielen Schubladen und machte mich darüber her. So etwas gutes wie diesen kalten Eintopf hatte ich noch nie gegessen. Ich kratzte alles bis zum letzten Tropfen aus, erwog sogar kurz, ob ich die Schüssel ausschlecken sollte, ließ es dann aber bleiben. Hunger hin oder her. Ich hatte schließlich Manieren. Langsam bemerkte ich, wie sich die Müdigkeit in meinem Körper breit machte. Der Energieschub, der mich vorher nach meiner Ankunft hier erfasst hatte, war nun vollkommen versiegt. Ich spürte nur noch das Gewicht meiner Knochen und den Schmerz meiner Glieder. Langsam tapste ich zurück in den Wohnbereich. Es war inzwischen alles erleuchtet, so dass ich, geblendet vom Licht, meine Augen zusammen kneifen musste. Vor dem Kamin kniete Orelia

neben Carina, mein Meister stand hinter ihnen und redete beruhigend auf die Großmutter ein. Carina schlief. Eigentlich sah sie gar nicht so alt aus, bemerkte ich beim näheren Hinsehen. Sie konnte nicht viel älter als fünfundfünfzig sein. Als ich vorbei stolperte, hob sie kurz den Kopf. Ihre Augen waren weder mit Tränen gefüllt, noch irgendwie verquollen, wofür sie meinen größten Respekt hatte, wenn man das mit dem vorherigen Aussehen des Meisters verglich. Sie blickte mich einfach nur unendlich müde an, verzog dann den Mund zu einem ehrlichen Lächeln und murmelte tonlos “Danke”. Ich nickte nur und versuchte mich auch an einem Lächeln. Es sah nicht halb so schön aus wie ihres, aber das war mir egal. Ich hatte jetzt nur noch ein Ziel: Und das war mein Bett. Ich wollte bereits in den Flur hinauslaufen, als es mir wieder einfiel. Ich stöhnte gequält auf. Verdammt. Ich schlief ja seit Kurzem im

zweiten Stock. Mein Meister hob nur unauffällig den Kopf, nickte mir dann verstehend zu und murmelte etwas. Mit einem Mal erhob ich mich knapp einen Fuß breit in die Luft. Sanft, wie auf Wolken getragen schwebte ich die zwei Etagen nach oben. Am Treppenabsatz im zweiten Stock wurde ich abgesetzt. “Gute Nacht, Neoras.”, murmelte das Nichts mit der Stimme von Deydros. Ich nickte dankend. “Erhole dich gut. Du weißt, Morgen geht es direkt weiter.” Ich schnaubte ironisch. Als Antwort bekam ich das für Deydros so typische leise, gemeine Lachen. Erschöpft schleppte ich mich in mein Zimmer. Ich schaffte es gerade noch so, meinen Mantel und die Stiefel auszuziehen und das Messer von meiner Wade abzunehmen. Das Alles warf ich ohne jegliche Beachtung in meine dankbarerweise geöffnete Kleidertruhe.

Dann schlüpfte ich unter meine dicke Federdecke und schloss wohlig schnurrend die Augen. Maria hatte mir wohl einen Heiz-Stein ins Bett legen lassen. Vorsichtig tastete ich mit den Zehenspitzen danach und fand ihn auch sogleich. Es war himmlich. Mein Körper begann warm zu werden, entspannt schlief ich ein. Ich hatte alles erledigt, was man mir aufgetragen hatte und lebte sogar noch. Um die restlichen Probleme und um Magda konnte ich mich morgen kümmern. Es wäre wohl eine Lüge gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich am nächsten Morgen ausgeschlafen gewesen war. Aber so war es nunmal und Ferm, einer von Meister Deydros Dienern, war absolut unerbittlich. Der Meister hatte ja bereits gesagt, dass es heute direkt weiter gehen würde, aber dass es ernsthaft so früh sein musste, hatte ich auch

nicht erwartet. Ferm stand kurz nach Sonnenaufgang in meiner Tür und klopfte dort leicht ungeduldig (und enervierend wie jeden Morgen) mit seinem Gehstock gegen den Türrahmen, um mich wach zu bekommen. Er war durchaus nicht alt, hatte aber eine Verletzung am Bein, die ihn dazu zwang den Stock zum Gehen zu verwenden. Ich hätte ihn mühlelos mit einem Fingerschnipsen aus meinem Zimmer herausfegen können. Aber ich wusste, wenn ich das tun würde, hätte ich es mir zum einen mit meinem Meister verscherzt, der doch sehr an Ferm hing, und zum anderen mit Ferm selbst. Dieser mochte mich ohnehin schon nicht wirklich leiden (ich hatte bisher noch nicht verstanden wieso), aber wir versuchten uns genau aus diesem Grund so gut wie möglich zu meiden. Nur um dieses morgendliche Ritual kamen wir

nie herum. “Meister Neoras. Es wäre ratsam jetzt aufzustehen...” Weil du mir sonst mit einem Knüppel hinterherrenen würdest, oder was? Ich drehte mich murrend zur Seite. “Meister Deydros ist bereits seit zwei geschlagenen Stunden auf den Beinen. Ebenso die beiden Damen, die zu Besuch sind.” Mit einem Mal saß ich senkrecht im Bett. Verdammt, die hatte ich ja total vergessen. Ferm schaute mich breit grinsend an. Dort stand er mit seinen Segelohren, den roten Haaren und den Sommersprossen. Obwohl mir Deydros als ich kleiner war geschworen hatte, dass er kein Troll war, war ich mir bis heute nicht so sicher. Ein kleiner, humpelnder, fieß grinsender Troll... Das hätte definitiv zu ihm gepasst. Optisch hätte man dann bloß das weiße Hemd und die Lederhose durch eine etwas weniger verdeckende Leinenbekleidung ersetzen

müssen und... “NEORAS!”, brüllte mit einem Mal Deydros laute Stimme von unten. “Ich weiß, dass du wach bist. Sei also bitte so höflich und komm schleunigst herunter!” Ich fluchte leise. Genervt nickte ich Ferm zu. Dieser hatte verstanden und machte sich schneller als von ihm erwartet aus dem Staub. Im Vorbeigehen zog er noch schnell die Vorhänge auf und sorgte so dafür, dass das helle Licht des Tagesanbruchs Bekanntschaft mit meinen übermüdeten Augen machten. Die beiden waren sich gerade absolut nicht sympatisch. Mit zusammengekniffenen Augen schwang ich meine Beine aus dem Bett. “Irgendwann...”, knurrte ich. “Irgendwann schmeiße ich diesem Knilch doch noch etwas an den Kopf.” Mein beinahe schon rundes Zimmer (ich hatte einmal nachgezählt: Es hatte 16 Ecken) lag im

Turm des Hauses, mit Blick Richtung Osten auf den Hof und das dort bereits stattfindende Treiben. Genau wie gestern waren wieder Händler und Bauern unterwegs. Nur brachten sie heute ihre erlangten Waren und das, was von ihren Verkäufen übrig geblieben war aus der Stadt heraus – der Markt war schließlich vorbei. Mit vermutlich verquollenen Augen, so fühlten sie sich zumindest an, trottete ich an die Kommode, die gegenüber von meinem Bett platziert worden war. Dort standen bereits ein Krug mit Wasser, Salz für die Zähne und ein Stückchen Kernseife. Daneben war eine kleine Holzschüssel, in die ich nun das Wasser und die Seife hinein gab. Als ich meine Hände kurz eintauchte, verspürte ich bereits den Drang zusammenzuzucken. Das Wasser war eisig. Schnell warf ich mir eine Hand voll ins Gesicht. Eines war klar: Jetzt war ich definitiv

wach. Kurz fasste ich mir an den Kopf. Das letzte Mal hatte ich mir die Haare vor zwei Tagen gewaschen. Ich guckte missmutig auf die Schüssel. Dann seufzte ich kurz und steckte schließlich meinen Kopf in das mehr als kühle Nass. Ich musste die Zähne zusammenbeißen. Wäre ich ein Mädchen gewesen, hätte ich vermutlich aufgeschrien, aber diese Blöße würde ich mir nicht geben. Nicht vor Ferm, der wahrscheinlich immer noch in diesem Stockwerk war... Ich kam grundsätzlich fast mit allen Umständen klar, aber morgens brauchte ich zum Waschen einfach warmes Wasser. Sonst war meine Laune direkt im Keller... Aus dem kleinen Schälchen mit Salz nahm ich als nächstes ein wenig auf die Finger und begann damit meine Zähne zu polieren. Es schmeckte nicht sonderlich gut und fühlte sich im Mund auch nicht wirklich angenehm an.

Trotzdem benutzte ich es täglich. Deydros hatte mir einmal erklärt, dass ohne dieses Putzen meine Zähne braun und löchrig werden und schließlich ausfallen würden. Glauben konnte ich das nicht so wirklich. Die Dinger waren schließlich da, seit ich denken konnte. Aber der alte Mann war viel herum gekommen und durchaus weise, außerdem wurden meine Zähne dadurch auch nicht schlechter, also machte ich nunmal, was er sagte. Ein leises Hüsteln links von mir erlangte meine Aufmerksamkeit. “Meister Neoras...” “Ferm, verschwinde. Ich bin sofort fertig.” Nun guckte er beleidigt. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, seufzte schließlich ergeben und versuchte ein wenig freundlicher zu sein. “Sag Meister Deydros Bescheid, dass ich nicht mehr lange brauche. Ich muss mir nur noch schnell etwas

überziehen.” Ich hatte mich wieder von ihm weggedreht und kramte nun in der Kleidertruhe, die rechts von der Kommode stand, nach einem frischen Leinenhemd. Der Mantel flog auf das ungemachte Bett, der Schal direkt hinterher. Schließlich fand ich, was ich suchte. Auch das Hemd nahm direkt seinen Weg zum Bett. “Äh... Meister?” “Einen Augenblick, Ferm. Ich bin wirklich sofort fertig.” Ich zog mir das grobe Hemd, das ich über Nacht angehabt hatte über den Kopf und warf es in Ferms Richtung. “Meister!” Ich drehte mich genervt um, das neue Hemd in der Hand haltend. “Was zur Hölle...! Oh.” Da stand sie in der Tür. Das Mädchen von gestern. Wie hatte sich nochmal geheißen? Ach ja: Carina. Carina stand dort, ein ihr viel zu großes Kleid am Leib (vermutlich war es von

Maria), mit erschrocken (oder doch staunend? Das war nicht so wirklich zu erkennen) geöffnetem Mund und ließ den Blick über meinen Oberkörper wandern. Ihre Augen wanderten über die Tätowierung, die schräg unter meinem linken Schlüsselbein angebracht war – ein verschlungener Adler, das Symbol für die Magiergilde, in der ich ausgebildet wurde. Schließlich blieben sie an der Narbe hängen, die diagonal von rechts oben beginnend verlief – die Spur eines eher weniger erfolgreich verlaufenen Schwertkampfes. Für das, was nun folgte, konnte ich wirklich nichts – gut, vielleicht ein bisschen etwas -, aber auch ich war eitel. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen und bevor ich es verhindern konnte, verzogen sich meine Mundwinkel leicht spöttisch. Langsam verschränkte ich die Arme und räusperte mich kurz, meine Augenbrauen

auffordernd hochgezogen. Ihr Blick glitt hoch zu meinen Augen. Als ich sie schelmisch angrinste – ja, in Ordnung, ich genoss ihre Aufmerksamkeit. Genauso wie die Aufmerksamkeit jeder Frau... Außer der von Magda!!! - errötete sie schüchtern. Noch bevor sie die Augen niederschlagen konnte, erhaschte ich erneut einen Blick auf das Katzengrün in ihren Augen, auch die goldenen Sprenkel sah ich sofort. Verdammt. Ich wusste nicht wieso, aber diese Augen brachten mich total aus dem Konzept. Und das beunruhigte mich... “Euer Meister...”, setzte sie leise an und holte mich damit aus meinen Gedanken. Schüchtern schaute sie mich erneut an, ihre Wangen immer noch gerötet. “Du kannst mich gerne duzen.”, unterbrach ich sie überrascht. Außer unseren Bediensteten sagte niemand “Sie” zu mir. “Dein Meister...”, startete sie erneut den Versuch. Unruhig rieb sie ihre Finger. Sie tat

mir fast ein wenig Leid, wie sie da so stand und nicht wusste wohin mit ihren Händen. “Er hat gemeint, dass du mir ein Zimmer zeigen könntest, indem ich die Möglichkeit habe mich kurz frisch zu machen.”, erklärte sie schnell und atmete hörbar erleichtert aus. “Ach ja: Und du sollst schauen, dass du deinen 'Allerwertesten nach unten bewegst'. Er möchte mit dir über den heutigen Tag reden.” Als sie zu dem Teil über meinen Hintern kam, wurde sie so rot, dass ich zu der Erkenntis kam, dass Deydros sie wohl oder übel dazu verdonnert haben musste mir es genau so, wortwörtlich zu sagen. Ich nickte verstehend. “Warte einen Augenblick, Kleines.” Vermutlich eine große Spur zu gönnerhaft. Und das 'Kleines' hätte ich mir auch schenken können. Ihre Reaktion war dementsprechen: Die Augenbrauen schossen in die Höhe. Nun schaute sie auffordernd... Obwohl... Es sah eher

verärgert aus. Verdammt. Das war mir herausgerutscht. Eigentlich hatte ich es nur denken wollen. “Entschuldige.”, nuschelte ich leise und nestelte, um Abzulenken an meinen Hemdsknöpfen herum. “Ich bin sofort fertig. Dann zeige ich dir das Zimmer.” Einige Minuten später stiefelte ich auch schon ein Stockwerk tiefer, Carina hinter mir. Wir gingen den Flur hinunter, vorbei an der Lehrstube des Meisters, der Bibliothek und dem Schlafzimmer ans Ende des Gangs. Dort befand sich seit einigen Monaten nämlich ein sogenannter Baderaum, irgendein neumodischer Schnick-Schnack. Dort gab es jede Menge Badezuber und einen Kamin, um Wasser vorzuheizen. Ebenso standen dort einige Kommoden mit Waschschüsseln darauf, Schränke mit diversem Zubehör zum Waschen. Ach ja: Und das aller Wichtigste, wenn man nach Maria ging: Ein großer Spiegel, in dem

man seinen ganzen Körper betrachten konnte. “So. Bitteschön.”, sagte ich, während ich die Tür öffnete. Ich wies einladend in den Raum hinein. Sie war eindeutig beeindruckt. “Du kannst dir eine von den Schüsseln aussuchen. Wenn du noch einen Moment wartest, lass ich dir von einem der Hausmädchen Wasser hinaufbringen.” Sie lächelte dankbar, sagte aber nichts, sondern ging an mir vorbei in den Raum hinein. Sie drehte sich, um alles in Augenschein nehmen zu können und ihr Blick fiel, wie es fast schon zu erwarten war, auf den Spiegel. Dort blieb er hängen. Leise lachend trat ein paar Schritte auf ihr Spiegelbild zu und musterte sich. Dann grinste noch breiter, als sie es ohnehin schon getan hatte. Ich verstand nur Lebkuchen. Aber egal. Kurz räusperte ich mich, sie drehte sich überrascht um, so als hätte ich sie aus ihren Gedanken

gerissen. “Also. Ich gehe schnell und organisiere dir das Wasser.” Sie lächelte immer noch. “Danke. Das ist nett von dir.” Von einem seltsam beschwingten Gefühl erfasst drehte ich mich um und ging aus dem Zimmer heraus. “Tut mir Leid, dass ich dich vorher halb nackt erwischt habe.”, hörte ich es noch hinter mir flüstern. Sie hatte wohl gedacht, ich hätte es nicht wahrgenommen. Noch breiter grinsend drückte ich nochmals die Türe auf. Sie stand dort (dem Himmel sei dank noch vollständig angezogen, daran hatte ich gerade eben gar nicht gedacht) und schaute dementsprechend erschrocken. Ihr Blick drückte eindeutig aus, dass es ihr peinlich war, dass ich sie gehört hatte. Eine zarte Röte kroch ihr bereits die Wangen hoch und ich weidete mich einen Moment an ihrem

Leid. Dann grinste ich kurz. Nicht schelmisch, sondern nett. Ich konnte schließlich auch lieb sein. “Kein Problem. Ich glaube du hast dich mehr erschreckt, als ich mich.” Ich zog die Mundwinkel noch ein wenig weiter hoch und entfernte meinen Kopf aus dem Türspalt. Pfeifend und mit inzwischen bester Laune spazierte ich die Treppe hinunter. Lana, Marias Hilfsmädchen, lief an mir vorbei und lächelte mich scheu an. Sie war gerade sowieso auf dem Weg nach oben, also... “Lana, warte mal bitte einen Augenblick.” Überrascht drehte sie sich um. “Was kann ich für euch tun, Meister?”, flüsterte sie leicht nervös. Ich wusste, dass sie es nicht gewohnt war, dass ich oder Meister Deydros sie ansprachen, sie hatte hauptsächlich mit Maria zu tun. “Du hast doch sicherlich schon bemerkt, dass wir Gäste haben,

oder?” Sie nickte scheu und zog den Kopf ein, so als erwarte sie eine Schelte für irgendetwas, was sie falsch gemacht hatte. Jetzt wusste ich wieder, wieso sie fast ausschließlich mit Maria arbeitete. Sie hatte soviel Angst vor Ärger, dass sie sich normalerweise nicht mal in unsere Nähe traute. Ich seufzte, dann lächelte ich geduldig und beschloss, diese kleine Handlung ihrerseits einfach zu übergehen. “Miss Carina [Ja, ich sprach sie hier gerade tatsächlich so an!] ist im Badegemach. Könntest du ihr ein wenig Wasser zum waschen hinauf bringen? Oder zumindest organisieren, dass dies jemand tut.” Überrascht darüber, dass sie keinen Ärger bekommen hatte, hob sie den Kopf. Sie sah mich ein wenig irritiert an. Ich lächelte immer noch, jetzt aber ein wenig auffordernder. Sie verstand sofort. “Natürlich, Meister. Ich hole sofort einen Eimer

voll.” Ich nickte kurz, sie wollte schon an mir vorbei rennen, als ich sie kurz am Arm packte, um sie damit aufzuhalten. Sie wurde bleich und wich ein wenig zurück. Zu diesem Zeitpunkt, wusste ich noch nicht weshalb sie das tat. Später würde ich noch erfahren wieso. Sie tat es nämlich bei allen Männer. Vor allen Dingen bei ihrem älteren Bruder und ihrem Vater. Ich ließ sie los und zog meinen Kopf ein wenig zurück. Gerade soviel, dass sie sich entspannte, was ich daran merkte, dass die Frequenz ihres Pulses wieder normaler wurde. “Nur noch zwei Dinge. Zum einen: Hab bitte keine Angst vor mir, ich tue niemandem etwas...” Sie lächelte schuldbewusst und guckte auf den Boden. “Außer vielleicht demnächst Ferm, aber sag das niemandem weiter, ja?” Sie nickte, den Blick immer noch Richtung Boden gesenkt, aber ich sah, wie sie durch ein

Beißen auf die Lippe versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Es gelang ihr überraschend gut. Und ich hatte mein Ziel erreicht, sie hatte zumindest vorerst weniger Angst vor mir. Ich ging einige Schritte die Treppe hinunter, das Gefühl als hätte ich etwas vergessen, war plötzlich da. Ich wusste allerdings nicht was ich vergessen haben könnte, also... “Meister?” Maggies Stimme ertönte hinter mir, leise aber eindeutig weniger zittrig als gerade eben. Ich schaute sie fragend an. “Zweitens...” Ich verstand nicht. Sie erklärte. “Ihr habt von zwei Dingen gesprochen, die ihr mir mitteilen wolltet.” Ach ja, stimmt. Ich fuhr mir mit einem Finger seufzend über die Stirn. Ich wurde wohl alt. Ich drehte meinen Oberkörper ein wenig, sodass ich Lana direkt anschauen konnte. “Erwärme das Wasser für Carina... entschuldige... Miss Carina, doch bitte kurz. Oder hole dir einen von den Burschen, der soll

dir dabei helfen.” Sie nickte. Ich lächelte ihr kurz zu und machte mich an die letzten Stufen der Treppe. “Wenn die mir gehorchen würden wäre schön...”, murmelte Lana leise hinter meinem Rücken und tapste ihrerseits nun die Treppe hinauf. “Wenn sie es nicht freiwillig tun, sag ihnen, dass der Auftrag von mir kommt und ich mir, falls sie sich weigern sollten dir zu helfen, etwas Übles für sie ausdenken werde.” Ich drehte mich nicht mehr um. An dem Keuchen, dass sie hinter mir von sich gab, glaubte ich allerdings zu Erkennen, dass sie eine Mischung aus Überraschung und Sorge um die Jungs empfand. Himmel, es war göttlich eine wichtige Person in einem Haushalt zu sein. Grinsend lief ich durch den Treppenbereich zum Wohngemach. Es gab nichts schöneres, als auch hin und wieder seine Macht ausspielen zu können.

Immerhin schubste mich der Meister im Gegenzug auch oft genug herum.

Erkenntnis

“Guten Morgen.” Überschwänglich trat ich ihn die Wohnstube ein. Meister Deydros, seine Frau und Carinas Großmutter – ich hatte vergessen wie sie hieß – saßen in einem ausgebauten Erker am Esstisch. Das noch nicht wirklich aufgegessene Frühstück vor sich habend, diskutierten sie schon wild über den Tag, auf meine Begrüßung gingen sie gar nicht erst ein. Immer noch grinsend setzte ich mich an den Tisch. Sie würden mir meine gute Laune defintiv nicht verderben. Heute nicht. Zwei Hände griffen um mich herum und stellten vor mir einen Becher mit dampfendem Tee ab, ein Versperbrett und zwei Scheiben Brot folgten. Nun erschien der zu den Händen gehörende bereits gräulich gelockte Kopf über meiner rechten Schulter. “Lass es dir

schmecken” Ich lächelte Maria dankbar an. Noch bevor sie ihren Kopf wieder zurückgezogen hatte, hatte ich ihr einen simplen Kuss auf die Backe gedrückt. Sie wurde rot. “Du weißt doch, du sollst nicht...” “Papperlapapp. Früher war das auch kein Problem. Und du bist doch sowieso für mich wie eine Mutter. Also darf ich das auch.” Sie errötete noch mehr. “Danke”, wisperte sie, zog ihren Kopf zurück und wuschelte mir im Gegenzug kurz durch die Haare. “Danke für den Tee!”, rief ich ihr gut gelaunt hinterher. Sie ging schon wieder in die Küche zurück, Deydros beachtete sie nicht einmal. Irgendetwas stimmte zwischen den beiden nicht. Hoffentlich hatte es vorhin keinen Eklat gegeben, weil Carina und ihre Großmutter hier beherbergt wurden... Normalerweise machte es Maria zwar nie etwas aus, wenn Gäste

unerwartet kamen, aber so wie Deydros und seine 'alte Freundin', wie er sie genannt hatte, beieinander saßen, kannten die sich eindeutig schon länger. Und auch ziemlich gut. Und dass das Maria nicht schmeckte war nicht zu verkennen. Vorsichtig räusperte ich mich. Weder mein Meister noch seine Freundin regten sich. Ich räusperte mich erneut. Immer noch nichts. Sie flüsterten als weiter. Ich verstnd absolut gar nichts. Genervt verdrehte ich die Augen. “Du brauchst nicht so zu schauen, Neoras. Wir werden dich einweihen, sobald Carina da ist...” Ich sah meinen Meister ungläubig an. Das verhieß nichts Gutes, weil es wahrscheinlich uns beide in irgendeiner Form gemeinsam betreffen würde und das würde wiederum bedeuten, dass ich... “Ah, da ist sie ja!” Deydros unterbrach meinen Gedankengang und winkte Carina, die soeben in den Wohnbereich getreten war, zu sich

her. “Wir haben einiges zu besprechen. Das betrifft auch dich.” Er fragte sie weder, wie es ihr nach gestern Nacht ging, noch, ob sie körperlich schon in der Lage war, wieder etwas zu leisten. Ein überfürsorglicher Mensch war Deydros noch nie gewesen, aber das hätte ich definitv nicht erwartet. “Glaubst du, dass sie nach dem, was gestern war, schon wieder in der Lage für einen deiner Pläne ist?”, ertönte Marias Stimme sarkastisch hinter mir. Sie stand dort mit einer Kanne Tee und einem weiteren Brett. “Setz dich, Mädchen. Ich hole dir noch einige Scheiben Brot...” Sie drehte sich um und ging zurück in die Küche. “Damit sie auch wieder zu Kräften kommt, bevor mein werter Herr Gemahl sie zu seinem persönlichen Studienobjekt macht.” Sie hatte es zwar nur gemurmelt, allerdings hatte es jeder von uns am Tisch eindeutig

vernommen. Carina blieb der Mund offen stehen, ihre Großmutter errötete leicht, ich starrte stur auf meinen Teller, nur um zu vermeiden, dass die anderen mein Grinsen nicht sahen und Deydros tat das einzig Vernünftige, was er hätte tun können: Er erhob sich, entschuldigte sich kurz (“Ich kümmere mich kurz um sie.”) und ging zu Maria in die Küche. Langsam erhob ich mich. “Ich glaube wir sollten lieber in das Studienzimmer oder in die Bibliothek gehen. Dort ist es bequemer.” Blumig ausgedrückt für: 'Es wird gleich laut werden und das ziemlich lange. Wir sollten lieber den Kopf einziehen und das Weite suchen.' Sowohl Carina als auch ihre Großmutter verstanden, auch wenn erstere sehnsüchtig auf mein noch nicht angebissenes Brot starrte, das auf meinem Teller lag. “Du kannst es haben. Den Tee lasse ich und auch hoch bringen.”, erklärte ich kurz und lächelte

sie freundlich an. “Wie wäre es mit der Bibliothek?”, fragte Carinas Großmutter nun. Ich nickte stumm und ging ihnen voran zur Treppe hin und diese hinauf. Hinter uns her hallte bereits eine mittel-laute Diskussion über Frauen, Verantwortung und 'alte Freunde', wie Maria es erstickt gebrüllt hatte. Lana kam uns die Treppe hinunter entgegen. “Meister.” Sie neigte kurz den Kopf. “Warte einen Augenblick.” Carinas Stimme hielt Lana auf. Diese schaute überrascht auf. Ich drehte mich ebenso überrascht um. “Danke für das warme Wasser. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.” Ihr Lächeln war eindeutig echt, das Glänzen in ihren Augen bestätigte es nochmal. Sie hatte Lana, die solche Freundlickeit nur von Maria gewohnt war, sofort in ihren Bann gezogen. “Das gehört zu meinen Aufgaben, Miss.”, wisperte sie lächelnd. “Das mit den beiden

Stallburschen tut mir allerdings wirklich Leid.” Ich zog meine Augenbrauen schlagartig hoch, Lana fuhr sich, erschrocken darüber, das ihr das herausgerutscht war, mit der Hand an den Mund und starrte mich nicht minder verschreckt an. Carina rettete die Situation. “Das waren doch wirklich nette Kerle.”, kicherte sie. “Sie haben das Wasser gebracht und sind fast freiwillig wieder gegangen.” Lana schaute nun erleichtert. “Fast freiwillig.”, wiederholte sie und schaute ein wenig betreten zu Boden. “Was musstest du denn tun, um sie rauszuschmeißen?”, fragte ich nun und unterbrach die beiden damit. Carinas gerade eben noch dagewesenes Selbstbewusstsein schrumpfte offensichtlich in sich zusammen, genauso verkrampfte sich das Lächeln auf Lanas Lippen. Sie hatte definitiv Angst vor Ärger. “Himmel, Mädchen.”, dachte ich bei mir. “Ich

schlage keine Frauen und bestrafe sie auch ganz bestimmt nicht. Wieso erkennst du das nicht?” “Lana?”, fragte ich vorsichtig und zog eine Augenbraue hoch. “Sie... Sie... Sie hat ein durchsichtiges Lasso herausgeholt und damit vor Alf und Gerd auf den Boden geknallt.” In ihrer Stimme schwang ein beeindruckter Klang mit, aber auch eine Spur von Furcht. Alf und Gerd waren es also gewesen. Das waren Lanas jüngere Brüder. Selbstverständlich, dass sie Angst um sie hatte... Aber ein durchsichtiges Lasso? “Es war aus Luft.”, sagte Carina nun. Was? Ich hatte sie wohl sehr irritiert angeschaut. “Das Lasso. Ich habe es aus Luft gebändigt.”, wiederholte sie und schaute mir nun direkt in die Augen. Sofort wurde ich erneut von diesem irrsinnigen Grün darin gefesselt. Kurz schüttelte ich den Kopf. Das musste

endlich aufhören! Als ich wieder aufblickte, sah sie leicht gekränkt aus. Sie dachte wohl, ich hätte den Kopf geschüttelt, weil ich es ihr nicht glaubte. Als mein Blick von irritiert in beeindruckt umschlug, räumte ich diese Zweifel aber aus. “Du verdammter...!” “Ich warne dich, Maria, wenn du diese Schüssel...” Mein Blick schoss Richtung Treppenabsatz. Das würde gleich sehr hässlich werden. Im nächsten Augenblick klirrte es, Maria hatte sich für die gerade eben ausgesprochene Warnung wohl wenig interessiert. Das wütende Weinen ihrerseits und das Gebrüll von Deydros hallten ins Treppenhaus. Lana guckte nun wieder ängstlich. “Himmel steh mir bei. Und ich muss doch durch die Küche ins Waschhaus.”, murmelte sie leise vor sich hin. “Mach es später.”, sagte ich leicht hin. Das Gerangel in der Küche wollte auch ich ihr nicht antun. Sie sah mich überrascht an, schaute dann aber hin und

hergerissen auf die schmutzige Wäsche. “Leg sie im Baderaum in einen der Zuber...” Sie nickte zumindest ansatzweise überzeugt, drehte sich um und ging die Treppe wieder hoch. Carina, ihre Großmutter und ich, folgten ihr. Im Flur angekommen, öffnete ich die erste Tür rechts für Carina und ihre Großmutter und bedeutete ihnen einzutreten. “Ich komme sofort.”, fügte ich erklärend hinzu. Dann eilte ich Lana hinterher. “Moment, ich mache dir die Türe auf.” Erneut überrscht von meiner Freundlichkeit blieb sie lächelnd stehen. “Danke, Meister.”, wisperte sie. “Sehr freundlich von euch.” Ich ging einen weiteren Schritt auf sie zu. “Nenn mich Neoras.”, bot ich ihr lächelnd an und hielt ihr die Tür auf. Irritiert drehte sie sich um. “Wenn du mich Meister nennst, fühle ich mich so alt.”, erklärte ich mit einem Schulterzucken. “Und falls du später noch Probleme haben solltest,” ich deutete mit der rechten Hand auf

die Wäsche, “frag Ferm. Der freut sich bestimmt.” Mein Grinsen musste wirklich böse gewesen sein, aber sie kicherte trotzdem leise. “Das mache ich Meis...” Ich schaute sie mit strafenden Augen, aber einem kleinen Lächelnd auf den Lippen an. “Entschuldige. Das mache ich Neoras.”, verbesserte sie sich. “Danke.”, antwortete ich galant. “Falls du mich suchst, ich bin mit unserem Besuch in der Bibliothek und verstecke mich dort vor dem Meister und seiner Frau.” Ich schaute sie verschwörerisch an. Sie lachte als Antwort noch mehr und nickte dann. “Verstanden.”, gab sie kichernd von sich. “Ach ja: Unten auf dem Tisch steht noch ein wenig Essen und Tee. Könntest du das möglicherweise in die Bibliothek bringen, wenn du fertig bist?” Ich bekam ein Strahlen als Antwort und verstand dies als 'Ja'. Nun selbst äußerst motiviert und lächelnd (auch ich war nicht immer brummig) lief ich

den kurzen Weg in die Bibliothek zurück. Carina und ihre Großmutter standen seltsamerweise immer noch, obwohl sehr viele Sessel und andere Sitzmöglichkeiten vorhanden waren. “Wieso habt ihr euch nicht hingesetzt?”, fragte ich verwirrt und ließ mich meinerseits nun in einen großen, braunen Ohrensessel fallen. Ich liebte dieses Stück. In ihm hatte ich Stunden mit dem Studieren von diversen Büchern für den Unterricht, aber auch freiwillig zum Lesen verbracht. Wenn man zu den wenigen Leuten gehörte, die Lesen konnten, musste man das auch ausnutzen, fand ich. Hinzu kam: Ich liebte das Schmökern in den vielen Büchern des Meisters, also verbrachte ich den größten Teil meiner karg bemessenen Freizeit hier. “Großmutter hat gemeint, wir dürfen erst, wenn du es uns angeboten hast. Ich fand das zwar albern, aber... Au!” Ihre Großmutter hatte der erstaunlich offen redenden Carina mit dem

wirklich zierlichen Ellbogen in die Seite gestoßen und erntete dafür nun einen köstlich wütenden, Blitze schleudernden Blick von ihr. “Entschuldigt. Das war ein Fehler meinerseits.” Höflich wies ich auf die Sitzgelegenheiten. “Sucht euch etwas aus. Ich bin es nicht gewohnt, dass Frauen im Haus sind. Außer Maria, und die setzt sich hin wann und wo sie will.” Ich lächelte charmant. Ich würde sie um den Finger wickeln, um endlich zu erfahren, was es mit der ganzen Situation auf sich hatte. Und wenn dafür ein bisschen von mir verhasstes, unnötiges Geplänkel notwendig war, würde ich auch das überstehen. Außerdem war das mit dem Hinsetzen tatsächlich ein Fehler von mir gewesen und Höflichkeit und Manieren waren nunmal wichtg und auch angebracht, wenn Besuch im Hause war. “Du willst mit Sicherheit wissen, wieso dieses ganze Theater hier veranstaltet wird und vor

allen Dingen mit welchem Ziel, oder?” Respekt, Carinas Großmutter, deren Name mir immer noch entfallen war (Schande auf mein Haupt!), schaffte es ohne jegliches Geplänkel meine Wünsche auf den Punkt zu bringen. Ich hatte erwartet, dass es schwieriger werden würde, sie zu überzeugen. Interessiert schaute ich sie nun an. Dann zog ich kurz die Mundwinkel hoch. “Sie haben es erfasst, Madame.” “Tja. Ich muss dich leider enttäuschen.” Mein überaus dominanter, höflicher Blick verwandelte sich in genervte Irritation. Was war nun schon wieder? Hatte Deydros ihr etwa verboten darüber zu reden? “Dein Meister ist leider äußerst strikt und hat mir das Versprechen abgenommen, dir nichts davon zu erzählen.” Vermutung bestätigt. Ich atmete genervt durch. “Dieser Mann treibt mich irgendwann noch in den Wahnsinn. Was hat er nur mit dieser

Geheimniskrämerei? Das ist doch bei anderen älteren Leuten auch nicht so.” “Doch ist es.” Carina meldete sich zu Wort. Ich schaute überrumpelt drein. Es war definitiv nicht geplant gewesen das laut zu sagen. “Du weißt genau...”, murmelte nun ihre Großmutter neben ihr, setzte einen entschuldigenden Blick auf und errötete. “Jaja, lass gut sein.”, murmelte Carina nun ihrerseits bissig. “Ich hab das Beschützer-Argument satt. Ich bin nicht so scharf drauf wegen Alldem ständig fast zu sterben. Das ist nicht so lustig wie viele glauben.” Das Mädchen konnte ja wirklich zickig sein. Das überraschte mich jetzt doch. “Weißt du was?”, fuhr sie fort, nun an mich gewandt. “Meine Großmutter mag ja an ein Versprechen gebunden sein, aber ich bin es nicht. Und glaub mir, ich bin mindestens so scharf darauf wie du Hintergrundinformation zu erhalten. Also kann ich dir ja schonmal erzählen, was ich bisher

weiß. Wäre das akzeptabel?” Das Mädchen wurde mir so langsam sympatischer. Sie schien mir zwar immer noch nicht wirklich zu Vertrauen, aber sie wollte diese Sache hier zumindest so schnell vom Tisch bekommen wie ich. Also setzte ich mich bequem in den Sessel hinein, schlug die Beine übereinander und lehnte mich zurück. Dann nickte ich ihr auffordernd zu. “Carina, ich glaube nicht, dass du...” “Sag mir nicht, was ich zu tun habe, Großmutter. Dieses Mal nicht. Verstanden? Ich lag in einem verdammt kurzen Kleid im saukalten Schnee, bin vorher wo auch immer psychisch zusammengefaltet worden und hab das alles nur überlebt, weil dieser Kerl da drüben mich mehr oder weniger unfreiwillig gerettet hat. Dein Freund Deydros hatte nicht den Schneid mir persönlich zu helfen, was wahrscheinlich viel schneller gegangen wäre – Nichts gegen dich, Neoras, aber er hat ja wohl

anscheinend mehr Erfahrung und Übung in der Magie als du, er ist schließlich Meister. - Stattdessen muss ich mir nun anscheinend von ihm sagen lassen, wem ich was erzählen darf und wem nicht. Achja: Er will mich zusätzlich auch noch als Studienobjekt nutzen, was ernsthaft die Höhe ist. Und das lass ich mir ganz ehrlich nicht bieten. Magier-Meister hü oder hopp.” Zwischendrinn hatte sie einige Male mit ihren Füßen aufgestapft, nun verschränkte sie wütend und äußerst gereizt ihre Arme. Was ich für mich jetzt aus dieser Schimpftirade herauslesen konnte, war, dass sie mich nicht wirklich mochte, 'dieser Kerl da' klang nicht besonders nett. Aber das konnte mir ja egal sein. Wenn ich Glück hatte (auch wenn es mir derzeit nicht hold war), verschwand sie bald wieder aus meinem Leben. Sie hielt außerdem recht wenig von Deydros, sozial gesehen zumindest, womit sie auch wiederum die

Wahrheit sagte, wie er ja bereits beim Frühstück erneut bewiesen hatte. Das, was mein Selbstbewusstsein allerdings anknackste war, dass sie meine magischen Kräfte eher für mau hielt, was nicht unbedingt komplett falsch war, zumindest was die Formeln der höheren Stufen anging, aber trotzdem. Es war irritierend, das gerade von einer Frau zu hören, die nicht mal dazu fähig war auf sich selbst so aufzupassen, dass sie nicht von irgendwem mitgenommen und wieder verloren wurde, um dann im Schnee an der 'Himmelspforte' aufzuwachen. Da konnte man doch schon davon sprechen, dass das Mädchen unfähig und anscheinend sehr häufig so gut wie tot war. “Du hälst anscheinend nicht sonderlich viel von mir, oder?”, ertönte Deydros Stimme mit einem Mal von der Tür. Carina wurde schlagartig rot. Es könnte sein, dass ich vergessen hatte zu erwähnen, dass Deydros Augen und Ohren

überall waren und dass er immer dann kam, wenn es am ungelegensten war. “Sie hat es nicht so gemeint...”, versuchte Carinas Großmutter hilflos zu erklären. Ich war hin und hergerissen. Sollte ich mich einmischen oder nicht? Falls ich es tat, könnte ich eindeutig etwas abbekommen. Ach Quatsch: Ich würde definitiv etwas abbekommen. Wenn ich allerdings den Mund hielt, würde ich mir später von Deydros den ganzen “Feigling”-Vortrag anhören müssen. Und auf den war ich ganz ehrlich noch weniger scharf. Geräuschvoll atmete ich aus. Dann sah ich Deydros direkt an. Er hatte Carina immer noch fixiert. Sie saß immer noch mit errötetem Gesicht da, den Kopf gesenkt. “Ich habe sie danach gefragt.” “Bitte was?!” Der alte Mann fuhr zu mir herum. “Ich habe ihre Großmutter gefragt, ob sie mir einige Informationen geben kann.” Nun fuhr er zu besagter Großmutter herum. “Du

hast ihm aber nichts gesagt, oder? Delira, schau mich an, wenn ich mit dir spreche!” Delira – Stimmt, so hatte sie geheißen – fuhr zusammen, öffnete den Mund, um anzusetzen, schloss ihn aber dann wieder. “Sie hat nichts gesagt.” Himmel. Deydros musste sich endlich einmal in den Griff bekommen. Verhören war eindeutig nicht seine Spezialität. Er würde nichts aus den beiden herausbekommen, wenn er sie so einschüchterte. “Sie hat nichts gesagt.”, wiederholte ich. Ich stand auf, um die Aufmerksamkeit von unseren Gästen auf mich zu lenken. Es konnte schließlich nicht sein, dass mein jähzorniger Meister die beiden psychisch so zurichtete, dass sie nachher nicht einmal mehr reden wollten. Dann wäre das ganze Chaos hier völlig umsonst gewesen und ich genauso informations-los wie vorher. “Ich habe gefragt. Delira hat abgelehnt. Und Carina hat sich über diese ganze

Geheimniskrämerei aufgeregt.”, fasste ich trocken das Geschehene zusammen. Ich ließ weg, dass sie tatsächlich vorgehabt hatte mir zumindest ihren Teil der Geschichte zu erzählen, aber das musste Deydros ja nicht wissen. Dieser schaute nun erst mich misstrauisch an, dann ließ er seinen Blick wieder zu Carina wandern. Schließlich ließ er sich seufzend in seinen alten Ohrensessel aus rotbraunem Lederfallen. Müde griff er sich an die Schläfen und begann zu massieren. Er schloss schließlich die Augen und runzelte konzentriert die Stirn. Mit dem Massieren hörte er nicht auf. “Neoras, könntest du wohl...?” Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. “Entschuldigt, Meister. Ich bringe den Tee.”, erklärte Lara leise in der Tür stehend. “Tritt ein.” Mit einem Winken zu uns her unterstützte der Merister seine Aussage. “Tee wäre jetzt wohl das Beste für uns alle. Woher

hast du gewusst, dass ich gerade eben welchen ordern wollte?” Lara schaute mich unsicher an, ich schüttelte leise lächelnd den Kopf. Sie verstand und überging die Frage. “Ich habe für euch einen starken Kräutertee, Meister. Eure Frau hat gemeint, ihr könntet diesen jetzt gut brauchen.” Deydros lachte leise. “Jaja, Maria. Erst beinahe das Haus zerlegen und dann...” Das Ende ließ er offen. Nachdem Lara den Becher vor Meister Deydros abgestellt hatte, kam sie zu mir. “Für dich und eure Gäste habe ich Hagebuttentee, ist das in Ordnung?”, flüsterte sie mir fragend ins Ohr. Ich nickte lächelnd “Perfekt.” Da sie meine Antwort abgewartet hatte, stellte sie erst jetzt die Becher für Carina, Delira und mich auf den Tisch. Daneben platzierte sie einige, wenige Kekse. Carina starrte sie sofort heißhungrig an. Möglicherweise war sie vorhin

auch nur so gereizt gewesen, weil sie Hunger hatte? Das war doch so ein Ding bei Frauen... “Ich bringe sofort noch einige Schnittchen, damit Sie ihr Frühstück beenden können. In Ordnung, Meister? Ich denke auch an Stoff zum Unterlegen, damit nichts verschmutzt wird.” “Natürlich. Wir können unsere Gäste schließlich nicht verhungern lassen.” Er zog ein Lied hoch und grinste böse. “Zumindest nicht, bevor ich mit ihnen fertig bin.” Ich verschluckte mich an dem Keks, den ich eben genommen hatte. Carina verbrannte sich die Zunge an ihrem Tee und ihre Großmutter lächelte nur müde. Sie war diese ganzen emotionalen Ausbrüche von Deydros anscheinend gewohnt. Informationen! Ich wollte endlich Informationen! Nur wo zur Hölle fing ich da am ehesten an? Nachdenklich warf ich einen Blick zwischen meinem Meister und Carinas Großmutter hin und her. Dann hatte ich eine

Idee. “Woher kennen Sie und Madame Delira sich eigentlich, Meister?” Normalerweise sprach ich ihn nicht so höflich an. Nur wenn Gäste im Haus waren, legte er größten Wert darauf. Und ich wollte schließlich gerade etwa von ihm, also musste ich mich auch anpassen. Meister Deydros, der bis gerade eben noch seelenruhig an seinem Kräutertee genippt hatte, traf die Frage wohl eher unvorbereitet. Seine Augenbrauen zuckten nervös in die Höhe und seine Hand zuckte einen Moment, sodass der Tee, der sich mit samt der Tasse in dieser Hand befand, ein wenig zu schwappen anfing. Vorsichtig balancierte Deydros dies wieder aus, damit nichts überlief. Dann sah er mich direkt an. “Diese Frage ist ziemlich persönlich...” “Normalerweise haben Sie damit doch auch keine Probleme... Oder ist hier etwa etwas nicht 'normal'?” Meine Stimme triefte nur so

vor Ironie. Deydros schien das nicht zu überhören. “Beherrsche dich, Bürschchen.”, knurrte er. Er richtete sich im Sessel auf. Seine Augen blitzten vor... Vor was eigentlich? Wut war es keine, aber auch kein Übermut, sondern irgendetwas undefinierbares dazwischen. Er versuchte dominant zu wirken, schaffte es aber nicht vollständig. Andere mochte er damit vielleicht eingeschüchtert haben, aber auf mich machte es wenig Eindruck. Ich merkte, dass die letzten beiden Tage an seinen Nerven gezerrt hatten. Es war ihm anzusehen, dass er so gut wie nicht geschlafen hatte und dass der ungebetene Besuch ihn nicht gerade erfreute. Mitleid kroch in mir hoch, aber ich verbot mir es zuzulassen. Ich hatte schließlich ein Ziel. Wenn ich das jetzt aus den Augen verlor, würde ich es nie erreichen, zumindest nicht in nächster Zeit. Also erwiderte ich ruhig seinen Blick. Einige Minuten (zumindest fühlte es sich

so an) starrten wir uns gegenseitig nieder. Gerade als ich nachgeben wollte, weil ich es nicht mehr aushielt – diese grauen Augen konnten einem geradewegs in die Seele blicken, was wirklich unheimlich war – senkte Deydros den Blick auf seinen Teetasse und fingerte nervös an deren Henkel herum. Einige Augenblicke ging das so. Hin und wieder schoss sein Blick nervös in meine Richtung und sah mich flehentlich an. Ich schüttelte jedes Mal nur leicht den Kopf. Das konnte er vergessen. Ich würde auf keinen Fall nachgeben. Trotzdem rang ich mit mir, ob ich ihn jetzt offen dazu auffordern sollte, die komplette Geschichte zu erzählen oder nicht. Eine knappe Minute ließ ich Deydros noch, um mit der Sprache herauszurücken. Als nichts kam, räusperte ich mich schlussendlich dann aber doch vernehmlich. Ich hatte die Faxen dicke, irgendjemand musste schließlich den Anfang machen. Und wenn er es nicht freiwillig

tat, würde ich ihn eben dazu zwingen müssen. Nun war ich derjenige, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anschaute. Es waren einige Antworten fällig und die würde ich definitiv noch heute erhalten. “Also?”, hakte ich fragend nach. “Ist es möglich, dass wir das unter vier Augen bereden?”, fragte Deydros nun seinerseits zurück und erinnerte mich mit einem kurzen Seitenblick daran, dass wir auch noch Besuch hatten. Carina und ihre Großmutter hatte ich vollkommen vergessen gehabt. Nun schaute ich ebenfalls in ihre Richtung. Delira fixierte konzentriert ihre Teetasse und tat so, als hätte der lautlose Schlagabtausch zwischen Deydros und mir niemals stattgefunden. Carina – natürlich erneut das komplette Gegenteil ihrer Großmutter – hatte ihre Ellebogen auf die Knie gestützt, das Kinn in die Hände gelegt und schaute uns fasziniert zu - so ähnlich wie kleinere Kinder schauen, wenn man ihnen das

erste Mal Geschichten am Lagerfeuer erzählt. Allerdings runzelte sie inzwischen ein wenig verärgert die Stirn. Sie hatte dem Anschein nach die Hoffnung gehabt, dass auch sie endlich einige Informationen mehr erhalten würde. Sollte ich beweisen, dass ich eigentlich im Grunde genommen für gleiches Recht für alle war? Sie hatte es schließlich auch verdient mehr zu erfahren... “Gibt es denn nichts, was wir alle vielleicht wissen sollten?”, fragte ich vorsichtig. “Zum Beispiel, wieso ich erst während eines Gewitters in Lederkleidung sterbe, um dann im Wald wieder in einem weißen Kleid aufzuwachen...”, hörte ich Carinas leises Grummeln. “Das finde ich auch. Und vor allen Dingen würde mich noch interessieren, welche Rolle die Porta Caeli dabei spielt...” Deydros ließ den Blick zwischen Carina und mir hin und her gleiten. Als nächstes stand er

mühsam auf, wofür er einen wütenden Blick meinerseits kassierte. Er würde jetzt nicht ernsthaft einfach gehen, oder? Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, ließ er sich schlaff wieder in den Sessel fallen. “Was ist diese Porta was-auch-immer?”, vernahm ich erneut Carinas Stimme hinter mir. Die Frage war so leise geflüstert, dass ich sie nur mit Mühe verstand. Sie war wohl an ihre Großmutter gerichtet gewesen. Bevor diese allerdings antworten konnte, schaltete sich Deydros ein. “Setz dich.”, sagte er müde und rieb sich mit beiden Händen über das faltige Gesicht. Meine Beine freuten sich über diese Aufforderung, ich stand doch schon eine ganze Weile, auch wenn es mir vorher nicht so vorgekommen war. “Zu deiner Frage.”, fuhr er fort. Nun richtete sich Carina interessiert auf. “Die Porta Caeli, übersetzt Himmelspforte ist eine der drei Heiligtümer. Sie haben in der Historie der

Magie eine ziemlich große Bedeutung. Außer der Himmelspforte gibt es noch eine Art Steinring auf der Insel der Priesterinnen, er hat keinen speziellen Namen, ist aber das bekannteste Heiligtum. Zumindest unter den Gelehrten. Und dann gibt es noch die Drillingsinseln. Drei Steinbrocken vor der Küste Yéremijas, auf jedem dieser drei befindet sich eine Statue. Einmal von Anaxandra, einmal von Yasmina und schließlich noch einmal von deiner Mutter.” Diese Neuigkeit schlug bei mir ein wie eine Revolverkugel. Irritiert schaute ich zwischen Delira und Carina, die beide total gelassen waren, und meinem Meister hin und her. “Du...”, setzte ich verwirrt an. “Entschuldigt bitte... Ihr meint, dass SIE die Tochter von Morgana ist?” Was eigentlich eine Feststellung werden sollte, endete in einer Frage. Deydros drehte seinen Kopf in meine Richtung und nickte seufzend. Man merkte, dass ihm die

derzeitige Situation allgemein überhaupt nicht Recht war. “Ach du Scheiße.”, murmelte ich leise, meinen Blick paralysiert gegen den Boden gerichtet. Als ich einige Augenblicke später richtig erfasst hatte, was das eigentlich bedeutete – auch ich kannte die Prophezeihungen, sowohl die öffentlich bekannte, als auch den unbekannten Teil – schaute ich erst zu Carina, die immer noch die Ruhe selbst war und zu ihrer Großmutter, die zusehends nervös wurde. Sie wartete anscheinend auf meine Reaktion. Zuletzt ließ ich meinen Blick zu meinem Meister wandern. “Sie wissen durchaus, dass wir uns damit jede Menge Probleme verschafft haben, oder?”, fragte ich mit zitternder Stimme. Zur Antwort bekam ich wieder ein müdes Nicken. “Und Sie wissen auch, dass unsere Probleme noch größer werden, wenn herausgefunden wird, dass wir sie bei uns verstecken, nicht

wahr?” Meine Stimme blieb ruhig, obwohl innerlich meine Wut zu schwelen anfing. Wieder nur ein Nicken. “Dann wissen sie mit Sicherheit auch, was wir als Nächstes tun.” Erst kam gar nichts, dann ein unglaublich erschöpftes Kopfschütteln und schließlich folgte ein verzweifeltes Vergraben des Gesichtes in den Händen. Mit einem Stöhnen schlug ich mir mit der Faust gegen die Stirn. Wir hatten hier ein vogelfreies Mädchen, das tot war, wenn man es finden würde, meinen Meister, der sich bereit dazu erklärt hatte sie vorerst bei sich unterzubringen und mich, einen einfachen Lehrling, der verdammt noch mal nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte, bis er besagtes Mädchen hierher gebracht hatte. Auf Befehl seines Meisters hin, der seine Unwissenheit ausgenutzt hatte, nur um das mal klarzustellen! Mein Kopf war vollständig leer, aber irgendwie auch nicht, weil tausend Fragen

durch meine Gedanken kreisten und mir keine passable Antwort einfiel. Nicht einmal zu einer von ihnen.

Streit

“Sie muss hier weg.”, murmelte ich laut vor mich hindenkend. Mit geschlossenen Augen massierte ich mir die Schläfen, während ich alle Möglichkeiten nochmals durchspielte. Es würde eindeutig nicht lange dauern bis die Sucher die Verbindung zwischen meinem Meister und Delira entdeckt hätten, maximal acht oder neun Tage. Und dann würden sie uns die Bude auseinander nehmen. Jetzt stellte sich bloß die Frage, wohin sie gehen sollte und vor allen Dingen: Wie wir ihre Großmutter davon überzeugen konnten ihr nicht zu folgen... Wir hatten maximal drei Tage Zeit. Falls sie später abreiste, würde man ihre Spuren entdecken. Und ich meinte nicht die normalen Spuren im Schnee, sondern die magischen Spuren, die ihre Aura, die ohnehin schon exorbitant stark war, verursachte. “Sie muss hier weg.”, wiederholte ich. Dieses

Mal sprach ich so laut, dass es alle um mich herum wahrnahmen. Ich hob meinen Kopf und sah schon jetzt an Deliras Augen, dass sie ihre Enkelin nicht ohne Weiteres gehen lassen würde. Oh Himmel, was würde das nachher für ein Kampf werden, um sie davon zu überzeugen... “Ich weiß.”, grummelte Deydros nun verschnupft in seine Hände. Er hob ebenfalls den Kopf, ließ in einmal kreisen und kegte sich schließlich die Hände seitlich in den Nacken, dann schaute er an die Decke. Das tat er immer, wenn er begann nachzudenken. Die daraus entstehenden Ideen waren meistens ziemlich gut, sodass wir zumindest eine geringe Chance haben könnten halbwegs passabel und unversehrt aus der Situation heraus zu kommen. Es verging eine geschlagene Stunde bis Deydros endlich einen Einfall hatte. In dieser Zeit waren mir wieder die ganzen Fragen durch den Kopf gefegt und meine Magengegend war

von einem mulmigen Gefühl in Beschlag genommen worden. Irgendwas in meinem Inneren sagte mir, dass, egal, was für eine Idee Deydros gerade ausbrütete, er mich mit Sicherheit auf irgendeine Art und Weise aktiv involvieren würde. Und ich hatte um ehrlich zu sein nicht wirklich Lust schon wieder über einen längeren Zeitraum hinweg in den Schnee hinaus zu müssen. Vor allen Dingen nicht jetzt, wo ich jede Minute mit einem Überfall zu rechnen haben müsste und nebenher noch darauf aufpassen sollte, dass Carina nichts Dummes machte oder sich verletzte... “Yéremija” war das einzige Wort, das Deydros aussprach. Mein Blick sprach Bände: Ich hatte keine Ahnung, was er uns damit sagen wollte und war kurz davor irgendetwas nur aus Prinzip kaputt zu hauen. Carinas Augen gaben Ähnliches wieder, nur spiegelte sich darin reine Verwirrung und keine Wut. Die Einzige die sofort verstand, war Delira. Sie nickte nur

monoton vor sich hin. “Uns bleibt wohl nichts Anderes übrig.”, wisperte sie schließlich resigniert. “Du hast es erfasst.”, erwiderte Deydros und schaute ihr dabei ruhig in die Augen. Sie waren sich sofort einig. “Reisedauer ungefähr eine Woche?”, fragte Delira. “Bei dem Wetter benötigen sie alleine diese Zeit bis Ant-al-Wal. Ob sie dort dann hinüber kommen ist auch eher fragwürdig.”, erklärte mein Meister ein wenig herablassend. (Dieses Mal sogar in einem vollständigen Satz!) Ein schlechtes Zeitgefühl irritierte ihn grundsätzlich immer. “Falls sie hinüber kommen, wäre Tstrom ihre erste Anlaufstelle, von dort aus müssten sie dann mit einem anderen Boot weiter nach Mol. Und dann schließlich noch weiter bis nach Jochmár. Für diesen Abschnitt bräuchten sie auch nochmal beinahe eine Woche, womit wir

mit den sechs Tagen für das Vorankommen mit dem Boot schlussendlich bei knapp drei Wochen wären.” Delira überging seine herablassende Art gekonnt und winkte ab. Dann sah sie mich an. “Bestünde nicht die Möglichkeit, dass dein Schüler sie beide mit einem Transportzauber direkt nach Ant-al-Wal bringt? Das würde zumindest ein wenig Zeit sparen.” Was mir während diesem Informationsaustausch bereits aufgefallen war: Wie bereits von mir mit Unwohlsein erwartet, hatten mein Meister und Delira immer von 'sie' und einmal sogar von 'beiden' gesprochen. Ich würde also wieder in den Schnee müssen und das dieses Mal sogar mehrere Wochen. Himmel, womit hatte ich das nur verdient? Meine Gedanken wurden von Deydros lautem Auflachen unterbrochen. “Da merkt man mal wieder, dass du von höherer Magie überhaupt keine Ahnung hast,

teuerste Freundin. Der Junge hat noch nicht einmal zwei Dekaden an Alter überschritten und du erwartest schon, dass er einen Transportzauber über eine Strecke von mehr als 250 Meilen bewirken kann? Selbst, wenn er dabei seine Energie restlos verbrauchen würde, kämen sie gerade einmal auf knappe 150 Meilen! Willst du ihn ernsthaft umbringen?” Delira schaute nun beleidigt, ich ebenfalls. Auch wenn ich Deydros durchaus Recht geben musste, mit dem, was er sagte. Als ich Carina hierher gebracht hatte, waren es gerade einmal siebzig Meilen gewesen. Gut, ich hatte bereits einiges an Energie verbraucht gehabt – das mit den maximalen 150 Meilen kam also hin -, war aber am Schluss trotzdem nur noch mit Müh' und Not ins Haus gekommen. Das hatte gereicht. “Entschuldige bitte, dass ich nicht mit deinem Reichtum an Intelligenz und Wissen gesegnet bin.”, entgegnete Delira nun spitz. “Ich

versuche meiner Enkelin zu helfen, ich habe im Moment keinen Kopf für Zahlen.” Bevor Deydros, dessen Gesicht sich gereizt verzogen hatte, darauf etwas erwidern konnte, unterbrach Carina sie beide. “Halt!”, rief sie erbost. “Das bringt uns alles nicht weiter. Könntet ihr beide bitte zur Sache kommen? Ich verstehe zum einen derzeit überhaupt nichts von dem, was ihr sagt, außer, dass ich nach Yéremija soll, zum Anderen steht da in der Tür ein ziemlich eingeschüchtertes Küchemädchen, das seit einer knappen Viertelstunde versucht, die Brote hereinzubringen.” So energisch wie sie sich gerade eben erhoben hatte, ließ sie sich nun wieder schlapp auf das Sofa fallen. “Meister?”, hörten wir nun ein leises hohes Stimmchen hinter uns flüstern. Deydros drehte sich peinlich berührt um. “Komm herein, Liselotte. Du kannst das Tablett

jetzt abstellen.” Eingeschüchtert trat das Mädchen näher und stellte die Brote auf den Tisch. Ich konnte das Mitleid in Carinas Augen sehen, das sie beim Anblick unserer Dienstmagd empfand. In Deydros Gesicht dagegen brannte nur die Scham, Delira war auch errötet und ich fühlte mich erneut wirklich fehl am Platz, wie ich da inzwischen aufrecht in meinem Sessel saß und nicht wusste, ob ich mich für meinen Meister schämen sollte oder nicht. “Entschuldigt bitte. Ich wollte nicht stören.” Man konnte Lieselottes Stimme kaum vernehmen, obwohl alles in diesem Raum (ausnahmsweise) gerade ruhig war. “Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.” Mein Meister fuhr sich übermüdet durch die Haare. “Könntest du meine Frau wohl zu uns schicken? Sag ihr, dass ich dich darum gebeten habe.” Lieselotte knickste, immer noch eingeschüchtert. “Natürlich, Meister. Habt Ihr

sonst noch einen Wunsch?” “Nein, danke. Wenn du Maria die Nachricht überbracht hast, kannst du für heute Schluss machen und nach hause gehen. Sag das bitte auch den anderen Mädchen. Wir haben hier einiges zu erledigen und können dafür niemanden im Haus gebrauchen.” Dieses Mal nickte Lieselotte nur, drehte sich schließlich flink um und ging auf leisen Sohlen wieder hinaus. “Neoras.” Mein Kopf, den ich bis eben hängen gelassen hatte, zuckte hoch. Ich hatte ein wenig im Halbschlaf gedöst. Die Müdigkeit hatte mich schließlich doch überkommen gehabt. Fragend schaute ich den Meister an. “Du hast ja mit Sicherheit soeben mitbekommen, um was es geht.” Ich nickte und versuchte dabei nicht zu pessimistisch auszusehen. “Kurz gefasst: Du wirst Carina nach Jochmàr bringen.” Das hieß für mich eigentlich nur: Ich musste wieder

hinaus in den Schnee. Und das mit diesem Mädchen, das gestern beinahe im Schnee erfroren wäre. Himmel, würd das ein Spaß werden... “Ihr werdet in spätestens drei Tagen abreisen.”, fuhr mein Meister nun fort. Er hatte mir nicht einmal eine halbe Minute gegeben, um die Vorfreude auf das Schneeabenteuer mit der Schneebraut sacken zu lassen. “Wie du gerade gehört hast, müsst ihr innerhalb kürzester Zeit nach Ant-al-Wal. Sobald ihr die Walfisch-Küste hinter euch gelassen habt, ist der Zeitdruck nicht mehr ganz so groß.” Ich brauchte eine Weile bis ich begriffen hatte, was Meister Deydros damit meintte. Aber schließlich ließ mich mein Grips einmal mehr nicht im Stich und ich erinnerte mich wieder an einen kleineren Part aus einer Geschichts-Lektion: Die absolute Gewalt des Königs von Loteron reichte nur bis etwa zehn Meilen vor der Küste. Das war vor Jahrhunderten zwischen

den Herrschern der einzelnen Territorien so festgelegt worden. Und bisher hatte noch niemals jemand gewagt, dagegen zu verstoßen. Gut, man musste auch sagen, dass bis vor etwas weniger als zwanzig Jahren drei gewisse Magierinnen dafür gesorgt hatten, dass jeder sich daran hielt. Aber wir würden jetzt einfach alle einmal hoffen, dass Marlon von Loteron genug Ehrfurcht vor den verbliebenen Zwei der Großen Drei hatte. Oder anders formuliert: Hoffentlich war er nicht so dämlich und legte sich mit der Hohepriesterin oder der Herrscherin der Eisfälle an. Diplomatie war zwar noch nie seine Sache gewesen, aber Vertrauen war schließlich alles... Auch wenn man auf Intelligenz bei einem Wesen hoffte, dass damit eher weniger gesegnet war... “In Ordnung.”, knurrte ich mürrisch. “Drei Wochen, habt ihr gesagt? Glaubt ihr ernsthaft, dass das zeitlich ausreicht?” Fragend schaute

ich zwischen Delira und meinem Meister hin und her. “Ich meine... Sie hat keine Übung im Umgang mit dem Dolch. Genauso sieht es mit Pfeil und Bogen aus... Und vom Überlebn ohne Bett und Wohnwagen will ich gar nicht erst anfangen....” Ich war mir ziemlich sicher, dass sich das absolut überheblich anhörte. Allerdings war es mir durchaus ernst damit. Carina hatte – krass ausgedrückt – keine Ahnung von garnichts. Und in diesem Augenblick war ich war auch schon davon überzeugt, dass sie das – wie erwartet - in den falschen Hals bekommen hatte. Sie schmiss nämlich (mal wieder) Blitze mit ihrem Blick. “Lass das.”, brummelte ich genervt. “Was?”, fragte sie geradezu provozierend unschuldig. “Hör auf Blitze mit deinen Augen zu schleudern. Auch wenn es sich hässlich anhört, irgendwo hab ich ja doch recht...”, erläuterte ich bissig. Sie wollte bereits den Mund öffnen,

schloss ihn dann aber doch in scheinbarer Einsicht wieder. Frauen. Dieses Geschlecht machte mich wirklich fertig. “Nun ja. Vollständig hast du nicht recht.”, meldete sich Delira nun zu Wort. Fragend schaute ich sie an. “Carina hat ein wenig Übung im Umgang mit dem Kurzschwert.” Diese schaute kurz auf und schnaubte sarkastisch. Aha. Das mit der Übung war also ein wenig übertrieben... Delira überging Carinas Reaktion galant. “Und sie kann ziemlich gut mit Wurfsternen umgehen...” Nun horchte ich überrascht auf. Wurfsterne? Ernsthaft? Dieses Mädchen und.... Wurfsterne? Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein. Wieder kassierte ich einen wütenden Blick von Carinas Seite. Auch wenn ich nicht wusste, wofür der gewesen war. Ich hatte schließlich nicht einmal dazu angesetzt, das Ganze zu

kommentieren.... Carina erhob sich nach kurzer Zeit würdevoll. “Gebt mir einen Augenblick. Ich gehe sie unten schnell holen. Höchstens jemand”, sie warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, “hat sie inzwischen gestohlen.” Zum einen wer oder was waren 'sie' und wieso sollte ich sie stehlen wollen?! Des Rätsels Lösung ließ eine knappe Minute auf sich warten. Doch schließlich kam Carina mit einem Samtsäckchen zurück in die Bibliothek. Das Ding hatte sie auch schon am Körper getragen, als ich sie gefunden hatte. Es hatte, um ehrlich zu sein, schon fast den größten Anteil an zu tragendem Gewicht in dieser Nacht ausgemacht. Dementsprechend neugierig war ich auch. Ehrfürchtig zog sie etwas aus dem Säckchen. Und tatsächlich. Es war ein Wurfstern. Irritiert und gleichzietig beeindruckt schaute ich auf die Teile. Das Mädchen begann so langsam mir zumindest annähernd symphatisch zu werden.

Magierin, Bändigerin und jetzt auch noch Inhaberin von Wurfsternen. Zwar wog die Tatsache, dass sie eine gesuchte Vogelfreie war, immer noch schwer, allerdings begannen ihre positiven Seiten aufzuholen. Aber halt! Innerlich schüttelte ich kurz den Kopf. “Krieg' deine Gedanken wieder klar, Junge!” Nur weil sie die Dinger besaß, hieß das noch lange nicht, dass sie damit auch Umgehen konnte. “Und bilde dir ja nicht ein, dass du sie mehr mögen kannst, als einer neutralen Grundlage gut täte. Sie ist und bleibt ein Problem.” Auch wenn sie im Grunde nichts dafür konnte. Und sie war eigentlich echt nett. “Aber sie ist ein Problem!” Den letzten Satz hatte ich unbeabsichtigt herausgebrüllt. Nun bekam ich dafür einige verwirrte Blicke von meinen Mitanwesenden hier, die bisher intensivst die Wurfsterne studiert hatten. Irgendetwas musste an diesen Dingern wohl besonders sein und ich hatte gerade nicht

aufgepasst. So ein verdammter Mist! Da hatten wir es wieder, was ich immer sagte: Gefühlsregungen vernebelten das Gesamtbild. Und das sorgte wiederum dafür, dass man Wichtiges nicht mitbekam. Ich hätte mich gerade wirklich selbst schlagen können... “Wer gibt Neoras schon wieder einen Grund so herumzubrüllen?” Maria erschien lächelnd im Türrahmen und rettete mich einmal mehr vor diversen Peinlichkeiten. Diese Frau war tatsächlich mein persönlicher, fleisch gewordener Schutzengel. “Das ist mir persönlich genauso schleierhaft wie dir. Ich habe – dem Himmel sei Dank – absolut keine Ahnung, welches die Probleme sind, die Neoras dieses Mal hat.”, Meister Deydros ließ kurz seine Zähne aufblitzen. Ich hasste dieses herablassende Lächeln. Er beherrschte es einfach zu gut. Und er hatte durchaus Ahnung davon, wie er mich damit unter Druck setzen konnte... Ich wusste nämlich

genau, was als nächstes kommen würde. Gleich würde eine Peinlichkeit, Beleidigung oder etwas Ähnliches folgen. Und ich würde, wie sonst auch, keine Chance haben etwas zu erwidern. Ich hatte mich nicht getäuscht. “Vielleicht liegt es ja an einer gewissen jungen Dame, die dich gestern Mittag sprechen wollte.” Als Deydros 'sprechen' sagte, wackelte er kurz mit den Augenbrauen. Mein Gesicht spiegelte wohl meine Verrwirrung wider... “Weißt du nicht von wem ich spreche?”, Deydros Mundwinkel waren nach unten gesackt und er schaute im nächsten Augenblick halb entrüstet drein. Ob es nun war, weil ich nicht wusste wer es war (Ich wusste es wirklich nicht!) oder weil ich mich nicht aufgeregt hatte, erfasste ich nicht sofort. Wahrscheinlich war es von Beidem ein wenig... “Du hast wirklich keine Idee, wer es gewesen sein könnte?”, fragte nun auch Maria mit hochgezogenen Augenbrauen. Blind riet ich also

drauf los, um ihre Neugier zu befriedigen. “Also gut. Da wäre die Tochter des Schmieds, Wilma. Sie sollte mir diese Woche das neue Kettenhemd bringen.” Ich lag wohl falsch. Marias Augen verrieten, dass die gesuchte Frau aus einem völlig anderen Grund hier gewesen war. “Cousine Helen?”, fragte ich vorsichtig. Wieder ein Kopfschütteln. “Magdalena? Raya? Susanna? Maren? Elena? Yaël?” Letztere wäre mir am liebsten von allen gewesen. Sie war nämlich klug, umgänglich, nett. Und eine derjenigen, die sich mir nicht aufdrängte, wann ich denn wen heiraten wolle. (Auch die Männer, also Väter, Brüder und Ähnliche, waren inzwischen nicht mehr aufzuhalten...) An Marias emsigem Wackeln mit dem Kopf erkannte ich, dass es keine der genannten Damen war. Eigentlich schade. “Du hast aber viele Freundinnen.”, sagte eine Mädchenstimme spitz. Ich drehte mich zur Seite. Carina hatte ich – einmal mehr –

vollständig vergessen. Das war absolut keine gute Grundlage für eine gemeinsame Reise. Was, wenn ich sie irgendwo vergessen würde? Dieser Gedanke wurde mit einem Mal von etwas Großem, Grässlichem, um weiten Schlimmerem überdeckt. Bei. Den. Göttern. Ich wollte es eigentlich nicht fragen, tat es aber schließlich doch. Ich brauchte Gewissheit. “War es Magda?” Vor Angst, die Antwort aus Marias Gesicht ablesen zu können, kniff ich die Augen zusammen. “Bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Jede nur nicht sie.”, wisperte es panisch in meinem Kopf. Vorsichtig zog ich ein Augenlid hoch. Maria grinste breit. Deydros ebenfalls. Scheiße. Ich hatte recht gehabt. “Was wollte sie denn?”, fragte ich misstrauisch. “Sie meinte, ihr hättet eine Abmachung getroffen und du schuldest ihr noch etwas.” Sofort wusste ich, was gemeint war. Und Maria dachte wohl auch, dass sie es wüsste, wobei ich

genau wusste, was sie dachte... Und das war es definitiv NICHT! “Sie hat einen durchaus geigneten Körperbau, meinst du nicht?”, hustete Deydros hervor. Es war so klar gewesen, dass das jetzt kommen würde. Die Röte schoss mir in die Wangen und ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Also stotterte ich nur einige Worte hervor. Auch das hatte seine unerwünschte Wirkung. Maria dachte nämlich sofort, ich würde Magda wirklich mögen. Sie wusste schließlich nicht davon, dass ich sie vor den Kopf gestoßen hatte, als ich sie nicht küssen wollte und dass sie mir daraufhin Rache geschworen hatte. Sie wusste vermutlich auch nicht, dass Magda eigentlich ein totales Flittchen war. Oder, was noch schlimmer wäre: Sie wusste es und es war ihr egal. “Du liest wirklich zu viele Romanzen.”, brummelte ich. Schließlich stand ich auf. Flucht war hier wohl die beste Idee. Dann

würde ich mich zumindest heute nicht mehr mit dem Thema Frauen, Kinder und Heiraten herumschlagen und Maria konnte ein wenig Abkühlen, was diese Dinge betraf. Himmel. Ich war neunzehn. Was erwartete man von mir eigentlich? Die meisten anderen Männer heirateten doch auch frühestens mit Anfang dreißig... “Du kannst ruhig zugeben, dass du sie magst. Das ist wirklich nicht schlimm...”, versuchte Maria mich liebevoll daran zu hindern, den Raum zu verlassen. Ich war bereits an der Tür angekommen. Nun krallte ich meine Hand in den Türrahmen und drehte mich wutentbrannt um. “Zum Einen, Maria”, fauchte ich so gereizt, dass sie verletzt zurückzuckte. “bin ich ganz ehrlich noch nicht bereit dafür zu heiraten, auch wenn du das 'soooooo romantisch' fändest. Zum Anderen: Magda hat mir gestern eine Landkarte gebracht, als ich aufgebrochen

bin. Von deinem werten Gemahl, um dies nur einmal so nebenbei zu erwähnen. Außerdem hat sie als Gegenleistung einen Kuss gefordert. Ich habe abgelehnt, sie war gereizt, hat mir Rache geschworen und ist dann zu Eick gelaufen, um ihm schöne Augen zu machen. Dann sind sie gegangen. Du darfst drei Mal raten wohin...” Maria keuchte entsetzt auf. “So ein Flittchen.”, zischte sie zwischen ihren Zähnen hervor. Ich nickte bestätigend. Dann kam sie zu mir und legte mir die Hand auf den Arm. Statt der von mir erwarteten Entschuldigung, kam nun allerdings etwas völlig anderes. “Neoras. Du musst nicht traurig oder frustriert sein. Auch wenn das völlig normal ist. Wirklich. Aber es gibt noch so viele andere tolle Frauen, die nur auf dich warten. Eine davon wird dir schon gefallen...” Baff blickte ich sie an. Hatte ich mich gerade verhört? Nein. Anscheinend wohl nicht. Genervt warf ich einen Blick an die Decke,

drehte mich um und ließ die Türe krachend ins Schloss fallen. “Ich bin ausreiten. Falls ihr mich sucht: Lasst es bleiben. Ich bin in einigen Stunden wieder da.”, rief ich durch die geschlossenen Tür hindurch. Dann marschierte ich genervt zur Treppe. Diese Frauen machten mich mit ihrer Romantik echt noch wahnsinnig. “Wohin sind sie denn gegangen?”, hörte ich noch leise die Stimme von Carina. “Kindchen, das willst du lieber nicht wissen.”, murmelte ich tonlos vor mich hin. “Kindchen, das willst du lieber nicht wissen.”, anwortete Deydros ihr fast unhörbar für mich. Ich hatte den Treppenabsatz schon überschritten und nahm es nur noch vage war. Einen Moment schüttelte ich den Kopf. Ich hasste es, wenn er in meinen Kopf hinein schaute und Echo für mich spielte. Auch wenn er es vermutlich gerade nicht getan hatte und wir einfach nur zufällig die selber Fomrulierung verwendet hatten.

Aber das war mir jetzt schnurze-piep-egal. Ich musste raus aus diesem Haus und weg von dieser Liebeskömodie. Um die Reise konnten Deydros und ich uns auch noch heute abend kümmern. Schließlich hatten wir ja noch drei Tage. Das Einzige, was jetzt auf mich wartete, war Xandrijn, mein Berber. Ein wunderschöner Rappe, absolut ausdauernd, leistungsbereit und treu. Und definitiv nicht gesprächig. Erst Recht was die Themen Heirat, Liebe und vor allen Dingen Magda angingen. Genervt stapfte ich aus dem Hinterausgang des Hauses hinaus und die paar Meter über den Hof, hin zum Stall. Dort standen vier Pferde: Mein Xandrijn, den ich von Meister Deydros geschenkt bekommen hatte, als ich voriges Jahr die dritte Corona (Magierstufe) errungen hatte. Ich hatte mir zwar anhören müssen, dass sein letzter Schüler, ein Mann namens Jupiter, zu

diesem Zeitpunkt bereits die fünfte Corona erreicht hatte, aber das störte mich nicht weiter. Ich hatte mir schon immer für alles meine benötigte Zeit genommen. Außerdem schafften es viele Magier nicht einmal bis zu dem Punkt, an dem ich jetzt war. Abgesehen von Xandrijn standen hier noch die schneeweiße Araberstute des Meisters, Klymënæstra, und zwei Haflinger, Helena und Diòr, die vor die Kutsche gespannt wurden, wenn man zum Markt fuhr oder auf das Schloss. Zwei der Stallburschen, zufällig Lanas Brüder, lümmelten im Stroh herum. Sie hörten mich wohl nicht kommen, also machte ich mich kurz bemerkbar. Wie von der Tarantel gestochen sprangen sie daraufhin auf und sahen mich verschreckt an. Meine Laune war zwar grässlich, aber ich nahm mir vor, dass nicht an ihnen auszulassen. “Jungs.”, begrüßte ich sie nickend. Sie verbeugten sich kurz und wollten sich direkt aus

dem Staub machen. Zumindest hierbei konnte ich ihnen einen kleinen Strich durch die Rechnung machen. “Wartet mal einen Moment.” Nervös blieben sie stehen. Sie erwarteten wohl eine Bestrafung. Na dann... Wenn sie meinten... Ich schaute streng. “Habt ihr eure Arbeit vollständig erledigt?”, fragte ich und guckte ihnen prüfend ins Gesicht. Sie nickten stumm, nicht fähig dazu, etwas zu sagen, aus Angst, dass es das Falsche sein könnte. “Habt ihr auch die Tränken geschrubbt? Ihr wisst. Alle drei Tage muss das gemacht werden.” Verschreckt schauten sie sich nun gegenseitig an, wollten anscheinend überprüfen, ob es der jeweils andere erledigt hatte. Der Größere der Beiden (er war wohl auch der Ältere) trat nun schweren Herzens vor. “Nein, Meister. Entschuldigt. Wir dachten, dass es erst zwei Tage her sei, dass wir das gemacht hatten. Wir werden es selbstverständlich sofort nachholen.” Der Junge war wirklich höflich. Und außerdem

hatte er vermutlich recht. Aber hier hatte ich zumindest eine Gelegenheit für... “Dann geht gefälligst die Tränken putzen...”, brummte ich gespielt genervt. Der Jüngere rannte bereits zu den Boxen, der Ältere wollte folgen, aber erneut hielt ich ihn auf. Als schien er schon zu ahnen, was nun kommen würde, wollte er den Gürtel aus seiner Hose holen... Conrad, unser Stallmeister, hieb des Öfteren auf die Jungen ein, wenn sie größere Fehler begangen hatten. Auch wenn Deydros seiner Frau versprochen hatte, diese Aktionen human zu halten... Was auch immer das für ihn hieß... “Lass den Gürtel stecken.”, knurrte ich nun. “Wenn du Schläge willst, geh zu Conrad. Ich habe eine sinnvollere Bestrafung für dich.” Nun brach bei dem armen Kerl regelrecht der Schweiß aus und ich musste mir zu meiner Scham eingestehen, dass mir die Situation sogar ein wenig gefiel, auch wenn es mir irgendwie pervers vorkam... Also erlöste ich ihn

von seiner Angst. “Lauft, wenn ihr heute Abend nach hause geht, über den Markt und holt dort einen Bund Blumen für eure Schwester. Richtet ihr aus, dass ich ihr dankbar dafür bin, dass sie dem Meister und mir heute so geholfen hat...” Ich wartete einen Augenblick, bis ich sicher war, dass er die komplette Botschaft aufgenommen hatte. “Verstanden?”, hakte ich nochmals nach. Er nickte emsig. Erleichtert darüber, ohne körperliche Schmerzen davon gekommen zu sein. Ich kramte einen Moment in meiner Hose und holte schließlich einige kupferne Münzen und eine Silbermünze heraus. “Zahle davon die Blumen. Und teile den Rest dann mit deinen Geschwistern. Kapiert?” Wieder ein Nicken. Dieses Mal allerdings ein eher überrschtes. “Natürlich, Meister. Danke.”, wisperte er, griff vorsichtig nach dem Geld und verstaute es in seiner Hosentasche, fest eingewickelt in ein löchriges rot-blaues Taschentuch. Schließlich

verbeugte er sich kurz, ich nickte akzeptierend und er machte sich aus dem Staub, seinem Bruder hinterher. Na also, dann wäre das hier auch erledigt. Prüfend schaute ich an mir herunter. Das Leinenhemd würde ich anlassen können, die Hose musste ich wechseln. Ich wollte sie schließlich nicht ruinieren. Meine Reitkleidung lag mitsamt den Stiefeln, der Gerte und anderen benötigten Dingen in einer verschließbaren Reiterstube. Dort befanden sich auch die Sachen meines Meisters und ein Teil unserer Sättel. Normalerweise zogen er und ich es vor unsere Tiere selbst zu satteln. Dabei konnte man immer kontrollieren, wie es dem Tier ging. Psychisch und Physisch. Man vermied dadurch auch, dass das Pferd das Vertrauen und die Nähe zu einem selbst verlor. Und gerade das war mir persönlich wichtig. Ich zog mich also geschwind in der Stube um und ging schließlich in die Box hinein. Xandrijn

war in seinem Auslauf. Ich wunderte mich immer, dass Pferde den Schnee nicht genauso hassten wie wir Menschen oder die Grippe bekamen... Aber Conrad hatte mir einmal erklärt, dass diese Tiere nur draußen wirklich glücklich waren. Wenn man sie drinnen einsperrte, fehlte ihnen die Freiheit. Ich verstand sie nur zu gut. Das häufige Festsitzen im Haus machte auch mir keinen Spaß... Langsam ging ich nach draußen. Xandrijn schien mich bereits zu wittern, denn er drehte freudig den Kopf zur Seite und kam auf mich zugetrabt. “Hallo, mein Guter.”, murmelte ich leise und strich ihm über die Nüstern, die er gegen meine Hand drückte. “Wie geht es dir so? Tut mir Leid, dass ich in den letzten Tagen keine Zeit für dich hatte. Aber das holen wir jetzt nach, in Ordnung? Die nächsten Stunden werden wir einfach nur durch die Gegend galoppieren. Weg von diesem ganzen Chaos, den Einschränkungen und den Restriktionen.

Einfach nur mal unsere Freiheit genießen.” Enstpannt presste ich meine Stirn gegen seine. Und bekam dafür prompt einen Schwall nach Hafer und Heu schmeckenden Pferdeatem ins Gesicht geblasen. Leise lachte ich. “Ja. Ich hab dich auch vermisst, Großer.” Dann tätschelte ich ihm freundschaftlich den Hals, griff in seine Mähne und lotste ihn mit vorsichtigem Druck durch die Box hindurch, auf den Gang hinaus zu den Eisenringen, um ihn zu satteln.

Flucht

Es dauerte keine halbe Stunde, da saß ich auch schon (endlich wieder) im Sattel und lenkte Xandrijn mit sanftem Schenkeldruck durch die, inzwischen doch recht vollen Straßen von Loteron. Erst jetzt wurde mir bewusst, was für ein Risiko Deydros damit einging, Carina und ihre Großmutter bei sich aufzunehmen Bis zum Schloss waren es gerade einmal einige hundert Meter. Eine Strecke, die zu Fuß innerhalb von einer halben Stunde problemlos zurückzulegen war... Als ich kurz darauf aufgrund meiner Gedankenspielereien beinahe eine alte Frau über den Haufen geritten hätte, verbot ich mir jedes weitere Abschweifen in Richtung dieses Themas. “Du hast schließlich gesagt, dass die nächsten Stunden nur Xandrijn und dir gehören. Also halte dich auch daran, Neoras.”, sagte ich leise zu mir selbst. Sanft tätschelte

ich meinem Pferd nochmals kurz den Hals und sorgte durch eine Gleichgewichtsverlagerung dafür, dass Xandrijn ein wenig an Tempo gewann, sodass wir in lockerem Leichttrab den Rest des Weges zum Stadttor bestritten. Die Straßen waren inzwischen einigermaßen frei. Es war also ein eher kleineres Problem uns zwischen den Leuten hindurch zu drängen. Endlich war die Stadtmauer in Sicht. Jörn, ein Bekannter meines Meisters und Mitglied der Königlichen Stadtwache, hatte am Tor Schicht und saß müde auf einem abgesägten Holzstumpf. Ich verlangsamte meine Geschwindigkeit ein wenig und nickte ihm freundlich zu, während ich über die Zugbrücke ritt. Er nickte nur halb anwesend zurück. Mit Sicherheit hatte er schon jetzt angefangen sich zu betrinken. Seitdem ich ihn kannte, hatte er sich schon immer darüber beschwert, wie lausig der Wachdienst und die Bezahlung dafür waren. Und ohne ein oder zwei Krüge Bier

brachte er die Zeit nicht herum... Jetzt hatten wir auch diesen Abschnitt hinter uns gebracht und vor uns erstreckten sich die verschneiten Felder, der Weg, der aus der Stadt hinaus über die Fonterne (der Fluss, der das Nordmeer mit dem Serb, einem See, verband) am südlichen Waldrand des Waldes der Fortuna vorbei zu den dortigen Siedlungen führte. Nördlich von uns lagen nur noch einzelne kleinere Dörfer und schließlich die Küstenstadt Campor, die die Zölle eintrieb und sich von dort aus um einen Teil des Handels unseres Landes kümmerte. Südöstlich von uns befand sich noch ein kleinerer Wald, der Perk, und schließlich der Serb, wenn man der Fonterne weiter folgte. Genau in diese Richtung zog es mich jetzt. Es gab eine Stelle, an der der Fluss sich für knapp sechs Kilometer teilte. Dort hatten Freunde von mir einmal eine Hütte gebaut. Mein Plan war, dort hinzureiten und heute Nacht irgendwann wieder daheim zu sein.

Ich benötigte einfach einmal für ein paar Stunden Ruhe. Ich drehte sonst bei diesem ganzen Ideen sammeln und Rettungspläne schmieden noch vollends durch. “Komm Xandrijn. Wir machen uns jetzt erstmal wieder einen entspannten Nachmittag. Das haben wir uns redlich verdient.”, flüsterte ich in Xandrijns weiche Ohren, die daraufhin zu zucken anfingen. Er schnaubte bestätigend und schüttelte einmal kräftig den Kopf. Geschmeidig lenkte ich ihn Richtung Süden und trieb ihn mit leichtem Druck meiner Waden dazu, seine Geschwindigkeit immer weiter zu steigern. Die Zügel gab ich im Gegenzug auch immer mehr an ihn ab, sodass sie schließlich nur noch locker in meinen Händen hingen und er Geschwindigkeit und Richtung vorgeben konnte. Die Straße hatten wir bereits verlassen, um uns herum waren nur noch die verschneiten Wiesen und Felder, die bereits anfingen leicht zu tauen

und deswegen silbrig glänzten. Am östlichen Horizont sah ich den Rand des Waldes der Fortuna immer wieder aufblitzen. Doch mich trieb es weiter südlich, in die dort aufwallende Nebelbank hinein. Rechts von mir verlief der Fluss, auch wenn man von ihm derzeit fast nichts sah, nur die vereiste Oberfläche und einige grüne Pflanzenköpfe, die durch den Schnee hindurchschauten. So als wollten sie sich trotz der doch eisigen Kälte nach draußen kämpfen. Auch die Sonne, die für normale Verhältnisse im Winter immer noch relativ hoch am Himmel stand, konnte nichts dagegen ausrichten. Inzwischen war ich dankbar dafür, dass ich doch so intelligent gewesen war und den dicken Reitmantel angezogen hatte. Dieser und die speziell für den Winter gefütterten Reitstiefel hielten meinen Körper einigermaßen warm und schützten mich vor dem Wind, der um mich herum

peitschte. Ich genoss es, die Luft in meinem Gesicht zu spüren (obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob meine Nase noch existierte oder nicht) und Xandrijn hatte mindestens genauso viel Freude dabei, endlich wieder laufen zu können. Ich hatte schnell bemerkt, wie sehr er unsere regelmäßigen Ausritte vermisst hatte und tadelte mich dafür, dass ich ihn so lange vernachlässigt hatte. Im selben Atemzog schwor ich mir auch, dass sich das von nun an ändern würde. Carinas Sicherheit hin oder her. Xandrijn hatte ich zu lange im Stich gelassen. Wenn es nicht anders ging, würde ich ihn mitnehmen und ihr müsste man dan nunmal ein Pferd kaufen. Ironisch lachte ich auf. Genau. Als ob Deydros das jemals machen würde... Obwohl. Einen Moment dachte ich nach. Eigentlich war die Idee gar nicht so schlecht. Wir würden zwar Spuren hinterlassen, könnten aber schneller

voran kommen. Vorausgesetzt, das Mädchen konnte reiten. Aber auch das war ein mögliches Problem, das man doch recht einfach lösen konnte. Wenn ich wieder daheim war, musste ich diese Idee unbedingt Deydros vorstellen. Und wenn er dagegen war, würde ich Delira instruieren, ihn davon zu überzeugen... Nun konzentrierte ich mich wieder auf die Umgebung, meine Idee im Hinterkopf behaltend. Ich hatte nämlich um ehrlich zu sein absolut keine Ahnung, wo wir gerade waren. Um mich herum war inzwischen nur noch Nebel, allerdings verlief der Fluss immer noch neben mir, also konnten wir nicht total vom Kurs abgekommen sein. Dort vorne kam auch schon die Aufspaltung des Flusses, zumindest sah ich einen roten Sandstein zwischen den Nebelschwaden hervorblitzen. Es waren also noch etwas mehr als drei Kilometer und dann noch einen knappen Kilometer durch den Wald hindurch. Dort würde sich dann, ganz in der

Nähe des südlichen Waldrands eine kleine Brücke befinden. Nach dem Überqueren dieser würde ich wieder einen Kilometer in nördliche Richtung reiten müssen und dort sollte die Hütte dann eigentlich stehen, sofern sie nicht zerstört worden war. Aber Emanuel und seine Frau Perregrine hatten gemeint, dass sie mindestens alle drei Monate einmal dort wären, also sollte im Grunde alles intakt sein. Emanuel war so etwas wie mein Ziehbruder gewesen, bis er vor vier Jahren ausgezogen war und geheiratet hatte. Er war der Sohn eines entfernten Großcousins meines Meisters und hatte auf dem Schloss erst als Knappe gedient und dann seinen Ritterschlag erhalten. Kurz darauf hatte er Perregrine, eine Hofdame der Königinmutter, geheiratet und war mit ihr, weg aus Loteron, nach Sansor gezogen. Dort hatte er ein Gestüt von seinem Großvater geerbt und züchtete seitdem Pferde. In gehobeneren Kreisen galten seine Tiere zwar nur als

Mittelmaß, doch wer die Pferde schon einmal gesehen und erprobt hatte, wusste das dem definitv nicht so war. Emanuel war also, kurz gesagt, der Geheimtipp der wirklichen Pferdeliebhaber und -kenner. Dementsprechend verdiente er auch und hatte so die Möglichkeit tatsächlich nur die besten der Besten zu züchten. Maria hatte mir einmal im Vertauen gesagt, dass auch Xandrijn von dort stammte. Ich bekam heute noch einen Kloß im Hals, wenn ich daran dachte. Ich wusste, was für ein Vermögen diese Tiere dort kosteten, aber ich schätzte Deydros Geschenk auch und würde Xandrijn um nichts in der Welt mehr hergeben wollen. Da vorne war auch schon der Waldrand. Ich trieb Xandrijn nun zu Höchstleistungen, damit er zumindest ansatzweise ermüdet war, wenn wir heute Nacht wieder daheim ankamen. Er drängte nur so nach vorne, als wüsste er bereits,

dass er gleich wieder langsamer machen musste. Leider würden wir mit der jetzigen Geschwindigkeit nicht durch den Wald reiten können. Falls es mir dabei einen herabhängenden Ast ins Gesicht peitschen sollte, würde ich mehr davon zurückbehalten, als einen kleinen Schrammen. Wahrscheinlich würde es mich sogar aus dem Sattel fegen. Außerdem waren dort so viele Wurzeln und enge Biegungen, dass es Xandrijn schon beim ersten Versuch aus der Kurve hauen würde. Das war einfach nicht machbar. Also begann ich langsam mein Gewicht nach hinten und gleichzeitig in die Steigbügel zu verlagern. Xandrijn setzte kurz darauf auch - wie bereits von mir erwartet - mit Bocken ein, ließ sich aber schließlich doch, wenn auch nur widerwillig, abbremsen. Als wir im Schritt angekommen waren, klopfte ich ihm mitfühlend den Hals. “Ich weiß, mein Großer. Mir wäre es auch lieber gewesen, wenn wir noch ein wenig

länger hätten schnell reiten können. Auf dem Rückweg haben wir nochmal die Möglichkeit. Vielleicht machen wir dann auch einen kleinen Umweg, damit du dich ein wenig austoben kannst...” Vorsichtig lenkte ich ihn nun in den Wald hinein. Und als hätte ich es bereits vorausgeahnt: Direkt vor meiner Nase hing ein Ast, der mein Gesicht bei der Geschwindigkeit von eben restlos zertrümmert hätte. Einige Meter weiter war eine Wurzelkette aus dem Boden ausgebrochen, die so auch nicht erkennbar gewesen war. Also wären schlussendlich wir beide verletzt am Boden gelegen. “Siehst du.”, brummelte ich in Xandrijns rechtes Ohr. “Ist doch gut, dass wir langsam gemacht haben. Das da vorne hätte deinen Bändern bei der Geschwindigkeit gar nicht gefallen...” Xandrijn prustete einmal zur Antwort, wobei es sich fast schon wie ein ironisches Lachen anhörte. So, als wollte er

sagen: “Na klar. Man kann alles aber erst sicher wissen, wenn man es ausprobiert hatte.” “Natürlich.”, ich grinste breit vor mich hin. Dann tätschelte ich ihm erneut den Hals. “Wie du meinst, Junge. Aber man muss nicht alle Dämlichkeiten ausprobieren, nur weil man der Meinung ist, dass es ja doch vielleicht klappen könnte. Auch wenn eine Verletzung beinahe schon vorhersehbar ist...” Wir ritten noch ein gutes Stück weiter, bis ich endlich den Ansatz von etwas Steinernem erblickte. “Sieh mal”, ich sprach erneut zu Xandrijn, “da vorne ist bereits die Brücke zu erkennen.” Hätte jemand mich gesehen, hätte er mich entweder für verrückt oder einfach nur für sehr einsam gehalten. Aber ich hatte schon immer mit Tieren gesprochen. Man hatte bei ihnen einfach grundsätzlich den Vorteil, dass sie nie blöde Antworten gaben. Behutsam lenkte ich ihn zwischen den letzten

Felsen hindurch und da war sie tatsächlich. Eine alte Steinbrücke, die vermutlich seit Jahrzehnten nur noch selten benutzt wurde. Xandrijn hatte misstrauisch die Ohren angelegt. Er überquerte Brücken grundsätzlich nicht gerne. Es hatte bei der Zugbrücke vor den Toren der Stadt schon ewig gedauert, bis er sie als sicher angesehen hatte. Und die war wirklich breit gewesen. Dieses 'Brückchen' maß dagegen gerade mal eine Breite von zwei Metern und sah auch nicht sonderlich vertrauenswürdig aus, aber es gab nunmal keinen anderen Weg hinüber. Das Theater hatten wir letztes Jahr auch schon gehabt. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings mit Emanuel gemeinsam geritten. Der Mann hatte mit Engelszungen auf Xandrijn eingeredet und ihn schließlich sogar auf die andere Seite des Ufers herüber komplimentiert bekommen. “Na komm, Großer. Ich werde ganz bestimmt nicht so ein Theater veranstalten wie Manu

letztes Jahr. Außerdem steht die Sonne schon wirklich tief [Sie war tatsächlich nicht mehr weit vom Horizont entfernt] und ich würde gerne noch heute die Hütte erreichen, damit wir dann auch bal wieder heim können. Mir ist nämlich kalt, verstehst du? Weil ich kein so tolles Fell habe wie du und nicht die ganze Zeit herum gerannt bin. Also, würdest du mir bitte die Ehre erweisen und dieses Steinmonster überqueren?” Ich war meiner Meinung nach wirklich liebenswürdig, aber Xandrijn hatte es sich in den Kopf gesetzt zu bocken und blieb eiskalt stehen. “Also gut.”, seufzte ich. “Dann bleibst du halt hier. Den einen Kilometer schaffe ich auch alleine.” Ich stieg locker vom Rücken des Pferdes herunter. Xandrijn machte das jetzt schon zusehends nervös. Er hatte wahrscheinlich gedacht, dass er seinen Willen bekommen würde. Ich kraulte ihn nochmals kurz

hinter den Ohren und machte mich dann daran die Brücke zu überqueren, tat so, als würde ich ihn tatsächlich alleine lassen. Als ich am anderen Ufer stand und vorgab, ich würde weitergehen, ertönte ein klägliches Wiehern hinter mir. Ich drehte mich nicht um, blieb aber stehen. Schließlich ertönten nach einer knappen Mintute, in der ich mich immer wieder fragte, ob ich nicht doch einfach umkehren sollte – ich hatte schließlich nie vor, Xandrijn wirklich alleine zu lassen -, einige Hufschläge, die sich ganz so anhörten, als hätte Xandrijn die Brücke tatsächlich betreten. Positiv überrscht drehte ich mich um. Es hatte tatsächlich geklappt. Xandrijn ging, wenn auch sehr vorsichtig und mit wackeligen Beinen, über die Brücke und kam mir hinterher. Bei mir angekommen, warf er mir erst einmal einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich grinste nur breit und tätschelte ihm kurz die vor Anstrengung und Nervosität

verschwitzte Flanke. Es tat gut zu wissen, dass wenigstens einer in unserem Haushalt auf keinen Fall ohne mich auskommen konnte. “Das hast du super gemacht. Wenn wir an der Hütte sind, bekommst du eine Portion Hafer...” Ich hatte grundsetzlich immer kleinere Portionen Hafer in den Satteltaschen, sodass für Xandrijn auch häufiger eine Belohnung drin war... Dieser fiel von selbst in einen leichten Trab und so legten wir auch die letzten siebenhundert Meter zurück. Inzwischen herrschte beinahe schon Dunkelheit um uns herum. Die Sonne glimmte nur noch mit einigen Strahlen am Horizont aus. Gleich würde sie verschwunden sein und es würde nicht mehr lange dauern bis es wirklich kalt werden würde. Ich hatte geplant etwa eine Viertel Stunde hier zu bleiben und dann wieder zurückzureiten. Wenn alles nach Plan lief, wären wir in knapp vier Stunden wieder daheim und ich hätte dann noch genug Zeit mir eine

Schimpftirade von Deydros anzuhören, weil ich abgehauen bin und eine Kleinigkeit zu essen. Schließlich würde mein Meister mir voraussichtlich verzeihen und wir würden mit der Planung für die Reise beginnen. Oder (was ich persönlich vorziehen würde), falls er mich in Ruhe lassen würde, würde ich schlafen gehen und erst morgen wieder damit anfangen mir sorgen zu machen... In dem Moment hatte ich noch keine Ahnung davon gehabt, was mich zu hause erwarten würde, wobei es 'nicht erwarten' wohl besser traf. Daheim waren nämlich alle Feuer und Flamme, und das wortwörtlich... Ich hatte bereits auf dem Heimritt ein komisches Gefühl in der Magengegend gehabt und aus diesem Grund Xandrijn auch zur Eile getrieben. Allerdings hatte ich nicht erwartet, dass es so schlimm sein würde. Ich sah bereits von Weitem, dass in Loteron etwas Schlimmes

passiert sein musste. Die halbe Stadt brannte nämlich lichterloh. Beim Näherkommen sah ich auch, welche Stadtteile wohl betroffen waren und bei mir brach der Angstschweiß aus. Unser Haus hatte einmal da gestanden, wo sich jetzt nur noch eine riesige Feuerwand und Unmengen an kohlrabenschwarzem Rauch befanden. Ich zwang Xandrijn, der ohnehin schon mit höchster Geschwindigkeit galoppierte, dazu, noch schneller zu werden. Ich hatte das Gefühl, als ob die Zeit raste, wir aber keinen Meter an Boden gutmachten. Das Einzige, was ich denken konnte, war, dass den Anderen hoffentlich nichts passiert war. “Bitte, bitte nicht.”, murmelte ich leise. Dankbarerweise war dort vorne auch bereits das Stadttor, aus dem massenweise Menschen flohen. Jetzt hörte ich auch das Geschrei, das von innen nach außen drang. Es war grauenvoll. Auf der einen Seite war da das Geräusch der Menschen, die versuchten aus der

Feuerhölle lebendig herauszukommen, auf der anderen Seite vernahm man das Knacken und Bersten von brennendem Holz und das Klirren von Metallenen Gegenständen. Was war hier verdammt nochmal in den letzten Stunden geschehen?! Immer noch im Sattel sitzend schaute ich mich um, ob ich jemanden finden konnte, den ich kann. Dort hinten stand tatsächlich jemand. Es war Eick, der sich panisch umschaute. Vermutlich suchte er Magda. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menschenmenge, was dadurch einfach wurde, dass man Xandrijn automatisch Platz machte. Niemand wollte schließlich tot getrampelt werden, wenn er gerade dem Feuer entkommen war. Unterwegs sah ich auch schon Magda. Sie hing in den Armen ihres Vaters und weinte herzzerreißend. Auch wenn ich sie nicht unbedingt mochte und die Lage hier gerade nicht kannte, hatte ich trotzdem Mitleid mit ihr. Sie hatte bei dem

Brand wahrscheinlich alles verloren. “Eick!”, brüllte ich, als ich nur noch einige Schritte von ihm entfernt war. Er hörte mich nicht. “Eick!!”, versuchte ich es erneut. Dieses Mal regte er sich und schaute sich um. “Oh Scheiße, Neoras. Wenigstens du bist aus dem Feuer raus...” Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Ich hoffte nicht, dass es das bedeutet, was ich in diesem Moment dachte... Ich schwang mich von Xandrijns Rücken herunter, hielt seine Zügel aber weiter fest. Seine Flanken zuckten nervös und ich war mir nicht sicher, ob er abhauen würde, wenn ich ihm jetzt die Zügel überließ. “Wo sind...?”, setzte ich an. Eick unterbrach mich direkt. “Alle noch drinnen. Als ich rausgerannt bin, hat Meister Deydros gerade Maria aus dem Haus getragen, eure Gäste waren auch dabei. Scheiße, Mann. Die haben euch einfach die Bude angezündet. Eiskalt, ohne mit der Wimper zu zucken...” Ich erstarrte

zur Salzsäure, in meinem Kopf drehte sich alles. Erst da bemerkte Eick, dass ich Xandrijn bei mir hatte, obwohl ich eigentlich vor dem Feuer flüchtend aus der Burg hätte heraus rennen sollen, genau wie die Anderen... “Moment Mal...”, murmelte er plötzlich. “Du warst da gar nicht drin, oder Neoras?” Ich konnte nicht reagieren. Die Situation überforderte mich gerade absolut... “Neoras?” Eick schüttelte mich. Kurz kniff ich die Augen zusammen, dann sah ich ihn an. Das Gekreische um uns herum verstummte nicht und ich war absolut unfähig einen klaren Gedanken zusammen zu fassen... “Ich war ausreiten.”, murmelte ich monoton. In einer Kurzschlussreaktion entschied ich mich schließlich. Ich drückte Eick Xandrijns Zügel in die Hand, drehte mich um und rannte ins Innere der Burgmauern. Ich hörte noch, wie er mir hinterher brüllte, dass ich hier bleiben sollte, rannte aber einfach

weiter... Bis zu unserem Haus waren es nur knapp vierhunder Meter, auch wenn sie mir wie vier Kilometer vorkamen, während ich mich durch die Menschen hindurchschob. Diese drängten alle in die entgegensetzte Richtung, raus aus der Stadt. Die Meisten waren unverletzt, allerdings sahen diejenigen, die wirkliche Verletzung erlitten hatten, katastrophal aus. Mit glasigem Blick und panisch vor Schmerzen schreiend rannten sie nach draußen... Endlich hatte ich unser Haus erreicht. Das, was von ihm übrig war, war nicht mehr viel. Alles war bis auf die Grundmauern herunter gebrannt. Nichts war übrig geblieben, alles zerstört. Trotz der ganzen Verwüstung sah ich schließlich etwas, was mir neue Hoffnung gab. Vor dem, was einmal unser Eingangsbereich gewesen war, kniete Deydros, Maria in seinen Armen. Neben ihm kniete eine junge Frau, eine weitere, etwas ältere stand hinter den Dreien.

Erst beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass es Carina und ihre Großmutter waren. Atemlos rannte ich auf sie zu. Erleichterung mischte sich mit dem herben Geschmack von Angst. Hoffentlich ging es Maria nicht zu schlecht... Schließlich stand ich neben ihnen. Um uns herum brannten immer noch kleinere Stellen, fast alles war verkohlt. Delira war es, die mich als erste bemerkte. Sie hatte überall angekokelte Stellen und runzelte konzentriert die Stirn, wobei sie Deydros und Carina beobachtete. Ohne mich anzusehen legte sie einen Finger vor den Mund und befahl mir damit still zu sein. Als Nächstes vernahm ich auch den Grund. Ich hörte ein zweistimmiges Murmeln und beim Nähertreten erkannte ich, dass Maria schwer verletzt war. Es sah beinahe so aus, als hätte sie gebrannt. Carina drückte die Hände auf ihren Brustkorb, der nun an dieser Stelle blau leuchtete. Ähnliches passierte bei Deydros, der seine Hände an

Marias Stirn gepresst hatte und dort ein weißes Leuchten erzeugte. Erst jetzt verstand ich wirklich, was hier vor sich ging. Die beiden waren dabei Maria zu heilen. Carina ihre Oberfläche, Deydros ihr Inneres. Also waren die Verletzungen noch schlimmer als erwartet. Fragend sah ich Delira an. Sie bemerkte meinen Blick erst nicht, schaute aber nach kurzer Zeit doch hoch. Dann bedeutete sie mir mit der Hand ihr zu folgen. Mit ein wenig Abstand zu den andern beiden blieb sie schlussendlich stehen. “Die Wachen haben deinem Meister das Haus angezündet. Maria war gerade in der Küche als es passiert ist und hat gekocht. Sie hat es als erstes getroffen. Es gab eine kurze Explosion, Deydros ist herunter gerannt um zu schauen, was passiert ist. Maria rannte da bereits schreiend ins Wohnzimmer. Sie hat lichterloh gebrannt. Der komplette Raum innerhalb von kürzester Zeit ebenfalls. Bevor Deydros auch nur reagieren konnte, sind

vom Eingangsbereich her auch Rauchschwaden hergezogen. Ihm war wohl klar, was geschehen sein musste. Erst hat er er mit einem kurzen Zauber Maria gelöscht. Sie daraufhin zusammengebrochen. Ich war inzwischen nach unten gekommen und sah das ganze Chaos, da rannte Deydros auch schon an mir vorbei nach oben in seinen Arbeitsbereich. Ich hastete ihm hinterher, allerdings in die Bibliothek, Carina wecken. Sie war kurz nachdem du gegegangen warst, eingschlafen. Dann sind wir beide runter. Deydros war schon wieder bei Maria, hat sie in die Arme genommen und ist nach draußen gerannt. Was wir dort gesehen haben war die Apokalypse höchst persönlich - zumindest kommt es der Sache sehr nahe. Das komplette Viertel ist inzwischen in Flammen gestanden. Um uns herum rannten bereits die ersten Leute schreiend nach draußen...” Sie erzählte das alles so, als würde es wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen.

Ich konnte mir alles nur zu gut vorstellen. Die panischen Menschen, die brennenden Häuser, die Tiere, die verzweifelt versuchten ins Freie zu kommen, um den Feuer zu entrinnen... Mit einem Mal hielt ich inne. Die Tiere... Oh Himmel, unsere Pferde. “Was ist mit den Pferden?”, unterbrach ich Delira, die mir als Antwort nur einen verwirrten Blick schenkte. Dieser sagte mir alles. Panisch rannte ich hinter das Haus, durch das Trümmerfeld und die Rauchschwaden hindurch. Der Stall stand schon, das Feuer hatte aber auch schon auf ihn übergegriffen und leckte nun am Holz. Ich hörte panisches Gewieher und das verzweifelte Trampeln von Hufen, die versuchten die Boxentüren einzutreten. Als nächstes vernahm ich nicht weniger pnaische Kinderschreie... Oh nein, die Jungs waren nicht ernsthaft noch...? Ich legte nochmals einen Zahn zu.

Innerhalb von Sekunden hatte ich den Stall erreicht und die Türe entriegelt. Zwei kleine Gestalten mit vor Ruß geschwärzten Gesichtern stürmten heraus und sahen sich suchend um. Als sie mich sahen, brachen sie in Tränen aus. Das konnte ich gerade ernsthaft am wenigsten gebrauchen. Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen rannte ich in den Stall hinein. Ich öffnete jede Box, egal welches Tier sich darin befand, es würde von selbst herauskommen... Das Pferd des Meisters stand ganz hinten. Diós und Helena waren bereits an mir vorbei ins Freie galoppiert. Ich hoffte die Jungs waren so schlau gewesen, sich ihnen nicht in den Weg zu stellen. Klymënæstra befreite ich als letztes, auch sie rannte panisch ins Freie, ich folgte ihr direkt. Ich hatte gerade den Stall verlassen, als er hinter mich auch schon krachend zusammenbrach. Das Holz war alt gewesen, aber es hatte bis gerade eben gehalten. Ich

schaute mich um. Die Jungs waren weg, ebenso die beiden Haflinger. Nur Klymënæstra stand in sicherer Entfernung vom Feuer und blickte mich an, so als wollte sie sagen: “Komm jetzt endlich, du dummer Junge. Mach, dass du hier weg kommst!” Erschöpft rannte ich zu ihr, untersuchte sie oberflächlich auf Verletzungen und tätschelte ihr schließlich kurz die Flanke, als ich nichts weiter Gravierendes feststellen konnte. Sie würde alleine aus der Burg hinausfinden. Ich rannte nun wieder vor das Haus um nach den anderen zu sehen. Statt wie erwartet die Burg zu verlassen, folgte Klymënæstra mir allerdings. Vor dem Haus knieten Deydros und Carina nun nicht mehr. Maria lag in Deydros Armen, aber ich sah am Heben und Senken ihrer Brust, dass sie lebte. Delira und Carina unterhielten sich leise, während Deydros nur da stand und seine Frau beobachtete. Erst mein Erscheinen (und vermutlich auch das Klappern von Hufen) riss

ihn aus seinen Gedanken. Inzwischen war niemand mehr da, das Geschrei war verstummt. Man hörte nur noch das Feuer, das weiter die Häuser zerstörte... und in einiger Entfernung das monotone Klappern von Eisenschwertern und Kettenhemden. Wir würden innerhalb kürzester Zeit ungebetenen Besuch bekommen... Deydros schaute mir nun ins Gesicht. Dann nickte er zu Carina hinüber, die inzwischen aufgehört hatte, sich mit ihrer Großmutter zu unterhalten. “Ihr müsst gehen. Die Wachen werden gleich da sein. Wenn sie Carina finden, ist sie spätestens heute Abend tot...” Mir war nicht aufgefallen, dass bereits nach Mitternacht war. Es musste wirklich viel Zeit vergangen sein, seit ich hier angekommen war, mindestens eineinhalb Stunden. “Nehmt Klymënæstra. Ich gehe davon aus, dass Xandrijn draußen steht. Wenn ihr euch beeilt und nicht zu oft Halt macht, könnt ihr in sechs bis sieben Tagen in Ant-al-Wal sein...” Jetzt ging es also tatsächlich

los... Deydros schnallte einen Beutel von seinem Gürtel ab und reichte ihn mir. “Das sollte genug Gold sein, um bis nach Jochmár und wieder zurück zu reisen. Kaufe Carina neue Kleidung. Sie wird es so nicht lange aushalten - und jetzt macht, dass ihr weg kommt!!” Ich nahm den Beutel an mich und schnallte ihn ohne hineinzuschauen an meinen Gürtel. Wenn Deydros sagte, dass das Gold reichen würde, würde es auch reichen. Das Geräusch der herannahenden Wachen wurde immer lauter, sie waren jetzt maximal noch eine Straße von uns entfernt. Wir mussten uns beeilen, wenn wir vor ihnen am Stadttor sein wollten... Ich warf noch einen kurzen Blick auf Carina. Sie trug, anders als bei meinem Aufbruch, kein Kleid mehr, sondern eine Leinenhose, ein einfaches Hemd und einen schwarzen Ledermantel. Dazu hatte sie einfach

Lederstiefel in der Hand, die sie wohl beim Hinausrennen mitgenommen hatte. Vielleicht war sie doch nicht so naiv, wie ich gedacht hatte... Klymënæstra stand hinter uns und beobachtete uns aufmerksam, so als würde sie nur auf eine Anweisung warten. Die Wachen waren nun wirklich nah, ich konnte den Hauptmann bereits Befehle brüllen hören. “Geht.”, knurrte Deydros. “Wir kümmern uns um uns selbst. Erledigt ihr euren Part.” Ich griff mit beiden Händen in Klymënæstras Mähne und schwang mich auf ihren Rücken, Carina kam näher und ich streckte die Hand zu ihr hinunter. Sie griff ein und ließ sich widerstandslos (und mindestens genauso mühelos) von mir hinter mich ziehen. Deydros winkte nun seinerseits Delira zu sich und schlang seinen Mantel um sich, sie und Maria. Dann murmelte er etwas. Noch während sie sich auflösten, sah er mich erneut an. “Ich werde dich bald kontaktieren. Viel Glück!” Ich

wusste nicht, wie er das anstellen wollte. Fragen konnte ich ihn nun aber auch nicht mehr, da sie im nächsten Augenblick verschwanden waren. “Kreist das Haus ein! Sie können nicht weit gekommen sein. Vor den Mauern wurde niemand von ihnen gesehen.”, brüllte es ganz in der Nähe, mit diesem Satz zusammen folgte eine ganze weitere Reihe an Befehlen, die ich allerdings schon nicht mehr verstand. Ich drehte meinen Kopf kurz zu Carina herum. “Halt dich fest.”, murmelte ich leise. “Falls sie schießen oder irgendetwas schmeißen: Nicht in Panik ausbrechen. Sie werden uns nicht kriegen, verstanden?” Sie nickte nur. Sie versuchte es zwar nicht zu zeigen, aber man sah ihr ihre Angst trotzdem an. Hinter uns kamen bereits die ersten Wachen, erneut wurden Befehle gerufen. Sie hatten uns wohl erkannt. Ich gab Klymënæstra die Sporen, sie stieg einmal kurz, überrascht von meiner

Härte. Es tat mir auch Leid, aber in diesem Moment hatten wir einfach keine Zeit für einen sanfteren Umgang. Dann waren wir auch schon weg, zwischen den Wachen, die von vorne kamen, hindurch und auf der Straße in Richtung Stadttor. Es würde wahrscheinlich bewacht sein, aber das Risiko mussten wir jetzt eingehen. Der einzige andere Ausgang war in der Nähe der Burg. Und diese Zugbrücke war allein schon wegen der Anwesenheit des Königs stärker bewacht als die restliche Stadt. Wir preschten also durch die Straßen, rechts von uns nur noch verkohlte Überreste von Häusern, während die Häuser auf der linken Seite beinahe unbeschädigt waren. Carina klammerte sich von hinten an mich, ihr Kinn auf meine Schulter gelegt, um auch etwas zu sehen. “Schlag da vorne eine Harke nach links.”, sagte sie plötzlich. “Was?!”, fragte ich irritiert. Für solche Spielchen hatten wir wirklich keine Zeit.

“Tu es einfach.”, befahl sie scharf. Ich tat wie geheißen und erkannte im nächsten Moment auch den Grund: Von links waren schwer bewaffnete Wachen herbeigestürmt, wir konnten ihnen gerade noch so ausweichen. Überrascht keuchte ich auf. Was zur Hölle war das gewesen? “Ich habe ein Gespür für solche Dinge.”, murmelte Carina nun entschuldigend in mein rechtes Ohr. “Ich sehe manchmal Sachen bevor sie überhaupt passieren. Oder ich bekomme so ein Gefühl, dass mir sagt, was ich wann tun soll...”, versuchte sie es meiner verwirrten Wenigkeit zu erklären. Ich nickte einfach nur perplex. “Pass auf, am Tor stehen sieben oder vielleicht auch acht Wachen.”, fuhr sie direkt fort. Das Tor war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Die Strecke war so gut wie frei. “Hat dir das auch wieder dein Gefühl verraten?”, fragte ich. “Ne.”, gab sie leise lachend zurück. “Meine Fähigkeit zu Sehen und zu Zählen.

Schau mal etwas genauer. Dann wirst du sehen, dass da seitlich an diesem Torhäusschen einige Köpfe hervorblitzen.” Ich kniff die Augen zusammen und trieb Klymënæstra weiter an. Sie zeigte noch keine Anzeichen von Erschöpfung, was gut war. So würden wir heute Nacht noch einges an Strecke zurücklegen können. Tatsächlich waren dort vorne wie von Carina gesagt einige schemenhafte Andeutungen zu sehen. Das konnten durchaus Wachen sein. Die Brücke war noch nicht hochgezogen worden. Sie hatten wohl tatsächlich gedacht, dass sie sie uns noch schnappen würden, bevor wir die Mauern hinter uns ließen. Ich lachte trocken. Das Tor lag nur noch knapp fünfzig Meter entfernt. “Was ist?”, fragte Carina iritiert. “Ach, nichts. Ich habe bloß gerade festgestellt, wie blöd diese Wachen doch sind, die Zugbrücke nicht hochzuziehen. Die denken tatsächlich, dass sie uns noch hier

drinnen schnappen werden.” “Ah.”, war ihre einsilbige Antwort. Sie war sich da anscheinend nicht so sicher. Ich mir allerdings schon. Sie würden uns definitiv nicht mehr kriegen. Dafür würde ich schon sorgen. Kurz bevor wir das Stadttor durchqueren konnten, sprangen rechts aus dem Torhaus tatsächlich acht Soldaten heraus. Mit gezogenem Schwert rannten sie auf uns zu. Was wäre hier nun die beste Lösung? “Zieh nach links.”, sagte Carina. “Siehst du den einen Pflock da in der Mitte? Sie wollen dir da wahrscheinlich den Weg abscheiden...” Dieses Mal nahm ich ohne Protest ihre Idee an. Und wieder hatte sie Recht gehabt. Die einzige Wache die links am Pflocks vorbei rannte, machte einen Hechtsprung zur Seite, um zu vermeiden, dass er von Klymënæstra und uns niedergetrampelt wurde. Dann war der Weg frei. Nun ja, fast frei. Da waren schließlich immer noch die Zugbrücke und das Fallgitter.

Letzteres würde weniger ein Problem sein, wir hatten den Torbogen schließlich schon fast erreicht und würden seinen Eingang (und damit auch den Bereich, in dem das Fallgitter herabgelassen wurde) passiert haben, bevor sie überhaupt reagieren konnten. Dann trennten uns nur noch knapp hundert Meter durch den Bogen durch, bis hin zum anderen Ufer. “Zieht die Zugbrücke hoch! Macht schon ihr faulen Säcke!”, brüllte es aggressiv hinter uns. Laut Carina hatte sich der Mann, der zur Seite gehechtet war, wieder aufgerichtet und diesen Befehl gegeben. “Verdammt.”, knurrte ich. Nochmals trieb ich Klymënæstra an, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Sie war bereits fast an ihrer physischen Grenze. Mehr würde hier und jetzt nicht gehen. Langsam wurde die Brücke hochgezogen. Wir hielten nicht an, sondern preschten noch schneller auf ihr Ende zu. Ich merkte, dass Klymënæstra nervös wurde. Ihre

Ohren zuckten, aber sie lief weiter. Ich wusste, dass der Meister schon ewig nicht mehr mit ihr am Springreiten teilgenommen hatte. Wir würden sehen, was sie noch beherrschte. Falls wir im Wassergraben landeten, war es wohl zu wenig gewesen. Das Brückenende lag genau vor uns und im nächsten Moment auch schon hinter uns. Die Spalte zwischen Ufer und Brückenende betrug etwa drei Meter, Klymënæstra übersprang sie mühelos. Die Brücke wurde weiter hochgezogen. Anscheinend hatten sie nicht direkt bemerkt, dass wir es geschafft hatten. Trotz des Euphoriegefühls im Bauch, traute ich mich nicht, mich umzudrehen. Ich musste Eick finden, der Xandrijn hoffentlich noch bei sich hatte – wenn nicht, würde ich ihn zu Kleinholz verarbeiten – und dann würden wir auch schon aufbrechen. Das Bild das sich uns bot war in einem Wort zusammengefasst: Es war grauenerregend.

Überall waren vor Schmerzen schreiende und weinende Menschen. Hier und dort wurden einige verarztet, andere suchten immer noch nach ihren Familien. Es schien so, als ob die ganze Stadt hier draußen auf den Beinen war. “Bei den Göttern.”, hörte ich Carina hinter mir ehrlich geschockt sprechen. “Diese armen Menschen...” Ich konnte den Klang von Schuldgefühl in ihrer Stimme wahrnehmen, wagte aber nicht ihr zu widersprechen. Dazu war ich im Moment nicht fähig. Auch wenn sie nicht direkt Schuld hatte, unschuldig war sie durchaus auch nicht. Sie war schließlich mit ihrer Großmutter hierher gekommen... “Neoras!”, hörte ich es mit einem Mal rufen. Dann sah ich drei Paar winkende Hände. Dort standen Lana und ihre zwei kleinen Brüder, die ich vorhin aus dem Feuer geholt hatte, bei ihnen waren Xandrijn, Diòs und Helena. Ich würde Eick wohl doch verdreschen müssen, wenn ich wieder zurück war. Er hatte es

tatsächlich gewagt, mein Pferd alleine zu lassen. Ich bremste Klymënæstra vorsichtig ab und tätschelte ihr den Hals. “Braves Mädchen. Das hast du wirklich gut gemacht.”, murmelte ich. Trotzdem hörte man meiner Stimme wohl an, dass ich gereizt war. “Ist alles in Ordnung?”, fragte Carina vorsichtig. Sie hielt sich immer noch an mir fest, umschlang mich allerdings nicht mehr so wie gerade eben noch. Ihren Kopf hatte sie inzwischen von meiner Schulter herunter genommen. “Ich habe einem Freund von mir mein Pferd anvertraut und dieser Idiot hat es anscheinend alleine gelassen. Bis Lana und ihre Brüder es wohl gefunden haben.”, brummelte ich wütend. “Lass das jetzt aber nicht an ihnen aus.”, warf Carina nun flehend ein. Überrascht schaute ich sie an. Dachte sie etwa, dass... Nein, das konnte sie nicht von mir denken... Obwohl. Ich hatte mich ihr die letzten Tage gegenüber auch

eher wie ein Mensch mit krankhaften Stimmungsschwankungen als wie ein normales Wesen verhalten... Also nickte ich ihr nur bestätigend zu. Bei Lana und den Jungs angekommen, saß ich ab und hob Carina herunter. “Danke, dass ihr auf Xandrijn und die Haflinger aufgepasst habt.”, sagte ich und versuchte dabei so dankbar zu lächeln, wie es mir derzeit möglich war. (Das hieß also so gut wie gar nicht.) “Keine Ursache.”, murmelte Lana und drückte mir Xandrijns Zügel in die Hand. “Deydros hat gemeint, dass ihr direkt los müsst.” Überrascht hob nun auch Carina den Kopf. “Er war hier?”, fragte ich verwirrt. Und das mit meinem Pferd?! “Ja.”, einer der beiden Brüder, ich wusste vor lauter Ruß nicht, welcher von den beiden es war, meldete sich nun eifrig zu Wort. “Er kam mit Xandrijn hierher und hat Lana seine Zügel in die Hand gedrückt. Dann hat er gesagt, dass

er für eine Weile weggehen müsste und wir uns um Diòs und Helena kümmern müssten, bis er wieder da sei. Und eben, dass du auch weggehen müsstest, weil du etwas weit weg von hier zu erledigen hast.” Ich nickte nur, wieder versucht ein Lächeln zustande zu bringen (es gelang erneut nur mäßig). “Danke. An euch alle. Und wenn es das nächste Mal brennt, versteckt euch nicht im Stall, Jungs.”, bedankte ich mich. Lana sah die beiden erschrocken an. Sie hatte wohl noch nichts von ihrer Glanzleistung gewusst. Ich gab ihr zum Abschied einen galanten Handkuss, wobei sie leicht errötet und wuschelte den Jungs kurz durchs Haar. Dann drehte ich mich zu Carina um, “Du darfst Xandrijn reiten. Zumindets bis wir einen Sattel und Zaumzeug für Klymënæstra aufgetrieben haben. In Ordnung? Sie nickte. Ich wollte ihr bereits beim Aufsitzen helfen, als sie selbst einen Fuß in den Steigbügel setzte und sich hochzog.

Überrascht sah ich sie an. “Ich habe reiten gelernt, als ich vier oder fünf war.”, erklärte sie mit einem entschuldigenden Schulterzucken. Ich sah ihr an, wie müde sie war, trotz der vielen Energie, die sie aufgrund des ganzen Chaos hier durchströmten. Morgen früh würde sie vollständig erschlagen sein. Ich hatte nämlich geplant die Nacht über durchzureiten. “Ihr solltet gehen.”, unterbrach Lana meine Gedanken. “Dort vorne sind ganz viele Fackeln zu sehen.” Sie deutet in Richtung der Stadtmauern. Tatsächlich sah man dort ein Meer von Fackelschein. Die Wachen durchkämmten also bereits die Reihen auf der Suche nach uns. Ich nickte ihr nochmals zu, griff in Klymënæstras Mähne und saß auf. “Schaut, dass ihr hier weg kommt. Die Wachen werden Helena und Diòs als unsere Pferde erkennen und ihr könntet Probleme bekommen. Findet euren Vater und macht euch auf nach

Sansor. Ein Freund von mir, Emanuel, hat dort ein Gestüt. Er steht zwar offiziell im Dienst des Königs, würde aber nicht einmal sein Hemd für ihn geben. Sagt ihm, dass Neoras euch schickt und erklärt ihm, was passiert ist. Ihr erkennt ihn daran, dass er feuerrotes Haar hat. Soweit ich weiß, ist er der Einzige damit in der Gegend...” Die Jungs und auch Lana nickten bestätigend und gingen schließlich davon, um ihren Vater zu suchen. Ich wendete Klymënæstra und stand nun Carina gegenüber. “Und wir gehen jetzt. Bevor sie uns finden. Wegen dem ganzen Chaos werden unsere Spuren erstmal nicht auffallen, da die meisten anderen Bewohner sich für die nächsten Wochen auch in anderen Dörfern einquartieren werden müssen. Wir haben also eigentlich doch irgendwie den perfekten Zeitpunkt erwischt um aufzubrechen.” “Wo lang?”, fragte sie und signalisierte mir damit, dass sie verstanden hatte. “Richtung

Norden.” Ich deutete nach links in die Schwarze Nacht hinein. “Eigentlich eher Nord-Osten. Wir reiten nicht durch den Wald der Fortuna, das dauert zu lange. Wir nehmen den Umweg drum herum. Dort sind außerdem noch einige Dörfer. Wenn es gut läuft, sollten wir morgen Abend in einem Dorf namens Fardrahall angekommen sein. Ich habe da Bekannte, bei denen wir unterkommen können. Dort besorgen wir mir dann einen Sattel, dir noch ein wenig andere Kleidung und vielleicht noch den einen oder anderen Dolch, damit wir uns zumindest irgendwie verteidigen könnte.” Sie schüttelte kurz demonstrierend etwas an ihrem Gürtel. Tatsächlich. Dort hing das Samtsäckchen, das sie uns heute Vormittag gezeigt hatte. Das mit den Wurfsternen drin. “Das mit dem Verteidigen wird schon klappen.”, murmelte sie einfach nur. Ich musste dieses Mädchen wirklich im Auge behalten. Ich hatte vorhin auch nicht bemerkt, dass sie die

Stiefel angezogen hatte, während ich mit Deyddros gesprochen hatte, obwohl ich sie eigentlich nie aus den Augen verloren hatte. Wer Dinge tun konnte, ohne jegliche Aufmerksamkeit zu erregen, auch wenn er beobachtet wurde, konnte definitiv gefährlich werden – und da könnte sowohl Vorteile als auch Nachteile für mich haben. “Notfalls hab ich auch noch zwei Dolche in einer der Satteltaschen... Und falls wir zu hungrig werden können wir Hafer essen. Ich hab so viel von dem Zeug da drin, das sollte uns und die Pferde zumindest ansatzweise bis morgen abend durchbringen.” Als Antwort bekam ich ein Nicken verbunden mit einem müden Grinsen. Das Mädchen hatte wirkliche starke Schwankungen, was ihre Neigungen zu ausgiebiger Konversation anging. Mal hielt sie einem ellenlange Vorträge (siehe heute Vormittag!) und dann sagte sie wieder nichts, so wie

jetzt. “Gut.”, sprach ich so motiviert wie möglich. “Dann lass uns aufbrechen. Ich sehe nämlich da vorne die ersten Wachen näher an uns heran kommen als gut für uns ist.” “Dann lass uns gehen.”, sagte sie nun auch und schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Also sorgte ich mit leichtem Druck meiner Fersen dafür, dass Klymënæstra langsam anging und schließlich in einen schnellen Trab fiel. Carina folgte mir auf Xandrijn problemlos. Irgendwie wurmte es mich, dass sie keine Umstände mit ihm hatte. Sie sendete mit ihrem Körper nur leichte Drucksignale aus und er gehorchte direkt. Wenn ich daran dachte, wie lange ich gebraucht hatte bis er mir so vertraut hatte... Sanft beschleunigte ich Klymënæstra, Carina holte nun auf und galoppierte gelassen neben mir her. Nie überholte sie mich, ritt immer etwa einen halben Meter hinter mir, trotzdem

blieb sie auf gleicher Höhe. Seufzend schaute ich zum sternenklaren Himmel hinauf. Das würde eine lange Nacht werden. Und der morgige Tag würde mit Sicherheit diesen hier, was das schlimm sein anging, noch übertreffen. Morgen würden wir beide nämlich realisieren, was passiert war. Wir würden also abends mit aufgeriebenen Nerven, vollkommen übermüdet und ausgehungert in Fardrahall ankommen - Wenn uns Klymënæstra und Xandrijn überhaupt so lange trugen.

Verfolgt


Meine Erwartungen wurden was diese Nacht anging nicht übertroffen: Es war sehr, sehr kalt, wir beide waren nicht wirklich gesprächig und solangsam verzog sich auch der Rausch des Geschehenen und die kalte Realität legte die Hand um unsere Schultern, um uns einen Besuch abzustatten. Das, was zurückblieb, war das Gefühl zum Einen alles verloren zu haben, zum Anderen alle im Stich gelassen zu haben (was in meinem Fall zutraf) und dann noch an allem eigentlich auf eine sonderbare Art und Weise Schuld zu sein. Anscheinend erwischte gerade diese Tatsache Carina etwa drei Stunden nach unserem Aufbruch eiskalt. Obwohl sie versuchte zu verbergen, dass sie leise weinte, fiel es mir auf. Vermutlich unglücklich mit der ganzen Situation und sich selbst, und erdrückt von den

Schuldgefühlen, konnte sie die Tränen wohl nicht mehr zurückhalten. Vor allen Dingen wussten weder sie noch ich, was die nächsten Tage mit sich bringen würden, geschweige denn, wie und wann Deydros uns noch kontaktieren wollte – Es würde wohl irgend ein Zauber sein, mit dem er versuchen würde uns über mich zu erreichen. Xandrijn wurde zusehend unruhiger, weil er nicht wusste, wie er mit dem schnüffelnden Geschöpf auf seinem Rücken umgehen sollte. Nachdem diese Irritation beinahe dafür gesorgt hätte, dass er gestürzt wäre, stellte Carina allerdings ihr Weinen ein. Ich wusste immer noch nicht, wie ich damit umgehen sollte. Meine Erfahrung mit heulenden Mädchen beschränkte sich schließlich so ziemlich auf Maria, Penny und Magda. Erste hatte nie wegen mir geweint, also hatte ich sie auch nie wirklich trösten müssen und die anderen Beiden waren absolut keine guten

Beispiele... Inzwischen hatten wir unsere Geschwindigkeit ein wenig verlangsamt, galoppierten nur noch streckenweise, um Xandrijns und Klymënæstras Kräfte zu schonen. Carina und ich hatten seit unserem Aufbruch noch kein Wort gewechselt. Wir ritten nur schweigend durch die doch relativ helle Nacht, in einiger Entfernung zum Waldrand, um unsere Pferde nicht nervös zu machen und damit das Vorankommen nicht zu Erschweren. Um uns herum war nichts als Schnee, hier und da noch ein paar Felsen, aber sonst wirklich nur Schnee. Auch wenn er nicht tief war, würden wir uns bei Morgengrauen eine kurze Rast gönnen müssen. Xandrijn und Klymënæstra würden ein wenig Hafer bekommen und ich würde versuchen über einen kleinen Flammenzauber den Schnee soweit zu schmelzen, dass ein kleiner Flecken Gras frei wurde, damit die Beiden ein wenig frisches Material zu sich nehmen

konnten. Tagsüber würden wir, wenn alles bis hierhin nach Plan verlief, am Waldrand weiterreiten können. Wölfe und ähnliche Geschöpfe zogen das Jagen bei Nacht meiner Erfahrung nach vor. Zu hoffen wäre, dass wir nach dieser Rast dann die nächsten zwölf Stunden durchgängig reiten könnten. Hoffentlich mit ein wenig interessanteren Gesprächen, als die, die wir bisher hatten. “Lass uns nochmal einen Zahn zulegen.” Ich drehte mich kurz zu Carina um. “Die Sonne geht in einer knappen Stunde auf und wir haben noch ein gutes Stück vor uns...” Carina nickte nur. Sie sah um ehrlich zu sein wirklich schrecklich aus. Da es am Horizont bereits ein wenig hell wurde, konnte ich erkennen, wie verquollen ihre Augen waren und wie von Furchen durchzogen ihr Gesicht. Ich bekam Mitleid. Natürlich war auch ich in keiner wirklich guten Verfassung, aber ich hatte das

Gefühl, dass es mir zumindest besser ging als ihr. Einen Moment überlegte ich. Schließlich ritt ich näher an Xandrijn heran, nahm Carina die Zügel aus der Hand und bremste beide Pferde ab. Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass Carina realisierte, was ich gerade tat und falls doch, reagierte sie jedenfalls nicht darauf. Ich signalisierte ihr, dass sie ihre Beine von Xandrijns Rücken schwingen sollte, damit ich sie herunter heben konnte. Als sie neben mir stand, fixierte ich Xandrijns Zügel seitlich am Sattel, sodass sein Kopf durchaus noch Freiheit hatte und er sich problemlos bewegen konnte. Als nächstes schwang ich mich wieder auf Klymënæstras Rücken, lenkte sie neben Carina und zog diese schließlich hinter mich. Sie schlang direkt ihre Arme um mich und lehnte sich gegen meinen Rücken. Ich hatte Recht gehabt, sie war tatsächlich fertig mit der Welt. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und bekam

nur ihren Haaransatz zu sehen. “Ruh' dich ein wenig aus. Ich werde dich wecken, wenn wir Rast machen.”, sagte ich leise. Ich wusste nicht, ob sie es gehört hatte oder nicht, aber immerhin quittierte sie meine Antwort mit einem übermüdeten Nicken. Nachdem ich einen kurzen Pfiff zwischen den Zähnen hindurch ausgestoßen hatte, ruckte Xandrijns Kopf hoch. Ich hatte nun seine volle Aufmerksamkeit. Vorsichtig ließ ich Klymënæstra angehen. Ich erlaubte ihr erst nach und nach zu beschleunigen, damit Carina nicht von einem Ruck durchgeschüttelt und vom Pferd geworfen wurde. Xandrijn hatte verstanden, dass er ab jetzt für eine Weile ohne Reiter sein würde und folgte uns widerstandslos. Klymënæstra bewegte sich auch im schnellen Galopp nicht sehr viel anders als vorher. Der Gewichtsunterschied, der ohnehin nicht sehr groß war, machte ihr anscheinend keine

Mühe. “Na los.”, flüsterte ich ihr in leicht vorgebeugter Haltung ins Ohr. “Beeilen wir uns ein bisschen, damit wir bis Sonnenaufgang noch ein gutes Stück vorankommen. Dann müsst ihr zwei über den Tag hinweg nicht mehr so schnell reiten und wir können uns mehr Zeit lassen.” Es kam mir ein wenig komisch vor, dass bisher noch kein Zeichen von einem Spähtrupp des Königs aufgetaucht war. Ich hatte, verteilt über die letzten Stunden, immer mal wieder Suchzauber ausgeschickt, um mögliche Gefahren ausmachen zu können. Es war nie etwas dagewesen, was uns wirklich beeinträchtigt hätte. Hin und wieder am Waldrand ein Wolf, aber sonst... Es war fast zu gut, um wahr zu sein. Hier konnte doch etwas nicht stimmen, oder? Genervt schüttelte ich den Kopf. Mein Misstrauen brachte mich so langsam wirklich aus der Ruhe. Natürlich waren

die letzten Tage nicht einwandfrei verlaufen, aber es konnte uns ja auch mal etwas Gutes passieren. So abwegig war das schließlich auch nicht. Wir hatten inzwischen schließlich so viel durchgemacht, dass das Schicksal uns nicht schon wieder eine Ohrfeige geben musste. Die nächste Stunde verging verhältnismäßig schnell. Carina schlief die ganze Zeit hindurch, sie zuckte nur manchmal ein wenig zusammen. Ich hatte Xandrijn irgendwann von den festgebundenen Zügeln befreit und es machte ihm zusehends Spaß ohne Reiter zu sein. Mal hetzte er im zickzack durch den Schnee, sodass dieser wahrhaft durch die Luft stob und ihn in eine Nebelwand hüllte, mal galoppierte er einige Meter vor, um Klymënæstra herauszufordern. Diese ließ sich das natürlich nicht bieten und folgte ihm bereitwillig. Auch sie hatte ihre Freude. Ich hatte das Gefühl, dass sie es genoss, ohne Sattel zu reiten und nur über ihre Mähne gelenkt zu werden. Statt

wie üblich ausschließlich vom Reiter Befehle zu erhalten, hatte sie so die Freiheit zu bestimmen, wie sie jetzt genau laufen wollte. Trotzdem herrschte ein stilles Einverständnis zwischen uns: Ich gab die ungefähre Richtung vor und sie konnte dann mitbestimmen, wie wir dieser folgten. Xandrijn galoppierte übermütig im Kreis um uns herum und versuchte Klymënæstra damit zu ärgern. Diese, am Anfang noch die Ruhe selbst, legte irgendwann einen Zahn zu und schnappte kurzerhand spielerisch nach ihm. Das wiederholte sich immer häufiger. Um zu vermeiden, dass zwischen den beiden letzten Endes doch noch eine Keilerei entstand, lotste ich Klymënæstra langsam zum Waldrand hin. Dieser verlief inzwischen parallel zu uns, in einer Entfernung von einem knappen Kilometer. Xandrijn hatte sich inzwischen wieder ein wenig beruhigt und galoppierte entspannt neben uns her.

Die Sonne hatte den Horizont inzwischen erreicht und tauchte den Himmel in ein beeindruckendes Rot, die Wolken färbte sie violett. Trotzdem waren direkt über uns immer noch der Nachthimmel und die Sterne zu sehen. Das war einer der wenigen Dinge, die ich tatsächlich am frühen Aufstehen mochte. Normalerweise war ich um diese Zeit immer schon mit dem Frühstück fertig und angezogen, sodass ich mich für die paar Minuten, die dieses Spektakel andauern würde, auf das Dach unseres Hauses setzen konnte. Natürlich hatte ich das nie im Winter gemacht, sondern meistens im Frühling. Im Sommer ging mir die Sonne dann allerdings zu früh auf, ich schätzte meinen Schlaf schließlich. Die ersten Strahlen glimmten nun über den Himmel und vertrieben langsam aber sicher die Nacht. Auch wenn es noch kalt war, spürte ich, wie mit der aufgehenden Sonne die Wärme in

meinen Körper zurück kehrte. Nicht, dass mir tatsächlich warm wurde. Aber die erdrückende, melancholische Stimmung, die bis eben auf mir gelegen hatte, verschwand allmählich und machte Platz für ein wenig Hoffnung, dass der heutige Tag möglicherweise doch ganz passabel werden würde. Wir erreichten die Schatten des Waldrandes, als die Sonne gerade so oberhalb der Horizontlinie stand. Sowohl Xandrijn als auch Klymënæstra drosselten ihre Geschwindigkeit, sodass wir den Schutz der Bäume in angemessenem Tempo erreichten. Ich wollte bereits einfach absteigen, als mir auffiel, dass Carina noch an mir lehnte. Hätte ich mich einfach so von Klymënæstras Rücken herunter geschwungen, wäre sie vermutlich wie ein nasser Sack hinter mir hergefallen und hätte sich beim Aufprallen eine Beule oder Ähnliches geholt. Ich dachte einen Augenblick darüber nach, ob ich sie jetzt direkt wecken sollte oder ob es besser wäre, sie

noch ein wenig schlafen zu lassen. Nach einer Weile des Hin-und-Her-Überlegens entschied ich mich schließlich für Letzteres. Vorsichtig schwang ich mein linkes Bein langsam über Klymënæstras Kopf, die diesen dankenswerter Weise ein wenig senkte, und drehte mich seitlich. Als nächstes löste ich Carinas Hände, die sich verkrampft um meinen Bauch geschlungen hatten. Sie hatte die letzte Stunde wohl nicht sonderlich gut geschlafen, sonst wären ihre Finger entspannter dagelegen. Jetzt kam der wohl schwierigste Teil. Ich musste irgendwie vom Pferderücken herunter rutschen, ohne Carina mitzuziehen. Und ich sollte sie dabei noch festhalten, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor und mir doch noch hinterher stürzte. Wie könnte ich das nun am einfachsten Anstellen? Ihr Kopf lag auf meiner Schulter und sie schlief immer noch tief und fest, ich vernahm sogar ein leises Schnarchen. Ich hatte eine Idee, die möglicherweise

funktionieren könnte, nicht zwingend, aber vielleicht. Wenn ich meine Hände vor und hinter ihrem Körper platzierte, konnte ich mich abstützen und Carina gleichzeitig vom Fallen abhalten, falls sie umkippen sollte. Die ganze Idee würde zwar nur klappen, wenn sie in meine Richtung oder überhaupt nicht fallen würde, aber das Risiko würde ich jetzt wohl oder übel eingehen. Erst setzte ich Carina nun halbwegs stabil hin, sodass sie nicht mehr an mir lehnte, im Folgenden stützte ich meine Hände wie geplant ab und hob mich so langsam vom Pferderücken. Bis zu diesem Punkt war alles in Ordnung gewesen. Carina hatte ruhig da gesessen und weiter geschlafen. Als nun aber der Punkt kam, an dem ich mich ein wenig absoßen musste, um ihre Beine nicht zu berühren passierte es doch: Sie kippte langsam um. Und zwar ausgerechnet in die andere Richtung, die nicht von mir abgesichert worden

war. “Scheiße.”, fluchte ich leise, als ich auf dem Boden aufkam, und rannte um Klymënæstra herum. Diese stand, den Göttern sei Dank, immer noch entspannt da und rührte sich nicht. Ich kam gerade noch rechtzeitig an, um Carina abzufangen, die begonnen hatte, wie ein nasser Sack an Klymënæstras Flanke herunter zu gleiten. Leider schaffte ich es nicht, sie wirklich abzustützen, sie war schon zu weit unten gewesen. Und so kam es, dass wir beide im Schnee landeten. Korrigiere: Ich landete im Schnee, Carina nur auf mir. Das hatte man also davon, wenn man nett zu anderen Leuten war. Man wurde nass... “Was ist denn...” Ruckartig setzte Carina sich auf und schaute wild in der Gegend umher. “Ich wollte dich nicht wecken.”, sagte ich leise unter ihr. Inzwischen hatte sie mich wohl auch gesehen. Sie schaute nämlich ziemlich irritiert

neben sich, dahin, wo meine Beine waren. “Was mach ich denn dann auf dir?”, fragte sie nun vollends verwirrt. War das Mädchen so schwer von Begriff? “Ich wollte nett sein und dich vom Pferd heben, damit du weiter schlafen kannst. Du hast vorhin so fertig ausgesehen, da wollte ich dich nicht wecken.”, erklärte ich ein wenig ungeduldig. Mein Hinter wurde aber auch langsam kalt. “Ich will dich nicht drängen.”, fuhr ich fort. “Aber könntest du vielleicht aufstehen, jetzt wo du sowieso wach bist? Mein Rücken wird nämlich nass.” Möglicherweise war ich ein wenig unfreundlich gewesen, aber das Gefühl an meiner Wirbelsäule war wirklich nicht schön. Es gab da durchaus angenehmere Temperaturen als stechende Kälte. “Ja... Natürlich. Entschuldige, bitte.”, murmelte sie zerstreut. Einen kurzen Augenblick sah sie mich an. Wie schon Vorgestern Nacht, traf mich ihr Blick wie der

Blitz. Diese katzengrünen Augen zogen mich wirklich an und die Tatsache, dass sie ein wenig verschlafen aussah, schwächte das aufkommende Ziehen in meinem Magen auch nicht wirklich ab. Was zur Hölle stellte dieses Mädchen nur mit mir an? Wieso sorgte sie dafür, dass ich jedes Mal, wenn ich ihre Augen sah, den Faden verlor? Carina zwinkerte zwei, drei Mal. Als nächtes stützte sie sich seitlich auf und erhob sich überraschend elegant. Ich tat es ihr gleich. Der Moment war wie weggeblasen, das Ziehen verschwunden. “Wie wäre es, wenn wir hier eine knappe halbe Stunde Rast machen?”, fragte ich sie. “Die Pferde können ein wenig Hafer fressen, ich lege währenddessen ein wenig Gras frei...” “Und ich kann mich um das Schmelzen von Wasser kümmern.”, unterbrach sie mich. “Oder willst du das lieber machen?”, hakte sie vorsichtig nach, nachdem sie meinen

überrumpelten Blick gesehen hatte. “Nein, nein. Mach du das ruhig. Dann sind wir schneller fertig, können selbst noch etwas trinken und vielleicht auch ein wenig Wasser abfüllen.” Ich deutete auf Xandrijn, der sich, genau wie Klymënæstra, die ganze Zeit über nicht vom Fleck gerührt hatte. “In einer seiner Satteltaschen müssten zwei leere Trinkschläuche sein. Wenn du die befüllen könntest, wäre ich dir echt dankbar.” Sie nickte und machte sich ziemlich schnell an die Arbeit. Wenn ich über Carina in den letzten Tagen etwas gelernt hatte, dann war es, dass sie es absolut nicht haben konnte, untätig herum zu sitzen, während andere arbeiteten. Das ging ihr total gegen den Strich, was ihr Gerechtigkeitsgefühl betraf. Die Sonne stand nun bereits ein wenig höher. Wir würden nicht mehr lange Rast machen können. Vermutlich waren die Sucher das Königs spätestens kurz vor Sonnenaufgang

losgeritten. Auch wenn wir ihnen knapp sechs Stunden voraus hatten, würden sie stetig aufholen. Ihre Pferde waren eindeutig besser in Form als unsere. Nach einer Weile hatte ich eine gute Stelle gefunden, an der ich Gras freilegen konnte ohne, dass es sofort auffiel, wenn man am Waldrand entlang ritt. “Incendium.”, murmelte ich leise, meine Hände offen über die zu schmelzende Stelle gespannt. Eine Flamme glimmte kontrolliert auf. Nun senkte ich meine Hände ein wenig, damit der Schnee möglichst schnell schmolz. Ich spürte dabei Carinas Blick im Rücken, versuchte ihn aber zu ignorieren, da er mich zum einen Genugtuung, zum anderen aber auch Nervosität spüren ließ. Die ersten Schichten des Eises hatten sich bereits in Wasser verwandelt. Vorsichtig löste ich meine rechte Hand und überließ der linken das kontrollieren des Feuers. Mit Konzentration auf die nun leere Hand beschwor ich nun einen Effekt, der das

überschüssige Wasser absaugen sollte. “Extrahere.”, wisperte ich dafür, fixiert darauf, beide Vorgänge getrennt voneinander ablaufen zu lassen. Hinter mir ertönte ein leises Keuchen. Dieses Mal durfte ich mir allerdings nicht einmal erlauben, es überhaupt zu beachten, sonst wäre der komplette Zauber zu nichte und ich müsste nochmal von vorne anfangen. Derzeit war ich einfach noch nicht dazu fähig, mich auf mehr als zwei Dinge zu konzentrieren, die beide volle Aufmerksamkeit forderten. Einmal hatte ich es zwar geschafft, aber das auch nur für einige Sekunden. Danach war ich allerdings so erschöpft gewesen, dass ich erstmal den nächsten Tag vollständig verschlafen hatte. Und das wäre unter den jetzigen Umständen vermutlich keine sonderlich gute Idee. Endlich war eine relativ große Stelle befreit vom Schnee und das Gras tauchte auf. Die linke Hand, die bis eben noch die Flamme

geleitet hatte, gab nach, das bisschen Feuer erlosch. In der rechten Hand hielt ich nun eine kleine Kugel, die vollständig aus dem Wasser bestand, welches ich gerade aus dem Schnee gezogen hatte. Langsam stämmte ich mich aus der Hocke in die Höhe. Mir war ein wenig schwindelig und ich merkte, dass ich seit mehr als zwölf Stunden nichts mehr gegessen hatte. Aber das musste bis heute Abend noch vorhalten. Wenigstens würden wir auf keinen Fall verdursten. “Ist alles in Ordnung?”, hörte ich Carina hinter mir vorsichtig fragen. Ich hatte wohl doch etwas länger zum Aufstehen gebraucht als üblich. “Reiß dich zusammen, Neoras.”, dachte ich wütend. “Wenn du jetzt Schwäche zeigst, verunsicherst du sie mit Sicherheit nur. Und davon hat keiner von euch beiden etwas.” “Klar.” Ich zwang mir ein gelassenes Lächeln

ins Gesicht und drehte mich um. Ich sah zu unseren Pferden hinüber, die inzwischen nebeneinander standen und scheinbar auf uns warteten. “Ich hab ihnen jeweils drei Hände voll Hafer gegeben. Das sollte als Energieschub für einige Stunden reichen.”, erklärte sie als sie meine Blickrichtung erkannt hatte. “Das Wasser hab ich auch eingefüllt. Es könnte jetzt noch ein wenig warm vom Schmelzen sein, aber das gibt sich in ein paar Stunden sicherlich. Kalt genug ist es ja...” Sie lachte ein wenig nervös. Ich drehte meinen Kopf und schaute nun sie an. “Wie steht es mit dir?”, fragte ich. Sie verstand nicht. Vermutlich hatte ich mich auch zu vage ausgedrückt. “Ich meine: Wie geht es dir? Alles in Ordnung, so was wach sein, Körperwärme, et cetera angeht?” “Ach so.” Sie überlegte einen Moment. “Mir ist zwar ein wenig kalt und ich bin nich sonderlich ausgeschlafen, aber sonst ist alles eigentlich bestens. Danke der

Nachfrage.” Sie lächelte mich an. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob dieses Lächelnd und das 'Danke', die ersten Dinge waren, die sie mir gegenüber nicht gefälscht hatte, sondern die einfach ihrer normalen Natur entsprachen. Ich lächelte ebenfalls einen Augenblick. Dann stieß ich, sie immer noch ansehend, einen spitzen Pfiff aus. Klymënæstra und Xandrijn trabten beide zu uns, ich kraulte sie beiden kurz hinter den Ohren. Dann deutete ich auf die grüne Stelle. Xandrijn bemerkte sie recht schnell, mit ihm hatte ich solche Dinge auch schon geübt. Er schaute mich kurz an, ich nickte und gab damit die Erlaubnis, dass er fressen gehen konnte. Klymënæstra trabte ihm, neugierig wie sie war, einfach hinterher. Ich grinste zufrieden, bis ich merkte, dass Carina mich irgendwie komisch anschaute. “Ist was?”, fragte ich, den Kopf zu ihr drehend. Misstrauisch runzelte ich die Stirn, als sie nicht

direkt Antwort gab. “Ich kenne dich zwar erst seit zwei Tagen...”, setzte sie an. Dann pausierte sie, um erneut zu überlegen – Und ich würde nervös aufgrund der Frage, was jetzt wohl gleich kommen würde. Würde sie wieder einen bissigen Kommentar abgeben? Oder würde irgendwas total mädchenhaftes, so wie “Du bist total niedlich, im Umgang mit Pferden” kommen. Ich hatte mich mehr als nur getäuscht. “Ich habe n Eindruck, dass du immer nur bei deinen Pferden wirklich glücklich bist. Weil sie dir ein Gefühl von Selbstbestimmt und Freiheit vermitteln.” Respekt. Keiner meiner Bekannten und Verwandten hatte es je geschafft die Tatsache auf den Punkt zu bringen. Beeindruckt sah ich sie nun an. Sie lächelte mich einen Moment an und ich hatte beinahe einen Augenblick das Gefühl, als ob sie ahnen konnte, was ich manchmal durchmachte. Aber nein, das konnte nicht sein. Das wusste schließlich niemand. Nicht einmal Meister

Deydros oder gar Maria. Carina wandte sich nun ab, lief zu Xandrijn und Klymënæstra, die inzwischen aufgehört hatten zu fressen, und stieg auf. Umsichtig lenkte sie ihn in meine Richtung, Klymënæstra kam von selbst zu mir. “Brav.”, flüsterte ich ihr leise ins Ohr, tätschelte ihren Hals und saß ebenfalls auf. Carina hatte Xandrijn in der Zwischenzeit umgedreht, sodass er nun mit dem Kopf in die Richtung stand, in die wir weiter reiten mussten. Als Klymënæstra und ich folgten, drehte sie sich nochmals kurz zu mir um. “Weißt du, du musst dich nicht vor allen verstellen und dein wahres Ich verstecken. Es gibt durchaus Leute, die dich wirklich verstehen.”, sagte sie und lächelte mir ein wenig traurig zu, während sie Xandirjn die Sporen gab. Dann war sie auch schon weg, weiter in Richtung Nordern. Ich gab Klymënæstra, die bereits unruhig tänzelte, nun

auch durch leichten Schenkeldruck zu verstehen, dass sie Xandrijn und Carina folgen sollte. Die nächsten zwei Stunden legten wir in rasendem Galopp zurück, so dass der Schnee um uns herum nur so zur Seite stob. Carina und ich hatten im stillen Einverständnis beschlossen, uns ein kleines Wettrennen zu liefern, damit wir und die Pferde einen kleinen Energiestoß bekamen und nicht komplett als Trauerklöße endeten. Wir hetzten also am Waldrand entlang, immer im Versuch den anderen zu überholen. Carina hatte zwar das etwas schnellere Pferd, aber ich hatte doch noch ein klein wenig mehr Erfahrung im Reiten, so dass es sich eigentlich ziemlich die Waage hielt, was das Gewinnen anbelangte. Die Sonne wanderte immer höher und tauchte die weiße Landschaft um uns herum in ein strahlendes Glitzern. Der Himmel war so klar,

dass ich links von uns schemenhaft das Mardarac-Gebirge sehen konnte, was bei knapp hundertfünfzig Meilen Entfernung schon ein starkes Stück war. Ich verlangsamte ein wenig und ließ Carina neben mich reiten. Sie schaute mich fragend an. “Schaffst du es aus der linken Satteltasche eine Röhre mit einer Karte herauszuholen und mir dann die Karte zu geben?”, brüllte ich gegen den inzwischen auffrischenden Wind an. “Ich würde mir gerne kurz einen Überblick verschaffen.” Sie nickte nur, überließ Xandrijn, der ruhig galoppierte, die Zügel und lehnte sich ein wenig wackelig nach hinten. Dort versuchte sie, die Strecke im Auge behaltend, die Satteltasche zu öffnen. Es dauerte zwar einen kurzen Augenblick, aber schließlich hatte sie die Röhre herausgefischt. Einen Moment später hatte ich die Karte in der Hand und rollte sie vorsichtig auseinander. Carina ritt nun vor uns, um für eine Weile die Richtung vorzugeben,

damit ich Klymënæstra nicht lenken musste, sondern Zeit hatte, mich auf das Kartenlesen zu konzentrieren. “Ubi sumus.”, murmelte ich leise. Konzentriert beschwor ich zur Markierung einen kleinen Lichtball. Dieser flitzte erst ein wenig irritiert über die Karte, blieb dann aber etwa vierzig Meilen nord-östlich von Loteron stehen. Wir sollten inzwischen eigentlich so viel Vorsprung haben, dass sie uns nicht mehr so schnell finden konnten. Außerdem waren es nur noch knapp vierzig Meilen bis nach Fardrahall. Wenn es weiterhin so gut lief, würden wir die heutig Nacht in anständigen Betten verbringen, vorausgesetzt, nichts Unerwartetes kam uns dazwischen. Ich ließ die Lichtkugel wieder verschwinden und rollte die Karte zusammen. Statt sie Carina aber zurückzugeben, steckte ich sie in eine größere Tasche, die sich im Innenfutter meines Mantels befand. Dann ergriff ich Klymënæstras

Mähne und trieb sie an, ein wenig schneller zu werden. Xandrijn und seine Reiterin hatten bereits ein gutes Stück an Vorsprung gewonnen. “Und wir wollen ja nicht, dass die beiden uns komplett abhängen, nicht wahr?”, murmelte ich in Klymënæstras Ohr. Als hätte sie mich verstanden, zog sie nochmal ein wenig an, sodass es nicht mehr lange dauerte bis Carina und ich wieder auf der selben Höhe waren. “Na, deine Kartenstudien endlich fertig betrieben? Hat ja ganz schön lange gedauert die kleine Lichtkugel zu beschwören.”, sagte sie provozierend, dabei grinste sie mich aber fröhlich an. Ich lächelte zurück. “Das sagt sich immer so leicht, wenn man es nicht machen muss. Hast du überhaupt schonmal eine Lichtkugel ebschworen?”, fragte ich nun zurück und schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen und spielerischem Grinsen an. Wir hatten es beide inzwischen geschafft, die

Geschehnisse der letzten Nacht zu verdrängen. Erst heute abend, wenn es dunkel werden würde und wir alleine in den fremden Betten lägen, würden alle Geschehnisse wieder durch unseren Kopf kreisen. “Jaja, du Angeber. Nein hab ich noch nicht. Aber du kannst es mir ja bei Gelegenheit zeigen.” Sie strahlte mich mit leuchtenden Augen an. “Wie wäre es, wenn wir nochmal ein wenig um die Wette reiten?”, fragte sie, den Blick wieder nach vorne gerichtet. “Wenn ich gewinne, zeigst du mir demnächst wie man diese Lichtkugel formt. Wenn du gewinnst...” Sie überlegte eine Weile und sah mich schließlich fragend an. “Wie wäre es, wenn du mir dann zeigst, wie man mit den Wurfsternen wirft?”, schlug ich vor. Carina zuckte lächelnd mit den Schultern. Dann schielte sie erneut konzentriert nach vorne. Die Idee, ein Wettrennen zu veranstalten fand ich gut. Was ich allerdings absolur nicht verstand, war,

wieso sie unsere Umgebung nun mit den Augen absuchte. “In Ordnung. Siehst du dort vorne dieses große Etwas? Ist Braun, mit ein paar grauen Sprenkeln.” Angestrengt schaute ich in die selbe Richtung. Als ich erkannte, was sie dort zu sehen meinte, zuckte ich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich zusammen. Das dort vorne war nicht irgend ein Stein oder etwas dergleichen, sondern ein bewaffneter Reiter, der im Schnee auf etwas wartete... “Verdammt.”, fluchte ich. “Dreh sofort nach rechts ab. Wir reiten durch den Wald weiter. Wenn wir Glück haben, hat man uns noch nicht gesehen.” “Was soll uns denn...”, fragte Carina verwirrt. Ich drehte bereits bei. “Mach schon!”, rief ich in ihre Richtung. Sie folgte mir ein wenig widerstrebend, aber immerhin tat sie es überhaupt. Den noch immer still stehenden Reiter im Auge behaltend, ritt ich langsam Richtung Wald,

Carina dicht neben mir. “Was hast du denn da gesehen?”, fragte sie immer und immer wieder und trieb mich damit schier zur Weißglut. Als wir den Schutz der Bäume erreicht hatten, antwortete ich endlich. “Glaub mir. Ich kenne die Sucher ziemlich genau. Gerade, was das Optische angeht. Wenn man mindestens einmal die Woche von ihnen Besuch bekommt, weil man etwas über irgendwelche vogelfreien Auserwählten wissen könnte, dann lernt man deren ihre Kluft besser kennen als einem lieb ist.”, sagte ich ein wenig grob und schaute sie demonstrativ an, erneut mit diesem 'Du bist an allem Schuld'-Blick. Carina reagierte darauf mit einem stark verunsicherten, entschuldigenden Blick, wusste aber wohl nicht, was sie sagen sollte. Also ritten wir stumm weiter in den Wald hinein. Hier war es zwar deutlich dunkler, als draußen auf den verschneiten Wiesen, aber wenigstens wurden wir vor dem Wind geschützt. Außerdem

standen die Bäume so dicht beeinander, dass nur stellenweise Schnee den Boden bedeckte. Das Vorankommen war hier also entsprechend leichter als beim Reiten durch den Schnee. Xandrijn und Klymënæstra machte der plötzliche Helligkeitsumschwung zusehends nervös. Immer wieder bogen sie ihre Hälse, um sich unzusehen, beim leisesten Geräusch zuckten sie zurück. Trotzden schafften Carina und ich es die beiden relativ ruhig zwischen den doch recht eng stehenden Bäumen hindurch zu lenken, ohne, dass sie auch nur ein einziges Mal scheuten. Dabei schwiegen wir uns aber penetrant an, was nun dafür sorgte, dass ich zusehends unruhiger wurde. Ach, verdammt! Müde rieb ich mir durch das Gesicht. Ich ritt neben Carina, die mich einen Moment zuvor überholt hatte. Sie sah demonstrativ nach vorne. Ich verdrehte die Augen, riss mich dann aber zusammen. Ich musste einlenken, um der Harmonie

Willen. “Es tut mir Leid.”, sagte ich leise und schaute sie dabei leicht flehend an. Sie reagierte nicht, ich fuhr aber trotzdem fort. Das war wohl meine einzige Möglichkeit, sie in irgendeiner Art und Weise friedlicher zu stimmen. “Ich bin brummig. Ich weiß. Und ich jammere, was noch viel schlimmer ist. Aber das weiß ich auch. Und ich bin absolut nicht fair zu dir gewesen die letzten Tage, genauso wie jetzt. Das tut mir Leid.”, versuchte ich mich ein wenig zu rechtfertigen. Eine leichte Reaktion kam. Sie schaute mich zumindest an. “Wenn ich heute Nacht halbwegs gut geschlafen habe und wir morgen dann mit Proviant und einem Sattel für Klymënæstra weiter können, dann bin ich wie ein neuer Mensch.”, fuhr ich fort. “Hoch und heilig versprochen. Ich brauche nur mal wieder eine relativ ruhige Nacht.” Meine Versuche mich zu Erklären hörten sich mehr als lächerlich an.

Sogar in meinen Ohren. Was wohl Carina dann erst davon hielt? Sie sagte nichts dazu, allerdings wurde ihr bis eben noch eingefrorenes Lächeln ein wenig weicher. “Wenn du willst, können wir in der Nähe des Waldrandes vorbei reiten. Vielleicht habe ich auch tatsächlich nur Halluzinationen und es war doch nur ein ziemlich hässlicher Stein.” Daraufhin musste sogar sie kurz laut lachen. “Gerne.”, sagte sie, sah mich an und zog kurz die Mundwinkel nach oben. Zumindest hatte ich vorerst die Situation ein wenig gerettet. “Gut. Dann halten wir uns am besten jetzt ein wenig weiter links. Sonst wird das mit dem Beobachten nämlich nichts.”, erklärte ich und deutete mit dem Finger auf die Bäume links vor mir. “Na dann.” Sie stupste Xandrijn mit den Fersen leicht in die Flanken und ritt voraus. “Dann folgen wir den beiden mal.”, seufzte ich, als Carina schon einigen Abstand hatte. Ich war

tatsächlich gespannt darauf, ob nur meine Paranoia mich einmal mehr überrumpelt hatte oder ob ich recht behalten würde und sich im Schnee tatsächlich jemand versteckte... “Nein, Meister. Sie denken wahrscheinlich, dass ich sie noch nicht gesehen habe. Sie sind in den Wald hinein geritten. Es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis sie gefunden werden...” Bereits aus weiter Entfernung hörten wir diese Stimme sprechen. Rauchig, tief und unterwürfig. Und es ging eindeutig um uns. “Dann rede nicht nur davon, sondern tu es auch!”, schrie nun eine etwas höhere Stimme wutentbrannt. Ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme von Marlon von Loteron. “Dieses Biest ist mir bereits zweimal entkommen. Auch wenn sie einfach nur Glück hatte.” Carina schnaubte hörbar neben mir. Ihr Blick sagte den Rest. Ich sah sie warnend an und legte einen Finger an die Lippen. Sie sollte bloß still sein. Ich hatte keine Lust darauf, dass sie uns

fassten. Außerdem könnten diese Informationen hier wichtig sein. Ich hörte den Reiter etwas unverständliches murmeln und ritt langsam weiter in Richtung Waldrand. Worüber kommunizierten die beiden überhaupt? Zwischen den Baumwimpfeln hindurch sah ich, dass der Reiter im Gegensatz zu vorhin, sein Pferd nun wieder bestiegen hatte. In seiner Hand lag etwas, das einen grünlichen Lichtstrahl erzeugte. Aus diesem Lichtstrahl trat die Stimme des Königs hervor. “Jaja. Pass aber vor allen Dingen auf ihren Begleiter auf. Sie ist wahrscheinlich nicht fähig dazu, uns schwerer zu verletzen.” Ich drehte mich kurz im Sattel herum, um Carinas Reaktion zu sehen. Sie war wie erwartet: Das Gesicht rot vor Wut, die Lippen zusammen gekniffen... Sie war definitiv alles andere als amüsiert. “Glauben Sie wirklich, Majestät, dass dieser Jüngling gegen uns ankommen könnte?”,

brummte nun wieder die Stimme des Reiters. “Ich möchte nicht euer Vermögen, Menschen einzuschätzen, in Frage stellen, aber es sind noch zwei hervorragend ausgebildete Magier auf dem Weg hierher. Und ich bin durchaus auch zu Einigem fähig. Also...” “Das tut nichts zur Sache.”, untebrach ihn die Stimme des Königs schneidend. “Unterschätzt ihn einfach nicht. Verstanden?” Einen Moment lang war es still. “Welche Magier sind auf dem Weg zu dir?” “Corpus und Ban. Der Eine ist ausgebildet worden im Kondol, der Andere ist Anführer einer Gruppe Banditen.” “Der Erste: In Ordnung. Aber der Zweite? Was bitteschön soll ich mit einem Magier, der eine Gruppe Banditen anführt?” Ich war nicht weniger verwundert als Marlon selbst. Schließlich hatte er Recht. Wie sollte jemand, wie dieser Ban, ihm helfen uns zu fangen? Carina, die inzwischen neben mich geritten war, hatte im Gegensatz zu mir eine schockierte Miene

aufgesetzt. “Was ist los?”, flüsterte ich fragend. Nun schüttelte sie ihrerseits den Kopf und deutete stumm nach vorne, wo das Gespräch wieder aufgenommenen wurde. “Sie sollten ihn nicht unterschätzen, Meister. Erinnern sie sich an Jupiter? Er wurde ebenfalls von einem Magier aus eurer Stadt ausgebildet.” “Natürlich erinnere ich mich an diesen Kerl. Das ist doch der Vater der Kleinen, die wir jetzt suchen. Im Grunde haben wir dieses Problem nur, weil er es nicht geschafft hat, die Finger von dieser Magierin zu lassen...”, knurrte Marlon weiter und stieß einige unflätige Verwünschungen aus. “Ban hat seine Tötung geplant und durchgeführt.”, erklärte der Reiter kurz angebunden. Es dauerte eine Weile bis ich realisiert hatte, aus welchem Grund Carina diesen Namen so gut gekannt hatte. Mit besorgten Gesicht schaute ich sie an. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum, ihr Blick war zwar nicht

katastrophal traurig, schoss aber unruhig hin und her. Fragend sah ich sie nun an. Sie blickte zurück, seufzte laut, dann murmelte sie leise etwas. “Was?”, fragte ich und beugte mich weiter zu ihr rüber. Dabei war ein Ast im Weg, den ich erst noch zur Seite schieben musste. “Ich sagte; Ich habe Ban erst vor Kurzem gedroht und ihn zudem noch gedemütigt. Ich glaube nicht, dass er so gut auf mich zu sprechen ist.” Sie sah mich ein wenig hilflos an. Dann zuckte sie müde die Schultern. Ihre Augen wurden rot. “Er hat schließlich meinen Vater getötet.” Die erste Träne rollte auch schon über ihre Wange. “Ach Scheiße.”, fluchte sie schluchzend und wischte sich, wütend auf sich selbst, mit dem Ärmel über die Augen. Mitgefühl stieg in mir auf. Sie hatte es wohl noch nie wirklich leicht gehabt in ihrem Leben. Das Fortsetzen des Gesprächs riss mich aus meinen Gedanken. “Majestät, ich glaube ich muss den Kontakt

abbrechen. Ich sehe gerade, dass Ban und Corpus mir entgegen kommen. Bis spätestens heute Abend bringe ich euch die Kleine.” “Gut. Was ihr mit dem Jungen macht, interessiert mich nicht wirklich. Schaut nur, dass sie am leben bleibt. Ich habe noch Pläne mit ihr...” Das grüne Licht erlosch und mir jagte es Schauer über den Rücken. Diese ganze Schau gerade eben war wirklich gruselig gewesen. Carina schien es in ihren Empfindungen nicht anders zu gehen. Der Ausrdruck ihres leicht verquollenen, roten Gesichts schwankte irgendwo zwischen Ekel und Entsetzen. Trotzdem schaute sie konzentriert nach vorne. Corpus und Ban (wer auch immer wer war), zwei in schwarze Mäntel gehüllte Männer, ritten dem von uns belauschten entgegen. “Marash?”, bellte der linke mit noch rauchiger Stimme als die des anderen, der das Gespräch mit dem König gehabt hatte. “Der bin ich.”, dann nickte er von sich aus nach links. “Ban.”

“Marash.” Der Wortwechsel war karg. “Ihr habt eure Anweisungen erhalten? Wir sollen das Mädchen dem König bringen. Sie ist in Begleitung eines jungen Magiers. Er ist ziemlich unwichtig. Sorgt einfach nur dafpr, dass wir das Mädchen kriegen. Und zwar lebend. Kapiert?” Derjenige, der Corpus genannt wurde, nickte verstehend. “Was heißt lebend?”, fragte der andere, Ban. Ich konnte beinahe schon spüren, wie er gehässig grinste. “Wieso willst du das wissen?”, schnaubte Marash. “Sagen wir einfach so. Ich habe mit ihr noch eine Rechnung zu begleichen.” “Ich erkläre es nochmal: Stirbt sie, kostet das jeden von uns den Kopf. Und ich schwöre dir. Wenn sie stirbt, dann hänge ich dich an den Zehen an dein Pferd und sorge dafür, dass es dich schleift bis nichts mehr von deinem verdammten Körper übrig ist.” Ich war beeindruckt. Der Kerl wusste definitv, wie man

drohte. “Wie sieht es mit der Belohnung aus?”, meldete sich Corpus nun doch zu Wort. Erneut drang dieses leicht rauchige Bellen seinerseits an mein Ohr. Marashs Gesicht hellte sich auf. Er grinste nahezu. “Wenn wir das alles hier sauber erledigen, kassiert jeder von uns hundert Goldtaler. Außerdem werden wir zum nächsten größere Gelage eingeladen, was eigentlich nicht weiter von Bedeutung ist. Aber Essen ist schließlich Essen.” Corpus und Ban nickten nur. “Dann lohnt es sich wenigstens.”, brummelte einer der beiden. Ich konnte nicht eindeutig heraushören, wer es war. “Wie wäre es, wenn wir dann anfangen? Es ist sau kalt und je schneller wir das Mädchen haben, desto früher sind wir wieder weg und kassieren unser Gold. Wo sind sie überhaupt? Du hast schließlich gesagt, dass du ihnen den Weg hier abschneiden würdest” Das war nun eindeutig Ban gewesen. “Sie sind in den Wald geritten.

Weit können sie nicht sein. Maximal im Umkreis von zwei Meilen. Der Wald ist schließlich dicht.” Nun dröhnte Corpus lachen über die Felder und auch zwischen den Bäumen hindurch. “Ja. Aber auch für uns stehen die Bäume eng beieinander und erschweren damit das Durchkommen. Die zwei Meilen Umkreis können also durchaus ausarten, Marash. Außerdem glaube ich nicht, dass sie stehen bleiben, während wir nach ihnen suchen.” Marash ritt nun einige Schritte nach vorne und stemmte sich drohend im Sattel hoch, um Corpus schließlich am Mantelkragen zu packen. “Vielleicht sollten wir dann keine Zeit damit verschwenden zu tratschen wie die Waschweiber, sondern anfangen?” Corpus rührte sich nicht. Allerdings wurde Marash in dem Moment, in dem er aufgehört hatte zu sprechen, von einer unsichtbaren Macht am Hals gepackt und langsam in seinen Sattel zurück gedrängt. Dabei schnürte man ihm

wohl die Luft ab, er lief nämlich leicht rot an. “Fordere mich nicht heraus, Marash.”, sagte Corpus nun so leise, dass es hier nur noch als beinahe lautloses Flüstern zu vernehmen war, aber dennoch so scharf gesprochen, dass ich jedes Wort verstand. Dann räusperte er sich kurz, aber deutlich vernehmbar. “Wir sollten aber tatsächlich los. Wo sind sie in den Wald hineingeritten? Wir brauchen nur eine kleine Spur, vielleicht etwas, was sie verloren haben oder etwas, dass an ihnen hängen geblieben ist. Wenn wir das haben, können wir sie orten.” Eins war klar. Dieser Corpus würde von allen dreien das größte Problem werden. Marash war nur auf das Geld aus, Ban auf seine Rache an Carina. Corpus war der einzige, der einen kühlen Kopf behielt und eiskalt kalkulierte. Das hatte man schon jetzt bermerkt. Ich hatte genug gesehen. Sanft zog ich an Klymënæstras Mähne, damit sie einige Schritte zurück machte. Carina tat es mir auf Xandrijn

gleich. “Wir bleiben hier am Waldrand. Sie erwarten hoffentlich, dass wir tiefer in den Wald hinein geritten sind. Sobald sie Zwischen den Bäumen hindurch sind reiten wir los.” Carina war einverstanden. “Könntest du möglicherweise einen Schild zur Tarnung spannen? Für die nächste Stunde oder so, damit wir ein wenig Vorsprung gewinnen können. Klymënæstra ist im Schnee mit Sicherheit nicht leicht zu erkennen. Das selbe gilt aber nicht für Xandrijn.” “Stimmt. Gute Idee. Wenn wir aus dem Wald raus sind mach ich das direkt... Achtung.” Ich deutete nach vorne. “Sie machen sich auf den Weg. Leg dich am besten auf Xandrijns Hals und lass seine Zügel locker. Dann lässt er den Kopf von ganz alleine sinken und wir sind besser versteckt.” Sie tat wie geheißen, ich folgte ihr direkt. Die drei Reiter setzten sich flott in Bewegung und drangen eine knappe Meile von uns entfernt in den Wald ein. Wir hatten nicht viel

Zeit. Es würde definitiv nicht sehr lange dauern, bis sie ein gutes Stück zwsichen die Bäume geritten waren und sich aufteilten. Ab diesem Augenblick durften wir kein Geräusch mehr machen. Vorsichtig stemmte ich mich hoch, Carina saß bereits wieder gerade im Sattel. Es sah beinahe so aus, als würde sie die Luft anhalten, was sie tatsächlich auch tat, wie mir gerade auffiel. Sie sah mich erwartungsvoll an, die Hände verkrampft um Xandrijns Zügel geschlossen. Ein kleines Zeichen würde vermutlich reichen, um sie katapultartig aus dem Wald stürzen zu lassen. Ich schloss einen Augenblick die Augen und dachte nach. Ich könnte das Risiko eingehen und einen schwachen Tastzauber wagen, nur um festzustellen, wo die drei waren... Allerdings... Mein Gedankengang wurde ruckartig von Carina unterbrochen. “Können wir bitte gehen?”, fragte sie und drehte nervös die Zügel zwischen ihren Fingern hin und her. Ich wartete

noch einen Moment ab, wartete auf irgend eine Regung hinter uns. Als nichts kam, nickte ich kurz und Carina wollte tatsächlich, wie von mir prognostiziert zwischen den Bäumen hervorschießen. Ich kam ihr allerdings zu vor, indem ich ihr in die Zügel griff und Xandrijn damit aufhielt. “Wenn du das tust, kannst du genauso gut ein Signalfeuer machen, um zu zeigen, wo wir sind.”, erwiderte ich trocken auf ihren irritierten Blick. Auch wenn ich mir wie mein eigener Meister vorkam, aber auch ich hatte damals schmerzlich erkennen müssen, dass es häufig ganz gut war, nicht total hirnlos in eine Situation hinein zu rennen. Ich hatte diese wunderbar große Narbe quer über meiner Brust schließlich heute noch. “Mach einfach langsam. In Ordnung? Sonst sind wir schneller Blutwurst als uns lieb ist.” Carina verzog angeekelt das Gesicht. “Ich mag keine Blutwurst.”, murmelte sie, den Blick auf ihren Sattelknauf gerichtet. Sie errötete

allerdings auch direkt, als sie an meinem Blick erkannte, dass sie das, was sie vermutlich nur hatte denken wollen, laut gesagt hatte. Ich war nett und überging das einfach. “Also. Lass uns losreiten. Aber langsam. Ich sag dir, wenn ich den Schild zur Tarnung aufgespannt habe. Dann, und tatsächlich erst dann, können wir galoppieren. Verstanden?” Sie nickte wie ein gescholtenes Kind. Und ich fühlte mich großartig. Ich hatte es tatsächlich geschafft, eine Autoritätsperson darzustellen, ohne jemanden zu Ärgern. Ich war einfach genial. Während wir aus dem Wald hinaus schlichen, drehte ich mich nochmals zu ihr um. Ich hatte – peinlicherweise – noch etwas vergessen. “Öhm... Noch was. Das gilt natürlich nicht, wenn die drei doch zurück kommen sollten. Was eigentlich abwegig ist... Aber nur zur Sicherheit: Wenn sie kommen, schreist du laut, damit ich auch mitkriege, dass sie da sind und dann reitest du wie der Teufel. In Ordung?” Ich

verzog zweifelnd mein Gesicht. Irgendwie kam mir mein Plan doch nicht so ganz sauber vor, wie er vorher erschienen war. Carina lächelte mir aber ermutigend zu und ließ mir sogar meine Rolle als aufgeblasener Held, wofür ich ihr wirklich dankbar war.Schreib mir was!

Erzählungen

Nachdem wir den Schutz der Bäume verlassen hatten, ging alles ziemlich schnell. Wir hatten bereits ein gutes Stück zurückgelegt, sodass ich mir relativ sicher sein konnte, dass die Magier meine Aura nicht direkt wahrnehmen würde, wenn ich nun den Schild spannte. Zur Sicherheit suchte ich allerdings nochmal den Waldrand mit meinen Augen ab. Es war nichts zu sehen. “In Ordnung.”, murmelte ich leise. Ich fixierte Carina und Xandrijn, die nur einige Meter entfernt von mir ritten, dann atmete ich tief ein und wieder aus. Das wiederholte ich bis ich das Gefühl hatte, dass mein Körper und mein Haupt-Chakra die Verbindung miteinander aufnehmen konnten ohne, dass ich dabei die Kontrolle verlieren würde. Ich löste meine Finger von Klymënæstras Mähne und legte sie seitlich neben mir ab. Um mich besser an den Rhytmus

des Pferdes zu gewöhnen schloss ich die Augen und zwang meinen Körper dazu sich zu entspannen. Dieser bewegte sich nach einigen Augenblicken mit Klymënæstra mit. Jetzt mussten nur noch kurz einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Ich sprach mehrere kleine Zauber, die dafür sorgen sollten, dass ich geschützt sein würde, falls man uns angreifen sollte. Die Augen immer noch geschlossen, legte ich nach einigen Minuten endlich los. Ich hatte absolut keine Orientierung mehr. Die einzigen Dinge, die ich noch wahrnahm, waren Carina, die neben mir ritt und Klymënæstras Bewegungen. “Also gut.”, dachte ich leicht angespannt. “Legen wir los.” Vorsichtig öffnete ich jedes Chakra meines Körpers, eines nach dem anderen. Ich begann dabei mit den unkritischsten Stellen, wie Hand- und Fuß-Chakren, erst zuletzt kam schließlich das Haupt-Chakra, ein kleiner Bereich ein wenig

oberhalb meines Herzens. Ich benutzte diese Art der Ausübung von Magie nicht oft. Sie kostete Unmengen an Kraft und konnte außerdem katastrophale Auswirkungen haben, wenn man nur einen kleinen Augenblick nicht mehr voll bei der Sache war. Es war definitiv alles Andere als lustig, wenn sich diese Art von Energie Bahn brach. Meine Chakren waren nun komplett geöffnet. Die Energie pulsierte durch mich hindurch. Auch wenn ich nun die Möglichkeit hatte Macht auszuüben, war das zugleich auch der Moment, in dem ich am verletzlichsten war – deswegen die ganzen Vorkehrungen. Würde man mich jetzt auch nur Berühren, würde ich innerhalb eines Sekundenbruchteils komplett die Kontrolle abgeben müssen. Die Energie würde sich erst zusammen ziehen und dann wieder ausdehnen. Dabei würde sie alles, was sich an Energie in meinem Körper befand einfach mit sich mitnehmen. Ich würde davon

nicht mehr viel mitkriegen. Wahrscheinlich würde ich nur noch ein grelles Licht sehen und dann für einen winzig kleinen Moment das Gefühl haben, als ob es meine Nerven auseinander reißt. Und dann hätte sich das Ganze auch schon gehabt. Ich wäre tot und ein Teil des Waldes vermutlich niedergemäht. Es wurde nicht umsonst gesagt, dass ein Magier, der im Kampf unkontrolliert starb, mehr Schaden anrichten konnte, als eine ganze Armee. “Absconde.”, murmelte ich leise. Es beeindruckte mich immer noch, wie ein einfaches kleines Wort unter Einfluss von ein wenig Energie eine riesige Wirkung entfalten konnte. Ich leuchtete inzwischen grün, das war die Farbe meiner magischen Aura. Diese breitete sich nun aus und spannte sich über Carina und mich. Dort verharrte sie einen Moment und wurde dann beinahe wieder durchsichtig, nur ein kleiner Schimmer blieb

zurück. Ein Teil wurde wieder von meine Körper zurück gesogen, meine Aura leuchtete nochmals grell auf, dann verschwand auch sie wieder. Ich zwinkerte einige Male mit meine Augen und öffnete sie dann vorsichtig wieder. Ich fühlte mich, als ob ich gerade stundenlang, aber ausgesprochen schlecht geschlafen hätte. Carina ritt neben mir und warf mir einen besorgten Blick zu. “Ist alles in Ordnung?”, fragte sie misstrauisch. “Klar.” Ich richtete mich gerade im Sattel auf, auch wenn ich jeden Knochen spürte. Das Schlimme an diesem Trancezustand war immer der Ort, an dem man den Zauber ausführen musste. Auf einem Pferd, zum Beispiel, wurde man durchgeschüttelt wie ein nasser Sack, auch wenn man davon nichts mitbekam und man meistens im Sattel sitzen blieb. Allerdings schmerzte es im Nachhinein trotzdem immer an den unmöglichsten Stellen. “War ich lange weg?”, fragte ich nun

meinerseits und blinzelte Carina entgegen. War der Schnee vorhin auch schon so grell gewesen? Und wieso hatte ich das Gefühl, dass Klymënæstra stärker hoppelte als sie es sonst tat, wenn sie im Galopp geritten wurde? “Eigentlich nicht.”, meinte sie. “Obwohl...”, sie drehte sich im Sattel herum un schaute zum Waldrand zurück. Beziehungsweise zu dem, was jetzt hinter uns lag. Als ich mich selbst ein wenig gedreht hatte, sah ich, dass da nichts mehr außer Schnee war... “Es könnten durchaus schon mehrere Meilen sein.”, erklärte sie mit einem Schulterzucken. “Wir haben während du deinen Schild gespannt hast ein wenig langsamer gemacht, weil es dich, kurz nachdem du nicht mehr ansprechbar warst, fast aus dem Sattel gefegt hat.” Die letzten Worte brachte sie nicht ohne Grinsen heraus. Peinlich berührt rieb ich mir über das Kinn. Dabei viel mir vor allen Dingen eines auf: Ich sollte mich dringenst rasieren. Auch wenn es nur Stoppeln

waren, fühlte es sich so an, als wäre ich plötzlich zu einem pelzigen Tier mutiert. “Was ist?”, fragte Carina immer noch grinsend, als sie meinen missmutigen Blick sah. Ich schaute sie direkt an. “Ich vermisse mein Rasierzeug. Das ist alles.”, brummelte ich. Sie klimperte einige Male mit den Augen, während sie mich ungläubig anschaute. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Was zur Hölle war jetzt schon wieder los? Frauen. Ich schüttelte verdireßlich den Kopf. Nicht umsonst hatte ein großer Magier einmal gesagt: “Die Welt wird letzten Endes entweder an der Gewalt eines Mannes oder am Unverständnis einer Frau scheitern.” Letzteres hatte ich laut gesagt. Carina wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Dann sah sie mich ernst an. “Dann war dieser Magier nicht sonderlich intelligent. Die Königinmutter selbst soll einmal gesagt haben: 'Ein Mann wird erst weise sein, wenn er auch

die Geheimnisse einer Frau verstanden hat.' Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passiert, ist doch relativ gering, wie du gerade eben bestätigt hast. Daraus lässt sich also schließen, dass Mäner niemals weise sein werden.” Sie schaute mich mitleidig an, gab Xandrijn die Sporen und stob davon. Hiermit war unser Gespräch wohl soeben beendet worden. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich würde ich das alles hier überstehen, ohne wahnsinnig zu werden. Die Gefühlsschwankungen dieser Frau brachten mich wirklich aus dem Konzept. “Warte!”, brüllte ich ihr frustriert hinterher. Auch ich drückte nun meinem Pferd sanft die Fersen in die Flanken und stürmte nach vorne, Xandrijn und Carina hinterher. Die Sonne stand inzwischen so hoch, wie es die Mittagsstunde im Winter erlaubte. Obwohl der Himmel absolut klar war, schien sie nur milchig

weiß irgendwo da oben zu hängen. Ich beobachtete das Ganze jetzt seit einer geschlagenen Stunde. Ich musste zugeben, dass ich mich beinahe schon langweilte, während Carina absolut glücklich zu sein schien. Wir hatten unsere Geschwindigkeit ein wenig verlangsamt und trabten nebeneinander her durch den Schnee. Sie genoss sowohl das seichte Licht, als auch den Wind, der durch ihre Haare fegte und sie locker fliegen ließ. Seit den Suchern, die uns am Waldrand aufgespürt hatten, war es zu keinem weiteren Zwischenfall gekommen. Wir kamen so problemlos voran, dass inzwischen knapp zwei Drittel des Weges geschafft waren. Aus Langeweile zog ich die Landkarte, die ich vor einigen Stunden im Innenfutter meines Mantels versteckt hatte, heraus und breitete sie über Klymënæstras Halsansatz aus. Sanft fuhr ich mit dem Finger über das Symbol, das die Position Loterons markierte. Ich würde zu gerne

wissen, wo Meister Deydros, Maria und die Anderen derzeit waren... Verdrießlich schaute ich auf die Karte. Ich hatte leider keine Möglichkeit das herauszufinden. Obwohl... Ich dachte einen Augenblick angestrengt nach. Rein theoretisch könnte es klappen, wenn ich... Ich griff an meinen Hals und tastete nach dem Lederband, dass ich dort trug. Es hatte ein kleine Spirale als Anhänger. Deydros, von dem ich es kurz nach meiner Ankunft bei ihm und Maria geschenkt bekommen hatte, hatte bei der Übergabe gemeint, dass es das Symbol für Stärke sei. Was in diesem Moment aber viel wichtiger war: Er hatte es mir geschenkt, also war es rein theoretisch auch einmal sein Eigentum gewesen... Einen Versuch war es zumindest wert. Ich knotete vorsichtig das Lederband auf, immer darauf bedacht es nicht falsch zu halten, damit ich nicht letzten Endes noch den Anhänger verlor. Dann klaubte ich, die Karte

mit der linken Hand, die auch die Kette hielt, fixierend meinen kleiner Dolch aus meinem rechten Stiefel und zog ihn aus seinem schmalen Behältnis. Ich ritzte mir kurz den Finger an und packte den Dolch auch schon wieder weg, in meinen Stiefel. Dabei viel mir auf, dass Carina mich irritiert anstarrte. “Was tust du da?”, fragte sie misstrauisch. “Ich versuche rauszukriegen, wo Meister Deydros, Maria und die Anderen sind.”, erklärte ich kurz. Behutsam tropfte ich das Blut auf den Anhänger. “Ostende.”, murmelte ich leise, während ich die Spirale so hielt, dass das Blut auf die Karte tropfte. Im Gegensatz zu der Nacht, in der ich Carina gefunden hatte, funktionierte es dieses Mal sofort. Die einzelnen Tropfen verbanden sich auf der Karte zu einem kleineren Kreis und wanderte gen Süden, in Richtung des Serb. Dort blieb er über dem Namen 'Sansor' hängen.Erleichtert atmete ich auf. “Hat es

geklappt?”, fragte Carina neugierig. Ich nickte und sah sie beruhigt an. “Sie sind in Sicherheit.” Ich lachte einmal laut auf. Himmel war ich in diesem Moment froh. Wenn sie es bis nach Sansor geschafft haben, würde der Meister bestimmt bald eine Möglichkeit gefunden haben, um mit Carina und mir Kontakt aufzunehmen. “Sagst du mir auch wo sie sind?”, fragte Carina. “Lass dir bitte nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, ja?” Ich verstand nicht, wieso sie gerade jetzt gereizt war, aber es interessierte mich um ehrlich zu sein auch nicht wirklich. Meine Familie war in Sicherheit, das war alles was im Moment zählte. “Klar. Entschuldige bitte. Sie sind in Sansor. Du weißt schon. Die Handelsmetropole am Serb?”, erklärte ich. Carina nickte daraufhin nur. Wieso war sie gerade jetzt wieder so einsilbig. “Habe ich dir irgendetwas getan?”, fragte nun ich genervt. “Was?” Ihr Kopf, der eben noch gesenkt

gewesen war, schreckte hoch. “Ach nein. Sei nicht albern. Es wurmt mich bloß, dass du ständig diese ganzen Dinge erledigen musst, nur weil ich im Grunde eigentlich nichts kann.” Sie zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern. Das war es also. Sie war es wohl nicht gewohnt, sich ständig helfen lassen zu müssen. Erst recht nicht von jemandem, der eigentlich nur wenig älter war als sie. Ich rollte die Karte wieder zusammen und steckte sie in meine Jacke. Dann sah ich sie an. “Wenn du willst, bringe ich dir einige Formeln bei, wenn wir aus Fardrahall raus sind. Die sind eigentlich gar nicht so schwer, kosten am Anfang aber ein wenig Kraft. Auch wenn das bei dir kein Problem sein sollte. Du hast ja schon anderweitig Erfahrung mit Magie.” Sie zog ein wenig überrascht die Augenbrauen hoch. Ja. Es stimmte. Ich hatte ihr gerade tatsächlich ein Kompliment gemacht. Schon wieder. Sie lächelte mich dankbar an. “Auch

wenn wir kein Wettrennen gemacht haben. Vielleicht finden wir ja auf unserer Reise noch Zeit, damit ich dir die grobe Technik zeigen kann, mit der man Wurfsterne bedient.” Nun grinste ich frech. “Danke. Auch wenn das mit dem Wettrennen durchaus kein Problem sein sollte. Klymënæstra und ich können euch beide jederzeit abhängen.” “Ach ja?” Nun ihrerseits grinsend zog sie in gespielter Überrschaung die Augenbrauen hoch. Wie wäre es, wenn wir das gleich hier überprüfen?” Ich hatte bereits einen Punkt in der Ferne fixiert. “Siehst du dort hinten die Felsenkette mitten auf der Wiese.” Sie schaute auch. “Sicher, dass das keine bösen, bösen Reiter sind?”, fragte sie mit einigem Sarkasmus in der Stimme. Ich schnaubte. “Na gut. Wer als erstes dort ist. Selber Wetteinsatz.”, erklärte sie auch schon, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen konnte. Als nächstes sah sie mich fragend an. “Gerne.” Ich grinste teuflich. “Auf drei. Eins,

zwei,...” Der Schnee um uns stob auch schon davon. Wir hatten beide einen Frühstart hingelegt, uns damit bessere Möglichkeiten ausgerechnet. Pustekuchen nur, da wir eben beide die gleiche Idee gehabt hatten. Erneut war nicht wirklich klar, wer gewinnen würde. Xandrijn und Klymënæstra waren beinahe gleich stark und stritten sich damit auch beinahe die ganze Zeit um die Führung. Je weiter nördlich wir kamen, desto besser wurde es, was den Schnee anging. Während wir uns langsam Richtung Nord-Osten wendeten, zog die Sonne weiterhin ihre Bahn in die entgegengesetzte Richtung. Inzwischen konnte man die Felsenkette fast perfekt sehen Es war nur noch eine dreiviertel Meile, etwas weniger sogar. Carina und ich lieferten uns immer noch eine Hetzjagd durch den immer stärker schwindenden Schnee. Das sorgte allerdings dafür, dass er nur noch stärker durch die Luft flog und man zeitweise keine Möglichkeit hatte

irgendetwas zu sehen. Auch wenn Klymënæstra bereits am Rande ihrer Möglichkeiten war, presste ich ihr noch ein wenig härter die Fersen in die Flanken. Dieses Mal würde es weder ein Unentschieden, noch mich als Verlierer geben. Es ging mir hier gar nicht so sehr um die Wette – auch wenn es durchaus reizvoll war, zu lernen, wie man mit Wurfsternen umging – sondern eher darum, dass mein Ego vermutlich ein wenig angeknackst wäre, wenn Carina hier gewinnen würde. Auch wenn ich immer versuchte ihr das Gegenteil zu vermitteln: Aber was die magischen Fähigkeiten anging, konnte sie mit ein wenig Übung durchaus in meiner Liga spiegeln – was natürlich auch durchaus am Einfluss ihrer Eltern liegen konnte. Mit einem Magier der achten Corona und einem Mitglied des Magischen Dreiecks konnten meine Eltern als Handwerker und Köchin nunmal nicht mithalten – was absolut nicht hieß, dass ich mir

andere Eltern gewünscht hätte. Ich hatte nur leider keine allzu große Bindung mehr zu ihnen gehabt seit sie... na ja... seit sie eben nicht mehr da waren. Deydros Haushalt war zu meiner Familie geworden und das war auch gut so. Es waren nur noch wenige Meter, die Felsenkette hatten wir fast erreicht, Xandrijn und Carina allerdings auch. Sie waren auf der selben Höhe wie wir. Jetzt würde sich keiner von uns beiden mehr etwas schenken. Zumindest nicht freiwillig. “Komm schon. Lauf.” Klymënæstras Ohren zuckten und sie beschleunigte nochmal ein wenig. Langsam brachten wir eine Pferdelänge Abstand zwischen Carina auf Xandrijn und uns. Diese wurde auch direkt wieder verloren, Carina und Xandrijn holten auf. Mein Kopf war nun vollends leer. Ich nahm nur noch das Rauschen meines Blutes, den Gegenwind und den sich

immer wieder verändernden Abstand war. Irgendetwas in meinem Unterbewusstsein regte sich. Etwas sagte mir, dass wir gewinnen würden. Derzeit sah es auch durchaus nach danach aus. Wir lagen, wenn auch knapp, vorne. Wie aus dem Nichts tauchten auf einmal die Felsen auf, im nächsten Moment hatten wir sie auch schon hinter uns gelassen. Ich riss meinen Kopf zur Seite, um zu sehen, auf welcher Höhe Carina war. Sie befand sich knapp eine halbe Pferdelänge hinter Klymënæstra. Ich traute mich noch nicht zu jubeln. Da ich in dem Moment, in dem wir die Ziellinie übertreten hatten, nicht gesehen hatte, ob Carina oder ich schneller gewesen waren, konnte ich auch keine Stellung dazu nehmen. Klymënæstra und Xandrijn schwitzen ordentlich, hatten aber mit Sicherheit auch ihre Freude gehabt. Noch während wir die Pferde auslaufen ließen, rekapitulierte ich den heutigen Tag. Auch ich war ziemlich zufrieden

mit mir und uns. Wir hatten es wohlbehalten an den Suchern vorbei geschafft – wobei mich ernsthaft interessieren würde, wo diese derzeit waren und ob nicht möglicherweise doch noch eine unangenehme Überraschung auf uns wartete – und wir würden so wie es derzeit aussah, in ein bis zwei Stunden in Fardrahall sein, um uns dann in irgendwelche Betten zu werfen uns zu schlafen. Dieser Ausblick war einfach göttlich. “Was schaust du denn so verträumt?” Klymënæstra und Xandrijn trabten inzwischen nur noch, Carina hatte sich zu mir gesellt. Sie hatte rote Backen, zerzauste Haare und strahlende Augen. Ich war wohl nicht der Einzige, der inzwischen bessere Laune hatte als heute früh. “Mir ist gerade eingefallen, dass ich heute Abend wieder in einem Bett schlafen werde. Und mit Ausblick darauf, speziell nach einer durchzechten Nacht, würdest du mit Sicherheit genauso

gucken.” “Du hättest ja auch schlafen können...” Sie grinste frech. “Klar. Aber wer hätte dich dann auf sein Pferd gezogen und dafür gesorgt, dass du während dem Schlafen nicht hinunterfällst... Und vor allen Dingen: Wer hätte das für mich getan?” “Mhm... Gute Frage. Hätte ich es versucht, wären wir schon um einiges früher als heute morgen im Schnee gelandet. Und dann hätte ich dich nicht als Stoßdämpfer gehabt... Mhm... Du hast Recht. Es ist gut, dass du jetzt so übernächtigt bist und nicht ich. Da haben wir alle was davon. Ich meine Ruhe und du deine glücklichen Träume von weichen Betten.” Sie lachte böse. Ich wusste im ersten Moment nicht, was ich sagen sollte, versuchte aber doch anzusetzen und schloss den Mund, nach einem missglückten Versuch der Erwiderung, schließlich wieder. Einen Moment überlegte ich, ob ich fragen

sollte, wer aus ihrer Sicht nun gewonnen hatte. Ich verwarf den Gedanken direkt wieder. Es war doch eigentlich unwichtig, oder? Außerdem mussten wir unseren Blick auch langsam wieder nach vorne werfen. Wir konnten schließlich tatsächlich nicht ewig verdrängen, was passiert war. “Ich habe mir überlegt, dass wir morgen Abend direkt weiter reiten.” Auch wenn es nicht sonderlich feinfühlig war das Thema einfach so, mit dem Kopf durch die Wand, anzuschneiden, irgendjemand musste es schließlich tun. Carinas Mundwinkel die gerade eben noch gen Himmel gestrebt hatten, sanken nun herab. Mit gerunzelter Stirn schaute sie mich an. So als wollte sie sagen: “Musstest du das jetzt unbedingt tun? Ich hatte den ganze Mist gerade erst vergessen und nun fängst du wieder an...” “Ich weiß nicht.”, sprach sie stattdessen. “Ist es nicht sicherer, wenn wir noch einen Tag

warten? Dann haben wir auf jeden Fall die Möglichkeit alle Dinge zu besorgen, die wir brauchen und finden vielleicht noch eine Möglichkeit Deydros zu kontaktieren.” Stimmt. Die Sache mit Deydros hatte ich nicht bedacht. Aber andererseits... “Wir müssen aber leider davon ausgehen, dass wir immer noch verfolgt werden. Und je schneller wir aus einem Ort wieder heraus sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Sucher ihn bei ihrer Suche nach uns vollends zerlegen.” Xandrijn und Klymënæstra schritten nur noch, sodass sie sich ein wenig entspannen konnten und wir die Möglichkeit zu einem ausgiebigen, weniger durchrüttelnden Gespräch hatten. Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. “Wir werden nicht viel Zeit brauchen, um Sättel zu organisieren. Kleidung finden wir für dich auch sicherlich schnell.” Carina sah immer noch nicht allzu überzeugt aus. “Nur, weil Fardrahall nicht auf der Karte verzeichnet

ist, heißt es nicht, dass es nur ein kleines Dorf ist. In dieser Stadt bekommst du so ziemlich alles...” Etwas durchquerte meine Gedanken, ich errötete und räusperte mich daraufhin ein wenig, um die Stimme wieder zu erlangen. “Sogar die eher untugendhaften Dinge.” Carina schaute ein wenig irritiert und zog dann fragend die Augenbrauen hoch. Ich schüttelte als Antwort den Kopf. “Vergiss es. Das sind Dinge, die du ganz bestimmt nicht ausprobieren wirst. Das ist nichts für eine anständige Frau und für ein Mädchen in deinem Alter erst Recht nicht. Glaub mir.” “Dir ist schon klar, dass du mich gerade indirekt dazu aufforderst, herauszufinden, von was du sprichst und es dann zu versuchen?” Ich schnaubte und lenkte Klymënæstra ein wenig näher an Xandrijn heran. Wieder auf der selben Höhe wie Carina, legte ich ihr schließlich eine Hand auf ihr, von der Leinenhose verdecktes Knie und zwang sie so,

mich anzsuschauen. “Wenn du das tust, bin ich aus der Stadt heraus, ehe du auch nur meinen Namen sagen kannst. Verstanden?” Ich meinte es tatsächlich ernst. Wenn sie das tat, hätte ich ein gewaltiges Problem. Sowohl mit meinem Anstandsgefühl, als auch mit Deydros und Delira. Und von Carinas magischen Freunden wollte ich gar nicht erst anfangen. Außerdem drehte es mir bei dem Gedanken an das, was sie dort in einem dieser 'speziellen' Häuser erwarten könnte, regelrecht der Magen um. Nein. Das war definitiv nichts für junge Mädchen. “Komm.” Ich lächelte ein wenig missglückt, versucht vom Thema abzulenken. “Versuch mich zu verstehen. Ich habe zumindest ein ganz kleines bisschen Verantwortung, was dich angeht. Außerdem sind die Umstände dort einfach nicht die besten. Nicht nur für jemanden wie dich, sondern eigentlich für alle Frauen.” Ich hatte ihre Neugier anscheinend

nicht befriedigen können, allerdings schwang ihrem Blick nach zu urteilen nun auch ein wenig Misstrauen mit. Das reichte mir schon. “Ich kann dir wenn du möchtest die Stadt ein wenig zeigen und die wirklich schönen Ecken. Dort gibt es zum Beispiel eine Wasserquelle, die auch im Winter nicht zufriert, der Markt ist wirklich riesig und wenn wir schon dabei sind, kannst du dir deine Kleidung auch direkt dort kaufen. Die Stoffe sind wirklich hochwertig und die Händler bieten überwiegend zu guten Preisen an.” Ihre Augen hatten immer mehr zu leuchten angefangen. “Ich hätte mal eine Frage.”, setzte ich nun an. Ein aufforderndes Nicken kam. “War Loteron eigentlich die erste größere Stadt die du besucht hast?” “Wieso?”, fragte sie leicht verwirrt. In diesem Augenblick beschloss Xandrijn, dass er eine andere Richtung einschlagen wollte und machte einen harten Schlenker nach rechts, sodass es Carina fast von seinem Rücken schmiss, hätte ich sie

nicht abgestützt. Ich packte die Zügel, die Carina noch in der Hand hielt und zog einmal kräftig daran. Mit einem empörten Wiehern blieb Xandrijn stehen. Ich lenkte Klymënæstra so, dass er mir in die Augen sehen konnte. “Was zur Hölle sollte das?”, fauchte ich wütend. “Du hast genug Freiheiten, Junge, überstrapaziere es nicht!” Ich kraulte ihn kurz zwischen den Ohren. “So. Jetzt können wir weiter. Also. Wo waren wir gewesen? Ach ja. Ob du zum ersten Mal in einer größeren Stadt gewesen bist. Mich interessiert das nur, weil du jedes Mal, wenn jemand von einem größeren Markt oder mehr Trubel spricht, tellergroße Augen und so ein Funkeln in ihnen kriegst.” “Ist das normal bei euch?” Nun war ich an der Reihe mich zu wundern. “Was?” “Das es ein kurzen Zwischenfall gibt, du ihn rügst und es sich dann schon wieder hat.” Jetzt verstand ich. “Du meinst wegen der Sache mit Xandrijn gerade

eben? Wir sind uns ziemlich ähnlich, weißt du. Er hat hin und wieder seine Eskapaden, genauso wie ich.” Ich muss grinsen, als ich mich an eine Situation vor einigen Monaten erinerrte. “Im Herbst habe ich mich einmal in der Stadt wirklich blöd gegenüber einem der Hofdamen benommen. Was macht Xandrijn?” Carina zuckte erwartungsvoll mit den Schultern. Wir ritten inzwischen wieder langsam weiter. “Er verpasst mir einen eiskalten Tritt mit dem Huf. Ich hatte beinahe sechs Wochen einen riesigen blauen Fleck am Schienbein.” Sie lachte laut. “Siehst du. Und genauso ist es anders herum. Wenn er Mist baut, zeige ich ihm das auch. Aber dann ist auch schon wieder gut.” Ich warf mich ein wenig in die Brust. “Wir beide sind nämlich wirklich intelligente Kerle, weißt du?” Jetzt konnte Carina sich nicht mehr halten. Sie lachte schallend und fiel beinahe erneut von Xandrijns Rücken. Ich lächelte ebenfalls. Und

was ich dort am Horizont erblickte, hellte meine Stimmung noch ein wenig mehr auf. “Schau mal!” Carina wischte sich die Augen, vor Lachen hatte sie weinen müssen, und folgte mit ihrem Blick meinem Finger. Dann sah sie es wohl auch. “Jetzt ist es nur noch eine knappe Stunde wenn wir uns beeilen.” Ich strahlte sie an. Dort, wo der Himmel die Erde berührte, war nämlich ein Kirchturm aus dem Nichts aufgetaucht. Um ihn herum standen ganz, ganz klein, einige Häuser. Ein befestigter Weg führte auch aus der Stadt heraus. Diesen würden wir bald erreicht haben. Erleichtert schaute ich gen Himmel, die Sonne suchend. Mein Zeitgefühl hatte mich nicht getäuscht. Sie hing in meinem Rücken, ein gutes Stück über der Horizontlinie. Wir würden tatsächlich noch vor Einbruch der Dunkelheit in Fardrahall sein. Euphorisch sah ich Carina an. Wir hatten unsere erste Etappe so gut wie erreicht. In einer Woche würden wir

möglicherweise schon in Ant-al-Wal sein. Derzeit fühlte es sich so an, als könnte niemand uns aufhalten. “Los. Beeilen wir uns noch ein wenig. Du kannst mir ja auch während wir traben, erzählen, wie das mit dir und den Städten ist.” Locker ließen wir Xandrijn und Klymënæstra laufen. Als wir eine gewisse Geschwindigkeit erreicht hatten, sah ich sie wieder fragend an. Sie antwortete nicht direkt, sondern schaukelte ein wenig hoch und runter, sich wohl nicht ganz im Klaren darüber, ob sie jetzt leichttraben oder doch normal traben sollte. Ich hatte mich für ersteres entschieden und erhob nun regelmäßig, in Klymënæstras Rhythmus meinen Hintern aus dem Sattel, um ihn dann wieder kurz abzusetzten und das Spiel zu wiederholen... “Es ist nicht so, dass ich noch nie in einer großen Stadt war. Ich bin um ehrlich zu sein, sogra schon im ganzen Land herum gekommen

und habe viele Städte gesehen. Aber...” Sie benötigte einen Moment, um die passenden Worte zu finden. “Ich weiß nicht so recht, wie ich das Gefühl beschreiben soll. Weißt du, wenn du, wie ich, die meiste Zeit in einem Wohnwagen auf der Reise oder auf Waldeslichtungen als Zwischenhalt verbringen würdest, würde es dich bestimmt genauso faszinieren wie mich, diese Menschen zu sehen, die einen beständigen Wohnort haben.” Sie verzog ein wenig traurig den Mund Das war es also. Für jemanden wie mich, für den dieser fixe Wohnort beinahe schon alltäglich, sogar häufig einschränkend war, war es eine ganz neue Erfahrung so etwas zu hören. “Es ist nicht immer leicht, ständig mit den gleichen Leuten unterwegs zu sein. Ich merke gerade jetzt wieder, wie emotional abhängig ich doch von ihnen bin.”, fügte sie schließlich noch mit einem traurigen Schulterzucken hinzu. Ich sah sie mitfühlend an. Einsamkeit

also auch noch. Genauso wie heute morgen, erkannte ich, dass man eigentlich Mitleid mit ihr haben musste. Zumindest manchmal. Auch wenn sie mich oft genug zur Weißglut trieb. Auch wenn ich sie gerade einmal drei Tage kannte – was um ehrlich zu sein eine wirklich interessante Erkenntnis war. Ich kannte sie tatsächlich erst drei Tage. Und dafür wusste ich wirklich schon viel über sie. “Außerdem gibt es nichts was vergleichbar ist, mit den Erlebnissen, die ein Markt mit sich bringt. Wenn ich nur an die Gerüche und Düfte denke, kribbelt es bereits in meiner Magengegend.”, plapperte Carina nun weiter, ihre Schwermut ein wenig überspielend. Sie hatte meinen Blick wohl gesehen. Ich lächelte und spielte mit. “Das verstehe ich absolut. In Fardrahall haben sie einige wunderbare Gewürzstände von Händlern, die nicht einmal von diesem Kontinent kommen. Du wirst es definitiv

lieben.” Ich sah sie einfach nur mit schief gelegtem Kopf an. Es war immer wieder faszinierend, was sich alles hinter einer gut gehüteten Fassade verbergen konnte. Gerade in Carinas Fall sorgte es aus irgend einem Grund dafür, dass ich den Reiz verspürte, ihr auch ein wenig über mein Leben zu erzählen. “Ich komme aus einem Dorf, eine knappe Stunde entfernt von Porto Angelico.” Nun sah sie mich interessiert an. “Mein Vater war Tischler, machte aber eigentlich alles, was irgendwie mit Handwerk und Holz zu tun hatte.” Ihr Interesse schwand nicht, zumindets nicht offentsichtlich, also berichtete ich weiter. “Meine Mutter war Köchin. Porto Angelico ist eine größere Hafenstadt, somit residierten dort auch häufiger Missionare, Diplomaten und massig Adel. Meine Mutter wurde als die beste Köchin in der Region angepriesen und hatte eine dementsprechend gut bezahlte Arbeit, wenn Besuch zugegen war.” “Hört sich nach

einer passablen Kindheit an.” Meine Mundwinkel zuckten müde. “Warte mal ab. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr daran, aber vor knapp vierzehn Jahren, gab es diese grässliche Dürre, die alles in Nähe der Landoric-Wüste den garaus machte.” Ihr Blick wurde weicher und war voller Mitleid. Das war das letzte, was ich jetzt wollte. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. “Die Dürre war gar nicht das Problem. Mit dieser Dürre kam allerdings eine Epedemie. Die Hälfte der Bevölkerung fiel ihr zum Opfer. Mit ihr auch mein Vater, meine Mutter und...” Ich musste mich räuspern und zwinkerte ein wenig mit den Augen. Tränen waren absolut nicht angebracht, ich durfte mir keine Blöße geben. “... und mein gerade neugeborener Bruder Philip. Er starb als letztes. Meinen Vater hatte es als erstes erwischt. Bei ihm ging es relativ schnell, ebenso bei meiner Mutter, die als zweites von uns ging. Philip war das nächste Opfer. Bis zu

diesem Zeitpunkt hatte auch das Geld noch gereicht. Es ging dem Himmel sei Dank erst zur Neige, als auch Philip gestorben war. Bei ihm hatte es beinahe eine ganze Woche gedauert. Er hatte Fieber und hat geschriehen. Und ich wusste nicht, was ich machen sollte.” Innerlich durchlebte ich die ganze Panik nochmal.

Fieberwahn

Mein schutzloser, kleiner Bruder lag wieder in seiner Wiege in einer Ecke des Hauses, meine Eltern waren wieder gerade erst in einem Massengrab vergraben worden und ich rannte wieder panisch zwischen Wiege und Küche hin und her, versuchte Wasser über dem Feuer zu erhitzen, damit Philip ja genug zu trinken hatte. Drei Tage hatte es danach noch geadauert. Dann war auch er tot gewesen. Eines morgens, einfach so. Ich hatte erst gedacht, dass es ihm wieder besser gehen würde, weil das Schreien aufgehört hatte. Als ich mich über die Wiege gebeugt hatte, auf den Zehenspitzen stehend, damit ich überhaupt etwas zu sehen bekam, hatte ich allerdings gesehen, dass er nicht mehr geatmet hatte. Das war der Moment gewesen, in dem ich mich selbst komplett verloren hatte. Ich hatte keine Erinnerung an die darauf folgenden Tage.

Irgendwie hatten sie Philip wohl aus dem Haus geholt. Ich war erst in ein Kinderheim gekommen, dort dann aber auf der Straße gelandet, als immer mehr Erzieherinnen auch der Seuche zum Opfer fielen. Ich hatte mich damals so dafür gehasst, dass ich nicht auch gestorben war. Ich hatte innerhalb von Wochen alles verloren. Das komplette nächste Jahr hatte ich auf der Straße verbracht. Am Anfang hatte das Geld noch gereicht. Ich hatte es mir so eingeteilt, dass ich immer nur dann ein Stück Brot aß, wenn ich tatsählich nicht anders konnte. Am Schluss hatte ich mir gerade einmal alle zwei Tage etwas zu essen leisten können. Etwa um diesen Dreh herum, kamen endlich wieder Händler in die Stadt. Unser Dorf hatte teilweise überlebt, in der Stadt wurden Hände ringend Arbeiter gesucht. Also beschloss ich nach Porto Angelico zu gehen. Ich schlief bereits hier unter Brücken. Dort konnte es nicht

viel schlimmer sein. Als ich in der Stadt angekommen war, fand ich schließlich am Hafen eine Arbeit, die mir ein wenig Geld versprach. Ich schrubbte ab diesem Moment beinahe Tag und Nacht die Decks der einfahrenden Schiffe, hatte dadurch aber auch die Möglichkeit, auf ihnen zu schlafen und meine wenigen Kupfermünzen zum Kaufen von Brot zu verwenden. So gingen die Tage ins Land. Ich schrubbte Schiffe und überlebte. Die Menschen mieden mich so gut wie möglich. Und wenn sie doch manchmal mit mir reden mussten, hörte ich sie danach meist tuscheln, wie “tot” meine Augen doch seien. Ich konnte dazu nie viel sagen. Schließlich hatte ich meine Augen zu dieser Zeit im Grunde nie gesehen. Spiegel waren zu teuer und Zeit, um mich im Wasser zu betrachten, hatte ich nicht. Ich hatte mich immerhin regelmäßig gewaschen. Es hatte denen doch egal sein können, wie meine Augen

aussahen, meine Arbeit war schließlich ausreichend gewesen. Eines Tages war plötzlich Aufruhr am Hafen entstanden. Beinahe ein ganzes Jahr war seit dem Tod meines Bruders vergangen gewesen, ich hatte es trotzdem noch nicht verwunden. Es zählte nicht viel mehr, als dass ich es gerade so schaffte, zu überleben. Das hatte mir gereicht. Ich hatte keine Erwartungen mehr an das Leben gehabt. Sie waren mir genommen worden, als zugelassen wurde, dass meine Eltern und Philip einfach so starben und in ein Massengrab gesteckt wurden. Der Aufruhr brach nicht ab und schließlich packte auch mich die Neugier und ich schlich mich vom Deck, um zu sehen, was dort unten los war. Die Menge hatte sich um ein noch recht junges Ehepaar versammelt – zumindest hatte ich vermutet, dass sie verheiratet waren, er hatte schließlich ihre Hand gehalten. Der

Mann sprach mit ruhiger Stimme, dass er jemanden suchte, egal ob Junge oder Mädchen, der bei ihm in die Lehre ging. Und, dass er sich im 'Gasthof zum Schwan' hier bei uns am Hafen aufhalten würde, bis er jemanden gefunden hätte. Mir war in diesem Moment nicht klar gewesen, wie das mein Leben verändern würde. Es dauerte zwar noch eine Weile, aber schließlich zerstreute sich die Menge wieder und das Ehepaar verschwand in Richtung Gasthaus. Mit einem Mal wurde ich im Nacken gepackt. Ich schloss verkrampft die Augen. Ich war wohl erwischt worden. Jetzt würde ich gefeuert werden. Wieso zur Hölle hatte ich auch meiner verdammten Neugier nachgehen müssen? Grob drehte man mich um und setzte mich noch gröber auf dem Boden ab. Ich traute mich nicht, nach oben zu schauen. Innerlich zitterte ich, außen rührte sich allerdings nicht. Sie hatten anscheinend Recht gehabt. Ich war wohl

tatsächlich schon innerlich halb tot. Außer Angst und Wut fühlte ich nur noch wenig. “Schau mich an, wenn ich mit dir spreche!”, brüllte es über mir. Wassertröpfchen flogen durch die Luft, mein Kopf wurde hoch gerissen. Vor mir stand Darius, ein ehemaliger Matrose, der nun die Aufsicht am Hafen führte. Er verdiente selbst nur wenig besser als ich oder einer der anderen Kinder, die an den Docks tätig waren, machte uns aber ständig seine überlegene Stellung bewusst. Ich spürte die ängstlichen Kinderaugen, die auf mir ruhten. Jeder hatte Angst vor Darius, ich aber zwang mich dazu, nicht in Panik auszubrechen. Er war es nicht wert, niemand hier war es wert, nicht einmal die Arbeit. Ich hatte ein wenig Geld für alle Fälle zur Seite gelegt, es lagerte in einer Büchse hinter einem losen Backstein am alten Zollhäusschen. “Du bist für heute entlassen.”, knurrte Darius mit einem Mal wütend. Ich konnte nichts

dagegen tun. Ich sah in doch panisch an. “Schau nicht so. Und wehe du flennst gleich!” Ich riss mich zusammen, auch wenn ich tatsächlich vorgehabt hatte zu heulen. Allerdings war Darius' Prügel heftig, er schlug nicht einfach nur zu, nein er peitschte uns mit einem Stück Leder aus, wenn wir nicht so machten, wie er wollte. “Der Meister hat gesagt, dass du dir deinen Lohn für heute abholen sollst. Er hat dann noch was mit dir zu besprechen.” Er riss mich urplötzlich am Kragen in die Höhe. Ich roch seinen vom Alkohol geschwängerten Atem und konnte beinahe schon jedes der grauen, verklebten Barthaare an seinem Kinn zählen Er näherte mich langsam seinem Gesicht. “Mich würde einmal interessieren, wieso der Meister einen sechsjährigen Bengel sprechen will. Kannst du mir das verdammt nochmal erklären?” Wieder flogen Speicheltropfen durch die Luft,

klatschten mir gegen Stirn und Wangen. Wütend knallte mich Darius auf den Boden. Ein Brennen schoss durch meinen rechten Fußknöchel. Ich verkniff mir das Stöhnen. Jetzt hatte mir dieser Drecksack den Knöchel auch noch verstaucht, obwohl ich nicht einmal wusste, um was es hier überhaupt ging. “Zieh besser ab. Bevor ich es mir noch anders überlege und dir doch noch eine Tracht Prügel verpasse. Einfach nur, weil du da bist.” Dann drehte er sich schlagartig um und wankte zu den Schiffen. Die Köpfe, die eben noch über der Reling waren, verschwanden nicht weniger schnell. Müde seufzte ich. Einen Moment schloss ich die Augen, dann atmete ich tief ein. Es würde schon nicht so schlimm werden. Wenn der Meister mich hätte feuern wollen, hätte er mich nicht erst zu sich gerufen. Vielleicht war es nur ein Botengang, den ich erledigen sollte. Hin uns wieder passierte das und der Meister schickte dafür meist uns Kinder

los, weil wir eher zu entbehren waren. Außerdem gab es immer ganz passables Trinkgeld. Ich atmete nochmals tief durch. “Lauf endlich, Junge!”, brüllte es plötzlich hinter mir. Ich nahm die Beine in die Hand, auch wenn der rechte Fuß weh tat. Das war immer noch besser, als Darius nochmal gegenüber treten zu müssen. Die Sonnen knallte auf mich herunter, ich schwitzte und fühlte mich irgendwie grässlich. Ich stand inzwischen schon eine gefühlte Stunde vor der Tür des Meisters und traute mich nicht, sie aufzumachen. “Reiß dich zusammen, Neo. Tu es endlich. Was soll dir schon passieren, mein Kleiner?”, ich hörte die Stimme meiner Mutter, wie so oft wenn ich vor etwas Angst hatte und drehte mich, genau wie jedes Mal, um. Dort war noch nie jemand gewesen, egal wie sehr ich auch suchte. Da würde niemals jemand sein. Zitternd hob ich meine Hand, klopfte drei mal, wartete auf das

“Herein” und drückte schließlich die Tür auf. Nervös steckte ich meinen Kopf durch einen kleinen Spalt. “Ihr wolltet mich sprechen, Meister?” Meine Stimmte zitterte vor Nervosität. Ich wusste absolut nicht, was mich erwartete. “Komm herein, mein Junge. Und schließ doch bitte die Tür.” “Nein! Ich will nicht! Der Raum ist groß und dunkel. Bitte. Ich will noch nicht sterben!”, schrie ein dünnes Stimmchen in meinem Kopf. “Geschlossene Türe. Kein Grund nervös zu werden. Entspann dich, Neoras.”, wisperte eine andere Stimme. Ich trat ein und schloss die Türe umsichtig und absolut lautlos hinter mir. Kerim, beinahe schon ein Bär, hatte sich erhoben und stand mir nun gegenüber. “Was kann ich für euch tun, Meister?”, piepste ich, meine Stimme nicht mehr unter Kontrolle habend. Das Leben hatte mich bereits genug gestraft. Ich hatte einfach nur die Hoffnung, dass dieses Unterfangen hier nicht allzu schlimm enden würde. “Jetzt

entspann dich. Es ist wirklich nichts schlimmes.” Meister Kerim hatte meine Panik doch gesehen. Ich wusste, dass er kein unnötig brutaler Mann war, aber er konnte es durchaus aus sein. Wenn es eben nötig war. “Ich will nur, dass du einen Botengang für mich erledigst.” Ich schnaufte durch. “Das ist aber noch nicht alles.” Das gerade eben noch recht gelassene Einatmen endete in einem nervösen Luftanhalten. Was würde jetzt wohl kommen. “Im Gasthaus drüben sind neue Gäste angekommen. Der Wirt, Galehr - du kennst ihn bereits - braucht jemanden, der das Geschirr von den Tischen räumt. Du warst in den letzten Wochen wirklich fleißig, hattest niemals Ärger mit irgendwem... Also habe ich beschlossen, dich für die nächsten drei Tage zu verleihen.” Ich schaute ihn mit großen Augen an. Ob es wohl gut war verliehen zu werden? Das hieß doch auf der einen Seite, dass man irgendwie nicht gebraucht wurde, auf der anderen Seite

aber auch, dass man etwas gut gemacht hatte und nun belohnt wurde “Du solltest aufhören dir so viele Sorgen zu machen.”, sagte Meister Kerim nun mit einem Mal und sah mich mit einer Querfalte auf der Stirn an. “Du solltest in deinem Alter noch nicht diesen Blick haben.”, murmelte er leise vor sich hin.Ich verstand nicht von welchem Blick er sprach. “Diesen Brief bringst du zum Zollhaus hinüber, sag, dass er von mir kommt. Die dort werden wissen, was sie mit ihm tun sollen. Und dann machst du dich auf direktem Weg auf zum Schwanen. Verstanden?” Er hatte etwas in der Hand, rückte es aber erst auf mein Nicken hin, heraus. Es war mein Lohn und mein Brief. Dann legte er noch drei weitere Kupfermünzen oben drauf. “Dafür, dass du den Botengang erledigst.” Er lächelte mir kurz zu, ein schmales Lächeln, das kaum seine Mundwinkel erreichte. Als Nächstes drehte er sich ohne ein weiteres Wort um. Das Gespräch

war hiermit wohl beendet. Ich ging langsam zur Tür, öffnete sie und trat ins grelle Sonnenlicht. Ich hatte das Gefühl, als wäre es in der kurzen Zeit, in der ich drinnen gewesen war noch heißer geworden. Der trockene Wind fegte über die Docks, ich hörte Darius brüllen, hier und da ein Kind schreien. Wen es wohl dieses Mal erwischt hatte? Ohne wirklich wahrzunehmen, wohin ich ging, machte ich mich auf den Weg. Ich lieferte den Brief wie vereinbart beim Zollhaus ab. Dort kassierte ich gleich nochmal zwei Kupfermünzen. Heute war wirklich mein Glückstag. Ich fühlte nichts als Gleichgültigkeit. Ein Gefühl verriet mir, dass ich mein erspartes Geld lieber holen sollte, also lief ich noch schnell hinter das Zollhaus und klaubte die Dose aus der Wand. Ich hatte dort auch einmal eine Mütze versteckt, für den Winter. Sie machte das Arbeiten zu dieser Zeit eindeutig angenehmer. Ich schüttete die Münzen

in die Mütze und steckte sie in meine Hosentasche. Dann lief ich weiter Richtung Wirtshaus. “Reiß dich zusammen, Neo.”, hörte ich wieder eine Stimme. Dieses Mal war es die meines Vaters. Ich drehte mich gar nicht erst um. Er würde sowieso nicht da sein. “Mein Sohn, du bist stark. Schau nicht so traurig. Du wirst jetzt in dieses Gasthaus hineingehen und beweisen, dass du gute Manieren hast. Wenn du es gut machst, wirst du möglicherweise öfters angefordert.” “Genau, Neo.”, stimmte nun die Stimme seiner Mutter zu. Ich atmete tief durch, blinzelte ein paar Mal. Ich sah die Straße wieder klar. Es waren nicht viele Menschen unterwegs. Kein Wunder bei dieser Hitze. Die Matrosen hatten sich erzählt, dass es die schlimmste Hitzeperiode seit Langem war. Und bei Hofe galt eine 'gesunde Blässe' immer noch als vornehm. Hier und da stiefelten einige Arbeiter vorüber, ich lief weiter und immer

weiter. Der Schwan war beinahe am Ende des Hafens, mit einem schönen Ausblick auf das Meer. Bei guter Sicht sah man sogar Teile der Kompereor-Region Ich hatte es geschafft. Nun stand ich wieder vor einer verschlossenen Türe. Wieder hatte ich Angst sie zu öffnen. Wieso hatte ich eigentlich die ganze Zeit Angst? Angst haben, bedeutete das nicht irgendwie auch feige sein? Zumindest, wenn man sich von ihr aufhalten ließ. Aber das würde ich nicht zulassen. Dieses Mal nicht. Ich trat die drei Schritte über die frisch gefegte Veranda und öffnete die Tür. Dafür, dass es Nachmittag war, war hier ordentlich Betrieb. Die Blicke wanderten zur Tür, alle schauten verwirrt. Sie sahen schließlich niemadnen. Wer rechnete schon Nachmittags mit einem Kind im Wirtshaus? Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und stiefelte in den Raum hinein. V or dem Tresen blieb ich stehen. Mit ein wenig Mühe schaffte

ich es auf denb Zehenspitzen die Oberfläche zu erreichen. Dort klopfte ich dreimal auf das Holz. Ein Kopf erschien, schaute sich suchend um. “Entschuldigung.” Meine Stimme piepste wieder. Es war unerträglich. Der Kopf drehte sich nach unten und sah mir ins Gesicht. Sie hatte Augen wie meine Mutter. Das war das, was mir als erstes auffiel. Dann breitete sich ein Lächeln über ihren Lippen aus. Sie kam um den Tresen herum. “Bist du der Junge, den Kerim uns schicken wollte?” Ich nickte stumm. Sie hob mich hoch und setzte mich auf einen der Hocker, die dort standen. “In Ordnung. Also, ich bin Trudi. Ich bin hier für das Ausschenken zuständig. Deine Aufgabe ist eigentlich ganz einfach. Du wirst das Geschirr von den Tischen abholen und in die Küche bringen. Dort nimmt es dir dann eines der Küchenmädchen ab. Ab heute Abend bist du dann in der Küche. Wir organisieren dir einen Hocker und du wäschst ab. Das wäre es glaub

ich erstmal. Soweit alles verstanden? Gut. Dann kannst du anfangen.” Ich sprang leichtfüßig vom Hocker herunter, wieder machte sich mein Knöchel bemerkbar. “Ach ja. Noch etwas. Falls du etwas kaputt machst, ersetzt du den Schaden.” Ich nickte nur. Das war schließlich immer so. Bisher hatte ich noch nie etwas kaputt gemacht. Zumindest hier hatten die Götter immer ihre schützenden Hände über mich gehalten. Die Gäste sahen mich alle ein wenig kritisch an. Ich lachte innerlich sarkastisch. Natürlich wurde Kinderarbeit offiziell nie gerne gesehen, aber hinten rum gab es fast niemanden, der es nicht trotzdem akzeptierte oder sogar selbst einige Kinder anstellte. Ich arbeitete mich von hinten nach vorne durch die Tische durch. Von überall her kassierte ich immer wieder irritierte Blicke, manche Leute – gerade junge Frauen – gaben dann aber auch hier und da ein wenig Trinkgeld. Der

Nachmittag ging doch recht schnell vorüber. Wenn man arbeitete bekam man nie viel von der Zeit mit. So ging es auch mir. Ich trug die ganze Zeit Teller durch die Gegend. Das Trinkgeld, das ich bekam verstaute ich in meinen Hosentaschen, die bald kurz vor dem Überquillen waren. Mit dem Abend kamen dann die eher angeseheneren Menschen. Die Sonne hatte den Horizont noch nicht erreicht, aber die Luft kühlte spührbar ab. Trudi riss die Fenster auf, sodass frische Luft in die doch recht stickig gewordene Taverne dringen konnte. Ich räumte weiter emsig die Tische auf, stellte nun auch unaufgefordert Stühle richtig hin und brachte manchmal sogar die Tischkarten, wenn gerade keine Kellnerin in der Nähe war. Trudi griff nicht ein. Sie stand hinter dem Tresen und polierte mit einem Stück Leder die Bierkrüge. Es wurde immer später, die Menschen hier wurden immer komischer. Mir war durchaus

klar, dass das vom Bier und bei den Damen vom Wein kam, aber trotzdem wusste ich nicht, wie ich mit diesen Leuten umgehen sollte. Als ich gerade wieder einen Stapel Teller in die Küche brachte, schnitt mir Trudi schließlich den Weg ab. Sie ging in die Hocke und schaute mich lange an. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Erst schaute ich zurück, dann senkte ich den Blick irgendwann doch. Meine Backen waren gerötet. Sie legte mir sanft die Hand unter das Kinn und hob es hoch. “Du kannst für heute Schluss machen und schlafen gehen. Du hast lange genug gearbeitet. Ich brauche dich erst morgen früh wieder.” Ich nickte scheu. Ich wusste nicht, ob sie einfach nur nett sein wollte, oder was es wirklich war. Sie verunsicherte mich auf jeden Fall. Sie erhob sich wieder und ich wollte mich auf den Weg zur Tür machen. “Wo willst du denn hin?” Irritiert sah Trudi mich an. “Ihr... Ihr habt doch gesagt, dass... dass ich gehen dürfte, Herrin?”

Nun war ich auch komplett verwirrt. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte mich bereits nicht mehr unter Kontrolle, so müde war ich. “Natürlich. Aber doch nicht nach draußen.” Sie deutete auf eine Kammer hinter der Küche. “Ich hatte doch gesagt, dass du schlafen gehen sollst.” Ich war wirklich überrascht. “Ich dachte nicht....”, versuchte ich stotternd zu erklären. Ich atmete einmal tief ein. “Nur noch dieser eine Satz.”, dachte ich. “Bitte. Dann habe ich meine Ruhe.” Ich straffte die Schultern ein wenig. “Ich dachte nicht... d-dass ihr mich bei euch nächtigen lassen würdet, Herrin.” Nun sah sie mich ihrerseits schockiert an. “Wo solltest du denn sonst schlafen?” Was hatte sie erwartet? Das wir Arbeiterkinder es gewohnt waren in den Häusern unserer Herren aufgenommen zu werden. Ich atmete nochmals durch. “Normalerweise schlafe ich auf den Decks der Schiffe, die ich putze. Wenn das nicht geht,

dann am Kai oder unter einer Brücke...” Sie sah mich halb verwirrt, halb entsetzt an, ich blickte mit ernsten Augen zurück. “Also bei uns gibt es das nicht. Ich habe dir dort hinten einen Strohsack richten lassen. Ich wecke dich morgen. Dann kannst du einen Eimer Wasser haben und dann an die Arbeit gehen und helfen, den Herren und Damen das Frühstück zu richten.” Ich nickte, wieder scheu. Müde wankte ich in die Kammer hinter der Küche. Dort lag tatsächlich ein Strohsack und sogar ein dünnes Laken.Trudi kam mir hinterher. “Ich lasse die Türe ein wenig offen stehen, damit noch Licht herein kommt. Schlaf gut.” Sie wartete bis ich auf den Strohsack geklettert war, dann deckte sie mich mit dem Laken zu. Es fühlte sich beinahe so an, als hätte meine Mutter es getan. Aber nur beinahe. Trudi roch nämlich nicht nach Rosen. Der Morgen kam viel zu schnell. Zumindest hatte ich das Gefühl, als ob. Irgendjemand hatte

in meinem Traum die ganze Nacht von mir geredet Jetzt gerade hatte es wieder angefangen. “Neoras?”, rief eine mir bekannte Stimme nach mir. “Er kann dich nicht hören.”, ertönte eine männliche Stimme. “Er hat Fieberkrämpfe. Wie lange hast du gesagt, war er ohnmächtig?” “Er ist etwa eine halbe Stunde bevor wir die Stadttore erreicht hatten aus dem Sattel gekippt. Davor war er auch shcon irgendwie komisch gewesen. Hat sich nicht mehr bewegt, nichts. Er ist einfach nur regungslos dagesessen, auch als wir schon wieder weitergeritten sind.” Ich spürte wie jemand mich seitlich an den Armen packte und wehrte mich. Was wollten diese Menschen von mir. Panisch schlug ich um mich. Es brachte nichts. Man packte mich nur noch fester. Ich spürte, wie mir jemand etwas kaltes auf meine doch recht heiße Stirn legte. “Ganz ruhig, Neoras, es wird alles wieder gut.

Bleib einfach liegen und schlafe deinen Kummer aus.” Das war wieder die männliche Stimme gewesen. Ich nahm war, wie jemand einige Schritte ging. “Er ist immer noch im Fieberwahn. Wahrscheinlich kommt das vom wenigen Schlaf.” “Ich weiß nicht.” Da war wieder die weibliche Stimme, die mir so bekannt vorgekommen war. “Er hatte mir von seiner Kindheit erzählt. Vom Tod seiner Familie und dann war er mit einem Mal...” Die Stimme pausierte, als würde sie nach dem passenden Wort suchen. “Naja. Er war einfach... weg.” Ich wachte auf. Jemand berührte mich seitlich am Arm, stupste, legte es gerade zu darauf an, mich zu wecken. Mit Nebel vor den Augen schaute ich mich um. Da war eine Katze. Ich wusste nicht weshalb, aber mir war komischerweise klar, dass sie Valea hieß. Vorsichtig kraulte ich sie zwischen den Ohren,

dann spähte ich aus dem Spalt, der den Blick auf die Küche freigab, die in rote und gelbe Farben getaucht war. Die Sonne ging anscheinend gerade auf. Vorsichtig machte ich die Türe auf, ich hörte noch niemanden, sah aber einen Eimer mit Wasser, der nur einen Schritt von der Kammer entfernt stand. Das war wahrscheinlich das Waschwasser, das Trudi mir versprochen hatte. Ich trug den Eimer mit beiden Händen durch den Gastraum nach draußen, über die Veranda hin zu den Docks, bedacht darauf, nichts zu verschütten. Die Fischer kehrten gerade von See heim, der Fischmarkt war bereits am laufen. Ich tat das, was mir in diesem Moment am simpelsten erschien. Ich steckte meine Kopf einfach in den Eimer hinein, drehte ihn einige Male und wirbelte mit meinen Händen meine Haare schließlich ein wenig durcheinander, damit jeglicher Dreck und Staub aus ihnen verschwand. Als ich meine Kopf wieder hob,

sah ich dass das Wasser gar nicht so dreckig war, wie ich erwartet hatte. Ich wusch mir mit dem restlichen Wasser kurz das Gesicht und wirbelte meine Haare dann nochmals durcheinander. Dann rannte ich einige Runden am Kai entlang. Mein Vater hatte mir beigebracht, dass die Haare so schneller trockneten. Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt und leistete sein übriges. Ich kippte das dreckige Wasser ins Meer und machte mich dann wieder auf zum Gasthaus. Den Eimer stellte ich wieder in die Küche zurück, an die selbe Stelle. Dann zog ich mir mit meinen Händen einen Scheitel (ich wusste nicht ob er gerade war) und machte mich daran die Fenster zu öffnen, um den Gastraum kurz durchzulüften. “Was tust du denn schon hier?”, fragte eine leise Stimme. Erschrocken drehte ich mich um. Dort am Treppenabsatz stand Trudi, gähnend und mit einer Schürze vor dem Bauch. “Ich... Ich bin

aufgewacht und h-habe den Eimer mit W-Wasser gesehen. Und dann h-habe ich gedacht, dass ich ein wenig durchlüften könnte, um euch Arbeit abzunehmen, H-Herrin.” “Oh.”, bekam ich nur als Antwort. Sie stiefelte auf mich zu. Angst stand in meinen Kinderaugen. Ich wusste nicht was als nächstes kommen würde. Wieder etwas womit ich nicht gerechnet hätte. Sie fuhr mir kurz mit der Hand durch die Haare, dann ging sie in die Küche. “Kommst du? Ich zeige dir, wie du das Brot, den Schinke und das Obst schneiden musst.” Ich lief flink in die Küche. Mein Bein schmerzte bei weitem nicht mehr so wie gestern abend. Der Schlaf hatte Wunder bewirkt. “So.” Sie hatte mir einen Hocker geholt und hob mich nun hoch, auch wenn ich das durchaus alleine geschafft hätte.Sie nahm ein Messer in die Hand, legte es dann aber nochmal ab und schaute mich lächelnd an. “Ich hab gestern ganz vergessen, dich etwas zu fragen.”

Offen schaute ich sie an. Sie hatte mir einen Platz zum Schlafen gegeben und dafür gesorgt, dass ich Trinkgeld bekam. Sie konnte mich definitiv alles fragen. “Wie heißt du eigentlich?” Ich blinzelte mehrmals. Es hatte bisher nur Kerim wirklich interessiert, wie ich hieß. Darius hatte ihn immer nur dann gewusst, wenn ich Prügel kriegen sollte. “Neoras.”, wisperte ich leise. “Wie?” Sie näherte ihr Ohr meinem Mund ein wenig. “Neoras.” Meine Stimme war nun stabiler, sogar ein wenig lauter gewesen. “Aha. In Ordnung Neoras. Also...” Und dann erklärte sie mir die nächsten zehn Minuten, wie ich das Obst, das Fleisch und all die anderen wunderbaren Leckereien zu schneiden hatte. Ich gab mir wirklich viel Mühe. Wer so etwas tolles essen konnte, hatte auch das Recht darauf, dass es ordentlich angerichtet war. Punkt. Fasziniert schaute ich auf eine Frucht, die außen grün war, die Schale, hatte Trudi erklärt, und innen orange.

Da waren auch noch schwarze Kerne, aber die mussten rausgemacht werden,weil sie bitter schmeckten. Melone hieß diese Frucht. Ich liebte sie alleine schon wegen ihrem Äußeren und wegen ihrem Geruch. Konnte etwas so nach Sommer und gleichzeitig exotisch riechen? Es war wundervoll. Nach einer knappen Stunde war ich fertig. Zu etwa der selben Zeit, hörte ich auch die ersten Schritte auf der Treppe. Trudi hatte die ganzen Leckereien auf Holztellern und Bretter angerichtet. Sie kam auf mich zu und hob mich vom Hocker herunter. Auch das hätte ich alleine geschafft. “So. Du gehst jetzt kurz an den Brunnen hinter dem Haus und tauchst die Hände ins Wasser, damit sie sauber werden. Dann kommst du zurück und hilfst mir die Teller und Platten hinaus zu tragen, ja?” Ich nickte. “Nimm die Küchentür, die ist da hinten.” Sie deutete um die Ecke, ich folgte einfach ihrem

Finger. Als ich wieder zurück war, bekam ich direkt eine kleinere Platte mit Obst in die Hände gedrückt. “Das Brot und der Schinken sind bereits draußen, jetzt fehlen bloß noch Obst und Gemüse. Schau, dass du nichts verschüttest, die ersten Gäste sitzen schon da.” Ich nickte nur, stellte mich von selbst gerade hin und lief dann in aufrechter Haltung Trudi, die eine große Platte mit Gemüse trug, hinterher. Das junge Ehepaar, das ich gestern bereits am Hafen gesehen hatte, saß neben einem der geöffneten Fenster. Trudi lief direkt auf sie zu. “Guten Morgen. Ich hoffe, sie haben gut genächtigt. Hätten sie gerne ein bisschen Gemüse oder Obst? Wir haben frische Melonen aus Übersee.” Der Mann sah seine Frau fragend an, sie nickte, wobei sie in eine ganz andere Richtunh schaute. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mich beobachtete. Ich trat einige Schritte

vor und hob mühsam die Platte hoch. Das war eindeutig anstrengeder als sie einfach nur zu tragen. Mit einem strahlenden Lächeln spießte sie sich einge Stücke Melone auf und hob sie auf den Teller. “Danke.” Die Stimme der Frau hörte sich an, wie sie an sich aussah: Wundervoll. Sie war wie ein Engel. Strahelnd schön. Ich wusste nicht wieso, aber ich konnte ihrem Lächeln nicht widerstehen und strahlte zurück. Daraufhin zogen sich ihre Mundwinkel noch ein wenig mehr nach oben. “Wer ist dieser junge Mann?”, fragte sie und nickte in meine Richtung. Ha. Sie hatte mich junger Mann genannt. Ein wohliges Gefühl machte sich in meiner Brust breit. Ich war gerade wirklich stolz auf mich. Trudi druckste ein wenig herum. Es war nie angenehm zugeben zu müssen, dass man Kinder als Arbeiter beschäftigte. “Das ist Neoras. Er arbeitet als Aushilfe hier.”, brachte sie schließlich hervor. Die Frau überging galant,

dass Kinderarbeit eigentlich nicht gerne gesehen wurde. “Du könntest ihn auch überprüfen, Liebster.” Sie sprach zu ihrem Ehemann als würde sie ihn wirklich gern haben. Ich war überrascht, das gab es nur selten in höheren Kreisen. “Meinst du?”, er winkte mich näher zu sich. Gehorsam stellte ich mich vor ihn, die Platte immer noch in der Hand. “Du hast Recht, Liebste. Er hat tatsächlich etwas...” Er musterte mich gründlichst weiter. “Wer sind denn deine Eltern, Junge?”, fragte er beiläufig. Ich schluckte. Das war normalerweise ein Thema, das ich lieber nicht ansprach. Dieses Mal war es aber anders. Etwas in mir drängte nur so nach außen. Einige Minuten konnte ich es noch unterdrücken, der Blick, den der Mann mir zuwarf, wurde nicht weniger weich, dafür aber intensiver. In diesem Moment konnte ich es nicht mehr halten. “M-Meine Eltern sind bei der Epedemie vor einem Jahr gestorben. Genaus

wie mein k-kleiner Bruder.” So. Mehr mussten sie nicht wissen. Es reichte aber aus, um Trudi und der Frau einen mitleidigen, beinahe schon schockierten Blick ins Gesicht zu zwingen. Der Mann allerdings schaute nur absolut interessiert drein. “Du bist gut.”, sagte er plötzlich. “Du hast es von allen am Längsten ausgehalten.” Die Frau zog nun überrascht ihre Augenbrauen hoch. Ich verstand die Welt nicht mehr. Von was redete dieser Mann überhaupt? “Wissen sie zu wem der Junge gehört?”, fragte der Mann nun weiter. Trudi schüttelte den Kopf. “Nein, Herr. Er arbeitet unten am Kai unter Meister Kerim, einem der Handelsbeauftragten.” Der Mann nickte und schaute mich wieder anchdenklich an. Als Nächstes stand er auf, nahm mir die Platte mit dem Obst ab und stellte sie auf den Tisch. Ohne dieses Brett fühlte ich mich vollkommen schutzlos. Immer noch nachdenklich dreinblickend fuhr er sich durch den schwarzen

Bart. Dann ging er in die Hocke. Er war nun mit mir auf Augenhöhe und ich war damit vollkommen überfordert. Seine Augen waren eisig grau. Kein Fünkchen Wärme sah man, nur dieses unendlich grau. So wie die Eiswolken, die die Stürme im Winter manchmal mit sich brachten. “Ich würde gerne mit denjenigen sprechen, die für dich zuständig sind. Wenn du möchtest und ich die Erlaubnis dieser Menschen habe, kannst du anfangen, bei mir in die Lehre zu gehen.” Überrascht sah ich den Mann an. Hatte ich gerade richtig verstanden? Ich hatte nichts getan, war ein Straßenkind, eine Aushilfe und nun sollte ich die Möglichkeit erhalten, eine Lehre machen zu können. Ich drückte mir beide Hände auf die Ohren und rieb einmal kurz und kräftig. Irritiert sah mich der Mann an. “Entschuldigt, Herr.”, sagte ich, leiser als eigentlich beabsichtigt. “Ich war mir nicht sicher, ob ich gerade richtig gehört habe. Sie

wollen, dass ich bei ihnen in die Lehre gehe?” Nun breitete sich ein kleines Lächeln auf dem Gesicht des Mannes aus, es erreichte sogar seine Augen. “Du hast schon richtig verstanden...Neoras.” Er brauchte eine kleine Weile bis ihm mein Namen wieder eingefallen war. “Kannst du mich zu diesem Kerim bringen? Ich würde sehr gerne mit ihm reden.” Folgsam nickte ich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als stünde mir die ganze Welt offen. “Natürlich, bringe ich euch zu ihm.” Aufgeregt tippelte ich von einem Fuß auf den Anderen. “Wenn ihr wollt, kann ich das sogar sofort machen...” Da viel mir Trudi wieder ein. “Sofern meine Herrin das erlaubt.”, warf ich schnell noch ein. Der Mann stand langsam auf und sah Trudi fragend, aber auch ein wenig befehlend an. Diese brachte nur ein nervöses Lächeln zustande. “N-Natürlich, mein Herr. Nehmt ihn nur mit.”, sagte sie. Er schenkte ihr als Antwort ein strahlendes Lächeln, das seine

Augen allerdings nicht erreichte. Dann sah er seine Frau liebevoll an. “Bleib du nur hier, Liebste. Wir werden in spätestens einer knappen Stunde zurück sein.” Seine Frau lächelte ihm liebevoll zu, spießte erneut ein Stück Melone auf die Gabel und aß sie genüsslich. “Und du Junge, lass uns gehen.” Er legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich förmlich aus dem Gastraum. Draußen angekommen sah er mich fragend an. “Wo lang?”, schien sein Blick zu sagen Die nächste Stunde verbrachte ich fast wie in Trance. Ich hatte den Mann, dessen Namen ich immer noch nicht kannte zu Kerim gebracht. Erst war ich mit ihm zusammen in diesem Raum gewesen, dann hatte man mich hinaus geschickt. Kerim hatte alle Details erfahren gehabt und wollte nun noch einige andere Dinge regeln. Ich wusste, um was es ging. Ich war schließlich nicht dumm. Jetzt wurde verhandelt, wie viel ich wert war, wie viel

Kerim für mich verlangen würde. Es dauerte überrashenderweise nicht lange. Der Mann kam schon nach einigen Minuten wieder heraus. “Wir können gehen.” Er lächelte mich freundlich an. “Hast du noch etwas, was wir holen müssen?” Ich schüttelte stumm den Kopf. Dann zog der Mann etwas aus der Tasche. Es war ein Stoffbeutel, den Mann am oberen Ende verknoten konnte. Er drückte ihn mir an. “Damit du dein erspartes Geld verstauen kannst.” Er ging einfach los. Ich stattdessen schaute nur irritiert in meine Hände. Dort lag tatsächlich der Stoffbeutel. Woher hatte er...? “Kommst du?”, rief der Mann. Er drehte sich nicht um. “Wir müssen uns ein wenig beeilen. Die Kutsche wartet bereits.” Ich stopfte in Eile das Geld aus meinen Hostentaschen in den Beutel und knotete ihn zu. Meine Mütze blieb, wo sie war. Dann rannte ich auf meinen kurzen Beinen dem Mann hinterher. Während er nur einen Schritt ging,

musste ich zwei Stück rennen. Es war wirklich nicht leicht mit ihm mitzuhalten. Als wir wieder am Gasthaus ankamen, stand vor ihr bereits eine riesige braune Kutsche, nicht verziert, wie ich es schon häufiger gesehen hatte, sondern schlicht und einfach schön. Bewundernd blieb ich vor ihr stehen. Der Mann ging zu Trudi. Ich linste um die Ecke. Er drückte ihr einen kleinen Beutel in die Hand. Dann drehte er sich wortlos um und ging. Vom Kutschbock sprang ein Mann und kam zu mir, um die Kutschtür zu öffnen. Gerade rechtzeitig, der Mann war bereits zu uns getreten. “Danke, Conrad.” Er legte ihm kurz die Hand auf die Schultern. Conrad erwiderte nichts, nickte nur ruhig. “Na dann.” Der Mann lächelte mich offen an. “Bereit aufzubrechen, Neoras?” Ich nickte eifrig, nicht in der Lage etwas zu sagen. “Dann los.” Er hob mich hoch. Das Innere der Kutsche war noch

beeindruckeender als ihr Äußeres. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Da waren Bänke und auch Wände, aber nicht normal, nein sie waren mit rotem, ganz, ganz weichem Stoff verkleidet. Ehrfürchtig blieb ich in der Tür stehen und fuhr über die Wand. Der Kopf des Mannes erschien neben mir. “Du solltest noch einige Schritte tun, damit ich auch in die Kutsche hinein komme, Junge.” Er schaute ein wenig ungeduldig. Ich stolperte daraufhin schnell ein wenig vorwärts, wobei ich fast gefallen wäre, hätte die Frau mich nicht aufgefangen und auf den Platz neben sich gehoben. “Du kannst neben mir sitzen.” Sie lächelte wieder strahlend. Dann fuhr sie mir mit der Hand sanft über den Kopf und schaute mich liebevoll an. So ähnlich, wie meine Mutter mich immer angeschaut hatte. Nur das die Frau ihren Kopf schief legte und ihre Augen anders glänzten, irgendwie

unbeschwerter. “Wir werden nicht lange brauchen. Spätestens heute abend werden wir in Loteron sein.” Ich riss die Augen weit auf. Ich hatte bereits von dieser Stadt gehört. Sie lag in der Nähe des großen Waldes, in der Mitte unseres Kontinents, und war die Hauptstadt des Reiches. “Du bis wohl noch nicht so weit gekommen, was?” Sie wartete keine Antwort ab und sprach direkt weiter. “Das werden wir bald nachgeholt haben. Glaub mir, wir reisen sehr viel.” Der Mann hatte inzwischen uns gegenüber Platz genommen und strich seiner Frau kurz über das Knie. Solche Dinge hatte ich bisher nur bei meinen Eltern gesehen, wenn wir alleine daheim gewesen waren, nie in der Öffentlichkeit.Von höher gestellten Eheleuten hatte ich das nicht erwartet. Aufmerksam ließ ich den Blick vom einen zur anderen und wieder zurück gleiten. Dann

schaute ich aus dem Fenster. Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Ich war selten in meinem Leben so schnell unterwegs gewesen. Nur einmal auf einem Pferd, mit meinem Vater... “Macht es dir etwas aus, wenn ich mich zu meinem Mann setze?” Die Frau richtete diese Frage an mich und riss mich damit aus meinen Gedanken. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Seit wann interessierte es eine Dame, was ein Kind dachte? Sie wechselte den Platz. “Ich fahre nur ungern rückwärts, dabei fühle ich mich immer unwohl.”, erklärte sie mit einem kleinen, aber eleganten Schulterzucken. “Außerdem kannst du uns so besser sehen und wir können uns viel besser unterhalten.” Sie schenkte mir erneut ein strahlendes Lächeln. Ein Weile saßen wir einfach nur da. Ich beobachtete, nahm den schwarzen Mantel, die Lederstiefel und das Leinenhemd des Mannes war, genauso wie das strahlend blaue Kleid der

Frau, das auf eine sonderbare Art und Weise so gut zu ihren Augen passte. Dann viel mein Blick wieder auf ihre Gesichter. Irgendetwas an diesen beiden kam mir seh bekannt vor. Ich wusste allerdings nicht was. Ich musterte sie seit der Abfahrt eigentlich nur, zu nervös, um etwas zu sagen. “Wir haben uns dir ja noch gar nicht vorgestellt.”, sprach nun der Mann. Die Augen, die eben noch entspannt geschlossen gewesen waren, hatten sich nun geöffnet, eine Querfalte durchlief die Stirn. Seine Frau sah ihn überrascht an. “Stimmt, mein Lieber.” Dann lächelte sie mich strahlend an. Hatte es bisher irgendeinen Moment gegeben, in dem sie nicht gelächelt hatte? “Nun gut.”, brummte ihr Mann, beide sahen mich mit offenem Lächeln an. “Mein Name ist Deydros.” “Und ich bin Maria.” Mit einem Schlag wurde ich weggesogen, die Wirklichkeit kam zurück und ich saß urplötzlich

senkrecht in einem fremden Bett, in einem mir noch fremderen Raum. Im ersten Moment wusste ich nicht einmal wer ich genau war, dann viel mir alles wieder ein. Panisch tastete ich mir über das Gesicht, über Hände und Arme. Ja, das war ich. Nicht der kleine Neoras, das war tatsächlich ich.Schreib mir was!

Erwachen

“Dem Himmel sei Dank, du bist wach.” Ich hörte ein erleichtertes Lachen zu meiner Linken und drehte mich um. Dort stand Carina, komplett neu eingekleidet, in einer hochgeschlossenen leinenfarbenen Bluse und einer weiten schwarzen Hose. An den Füßen trug sie Sandalen (Und das, obwohl es doch eigentlich Winter war?!) Überrascht ließ ich meinen Blick über sie wandern. Dann sah ich sie direkt an. Wie...? Sie hatte meinem Blick wohl angesehen, dass ich restlos verwirrt war. Erleichternd lachend lief sie um das Bett herum und ließ sich schließlich zu meiner rechten auf der Kante nieder. “Als Erstes: Keine Angst, wir sind hier nicht irgendwo, wir sind bei deinen Bekannten.” Das war mir inzwischen auch aufgefallen. Ich schaute mich im Zimmer um. Es war direkt

unter dem Dach, durch die vielen Fenster hatten sie es hell gehalten. Es war der Gästeraum, indem ich schon so viele Male übernachtet hatte. “Wie lange habe ich geschlafen? Einige Stunden oder so?” Draußen stand die Sonne hoch am Himmel, es konnte also gar nicht so viel gewesen sein. “Einige Stunden?” Sie lachte laut auf. “Einige Tage trifft es wohl eher.” Ich riss entsetzt die Augen auf. Jetzt war ich ernsthaft wach. Misstrauisch beäugte ich sie. “Wie lange genau?” “Drei Tage. Zumindest fast. Zwischendurch warst du immer mal wieder wach... Hast geschrien und naja...” Sie druckste ein wenig herum. Oh, verdammt... Ich rieb mir mit den Händen über das Gesicht. “Du brauchst nichts sagen. Schon klar.” Ich hatte geweint. Verdammt. Ich war ein erwachsener Mann und hatte geweint. “Es ist nicht schlimm.”, versuchte sie mich vergebens zu beschwichtigen. Sarkastisch linste ich zwischen

meinen Fingern hervor. “Es ist nett, dass du das sagst.” Das war es wirklich. “Aber glaub mir. Es ist es.” Ich ließ mich resigniert nach hinten fallen, Carina sah mich weiterhin nur unglücklig an, sagte aber nichts mehr. Für einige Minuten vergrub ich die Hände in meinen Haaren, in Gedanken rekapitulierend, was ich die letzten Nächte so getrieben hatte – in meinen Träumen. Ich seufzte. Das war das schlimmste. Das ich tatsächlich diesen Traum gehabt hatte und er mir auch noch so verdammt real vorgekommen war. Das war das erste Mal seit meiner Ankunft in Loteron gewesen, dass es überhaupt passiert war. So. Das reichte jetzt. Es war genug. Ich kniff einen Moment meine Augen zu und beschloss, jetzt einfach zu entscheiden, dass ich aufhören würde an dieses ganze Drama zu denken. Zumindest für eine Weile. Ich atmete tief ein, nickte einmal bestätigend und öffnete meine Augen wieder. Dann schwang ich mich, von

neuer Motivation erfüllt hoch, und wollte gerade die Decke zur Seite schieben, als Carina sie seitlich packte und auf das Laken drückte. Verwirrt sah ich sie an. Sie wurde daraufhin wirklich, wirklich rot. Oh nein. Nein, nein, nein, nein, nein. Nicht das auch noch. “Bitte lass mich nicht...” Ich linste unter die Decke. Verdammt, zu früh gefreut. Entgegen meiner Hoffnungen war ich unter der Decke doch nackt. Ich seufzte auf. Das war definitiv nicht mein Tag heute. Wirklich nicht. Ich lächelte Carina strahlend und ein wenig ironsich an. “Könnte ich wohl meine Hosen haben?” “J-Ja, k-klar.” Sie brachte nicht viel mehr als ein Stottern zustande. Dann rappelte sie sich mühsam hoch, fiel dabei beinahe vom Bett und schaffte es schließlich doch zum anderen Ende des Raumes, an eines der großen Fenster zu laufen. Dort lag auf einem Holzklotz meine Hose, anscheinend frisch gewaschen, zumindest waren die ganzen Flecken

verschwunden. Erst jetzt viel mir auf, dass Carinas blonde Lockenflut zu einem Knoten hochgesteckt worden war und ihre Haare am Vorderkopf von einem anthrazitfarbenen Band zurückgehalten wurden. “Deine Haare sehen schön aus.”, sagte ich leise, bevor ich es überhaupt realisiert hatte. Sie kam zu meinem Bett zurück und sah mich überrascht an. “Danke.” Sie errötete leicht. “Toms Mutter hat mir gezeigt wie ich sie so hinkriege und hat mir auch das Band geschenkt.” Sie fuhr sich mit der Rechten über den Kopf. Meine Hose und mein Hemd hatte sie auf das Bett gelegt. “Ich warte draußen bis du fertig bist.” Sie lächelte kurz und ging diskret zur Tür, um sie dann leise hinter sich zu schließen. Ich warf die Decke zur Seite und schwang mich erleichtert aus dem Bett. Während ich mir die Kleidung überstreifte dachte ich über die derzeitige Situation nach. Carina und mein

guter Freund Tom hatten sich also schon kennen gelernt. Suchend warf ich den Blick hin und her, während ich versuchte den Knopf an meiner Hose zu schließen. Ich streifte das Hemd über. Nirgendwo waren diese verdammten Stiefel zu sehen. Ich lief ans Fenster zu dem Holzklotz, auf dem vorher auch die Hose und das Hemd gelegen hatten. Auch dort waren sie nicht. Zufällig warf ich einen Blick aus dem Fenster. Der Schnee draußen war komplett geschmolzen. Es rannten Kinder umher und auch einige Erwachsene standen da, überwiegend Kerle, die ihre Hemden bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatten. Es musste wirklich warm sein. Auch Tom stand dort unten. Ich erkannte ihn sofort. Er frotzelte mit einem Mädchen, das vermutlich dem Haushalt hier angehörte, war gerade dabei, sich einen ihrer Zöpfe um den Finger zu wickeln. Ich drehte mich schlagartig um und ging auf die Türe zu. Auf einem Tisch in deren Nähe lag

mein Mantel, neben ihm unsere Karte und das Säckchen mit Gold. Ich klaubte das Säckchen vom Tisch und zählte kurz nach. Bis auf zwei Silberstücke war alles noch da. Vermutlich waren die für Carinas Kleidung drauf gegangen. Ich schnürte es wieder zu und warf es zur Karte und zu meinem Mantel zurück. Dann ging ich zur Tür und öffnete sie. Carina stand davor und langweilte sich zusehends. “So.”, ich lächelte sie freundlich an. “Wir können.” Ich wies sie an, voraus zu gehen und lief hinter ihr die Treppe hinunter. Wenn Tom sie auch nur anrührte, würde ich ihm sämtliche Knochen brechen. Und hoffentlich waren die Götter ihm gnädig: Wenn er es bereits getan haben sollte, würde ich ihm nämlich eine sehr, sehr lange Unterredung mit ihnen verschaffen. “Neoras.” Toms Mutter, Laëta, kam mit geöffneten Armen auf mich zu. Sie war im

Grunde so, wie ich mir eine typische Mutter vom Lande vorstellte: Rundlich, mit roten Backen, überschwänglich, laut und wirklich, wirklich lieb. Kurzum – ich fand sie ziemlich perfekt. Prompt wurde ich auch schon in eine feste Umarmung gezogen, eine von der Sorte, bei der man am Schluss auch mal Quetschungen davon tragen konnte. “Laëta.” Ich lächelte und umarmte sie auch. Die paar Quetschungen würde ich schon überleben. Sie legte mir ihre Hände rechts und links ans Gesicht und schaute mich nun direkt an. Was sie sah, schien ihr nicht zu gefallen. Sie runzelte die Stirn. Ich legte den Kopf schief und lächelte nun ein wenig müder. Laëta schüttelte seufzend den Kopf. “Was machst du nur, mein Junge. Wie geht es dir?” Ich wollte gerade antworten, als ich von hinten mit einem Mal einen festen Schlag auf den Rücken bekam. “Bemuttert sie dich wieder?” Ich musste mir tatsächlich ein Grinsen

verkeifen. Hinter mir stand Tom, wie immer bester Laune. Ich drehte mich schwungvoll um und sah in sein von Sommersprossen übersähtes Gesicht. Er hatte die Haare kürzer, die vorher langen braunen Haare kräuselten sich nun in Locken an seinem Kopf. Dann viel mir auch die Narbe auf, die an seinem Ohr vorbei, hinab zum Hals führte, wahrscheinlich wieder von einer Schlägerei. Ich lächelte noch breiter. Hier hatte sich absolut nichts verändert. “Vielleicht sollte sie mal von mir ablassen und sich um dich kümmern.” Ich deutete auf seinen Hals. “Was ist das? Hast du dich wieder mit dem Müller um seine Frau geprügelt?” Zumindest hatte er das letzte Mal als ich hier gewesen war – vor knapp einem Jahr – wegen diesem einige gebrochene Rippen gehabt... Tom lachte nun laut. “Nein, dieses Mal ging es um seine Tochter.” Das verschlug sogar mir die Sprache und er fing sich von seiner Mutter eine Ohrfeige. Mit erhobenem Zeigefinger hatte sie

sich vor ihm breit gemacht. “Darüber macht man keine Witze.” Sie drehte sich schelmisch lächelnd zu mir. “Außerdem war kein Mann für das da verantwortlich, sondern Herbert.” Carina, die die ganze Zeit über neben mir gestanden hatte, blickte nun ein wenig verwirrt drein, ich kippte vor Lachen beinahe aus den Latschen – und Tom warf seiner Mutter einen wütenden Blick zu, um mir dann ein peinlich berührtes Grinsen zu schenken und sich dabei durch die Haare zu graben. Ich wischte mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln. “Entschuldige.” Ich kicherte immer noch. Dann sah ich Carina an. “Herbert ist ihr Ziegenbock.” Ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um nicht wieder anzufangen zu lachen. Es funktionierte nur halb. Carinas Mundwinkel zogen sich auch ein wenig nach oben. Dann sah sie Tom mit blitzenden Augen an. “Hast du dem auch versucht die Frau zu klauen oder was?” Ich musste wieder lachen, Ähnliches hatte ich

im selben Moment nämlich auch gedacht. Tom warf uns einen schmollenden Blick zu, seine Augen lächelten allerdings noch. Er war alles Andere als böse. Er trat einen Schritt auf mich zu und legte mir eine Hand auf den Arm. “Jetzt hast du mir aber auch etwas zu erklären: Wieso muss ich dich nachts zusammengesunken auf einem Pferd finden? Und dann noch in Begleitung einer so hünbschen jungen Frau? Was zur Hölle hast du getrieben?” Mit einem Mal war ich still. Carina errötete leicht. Ich sah sie fragend an. Hatte sie ihm schon etwas erzählt? “Ich wollte dir die Möglichkeit geben, alles zu berichten. Du weißt wahrscheinlich mehr als ich.”, erklärte sie auch sofort. “Ah.” Ich nickte nur. Wenn ich Glück hatte, würde die Kurzfassung reichen. Ich blickte zu Tom und seiner Mutter, beide sahen mich erwartungsvoll an. “Sie haben uns in Loteron das Haus in Brand gesteckt und wir werden landesweit gesucht.” Kurz und bündig -

und für entsetzte, verwirrte Blicke sorgend. “Wer hat wem das Haus angesteckt?” Toms Vater trat durch die Tür hinein, verschwitzt von der Arbeit, aber mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich erkannte seine Stimme wieder, auch ihn hatte ich in meinem Traum gehört. Er nickte mir zu. “Wie man sieht, bist du wieder auf den Beinen, Junge. Weißt du eigentlich, was für einen Schreck zu uns eingejagt hast, als Tom dich und das Mädchen zu uns gebracht hat? Du hingst gerade mal noch so im Sattel.” Ich versuchte mich an einem entschuldigenden Lächeln. “Ich versuche es das nächste Mal zu vermeiden.” Er klopfte mir kurz auf die Schultern. “Ich frage mich allerdings immer noch, wie du wieder in den Sattel gekommen bist.” Er nickte in Carina Richtung. “Laut ihr bist du kurz vor den Stadttoren vom Pferd gefallen...” Nun sah auch ich Carina interessiert an. Das hätte auch ich sehr gerne

gewusst. Sie seufzte. “Ich habe es doch schon erklärt. Seine Stute hat sich nach einer Weile auf dem Boden niedergelassen. Ich hab es dann irgendwie geschafft, ihn auf ihren Rücken zu ziehen. Dann ist sie wieder aufgestanden und wir sind langsam in die Stadt geritten. Dort hat uns dann Tom gefunden.” Ich sah ihren Augen an, dass das nur der halben Wahrheit entsprach. Möglicherweise hatte sie mich mit Magie auf Klymënæstra gelegt, weil sie es von alleine nicht geschafft hatte. Das würde zumindest das 'irgendwie' in ihrem Satz erklären. Das mit dem Hinknien konnte durchaus stimmen. Meister Deydros und ich hatten Xandrijn und Klymënæstra diesen Trick einmal beigebracht, damit wir im Notfall schnell agieren konnten. Bisher nie gebraucht, hatte es sich jetzt doch als nützlich erwiesen. Tom sah Carina ein wenig misstrauisch an. Dann schüttelte er den Kopf. “Ich weiß nicht

wieso, aber aus irgend einem Grund nehme ich dir das nicht ab.” Er ließ den Blick zu mir gleiten, dann lächelte er böse. In mir schellten sämtliche Alarmglocken. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich wusste, was nun kommen würde. Tom zeigte zwischen Carina und mir hin und her. “Was ist das eigentlich zwischen euch beide, hm?” Ich hatte Recht gehabt. Das beste würde wohl sein, verwirrt zu spielen. Vielleicht ließ er es dann gut sein. “Was meinst du?” Ich blickte ihn irritiert blinzelnd an. “Na, seit wann darf ein Mann in deinem Alter mit einem jungen Mädchen zusammen unterwegs sein – und das auch noch ohne Anstandsdame?” Carina räusperte sich ein wenig. Ich sah sie an. “Lass mich das mal erklären.” Ohje. Hoffentlich würde jetzt nichts zu banales kommen. Ich nickte ihr zu, hatte die Augenbrauen dabei ein wenig misstrauisch hochgezogen. Innerlich betete ich bereits. Es war auch bitter nötig, wie

ich direkt erfahren sollte. “Neoras und ich haben heimlich geheiratet und sind durchgebrannt. Deswegen werden wir auch verfolgt. Sie wollen uns zurückholen, um die Ehe annulieren zu lassen.” Ich sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Das konnte nicht ihr ernst sein. Tom und seine Eltern sahen nicht weniger überrascht aus. Er fing sich als erstes wieder und klatschte mir beindruckt die Hand auf die Schulter. Ich zuckte zurück. Ein Schmerz hatte sie urplötzlich durchzogen. Ich war wohl auf sie gefallen, als ich kurzfristig beschlossen hatte, den Sattel zu verlassen. “Nicht schlecht.” Er griente mich an. “Nicht schlecht...” Dann drehte er sich um und verließ das Haus ohne ein weiteres Wort an mich zu richten. “Von dem hätte ich das nicht gedacht... Echt nicht...” Sein verwirrtes Murmeln drang noch an mein Ohr, da war er bereits draußen. Sein Vater folgte ihm auf dem Fuße. Laëta kam fröhlich lächelnd auf uns zu, um uns beide zu

umarmen. “Oh ist das schön. Dann bekommt ihr natürlich sofort ein gemeinsames Zimmer. Ich kümmere mich schon darum, dass die Jungs hoppla machen und etwas herrichten, ja?” Ich nickte ein wenig perplex, Carina schien es ähnlich zu gehen. Sie hatte wohl nicht erwartet, dass diese Menschen so auf unsere 'Heirat' reagieren würden. Laëta drehte sich um, in die Hände klatschend wie ein kleines Kind, wenn es sich freute. “Ich fange direkt an.” Sie lächelte uns nochmals zu und verließ schließlich den Raum. Wütend packte ich Carina am Arm und zog sie ein wenig von den Fenstern und der jeweiligen Tür weg, das hier sollte niemand hören. “Sag mal spinnst du jetzt total?” Ich zischte vor Wut. “Was hast du dir dabei gedacht?” Sie zuckte hilflos mit den Schultern. “Ich dachte, dass sie uns so vielleicht am ehesten in Ruhe lassen würden und wir dann bald wieder weiter könnten... Ohne, dass sie Verdacht

schöpfen.” Ich atmete tief durch. Ich konnte sowieso nichts mehr machen. Die Katze war aus dem Sack und ließ sich auch nicht wieder einfangen. Konzentriert schloss ich einen Moment die Augen. Carinas Ausrede hatte im Grunde auch zwei Vorteile. Erstens würden wir so tatsächlich weniger Aufsehen erregen, wenn wir nur zu zweit unterwegs waren und zweitens konnte ich so vermeiden, dass Tom sie in irgendeiner Art und Weise belästigt. Obwohl... Plötzlich fasste ich sie an beiden Schultern. “Hat Tom dich angefasst?” Nun sah sie restlos verwirrt aus. “Natürlich.” Mir sprangen fast die Augen aus dem Kopf. Ich würde ihn in kleine Stücke zerschneiden und den Hunden zum Fraß vorwerfen oder noch besser... “Wieso sollte er das auch nicht tun?” Ich blinzelte sie einige Male verwirrt an und nahm die Hände von ihren Armen. Ich flehte innerlich, dass sie bitte nicht eine von dieser Sorte Mädchen war. Bitte,

bitte nicht. Mit einem Mal sah sie mich überrascht an. “Meinst du...?” Nun lachte sie laut. Ich verstand gar nichts mehr. “Nein.” Sie schüttelte den Kopf. “Nein, Neoras, er hat mir nichts getan...” Erleichterung durchströmte mich. Ich wollte nicht wissen, was ihre Großmutter mit mir angestellt hätte, wenn Carina... Diesen Gedanken wollte ich gar nicht erst beenden. Ich bekam einen entschuldigenden Blick zugeworfen, auch wenn sie immer noch kurz vor einem erneuten Lachkrampf stand. “Tut mir Leid.” Sie strich mir kurz über die Wange, zuckte dann aber zurück. Ich war nun noch verwirrter. Vor allen Dingen spielte mein Körper aber verrückt und das war mir wirklich unangenehm. Plötzlich war sie wieder ernst. “Tut mir Leid.” Nur ein leises Wispern erreichte mein Ohr. “Passt schon.” Ich strich ihr nun meinerseits kurz über die Schulter. Dann seufzte ich einmal

laut, auch um das komische Kribbeln aus meinem Körper zu vertreiben... Hoffentlich wurde ich nicht krank oder so. Das letzte Mal als ich mich so gefühlt hatte lag ich danach drei Wochen lang mit Grippe im Bett... “Die Idee war gar nicht so schlecht. Sie hat durchaus auch einige Vorteile. Und du hast Recht: So kommen wir wahrscheinlich am schnellsten hier weg...” Ich verzog konzentriert den Mund. Das Teilen des Zimmers sollte eigentlich kein größeres Problem werden. Ich würde Carina klarerweise das Bett überlassen und mich dann selbst auf die andere Seite des Raumes verziehen, damit der Anstand gewahrt wurde. Das einzig Nachteilige würde sein, dass wir in irgendeiner Form verlibt spielen mussten, ohne und unschicklich zu benehmen. Das letzte was ich wollte war bei dieser Aktion Carinas Ruf zu zerstören. Ob sie nun einen hatte oder nicht war egal. Ich nickte zwei, drei Mal, eher um mir

Mut zu machen, als ihr. “Wir werden in irgendeiner Form das verliebte Ehepaar miemen müssen, ohne uns... nun ja...” Mir fiel kein passenderes Wort ein. “Ohne uns unschicklich zu berühren.” Schon bei dem Wort 'unschicklich' errötete Carina. Sie hatte verstanden. “Der Rest sollte zu schaffen sein. Du bekommst das Bett und ich schlafe auf dem Boden...” Ich lächelte ihr zwanghaft zu. Die Freude auf hartem Holz zu nächtigen, war ungemein. “Es wird ja nicht für lange sein. Morgen Abend können wir eigentlich schon wieder abreisen.” Sie nickte und schaute mich nachdenklich an. “Was ist?” Eine Pause entstand. “Ich bin am überlegen, ob du schon stabil genug bist, um weiterzureiten. Nicht, dass du nochmal vom Pferd fällst.” Diese Sorge hatte ich auch, aber dafür hatten wir keine Zeit. Ich lächelte ihr ermutigend zu. “Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir Decken und Proviant arrangieren

können. Dann fällt uns das Reisen auch leichter.” Mit einem Mal fiel mir es wieder ein. Jetzt, wo wir unsere Ruhe hatten, konnte ich sie ja auch noch auf die Situation gerade eben ansprechen. “Wissen sie, dass du eine Magierin bist?” “Nein.” Die Antwort kam direkt, ohne Umwege. Sie sah mich ein wenig verzagt an, ich dagegen war erleichtert. “Gut.” Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Ich zuckte mit den Schultern. “Je weniger sie wissen, desto weniger werden sie verraten können, falls es Probleme gibt.” Ich lächelte sie an. “Wie ich sehe warst du schon auf dem Markt?” Ich wies mit der Hand auf ihre Kleidung. Sie nickte. “Ich habe mir dazu zwei Silbermünzen aus dem Beutel genommen, ich hoffe, das war in Ordnung.” “Klar.” Ich lächelte immer noch. “Dafür ist das Geld ja unter Anderem gedacht... Hat man dir eigentlich auch sonst etwas von der

Stadt gezeigt?” “Eigentlich nicht. Wir sind nur kurz zu einem Apotheker, um Medizin für dich zu holen, dabei sind wir über den Markt gelaufen un mir haben diese Kleidungsstücke so gut gefallen...” Sie strich sich vorsichtig über ihren Ärmel. “Hättest du Lust nochmal hinzugehen? Wir könnten unterwegs bei einem Sattler vorbei, einen Sattel für Klymënæstra organisieren und dann wenn du willst nochmal über den Markt.” Ich sah, dass sie versuchte ihre Euphorie zu verbergen, aber das Leuchten ihrer Augen entging nicht einmal mir. “Gerne.” Für so viel Euphorie war dies eine recht kurze Antwort, aber das war nicht so wichtig. “Gut. Wie wäre es, wenn wir dann sofort gehen? Dann haben wir noch etwas vom Tag... Obwohl...” Mein Magen knurrte laut. Carina grinste nun noch breiter als sie es sowieso schon getan hatte. “Wir können ja unterwegs bei einem Bäcker vorbei oder uns einen Apfel

von einem der vielen Bäume her Pflücken...” Ich lächelte auch. “Da wäre nur noch eine Sache...” Carina, die eben schon aus dem Raum gehen wollte, drehte sich mit fragendem Blick um. Ich hob meinen rechten Fuß und wackelte mit den Zehen. “Ich bräuchte sowohl meine Socken als auch meine Stiefel. Sonst kriegen mich hier keine zehn Pferde 'raus.” “Sie stehen bei den anderen Schuhen an der Haustür...” Carina deutete mit dem Finger in den Eingangsbereich hinaus. “Danke.” “Hast du den Geldbeutel schon oder soll ich ihn holen gehen?” “Ähm... Du kannst ihn gerne holen gehen, wenn du möchtest.” Sie lief bereits die Treppe nach oben. Ich beugte mich kurz über das Geländer. “Und könntest du vielleicht meinen Mantel mitbringen?” Seufzend rieb ich mir mit der Hand den Nacken. Irgendetwas fehlte. Ich tastete suchend weiter... Mein Lederband mit dem Anhänger war weg! Nervös griff ich mir nochmals an den

Hals. Es war nicht da... Carina kam bereits wieder die Treppe hinunter gelaufen. Meinen Mantel hielt sie in der Rechten, den Beutel mit Geld hatte sie in der anderen Hand... “Fehlt was?”, fragte sie besorgt, als sie mich sah. “Mein Anhänger... Er ist weg.” Ich hatte einen ziemlich frustrierten Unterton. Sie reagierte erst nicht, griff dann aber in eine meiner Manteltaschen und zog mein Lederband hervor. “Ist er das zufällig.” Ich nickte dankbar und griff erleichtert danach. Sie ließ das Band samt Anhänger vorsichtig zwischen meine Finger gleiten. “Wenn du dich klein machst, kann ich es dir hinten auch zubinden.” Das war nicht nötig, ich hatte mir das Band bereits um den Hals geschlungen. Dann zog ich mir flink Strümpfe und Stiefel an. “Können wir?” Ich hielt die Tür für Carina offen. Während sie lächelnd an mir vorbei ging, hängte sie den Mantel über meine Armbeuge und drückte mir den Beutel mit Geld in die Hand. Nachdem wir

beide das Haus verlassen hatten, schnallte ich mir diesen direkt am Gürtel fast und schwang mir den Mantel über die Schultern. Sie wartete. “Du willst nicht zufällig auch etwas drüber ziehen?” Sie sah mich irritiert an. “Wieso?” “Wo wir es vorher gerade von wenig Aufsehen erregen hatten: Eine Frau läuft eigentlich nicht in Hosen herum. In der Stadt schon gar nicht...” Sie schaute mit verschränkten Armen an sich herunter, ihre Augen blintzten. Jetzt war sie wohl auf Konfrontationskurs. Sie wollte gerade ansetzen, als Laëta um das Haus herumkam... “Ach, ihr wollte weg?” Sie kam uns mit geröteten Backen entgegen. “Und das, wo ich gerade mit eurem Zimmer fertig geworden bin... Aber egal. Wohin wollt ihr zwei Hübschen denn?” “In die Stadt... Allerdings ist uns gerade eingefallen, dass Carina noch einen Rock oder Ähnliches bräuchte, sonst gibt es Ärger mit den Aufsehern...” “Aufseher?” Nun sah mich Carina

ernsthaft irritiert an. “Gestern hat doch auch niemand...” “Deine Kleidung war zwar zerissen, aber trotzdem lang genug. Außerdem hattest du einen Mantel an, Schätzchen.”, unterbrach Laëta sie. Sie griff nach ihrem Arm, drehte sich allerdings zu mir. “Warte du hier. Wir sind gleich zurück.” “Du kannst etwas von Karin anziehen, Toms Schwester. Sie hat noch einige alte Kleidungsstücke hier, die von der Größe her passen müssten...” Leise redete sie auf die ein wenig perplexe Carina ein, während sie sie zum Haus zurückzog. Carina drehte sich immer wieder um und schaute mich hilflos an. Ich musste mich ernsthaft zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Entspannt ging ich die wenigen Schritte zum Haupttor, das, verbunden mit einem Zaun, den Eingang zum Grundstück bildete, und lehnte mich dagegen. Auch wenn es eigentlich nicht angebracht war, ich genoss die gesamte Situation. Zumindest seit einer knappen Stunde,

seitdem ich wach geworden war. Es war wirklich überraschend warm hier. Die Sonnenstrahlen tanzten auf meinem Gesicht und ich musste zugeben, dass ich es wirklich genoss. Auch wenn erst vor knapp fünf Tagen alles aus dem Ruder gelaufen war: Ich war durchaus wieder reif für ein wenig Alltag. Wären wir nicht so unter Zeitdruck gewesen, hätte ich vorgeschlagen noch einige Tage hierzubleiben, aber das war nunmal nicht möglich. Ich reckte mein Gesicht gen Himmel, die Augen geschlossen. Überraschenderweise war mein Kopf total leer, keine Anspannung, keine Überlegungungen, nicht einmal Ärger. Es war wirklich wundervoll. Ich nahm das Geräusch von Schuhen war und linste ein wenig. Carina und Laëta kamen gerade vom Haus zurück. Carina hatte sich komplett umziehen müssen. Sie trug nun ein langes, blaues Kleid, passend zu ihrem

Haarband. Es war keines von diesen pompösen Dingern mit Reifrock und allem Drum und Dran. Es war schlicht, lag beinahe perfekt an und sah auch ziemlich bequem aus, auch wenn Carinas Miene etwas ganz anderes sagte. Ich drückte mich vom Zaun ab und kam nochmal einige Schritte auf sie zu. “Können wir?” Ich sah sie fragend an. “Von mir aus schon. Wie du siehst.” Sie wies auf ihren Körper. “Langes Kleid, sogar farblich passend zum Haarband.” Ich lächelte breit. “Sieht toll aus.”, sagte ich dann ohne jeden Sarkasmus in der Stimme... Wir sollten schließlich ein Paar spielen, nicht wahr? Laëta schaute ein wenig irritiert zwischen uns her. “Du kannst dich schon ein bisschen mehr freuen, Neoras. Deine Frau sieht gerade wirklich hübsch aus und du kannst einige Stunden mit ihr in der Stadt verbringen. Alleine.” Ich seufzte tief. Dann überwand ich mich, ging die wenigen Schritte auf Carina zu und drückte ihr einen wirklich,

wirklich kurzen Kuss auf den Kopf. “Du siehst wirklich schön aus.”, murmelte ich dabei leise, sodass es Laëta gerade noch so zu hören bekam. Carina hatte es tatsächlich geschafft, sich nicht zu versteifen, obwohl ich spürte, dass ihr die ganze Situation nicht weniger unangenehm war als mir. Ich hielt ihr den Arm hin, sie brauchte eine Weile bis sie verstand: Sie sollte sich einhaken, damit wir los konnten. Als sie es schließlich getan hatte, wollte ich sie gerade zum Tor führen, als Laëta sich schon wieder einschaltete. “Du willst jetzt nicht ernsthaft laufen, oder?”, fragte sie entrüstet. Dann kam sie wütend auf mich zu gewackelt. “Das kann nun wirklich nicht dein Ernst sein. Nimm dein Pferd, du Trottel. Ihr könnt zusammen reiten.” So als hätten sie sich aufeinander abgestimmt, kam in diesem Moment Tom mit Xandrijn heraus, fertig gesattelt. Tom führte ihn auf direktem Wege zu uns. Er drückte mir die Zügel

in die Hand und beugte kurz an mein Ohr. “Gegen meine Mutter ist kein Kraut gewachsen. Nimm's nicht krumm.” Er klopfte mir kurz auf die Schulter. Ich nickte Carina zu, die neben uns beiden stand. “Wir haben das ja schon einmal gemacht. Dieses Mal wirst du allerdings vor mir sitzen.” “Wieso?” Mich hatte es bereits gewundert, dass sie nicht nach einem eigenen Pferd verlangt hatte, wenigstens sagte sie jetzt etwas. Ich stieg schwungvoll in den Sattel. “Im Damensitz hinter mir zu sitzen wird äußerst schwierig sein.” Ich griff kurz nach hinten, irgendwo dort müssten doch... Ah, da waren sie. Ich schloss die eben geöffnete Satteltasche wieder. In der Hand hielt ich meine braunen, halboffenen Lederhandschuhe. Schnell zog ich sie mir über. Es war eindeutig angenehmer mit ihnen zu reiten, nur vergaß ich sie leider meistens. Carina stand wartend neben Xandrijn, die Arme ein wenig missmutig verschränkt. Laëta und

Tom hielten sich ein wenig abseits auf und tuschelten aufgeregt miteinander. Einen Moment überlegte ich, schließlich schwang ich mich wieder von Xandrijns Rücken, um ihr Platz zu machen. Sie hatte es schließlich eindeutig schwerer mit dem Aufsitzen. “Du weißt, wie du dich hinsetzen musst?” “Ich krieg das schon hin.” Sie wusste es also nicht. Ich drehte mich zu Tom um. “Kannst du Xandrijn mal kurz festhalten? Dann kann ich ihr hoch helfen.” Brav, wie er war, kam Tom natürlich erst nachdem er mit seiner Mutter zu Ende geredet hatte. Ich drückte ihm Xandrijns Zügel wieder in die Hand. Carina stand eigentlich ziemlich gut, also faltete ich ohne weitere Anweisungen meine Hände, sodass sie in sie hinein stehen konnte. Ich ging noch ein wenig in die Knie, damit sie es mit dem Abstützen leichter hatte. Sie wahr schließlich nicht unbedingt die größte, zumindets körperlich gesehen. “Dann schwing

dich mal hoch. Ich stütze dich schon ab. Keine Sorge.” Ich lächelte sie freundlich an. Einen noch deutlichern Wink mit dem Zaunpfahl konnte ich ihr gar nicht geben. Sie lächelte dankbar, sie hatte also verstanden. Vorsichtig stütze sie sich mit der linken Hand auf meiner Schulter ab, die rechte legte sie auf den Sattel. Dann stieg sie mit dem linken Fuß in meine geöffneten Hände und drückte sich hoch. Bisher hatte sie alles richtig gemacht. Nun in der Höhe wirkte sie allerdings ein wenig hilflos. “Denk daran das Kleid richtig hinzuziehen, wenn du das rechte Bein über den Sattelknauf geschwungen hast.” Wieder ein freundliches Lächeln meinerseits und wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl. Auch dieses Mal verstand sie direkt. Es dauerte nur noch einen kurzen Augenblick, dann saß sie im Sattel, das Kleid lag perfekt und ich konnte hinter ihr aufsteigen. “Danke.” Ich nickte Tom kurz zu, dieser Schwang die Zügel über Xandrijns Kopf

und reichte sie Carina. “Bitteschön, die Dame.” Er verbeugte sich ein wenig spöttisch. Ich war mir nicht ganz sicher, was er wusste beziehungsweise glaubte zu wissen, aber dafür hätte ich später noch Zeit. Ich hasste es wirklich von rechts aufzusitzen, da fühlte sich dann immer alles so verknotet an, aber jetzt blieb mir gar nichts anderes übrig. Ich konnte mich sonst nirgendswo festhalten, außer an Carina selbst und dann würde sie vermutlich mit mir zusammen zu Boden gehen. Ich wechselte also die Seite, tätschelte Xandrijn beruhigend den Hals – er mochte das Aufsitzen von rechts genauso wenig wie ich -, setzte einen Fuß in den Steigbügel und zog mich hoch. Als ich saß, beugte ich mich ein wenig nach vorne. “Könntest du dein Gewicht möglciherweise ein wenig nach rechts verlagern? Sonst sehe ich nämlich nichts.” Ich lächelte sie immer noch freundlich an. So langsam krampften bei mir ernsthaft die

Mundwinkel. Sie ruckte ein wenig, hatte es aber schließlcih geschafft. “Perfekt.” Ich legte meine Arme um sie herum und nahm ihr die Zügel aus der Hand, was sie wohl ein wenig zu überraschen schien. Ich versuchte mich in ihre Position zu versetzen: Wenn bei mir plötzlich Arme von hinten käme, wäre ich vermutlich auch ein wenig irritiert. Vorsichtig lenkte ich Xandrijn aus dem Hoftor hinaus. “Bis später.” Ich konnte förmlich hören, wie Laëta strahlte. Sie war sehr zufrieden mit sich. Carin schwankte ein wenig. “Alles in Ordnung?”, fragte ich mit gerunzelter Stirn. Sie nickte konzentriert. “Ich hätte eine Frage.” Ich sah sie auffordernd an. “Hättest du einen rat, wie ich mich hinsetzen könnte, damit ich nicht das Gefühl habe, dass es mich gleich vom Pferd schmeißt?” Da musst eich selbst einen Moment überlegen. Ich war noch nie in einer solchen Position geritten, würde es auch niemals tun müssen – dankenswerterweise.

“Ähm...” Ich setzte mich noch ein wenig aufrechter hin. “Lehn dich mal mit deinem Rücken stärker an meine Brust. Vielleicht stabilisert dich das dann.” Außerdem würden wir dann noch ein wenig mehr wie ein richtiges Ehepaar aussehen. Vorsichtig lehnte sie sich nach hinten. Ich wusste nicht so recht, ob ich Xandrijn schon traben lassen sollte, also blieb ich erst einmal langsamer. So trotteten wir noch eine Weile vor uns hin. Carina, die am Anfang noch ziemlich angespannt gewesen war, wurde langsam lockerer. Sie wackelte nun auch nicht mehr und saß im Grunde genommen vollkommen ruhig da. “Willst du weiterhin so langsam bleiben oder planst du noch vor Anbruch der Dunkelheit am Marktplatz zu sein?” Sie drehte den Kopf ein wenig, sodass sie mich ansehen konnte. Er befand sich nun ein wenig unterhalb meines Kinns, in der Kuhle zwischen Hals und Schulterblatt. Das Gesicht hatte sie nach oben

gedreht. Ich drehte den Kopf ebenfalls ein wenig, sah sie direkt an. “Ich wollte nett sein und Rücksicht auf deine etwas ungewohnte Lage nehmen.” Noch während ich das sagte, drückte ich Xandrijn bereits die Fersen in die Flanken und er stürmte los. Ich hatte den Überraschungseffekt auf meiner Seite. Carina wäre beinahe heruntergefallen, hätte ich sie nicht festgehalten. “Du verfluchter...” Sie krallte ihre Finger an meine Hände, Halt hatte sie nun nicht mehr wirklich. “Lehn dich zurück. Dann wird es besser. Glaub mir.” Ich sah sie belehrend an, sorgte aber gleichzeitig dafür, das Xandrijn noch mehr Geschwindigkeit aufnahm. Sie hatte schließlich Recht gehabt. Ich wollte gerne vor Einbruch der Dunkelheit in Fardrahall sein, um genau zu sein, wollte ich da eigentlich schon wieder aus der Stadt raus, auf dem Weg zu Tom und seiner Familie

sein. Ich beachtete sie nicht weiter, spürte nur noch ihre Fingernägel, die zum Teil meine Haut aufkratzten, großteils aber Bekanntschaft mit meinen Lederhandschuhen machten. Nach einer Weile hatte Carina wohl begriffen, dass sie besseren Halt fand, wenn ihr Körper unter Spannung war, sie hüpfte nämlcih zusehends weniger auf und ab. Vorne lugten zwischen den Bäumen bereits die ersten Häuser hervor. So etwas wie eine Stadtmauer hatte Fardrahall noch nie gehabt, zumindest nicht solange ich lebte. Man sah auch nirgendwo ansatzweise Ruinen davon, also waren sie vermutlich auch nie da gewesen. Ich überlgte bereits wo ich Xandrijn hinstellen sollte. Seit ich das letzte Mal hier war, hat sich mit Sicherheit einiges verändert. Eigentlich müsste es aber in der Nähe der Kirche immer noch den Stall des alten Georgs geben... wenn er noch

lebte... Langsam drosselte ich Xandrijns Geschwindigkeit, sodass wir in einem leichten Trab die Stadt erreichten. Es war einiges los. Überall drängten sich die Menschen, Kinder rannten durch die Gegend, ein kleines Schwein zockelte in aller Ruhe vor uns über die Straße. Man sah auch hier und da bereits die ersten Bettler. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Carina den Anblick dieser armen Kreaturen ersparen sollte oder nicht. Mich selbst erinnerten sie nur an meine Vergangenheit, stellten damit keinen kompletten Kulturschock dar. “Wieso hälst du an?” Carina drehte sich im Sattel und schaute mich fragend an. “Ich war gerade am Überlegen, ob wir durch die Menge reiten sollten oder außen herum.” Ich deutete auf eine Straße links von uns, sie führte einmal im Kreis um ganz Fardrahall herum. “Wir müssen Xandrijn schließlich irgendwo unterbringen. Die letzten Male stand er immer

beim alten Georg... Wenn's den noch gibt würde ich Xandrijn gerne wieder bei ihm unterbringen.” Carina nickte kurz und rückte sich dann ein wenig zurecht. “Ich bin wirklich froh, wenn ich wieder einen eigenen Sattel haben kann. Das ist die reinste Tortur hier.” Ich lachte leise und lenkte Xandrijn durch die Menschen hindurch in die Seitenstraße hinein. “Wir sind gleich da, dann kannst du wieder laufen.” Locker trabten wir die Straße entlang, links von uns die Weiden und Felder, rechts die zum Teil großen Fachwerkhäuser, die häufig von mehreren Familien bewohnt wurden. Je weiter wir um die Stadt herumkamen, desto stärker veränderte sich auch das Bild, das wir vor uns hatten. Die etwas besseren Häuser verwandelten sich in immer kleinere Hütten und Höfe, die Menschen, die wir dort zu Gesicht bekamen, sahen dementsprechend aus. Sie hatten weniger Geld, kamen gerade so über

die Runden. Ich merkte daran, wie Carina den Kopf ruckte, dass sie das alles hier eindeutig nervös machte. “Wir sind gleich da. Da vorne ist schon der Hof.” Ich deutete voraus. Eine große Öffnung war dort zu sehen, einige Pferde standen schon da, ein gelangweilter Wachmann ebenfalls. “Guten Tag.” Der Mann schreckte hoch und sah mir ins Gesicht, dann verneigte er sich kurz. “Herr.” “Sind noch Plätze frei?” Ich deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der anderen Pferde. Der Wachmann nickte schnell. “Danke.” Ich schenkte ihm ein freundliches, aber dennoch recht kaltes Lächeln. Carina lachte leise vor sich hin. “Was ist?” “Danke.”, äffte sie mich nach und schaute mir dabei mit sehr überheblich ernster Miene in die Augen. Nun musste ich auch grinsen. “Jaja, lass gut sein.” Sie bebte vor lachen, allerdings vernahm man kein Geräusch. Sie hatte sich ziemlich gut im Griff. Bei den Boxen stand ein Stalljunge und kaute

gelangweilt an seinen Nägeln. Ich pfiff einmal scharf durch die Zähne, das hatte bei unseren Stallburschen auch immer geklappt, schlug auch hier wieder an. Sofort kam der Junge zu uns her gerannt. “Ja, Herr?” Er blickte mich aufmerksam an. “Mach uns doch bitte eine Box frei, hol davor aber noch eine Treppe für die Dame hier.” Ich verwies kurz auf Carina, wieder ließ ich den überheblichen Reicheren raushängen. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man so einfach schneller bekam, was man wollte. Der Junge nickte bereitwillig und stob davon, um kurze Zeit später mit einer kleinen Treppe wieder zu kommen. Ich reichte ihm die Zügel, damit er Xandrijn halten konnte, während Carina abstieg. “Heb das rechte Bein vom Knauf. Und rutsch einfach runter. Schau, dass dir dabei der Rock nicht hochrutscht.” Ich hatte versucht möglichst leise zu flüstern. Nahc der Miene des Jungen zu urteilen, hatte er nichts

mitbekommen. Er stand nur da und streichelte Xandrijn vorsichtig das Maul. Carina glitt möglichst würdevoll an Xandrijns Flanke hinab auf die Treppe und stieg die zwei Stufen hinunter. Ich schwang mein Bein hinüber und nahm das Treppchen ebenfalls. Unten angekommen zog ich mir erst einmal meine Handschuhe aus und steckte sie wieder in Xandrijns Satteltaschen zurück. Dann nickte ich dem Jungen freundlich zu. “Wir sind in knapp drei Stunden wieder da. Kümmere dich um alles. Und richte dem alten Georg beste Grüße von Neoras aus. Verstanden?” Der Junge nickte stumm und führte Xandrijn zu eine der weiter abgelegenen Boxen. Diese waren für die teureren Tiere reserviert, da man sie dort bessere bewachen konnte. “Gut.” Ich lächelte Carina breit an. Meinen Arm ergriff sie bereitwillig, ebenfalls breit lächelnd. Ich fuhr mir kurz mit der rechten durch die Haare, richtete sie ein wenig. Ich

wollte schließlich nicht negativ auffallen, wenn wir jetzt den Weg mitten durch die Stadt nehmen würden. “Dann komm.” Ich zog sie Richtung Hofeingang, immer darauf bedacht, mit möglichst großem Bogen um jeglichen Dreck herum zu gehen. Carina Kleid sollte die blaue Farbe behalten und nicht durch ein paar braune Spritzer im Farbspektrum erweitert werden.

Magie

Ich führte sie langsam aus dem Hof hinaus, zur Hauptstraße hin. Diese war gesäumt von Wachleuten, um Bettler und Rumtreiber fernzuhalten. Bereits hier waren einige Stände vorhanden. Frauen verkauften Blumen, dort war ein älterer Herr der Brot und Ähnliches verkaufte, einige Schritte weiter liefen Kinder mit Bauchladen umher. Sie verkauften süße Leckereien. Einige Häuser vor uns sah ich einen Stand, der exotische Früchte, aber auch lokales anbot. Es war wirklich toll. Carina war nicht weniger begeistert. Sie reckte ihren Hals, um alles zu sehen zu bekommen. Als wir

wieder an einem Blumenstand vorbei kamen, hatte ich eine Idee. Ich berührte Carina kurz am Ellbogen und löste ihre Hand von meinem Arm. “Warte kurz hier.” Sie sah mich überrascht an, tat aber wir geheißen. Schnell lief ich die wenigen Schritte zum Blumenstand hin. Ich lächelte der Verkäuferin zu. “Gegrüßt seien sie, gute Frau. Ich hätte gerne eine Rose.” Ich lächelte ihr ein wenig schelmisch zu. Sie war nicht mehr die Jüngste, errötete aber trotzdem wie ein junges Mädchen. “Was für eine darf's denn sein, werter Herr? Wir hätten Rosen, deren Zwiebeln aus der Kompereor-Region stammen, rote Sumpfrosen aus dem Condol, weiße

Lilienrosen, deren Zwiebeln vor Kurzem von Gesandten der Priesterinnen mitgebracht worden waren oder purpurrote Magierrosen aus der hiesiegen Gegend.” “Schwere Entscheidung...” Sie war tatsächlich nicht leicht... Frotzelnd sah ich die Verkäuferin an und entschied mich schließlich für die Magierrose. Ich pflückte sie mir vorsichtig aus einem Behälter mit Wasser heraus. “Weil sie fast genauso schön ist, wie die Dame, die sie anbietet.” Ich lächelte und drückte der Verkäuferin vier Kupfermünzen in die Hand. “Einen schönen Tag noch.” Sie schaute mir sprachlos hinterher, immer noch errötet.

Lächelnd lief ich auf Carina zu. “Hier.” Ich reichte ihr die Rose. “Oh, ist die schön!” Sie freute sich wie ein kleines Kind und roch vorsichtig daran. Ich legte ihre Hand wieder in meine Armbeuge und zog sie weiter, während sie immer noch fasziniert die Rose betrachtete. Schließlich schob sie sie sich vorsichtig oberhalb des rechten Ohrs in die Haare. “Danke.” Ich bekam ein warmes Lächeln geschenkt. Ich deutete nach vorne. “Wenn wir uns ein bisschen beeilen, haben wir noch genug Zeit auf dem Markt, bevor sie für heute abbauen.” Auf dem Marktplatz angekommen, musst eich mich erst einmal orientieren. Jedes Jahr wurden

aufs neue die Stände umverteilt. Es ging nicht lange, dann hatte ich das System verstanden. Dieses Jahr waren die praktisch angelegteren Verkaufsstände, mit Sätteln, Werkzeug und Anderem weiter hinten, ganz vorne waren Obst- und Gemüsestände, Backwaren und vieles mehr. In der Mitte wurde Kleidung, Schmuck und Ähnliches feil geboten. Sie hatten es wieder einmal geschickt angestellt. Auf dem Weg zu den Dingen, die Männer eigentlich besorgen wollten, kamen sie mit ihren Frauen, Schwestern und Töchtern an all den netten Ständen mit den vielen Kleinigkeiten vorbei. So verlor man innerhalb von kürzester Zeit sehr viel

Geld. Der Mittag ging ziemlich schnell vorbei. Carina bekam von mir einen Mantel und ein Paar Reithandschuhe gekauft, wir besorgten gepökeltes Fleisch, Gemüse, Obst und zwei weitere Wasserschläuche... Und schließlich noch einen Korb, da wir das alles nicht einfach so in unseren Händen transportieren konnten. Ein wenig Geld gaben wir schließlich auch noch für Leinenstoff aus. In ihn wir konnten das ganze Essen für die Reise einwickeln. Unsere letzte Station war schlussendlich der Stand eines Sattlers. Und wir der Zufall so wollte, kannte ich ihn sehr

gut. “Will.” Ich lachte breit. Ein buschiger Kopf erhob sich zwischen dem Leder. Während sich der Mann aufrichtete wurde er immer und immer größer. Man sah direkt, dass er der Bruder unseres Sattlers von daheim war. “Neoras.” Seine stimme röhrte beinahe über den gesamten Marktplatz, er ließ seine Hand auf meine Schulter krachen. Es tat nicht weniger weh als früher. Will lächelte mich breit an, dann fiel sein Blick auf Carina, die ich immer noch untergehakt hatte und sein Grinsen wurde noch breiter. Trotzdem sagte er nichts. “Ich gehe mich nochmal ein wenig umschauen, in Ordnung?”, flüsterte

Carina mir ins Ohr und löste ihre Hand von meinem Arm. “Bis später.” Ich lächelte ihr zu. “Ich finde dich dann schon.” Sie nickte, griff kurz an meinen Gürtel, um sich zwei Golfmünzen aus dem Beutel zu klauben und steckte sie gut sichtbar für mich ein. Dann lächelte sie mir nochmal zu und verschwand zwischen den Menschen. “Was kann ich für dich tun, alter Freund. Wie geht es allen in Loteron?”, fragte Will, der uns die ganze Zeit beobachtet hatte nun. Er sah mich neugierig an. “Es gab einen Brand. Die halbe Stadt ist abgefackelt.”, klärte ich ihn kurz und schmerzlos auf. Seine Augenbrauen verzogen sich missmutig.

“Es geht aber allen gut, oder?” “Ich gehe davon aus. Carina und ich sind noch in der selben Nacht abgereist. Wir haben einiges zu erledigen.” Will akzeptierte es mit einem Nicken, fragte nicht weiter nach. Das schätzte ich wirklich an diesen bodenständigen Handwerkern. Sie interessierten sich nur für das Wesentliche, waren nie neugierig, wollten nie alles wissen. “Und tun kannst du für uns definitiv etwas.” “Schieß los, Junge.” “Du erinnerst dich noch an Klymënæstra, oder?” “Die Stute deines Meisters? Na klar. Bevor ich aus Loteron fort bin, habe ich ihr noch einen Sattel angefertigt...” “Perfekt. Wir brauchen

nämlich einen neuen Sattel für sie...” Überrascht sah er mich an. “Unsere Abreise ging ein wenig überstürzt von statten.” Ich zuckte kurz mit den Schultern. “Bis wann braucht ihr ihn denn?”, fragte Will nun seinerseits. “Am besten noch heute. Wir wollen morgen noch weiter... Es muss kein optimal angepasster Sattel sein. Er sollte bloß nirgendwo drücken oder reiben.” Seinem etwas baffen Blick nach zu urteilen, hielt Will das absolut nicht für machbar. Er strich sich nachdenklich über den säuberlich getrimmten Bart. “Ich hätte noch einen Sattel... Allerdings nicht hier, sondern in meiner Werkstatt, drüben am Karrenring. Der war mal für

ein Pferd gedacht, dass 'ne ähnliche Statur wie Klymënæstra hatte. Dann ist's verreckt.” Er überlegte weiter. Mich schüttelte es innerlich. Es war doch immer wieder interessant zu sehen, wie man als Geschäftsmann den Tod so leicht wegstecken konnte. Will lief einige Minuten im Kreis. Dann richtete er sich auf. “Tommy!”, brüllte er lautstark. Es dauerte einige Augenblicke, dann kam aus der Menschenmenge heraus ein Junge geschossen. Junge war untertrieben, er musste eigentlich in Carinas Alter sein. Er war ein wenig kleiner als ich und trug den ersten Bartflaum... Was mich wieder daran erinnerte, dass ich mich

dringenst rasieren sollte. Ich fuhr mir beiläufig über das Kann. Derzeit ging es noch, aber spätestens in zwei Tagen würde ich wie eine haarige Pflanze aussehen, wenn ich nichts dagegen tat. “Du erinnerst dich an, Hannes, das Pferd vom Apotheker?” Will sah Tommy fragend an. Dieser nickte schnell. “Natürlich, Meister. Von dem haben wir noch einen Sattel in der Werkstatt. Soll ich ihn für den Herrn holen gehen?” Will nickte kurz und der Junge stob davon. Beeindruckt sah ich ihm hinterher. “Also entweder jagst du ihm tierische Angst ein oder er liebt seinen Beruf wirklich...” Ich grinste Will frech an, der nun seinerseits die Augenbrauen

in gespielter Wut hochzog. “Was glaubst du denn?” Er machte drohend einen kleinen Schritt auf mich zu, grinste aber breit dabei. Ich schaute hoch. “Hab ich eine Wahl?” Will schüttelte noch breiter grinsend den Kopf. Ich musste laut lachen. “Na dann liebt er also seinen Beruf und seinen Meister wirklich sehr.” “Braver Junge.” Will hieb mir nochmals auf die Schulter. Hinter uns ertönte ein Rattern. Wills Lehrjunge war wieder zurück, einen Karren hinter sich herziehend. Der Inhalt war von einem sauberen Leinentuch verdeckt. “Bitte, Meister.” Tommy keuchte, Schweiß hatte sich auf seiner Stirn angesamnmelt. Ich wusste, dass der Karrenring wirklich

weit entfernt war, beinahe am anderen Ende der Stadt. Er musste sich wirklich beeilt haben. “Danke, Junge.” Will karmte kurz in seiner fleckigen Schürze und zog eine Silbermünze hervor. Er schnippte sie dem Jungen zu, der sie überrascht auffing. “Mach dir einen schönen Nachmittag.” Mehr als verwirrt sah der Junge ihn an. “W-wenn ich etwas falsch gemacht habe, Meister.” “Hast du nicht.” Will wedelte abwehrend mit der Hand. “Jetzt geh schon. Komm aber heute abend nicht zu spät heim.” “Danke, Meister.” Der Junge strahlte über das ganze Gesicht, verneigte sich kurz und rannte dann davon. Ich konnte mich nicht daran erinner, dass ich in

seinem Alter so unterwürfig gegenüber Meister Deydros agiert hatte... “Im Grunde müsste er passen.” Will riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte das Leinenruch zur Seite gezogen und gab den Blick auf einen wunderschönen, hellbrauen, absolut neuen Ledersattel preis. Ich strich vorsichtig darüber. “Er ist perfekt für lange Reisen und schnelle Ritte.”, erklärte Will bereitwillig, während ich den Sattel begutachtete. “Und...” “Ich nehme ihn.”, unterbrach ich Will. Ich kniete neben der Karre und fuhr behutsam die Konturen des Sattels ab. Sie waren perfekt ausgearbeitet. Dann schaute ich Will direkt an. “Wie fiel willst du für ihn?” Will sah

mindestens genauso überrascht aus, wie sein Lehrjunge vor einigen Minuten. Er räusperte sich irritiert, hatte sich aber schnell wieder gefangen. “Vier Goldstücke?” Jetzt ging also das verhandeln los. Langsam richtete ich mich auf. “Drei.”, sagte ich und hielt ihm die Hand hin. Will lachte laut. “Dieser Sattel ist definitiv mehr Wert als drei Goldstücke. Vier ist ein guter Preis.” Unbeirrt sah ich ihn an. “Dreieinhalb Goldstücke. Und ich krieg bekomme noch ein wenig Politurfett und einen Lappen dazu...” Ruhig sah ich dem Sattlermeister in die Augen. Diese irrten einige Minuten hin und her. Meine Hand hielt ich Will immer noch ruhig

hin. Schließlich schlug er ein. “Einverstanden. Politur und Lappen hab ich hier. Du kannst alles direkt mitnehmen.” Ich nickte und zählte ihm die Goldmünzen in die Hand. Statt der halben erhielt Will allerdings fünf Silbermünzen, die den selben Wert hatten. “Ich hätte noch eine Frage: Hast du zufällig noch einen weiteren Lehrjunge, der mir den Karren samt Sattel in aller Ruhe zum Hof vom alten Georg ziehen könnte?” Will nickte grinsend. “Bist wohl heute zu fein angezogen, oder was?” Ich lächelte auch. “Ne, aber ich hab mitgekriegt, dass es sich nicht gehört neben einer Dame herzulaufen und sie dann nicht

untergehakt zu haben. Außerdem kann ich Carina ohne Karren schneller finden.” Will nickte. “Dann lauf los. Ich schick einen meiner Jungen zum Hof. Du kannst dich dort dann mit ihm treffen.” Dankbar sah ich ihn an. Dann klopfte ich ihm meinerseits nun kurz auf die Schulter. “Es war mir eine Ehre dich wiederzusehen, Will.” “Mir auch, Junge. Mir auch.” Er klopfte mir auch kurz auf die Schulter, dieses Mal vorsichtiger. Schließlich drehte ich mich um und ging suchend durch die Marktreihen. Carina war nicht sonderlich schwer zu finden. Sie stand an einem Stand, andem Schmuck und Ähnliches angeboten wurden. Allerdings keiner dieser

klassischen Stände mit einfach Silber- und Goldschmuck, sondern an einem, an dem Lederbänder mit bunten Anhänger, Federn und Ähnlichem angeboten wurden. Gerade hielt sie ein mehrfach geschwungenes Lederband in der Hand, in dessen Mitte sich eine aus Stein geschliffene Spirale befand. Sie war in einem sanften Grünton bemalt. “Das sieht bestimmt gut auf deiner Haut aus.” Ich war von hinten an sie herangetreten. Erschrocken drehte sie sich um. Ich lächelte. Wir waren gerade einmal einige Stunden weg, einfach mal entspannt, ohne ständig das Gefühl zu haben, dass jemand unser Geheimnis herausfinden könnte. Es war zwar

überraschend, aber ich musste zugeben, dass ich es gerade genoss ein Ehepaar zu spielen... “Meinst du wirklich.” Ich trat neben sie und begutachtete die restlichen Ketten in der Auslage. Dann hob ich ein etwas engeres Lederband hoch. Der Anhänger hier, war aus einem kreisförmigen, flachen, bräunlichen Stein gemacht, der in der Mitte ein Loch hatte. In diesem Loch war eine kleine, blaue Kugel befestigt worden. Vorsichtig strich ich darüber, dann hielt ich sie Carina hin. “Diese hier fände ich noch schön. Die harmoniert gut mit deinen Augen.” Der ältere Mann, der hinter dem Tisch saß, meldete sich nun zu Wort. “Ist schöne Kette. Bringt

Glück.” Er grinste ein zahnloses Grinsen. Dann wackelte er kurz mit den Fingern. “Ist magisch. Uiiiih...” Er machte eine kurze Bewegung nach oben, so als würde er Staub durch die Luft werfen. “Er hat Recht.”, murmelte Carina plötzlich. “Womit?”, sagte ich leise lachend. Der Mann sah tatsächlich ein wenig sonderbar aus. Er war definitiv nicht hier geboren, dass stand fest. Er erinnerte mich eher an ein Mitglied der Reitervölker. Sie zogen das ganze Jahr über durch die Gegend, verkauften Gegenstände auf Märkten, um Geld zu verdienen und sich damit ernähren zu können. Dann zogen sie wieder

weiter. Carina hielt mir die Kette hin. “Fühl mal. Wenn du dich nur ein wenig konzentrierst, kannst du die magische Aura von dem Gegenstand spüren.” Ich runzelte ein wenig die Stirn. Auch wenn ich der Meinung war, dass es Unsinn war, was sie sagte, nahm ich den Anhänger nochmal in die Hand. Überrascht spannte sich mein Körper an. Sie hatte recht. Wenn ich alles andere ausblendete und nur den kleinen Anhänger wahrnahm, spürte ich tatsächlich etwas. Eine leichte Vibration, verbunden mit einem leisen Ton. Ich betrachtete den Anhänger genauer, als ich ihn über meinen dunklen

Mantel bewegte sah ich auch, was ich glaubte zu spüren. Da war tatsächlich eine Aura vorhanden. Sie leuchtete bläulich und das für überraschend stark für so einen kleinen Gegenstand. Ich hob den Kopf. Carina sah mich fragend an, ich nickte ein wenig abwesend. Im Kopf wog ich bereits ab, ob es sich lohnte diesen Gegenstand zu kaufen. Dieser Blauton, woran hatte er mich nur erinnert? Einen Moment lang starrte ich ins nichts. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich sah Carina nochmal an. Dieses Mal konzentrierte ich mich auf ihre Aura. Tatsächlich. Haarscharf die selbe Farbe. Ich mussterte sie ein wenig irritiert.

“Was ist?”, flüsterte sie mir leise zu und griff ein wenig stärker nach meinem Arm. Inzwischen hatte ich mich wieder gefasst. “Wie viel willst du dafür?” Ich sah den Händler, dessen Blick die ganze Zeit über zwischen Carina und mir hin und her gewandert war, auffordend an. Dieser überlegte kurz. “Silber. Eins.” Er hielt seinen Zeigefinger in die Höhe, vermutlich um zu signalisieren, dass er wirklich ein Silberstück wollte. Ich kramte kurz in meinem Mantel. Ich holte das Silberstück heraus und legte es dem Mann hin. Ohne jegliche Verabschiedung drehte ich mich um und zog Carina mit mir. Das Schmuckstück

ließ ich in meine Manteltasache gleiten “Was war das denn?”, flüsterte sie ein wenig verwirrt. “Du hast recht.”, murmelte ich leise zurück. “Das Ding hat eine Aura. Hast du die Farbe dieser gesehen?” Sie schüttelte kurz den Kopf. Ich zog sie immer noch weiter. Wills Laufbursche würde bestimmt schon beim alten Georg warten. “Sie hat die selbe Farbe wie deine Aura.” “Bitte was?!” Carina stolperte vor Schreck beinahe über ihre Füße. “Haarscharf die selbe.”, bekräftigte ich nochmal. Wir mussten uns inzwischen gegen den Strom durch die Leute hindurch drängen. Das war mit dem vollen Korb, den Carina am Arm trug gar nicht so

leicht. Wir kamen gerade wieder an dem Blumenstand vorbei, an dem ich ihr vorhin die Blume gekauft hatte. Automatisch schaute ich auf Carinas Kopf. Die Rose steckte seitlich immer noch. Einige Schritte weiter war der Hof des alten Georgs in Sicht. Einige Schritte vor dem Hofeingang blieb ich stehen. Carina sah mich fragend an. Ich zog sie ein wenig zur Seite. Ich hatte seit der Sache am Stand irgendwie ein ungutes Gefühl, wusste aber noch nicht wieso. “Du nimmst dir jetzt dann Xandrijn und reitest zu Tom und seiner Familie zurück. Dann kommst du mit Klymënæstra zusammen wieder hierher. Wir können den Sattel nicht einfach so

transportieren.” Carina nickte stumm. “Ich bezahle in der Zwischenzeit.” “Wieso plötzlich diese Eile?”, fragte sie ein wneig verwirrt. Ich schaute nach rechts und links. “Mir kommt das alles hier ein wenig komisch vor. Seitdem wir an diesem Stand waren, habe ich irgendwie das Gefühl, als würde man uns beobachten...” Carina nickte nur. “Also gibt es eine kurzfristige Planänderung?” Sie hatte ziemlich schnell verstanden. “Mhm. Wir reiten heute Nacht noch weiter.” “Bist du sicher, dass das bei dir schon geht?” Ich lächelte sie kurz an. “Wird schon. Und jetzt los.” Wir gingen in den Hof hinein. Der Stallbursche sah uns schon von

Weitem und holte das Pferd. Vor dem Haus stand der Karren mit dem Sattel, neben ihm ein Junge. Carina lief dem Stallburschen hinterher, während ich mich um den Sattel kümmerte. “Hier.” Ich schnippte dem Jungen eine Kupfermünze hin. Er nickte dankbar und stand auf. Vorsichtig hob ich den Sattel samt Tuch aus dem Karren, den der Junge daraufhin wegzog. “Das Tuch könnt ihr behalten, Herr. Mit herzlichen Grüßen von meinem Vater.” Er lächelte kurz und war dann schon auf und davon. “Werte Dame, seit ihr sicher...” “Ich schaffe das schon.” Man hörte Carina mit dem Stallburschen diskutieren, dann sah ich sie bereits auf den Hof reiten, im

perfekten Damensitz. Sie hatte den neuen Mantel und die Hanschuhe angezogen. “Hat die Treppe geholfen?” Ich grinste sie ein wenig nervös an. “Natürlich.” Sie lächelte nicht weniger nervös zurück. Die Tatsache das uns etwas im Nacken sitzen könnte hatte emotional gesehen Einfluss auf und beide. “Ich bin so schnell zurück wie es geht. Das Essen habe ich bereits in die Satteltaschen gepackt. Ich nehme es mit zum Hof.” Ich nickte nur. Xandrijn tänzelte unruhig hin und her. Ich tätschelte ihm kurz den Hals. “Mach keine Faxen, verstanden?” Ich war mir ziemlich sicher, dass er es nicht verstand, aber Hoffnung war ja nie fehl

am Platz. Ich trat einen Schritt zurück, Carina presste ihm die eine Ferse in die Flanke und weg waren sie. Leise musste ich lachen. Schon als sie aus dem Tor hinaus waren, wechselte Carina die Position, schwang das linke Bein über Xandrijns Rücken. Dadurch nahmen die beiden noch um einiges mehr an Geschwindigkeit auf. Ich erledigte die ganzen finanziellen Dingen, gab dem Stallburschen ein gutes Trinkgeld, sodass er mich schlussendlich dann auch in Ruhe ließ. Wie sich herausgestellt hatte, lebte der alte Georg zwar noch, allerdings leitete

sein Sohn jetzt alles. Bei ihm hatte ich auch bezahlt. Kurzes oberflächliches Gerede, dann war ich wieder draußen gewesen. Es dauerte wirklich nicht lange, da war Carina auch schon wieder da. Sie selbst auf Xandrijn, Klymënæstra an einem Halfter mitführend... Erst jetzt fiel es mir ein. Verdammt. Ich hatte vergessen ein Zaumzeug zu besorgen... Carina hatte das Kleid wieder gegen Hose und Bluse eingetauscht, die Haare waren allerdings zusammengesteckt geblieben. Den Mantel und die Handschuhe hatte sie ebenfalls anbehalten. Schwungvoll sprang sie von Xandrijns Rücken herunter. “Tom hat mir das Halfter

mitgegeben. Er hat gemeint, dass er ein passendes Zaumzeug gefunden hat, bis wir wieder da sind.” “Er weiß also alles?” Sie schüttelte atemlos den Kopf. Sie hatte sich wohl wirklich beeilt. “Nicht wirklich. Ich hab ihm nur erzählt, dass wir weiter müssen, weil etwas vorgefallen ist. Er wollte daraufhin gar nicht mehr wissen, hat mir Klymënæstra klar gemacht und dann bin ich auch schon wieder los.” Ich nickte. Das war Tom. Immer an alles denken und keine unangenehmen Fragen stellen. Während ich den Sattel holen ging, befestigte Carina Xandrijns Zügel an einem Ring, dann ging sie zu Klymënæstra, um sie am Halfter

festzuhalten. Ich legte ihr den Sattel auf und schnallte alles fest. Innerhalb von wenigen Augenblicken waren wir fertig. Carina drückte mir das Halfter in die Hand und lief nun ihrerseits zu Xandrijn hin. Als ich mich in den Sattel schwang, kam sie bereits zu mir geritten. Das Halfter ließ ich lose hängen. Ich würde Klymënæstra wieder rein über Gewichtsverlagerungen lenken. Das war besser als mit einem Halfter. “Fertig?” Ich drehte mich nochmal im Sattel um. Wir hatten nichts liegen lassen. Die Geldbörse hing sicher an meinem Gürtel, die Kette war in der Manteltasche verstaut. Wir hatten alles. Statt zu antworten drückte ich

Klymënæstra vorsichtig die Fersen in die Flanken und wir galoppierten aus dem Hof hinaus, Carina auf Xandrijn direkt hinter uns. Während wir nun zwischen den Feldern und Wiesen hindurch galoppierten, hatte ich Zeit zum Himmel zu schauen. Die Sonne stand noch relativ hoch. Innerlich musste ich lächeln, als ich an Carinas Scherz von vor ein paar Stunden dachte. Wir waren aber tatsächlich wieder vor Sonnenuntergang aus der Stadt hinausgekommen, auch wenn ein wenig unfreiwilliger als geplant. Wir waren eindeutig schneller als auf dem Hinweg. Dieses Mal war es für alle Beteiligten auch leichter. Niemand

musste zwei Personen tragen, im Damensitz reiten oder jemanden, der vor einem im Damensitz saß abstützen. Wir erreichten gefühlt in der Hälfte der Zeit den Hof von Tom und seiner Familie. Dort wurden wir bereits erwartet. Alles standen nämlich vor dem Stall und diskutierten wild. “Wie, sie müssen schon wieder weg?” Wir hatten gerade das Hoftor erreicht, da hörten wir auch schon Laëtas Stimme über den Hof hallen. Sie war definitiv in Rage. Tom war allerdings nicht weniger laut. “Mutter. Nochmal. Ich mische mich nicht in Neoras Angelegenheiten ein. Das Mädchen war vor einer knappen Stunde hier und hat gesagt, dass sie

dringend weiterreiten müssten, weil etwas vorgefallen ist. Neoras ist seit Jahren einer meiner besten Freunde, glaubst du wirklich, dass ich ihm so wenig vertrauen kann, dass ich über alles Bescheid wissen muss, was er tut oder nicht tut?” “Ja!”, brüllte seine Mutter über den Hof. “Nein... Nein, entschuldige. Du kannst schließlich nichts dafür. Ich werde ihn schon noch zur Einsicht bringen, dass es Schwachsinn ist, was er vor hat. Egal obe er Ärger hat oder nicht.” “Wir haben keinen Ärger.”, meldete ich mich hinter ihr zu Wort. Carina und ich waren inzwischen abgestiegen und führten die beiden Pferde näher. “Aber wir könnten

welchen kriegen.” “Wieso?”, Laëta sah mit einer Mischung aus Verwirrung und Traurigkeit zwischen uns hin und her. Ich seufzte laut. Ein wenig von der Wahrheit konnte nicht schaden. Hoffte ich zumindest. Ich deutete zu Carina. “Sie steht auf König Marlons schwarzer Liste.” Tom riss überrascht die Augen auf. “Vor knapp einer Woche kam sie mit ihrer Großmutter zu meinem Meister und mir und seitdem haben sich die Dinge überschlagen.” “Haben sie euch deswegen die Bude abgebrannt?”, fragte Tom. Durch den plötzlichen Themenwechsel ein wenig irritiert, brauchte ich kurz, um die Frage dann mit

einem Nicken zu quittieren. “Ah.” Tom nickte verstehend. “Das wundert mich gar nicht.” Er drehte sich um und ging Richtung Stall. “Ich gehe das Zaumzeug mal holen. Damit ihr bald weiter könnt.” Er warf seiner Mutter einen giftigen Blick zu. Sie stand nebendran und schaute aus, als könnte sie es immer noch nicht glauben. Ich trat einige Schritte auf sie zu. Carina blieb bei den Pferden und schaute sie mitleidig an. Man konnte den Selbsthass, der sie in diesem Moment durchfloss auf ihrem Gesicht ablesen. “Laëta...” Die Angesprochene hob abwehrend die Hände. Sie seufzte traurig. “Ich will es gar nicht wissen. Ich

hab bloß noch eine Frage: Die Sache mit der Heirat ist auch gelogen gewesen oder?” Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. Ich hatte das Gefühl, dass ichdas in letzter Zeit wirklich oft tat, was nicht wirklich für meinen Charakter sprach. Wer sich ständig entschuldigen musste, hatte schließlich auch ständig etwas ausgefressen. “Schade.” Sie lächelte platt. Bevor sie sich umdrehte und zur Küche zurück ging, legte sie mir kurz die Hand auf die Schultern. “Ich hätte mich für dich gefreut... Aber gut. Ich schau mal, ob ich noch ein wenig Brot und Käse für euch auftreiben kann.” Ohne einen weiteren Kommentar verschwand sie. Ich

atmete tief durch. Genau aus diesem Grund wollte ich ihnen eigentlich nichts erzählen. Ich drehte mich zu Carina um, die niedergeschlagen bei unseren Pferden stand. Xandrijn stupste ihr aufmunternd gegen die Schultern, sie schien es nicht einmal zu bemerken. “Mach dir nichts draus.”, murmelte ich und legte ihr kurz den Arm um die Schultern. “Mach ich mir aber.”, murmelte sie leise. “Ist dir mal aufgefallen, dass du durch mich bisher nur Probleme bekommen hast. Jetzt ist sogar die Mutter deines besten Freundes sauer auf dich. Und das obwohl sie dich normalerweise genauso liebt wie eines

ihrer eigenen Kinder. Doch. Ich habs mal wieder versaut.” Ich löste meinen Arm von ihrer Schulter und stellte mich vor sie. “Sie wird mir, wird uns, verzeihen. Vielleicht nicht sofort, aber früher oder später wird es so sein.” Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich sollte oder nicht. Dann tat ich es schließlich doch. Sie hatte vorher schließlich auch kein Wort darüber verloren. Ich beugte mich vor und drückte ihren einen kleinen Kuss auf die Haare, ein wenig oberhalb der Stelle, an der die Rose immer noch steckte. “Ich geh mal nach Tom sehen.”, murmelte ich. Dann ging ich zum Stall hin und ließ sie einfach

stehen. Tom stand in der Sattelkammer und fluchte. “Alles in Ordnung?” Ich steckte meinen Kopf in den Raum hinein. Dort stand er, über vier verschiedene Zaumzeuge gebeugt. “Welches willst du haben?” Er richtete sich gar nicht erst auf. “Größentechnisch gehen sie alle. Keines drückt oder ist zu lose. Du musst jetzt wissen, mit was du lieber reiten willst.” Ich stellte mich neben ihn und begutachtete die Auswahl. Sie sahen alle wirklich gut aus, schlussendlich entschied ich mich dann aber für das einfachste. “Das ist gut.” Ich hob es auf. Dann lächelte ich Tom aufbauend zu. Er stand mit gerunzelter Stirn und wütender

Miene da. Ich wusste, wie sehr er es hasste mit seiner Mutter über seine Prioritäten zu diskutieren. Dass dort 'Vertrauen' weit über 'Sicherheit' stand, verstand sie meistens nicht. Allerdings hatte sie sich um eine ganez Familie zu kümmern. Tom tat das zwar auch, aber auf seine eigene Weise. Er hatte mit wneiger Verantwortung zu kämpfen. Ich klopfte ihm auf den Rücken, wandte mich dann wieder zur Tür. “Kommst du noch mit? Ich bin mir sicher, Carina würde sich noch gerne von dir verabschieden. Und ich persönlich hätte da auch nichts dagegen.” Ich hängte mir das Zaumzeug locker über den Arm und ging wieder nach draußen. Carina stand

mit Laëta bei den Pferden und verstaute etwas in den Satteltaschen. Ich lächelte. Es war klar gewesen, dass sie uns nicht ignorieren würde, nicht direkt vor der Abreise. Ich lief zu ihr und Carina hin. “Alles fertig?”, fragte ich, schaute dabei aber bewusst Laëta an, nicht Carina. Die Angesprochene nickte grimmig, gab aber auf, als ich den Kopf schieflegte und sie bittend ansah. “Oh du...” Sie fuhr mir durch die Haare und umarmte mich dann herzlich. “Du solltest dich mal wieder rasieren.”, murmelte sie, als ihre Wange an meiner vorbeistrich. Wieder fiel mir ein, dass ich das eigentlich noch machen

wollte... “Weißt du was. Ich überlasse euch das richten jetzt schnell und erledige das noch kurz. In Ordnung?” Sie gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. “Geh schon.” Sie nickte zum Haus hinüber. “Ich bin gleich wieder da. Versprochen.”, sagte ich nun zu Carina. Sie lächelte verstehend und verräumte dann weiter alles in den Satteltaschen. Ich rannte ins Haus hinein, suchte dort nach Milchquark und rannte auf der anderen Seite der Küche wieder hinaus in den Gemüsegarten. Dort stand ein großer Trog mit Wasser, nebendran ein Eimer. Diesen befüllte ich nun, zog dann mein Klappmesser aus meinem Mantel,

warf diesen zur Seite und machte mich an die Rasur. Es ging überraschend schnell. Daheim hatten wir ja diese tollen Becken und Spiegel, da konnte man aufrecht stehen, und auch ein spezielles Messer war immer vorhanden, aber ich hatte die altmodische Methode trotzdem noch drauf. Ich machte alles wieder sauber und schwang mir den Mantel wieder über, dann rannte ich durch das Haus, zurück zu unseren Pferden. Carina kam mir entgegen. “Sie hat mir das blaue Kleid geschenkt. Ich muss es noch schnell holen.”, entgegnete sie auf meinen fragenden Blick und lief ins obere Stockwerk. Ich ging zur Haustür

hinaus. Dort standen bereits alle und warteten. Ich machtete einen Rundumschwenk und verabschiedete mich. Jeder bekam eine Umarmung oder – wie im Fall von Toms Vater – zumindest einen starken Händedruck. Nachdem das erledigt war, ging ich zu unseren Pferden. Der Wind wehte angenehm warm. Man konnte gerade zu spüren, wie der Frühling diesen Teil des Landes bereits erreicht hatte. Er war jedes Mal ausgesprochen sonnig, sodass die kühle Winterperiode schnell vergessen wurde. Die Sonne stand bereits über dem Horizont, in knapp zwei Stunden würde

auch sie verschwunden sein. Entspannt tätschelte ich Klymënæstras Flanke, schließlich saß ich auf. Der neue Sattel war wirklich bequem; auch wenn er nicht extra angefertigt worden war. Carina verabschiedete sich im Hintergrund noch ausgiebig von Laëta und ihrer Familie, dann kam auch sie. Nachdenklich schaute ich zum rötlich verfärbten Himmel hinauf, die ersten Sterne waren bereits zu sehen. Auch wenn wir nicht wussten aus welchem Grund gerade wir dieses ganze Chaos durchleben mussten, wir würden es irgendwie schon schaffen. Und wir würden Antworten kriegen, sobald wir in Jochmàr waren, da war ich mir sicher.

Ein nachdenkliches Lächeln huschte für einen Moment über mein Gesicht. “Alles bereit?” Ich sah Carina mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie saß inzwischen im Sattel und kam zu mir geritten. “Sag du es mir.” Sie lachte und gab Xandrijn die Sporen. Wir preschten durch das geöffnete Tor hinaus, weiter Richtung Osten. Ant-al-Wal war noch ungefähr acht Tagesritte entfernt, wenn es wirklich gut lief sechs. Ich wollte nicht unbedingt darauf wetten, dass uns absolut nichts mehr in die Quere kommen würde bis dahin.

Carina II

Knapp eineinhalb Wochen waren seit unserer Abreise aus Fardrahall vergangen. Wir hatten ziemlich genau sieben Tage benötigt bis wir in Ant-al-Wal gewesen waren. Dort saßen wir allerdings seitdem fest und Neoras wurde zusehends nervös. Wir hatten den Aufenthaltsort von meiner Großmutter und seinem Meister immer noch nicht herausfinden können. Überraschenderweise beunruhigte mich diese Tatsache überhaupt nicht. Was mich dagegen beunruhigte war, dass er sich, seitdem wir in Fardrahall für einige Stunden das Paar gemimt hatten, irgendwie anders benahm. Er war nett, wirklich nett. Und fürchterlich fürsorglich. Auf dem Weg hierher, hatten wir vergleichsweise viel miteinander geredet, alle paar Stunden hatte ein Wortwechsel statt gefunden. Ich war immer wieder versucht

gewesen, ihn auf die Sache mit der Halskette anszusprechen, hatte es dann aber schließlich doch gelassen. Wahrscheinlich vermied er das Thema bewusst. Jetzt gerade war er unten am Hafen, unterhielt sich mit einem Fischer. Wir hatten uns ein Zimmer genommen, direkt am Meer. Es war ewig her, seit ich das Meer das letzte Mal gesehen hatte. Das ständige Rauschen der Wellen machte mich auf der einen Seite nervös, auf der anderen genoss ich es aber auch. Man hatte dadurch nie wirklich das Gefühl alleine zu sein. Nachdenklich schaute ich in den Regen hinaus. Ich hatte es mir am Fenster bequem gemacht, wartete auf Neoras, der wahrscheinlich wieder mit einer Absage kommen würde. Seit wir hier waren regnete es ununterbrochen. Es war zwar besser als der Schnee in Loteron, die Fähre fuhr allerdings trotzdem nicht. “Zu gefährlich”, hieß es jeden Tag. Die Wellen auf dem offenen Meer würden uns einfach

wegschwemmen. Seit unserem Aufbruch aus Loteron hatte ich eigentlich nur noch einmal eine dieser traumartigen Visionen gehabt, es war in der Nacht geschehen, als wir in Fardrahall angekommen waren und Neoras im Fieberwahn gewesen war. Ich hatte mich geweigert ihn alleine zu lassen, also hatte man mir eine Decke und ein Schafsfell zum Draufsetzen gebracht. Im Nachhinein betrachtet, war das eine ziemlich gute Idee gewesen, mein Hinter hatte nämlich um einiges bequemer gesessen als er es auf blankem Holz getan hätte. Ich erinnerte mich noch daran, wie Neoras sich die ganze Zeit hin und her geschmissen hatte. Ich hatte es nicht wirklich geschafft ihn ruhig zu stellen. Er hatte ständig um sich geschlagen... Bis es angefangen hatte zu regnen. Als die ersten Tropfen fielen, hatte er plötzlich mit allem Anderen, einschließlich dem leisen Murmeln aufgehört und war ruhig dagelegen.

Der Regen hatte leise auf dem Dack getrommelt, immer schön gleichmäßig, sodass irgendwann dann auch ich in einen ruhigen Schlaf geglitten war. Irgendwann hatte ich dann wieder Besuch bekommen, wenn auch nur kurz. Fiona und Samira wollten wissen, wie es stand und wo ich genau war. Also hatte ich ihnen die ganze Geschichte erzählt. Dann wollten sie noch unbedingt alles über Neoras wissen, einschließlich Aussehen, Fähigkeiten und sogar seines Akzents – letzteres hatte ich nicht wirklich gut immitieren können. Beide waren aber absolut angetan von ihm gewesen. Auf meine Feststellung, dass er sich auch wie ein totaler Idiot benehmen konnte, erwiderten sie nur, dass “Jungs eben manchmal so sind.” Der Arschloch-Charakter war also verbreitet und dazu auch noch normal. Sollte ich deswegen beruhigt sein? Genauso schnell wie sie gekommen waren, waren sie schließlich auch

wieder verschwunden. Natürlich nicht ohne mir vorher klar zu machen, wie “exorbitant wichtig” es sei, dass ich schnell nach Jochmàr kam. Zumindest ging ich davon aus, dass es sich um diesen Ort handelte. Sie hatten nur davon geredet, dass ich sie dringenst finden müsse. Und da Großmutters Freund uns dort hingeschickt hatte, sollte das doch eigentlich passen. Als ich am Tag darauf erwacht war, hatte es zu regnen aufgehört, Neoras hatte ruhig da gelegen und ich hatte aus diesem Grund beschlossen, ein wenig die Umgebung zu erkunden und zu schauen, wie diese Freunde von Neoras eigentlich waren. Nach einer knappen halben Stunde hatte ich es gewusst: laut, herzlich und jederzeit zu einer Umarmung bereit. Allein von Laëta, der Mutter von Neoras Freund, Tom, war ich gefühlte fünftausend Mal an diesem Tag geknuddelt worden. Und das immer so stark, dass ich das Gefühl gehabt

hatte, diverse Quetschungen davon tragen zu müssen. Etwas wichtiges war mir allerdings aufgefallen, als ich in der Küche gesessen hatte, um dort eine Kleinigkeit zu essen - Laëta war der Meinung gewesen, dass ich “viel zu mager” sei -: Der Regen hatte den komplettem Schnee weggespült. Auch wenn am Abend zuvor schon nicht viel vorhanden gewesen war, es war alles restlos weg. Die Sonne, die dort eindeutig öfters durch die Wolken blickte, hatte ihr Übriges getan. Die nächste Nacht war absolut reibungslos verlaufen, am nächsten Morgen war Neoras aufgewacht und ich musste gestehen, ich war wirklich erleichtert gewesen. Ich seufzte laut. Jap. Und dann war mir diese fantastische Idee mit den durchgebrannten Verliebten eingefallen. Ich wusste immer noch nicht, welche hirnverbrannte Liebesschnulze mir diese Idee gebracht hatte. Auf jeden Fall hatte meine romantische Ader

durchgeschlagen... und uns direkt ins Schlamassel geritten. Statt uns nämlich in Ruhe zu lassen, hatten sie gemeint noch mehr glucken zu müssen und Neoras hatte das definitiv alles andere als lustig gefunden. Auch wenn er seinen Part wirklich überzeugend gespielt hatte. Manchmal war sogar ich kurz davor gewesen ihm zu glauben, wie zum Beispiel, als er mir diesen Kuss auf den Kopf gedrückt hatte und mir gesagt hatte, dass ich schön aussähe. Oder als wir auf dem Markt gewesen waren und er mir die Rose gekauft hatte. “Eine purpurrote Magierrose.” Ich ließ mir das Wort wieder und wieder auf der Zunge zergehen. Das war schon wirklich sehr nett gewesen. Genauso wie die Sache mit dem erneuten Kuss. Es war niemand mehr auf dem Hof gestanden, nur ich, er und Laëtas Wut, weil sie in dem Moment herausgefunden hatte, dass wir sie die ganze Zeit belogen hatten. Auch da hatte er mir einen Kuss auf den Kopf

gedrückt, zwar nur ganz kurz, aber ich hatte ihn trotzdem am ganzen Körper gespürt. Gerade dieser Kuss hatte mich am meisten verwirrt. Er hatte es nicht tun müssen, hatte es aber trotzdem getan. Was hieß das nun? Ich stiefelte vom Fenster weg, zum Kamin hin. Es war doch ein wenig kühl geworden und das Feuer wärmte so schön. Außerdem hing ein Kessel dort. In ihm hatte ich einige Kräuter erhitzt, die ich vom Markt in Fardrahall mitgenommen hatte. Ich hatte die Wirtin hier um zwei Becher und zwei Schalen gebeten. So konnten wir Geld sparen, indem wir uns oft von Suppe ernährten und Tee tranken. Bei diesem ekligen Wetter fiel das auch wirklich nicht schwer. Ich klaubte meinen Becher von unserem kleinen Tisch und füllte ihn mit einer Kelle bis kurz unter den Rand. Dann setzte ich mich auf den Boden. Hier lagen überall Felle und zwei von Neoras Decken. Er hatte mir das Bett

überlassen, auch wenn ich mehrmals gesagt hatte, dass er das nicht zu tun bräuchte und ich problemlos auch auf dem Boden schlafen konnte, zumindest jede zweite Nacht. Er war nur wütend geworden und hat mich gefragt, ob ich ihn für so einen Schnösel halte, dass er nicht einmal einige Nächte auf dem Boden verbringen konnte. Danach war er hinausgerannt und hatte die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen lassen. Er war erst am Abend wieder zurück gekehrt. Mit ihm die Neuigkeit, dass bei starkem regen, wie diesem, nicht zur “Insel”, wie sie Yéremija hier nur nannten, gefahren wurde. Seitdem saßen wir also hier fest. Es war frustrierend, so kurz vor dem Ziel zu sein und nichts tun zu können, einfach warten zu müssen. Seufzend sah ich mich im Raum um. Seit wir hier waren, hatte ich ihn im Grunde nur drei Mal verlassen, drei Mal, um auf den Markt zu gehen und Nahrungsmittel zu kaufen.

Neoras dagegen verbrachte fast die ganze Zeit über draußen. Ich hatte schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, einfach unerlaubt für einige Stunden zu verschwinden. Jedes Mal, wenn ich mein schlechtes Gewissen gerade verdrängt hatte, war er “kurz vorbeigekommen”. Ich hatte es auch mit Bitten und Betteln nicht geschafft, ihn davon zu überzeugen, mich mitzunehmen. Trostlos pustete ich in meinen Tee. Dann fiel mir etwas ein. Wenn ich schon die ganze Zeit hier drinnen festsaß, konnte ich doch auch etwas sonnvolles tun, oder? Ich stellte die Tasse zur Seite, rappelte mich auf und lief zu meinem Bett. Neoras hatte hier in der ersten Nacht etwas versteckt, als er geglaubt hatte, ich schliefe, was nicht der Fall gewesen war. Ich ließ mich auf die Knie hinunter und tastete sorgsam den Boden ab. Irgendwo hier musste doch. Tatsächlich. Zwei Fußlängen und drei Fußbreit von meinem Bett

entfernt, fand ich, was ich suchte: Ein loses Brett. Vorsichtig schob ich meine Fingernägel seitlich hinein. Ich würde ganz bestimmt keine Magie verwenden, um ein läppisches, kleines Holzbrettchen aus dem Boden zu heben. Es dauerte nicht einmal wirklich lange, da hatte ich es hochgehoben. Auch wenn durch die Regenwolken nur wneig Licht in das Zimmer drang, sah ich trotzdem, was ich suchte. Dort lagen der Geldbeutel, zwei Messer, meine Wurfsterne (Er hatte mich sogar gefragt, ob er sie verstecken durfte...) und siehe da, auch die Kette. Ich ertappte mich selbst dabei, wie vorsichtig ich sie herauszog. Es war doch im Grunde nur eine Kette... Und doch irgendwie auch wieder nicht... Welche Kette besaß schon eine eigene Aura? Samt Kette setzte ich mich wieder vor den Kamin. Erst betrachtete ich sie einige Zeit in meiner Hand, schließlich legte ich sie auf den

Boden. Es dauerte nicht lange, dann war ich so fixiert auf den Anhänger, dass ich die Aura problemlos erkannte. Neoras hatte Recht gehabt. Sie war wirklich extrem stark. Wie sollte ich es also am ehesten anstellen? Nachdenklich saß ich vor der Kette und überlegte in alle möglichen Richtungen... Möglicherweise war ein Magier damit gebannt worden oder ein magisches Wesen – Aber wieso sollten die die selbe Aura besitzen wie ich? Jede Aura wies in ihrer Farbnuance Unterschiede zur nächsten auf. Deswegen bezeichnete man sie häufig auch als die 'magische Spur'. Man konnte beinahe jeden Magier, der nicht vorsichtig genug war, damit finden. Viel stand allerdings sonst nicht mehr zur Auswahl. Möglicherweise war die Kette auch nur als Energiespeciher verwendet worden – Hier stellte sich aber wieder die Frage: Wieso ausgerechnet mit meiner Aura versehen? Ich hatte diese Kette schließlich noch nie in

meinem ganzen Leben gesehen... zumindest seit ich denken konnte. Wie konnte das also sein? Was reizte mich an dieser Kette so? Ich spürte eine sonderbare Anziehung, wollte sie mir unbedingt um den Hals legen. Andererseits traute ich mich gerade aus diesem Grund nicht, es zu tun. Ich nahm das Lederband erneut in die Hand und beobachtete den Anhänger, der sich vor meinen Augen langsam um die eigene Achse drehte. Die Aura, die sich um die blaue Kugel herum befand, leuchtete immer stärker. Mit dieser Zunahme schwanden meine Zweifel langsam aber sicher. Ich packte das Band fester, dann erhob ich mich. Ich würde mir diese Kette jetzt anziehen. Ich wusste zwar nicht wieso, aber ich würde sie jetzt definitiv anziehen. Ich lief zu unserem einziigen Schrank hin. Dort war bei unserer Ankunft ein kleiner, runder Spiegel gewesen, im obersten Fach irgendwo. Ich war leider ein wenig zu klein und, um ehrlich zu

sein, zu faul einen Zauber zu wirken, der mich ein wenig anhob, also kramte ich blind dort oben herum. In der hinteren, rechten Ecke stieß ich schließlich auf etwas hartes, rundes, was auch noch flach war. Ich packte es und zog es heraus. Es war tatsächlich der Spiegel. Den Spiegel in der Rechten, das Lederband in der Linken, marschierte ich zum Bett. Dort legte ich den Spiegel ab. Ich schaute die Kette misstrauisch an. Wieder machten sich Zweifel breit. Es war doch verdammt noch mal nur eine Kette. Eine einfach Kette mit magischer Aura... Die meiner zufällig äußerst ähnlich war... Was wiederum dafür sprach sie anzuziehen. Falls die Auren nämlich identisch wären, könnte die Aura der Kette gar nicht von meiner Besitz ergreifen, oder? Diese ganzen Zweifel sorgten noch dafür, dass sich in meinem Kopf alles verknotete. Echt gruselig. Entschlossen öffnete ich die Schlaufe, die die beiden Enden des Lederbandes zusammenhielt.

“Es kann eigentlich nichts passieren, Carina. Ganz ruhig.”, sagte ich mir dabei immer wieder. Meine Hände zitterten leicht. Die Kette leuchtete immer stärker, so als würde sie sich über das freuen, was ich gleich vorhatte. Aber das war Schwachsinn. Gegenstände konnten sich nicht freuen. Also. Der Knoten war geöffnet, ich hielt nun beide Enden des Lederbandes in der Hand. Ich atmete einmal tief durch. Langsam führte ich die Kette an meinen Hals und verknotete die Enden. Ich schaute in den Spiegel. Es war wirklich ein schönes Stück. Mit einem Mal fing allerdings mein ganzer Körper an zu pulsieren, die Kette leuchtete immer stärker und ich brach in Panik aus. Verzweifelt riss ich am Lederband, es ging nicht ab. Ich pulsierte immer noch, spürte aber keine Schmerzen. Das war das sonderbarste an der ganzen Sache: Es tat nicht weh. Erst als mir das aufgefallen war, zwang ich mich dazu ruhig

zu werden. Tief durchatmen... Ich musste einfach nur tief durchatmen. Ich blickte wieder in den Spiegel. Die Kette lag bewegungslos an meinem Hals. Ich spürte trotzdem immer noch, wie alles an mir pulsierte. Mit einem Mal geschah es dann. Ich hörte plötzlich alle möglichen Geräusche und sah viel schärfer. Das brachte mich so aus der Fassung, dass ich erstmal einige Schritte nach hinten stolperte. Mir war nie aufgefallen, dass ich mich anhörte wie eine Herde Pferde, wenn ich lief. Ich trampelte ja geradezu. Der Regen platschte viel lauter als bis vor einigen Minuten. Durch ihn hindurch hörte ich ein Gewirr von Stimmen. Von unten kam eine Frauenstimme, die herumbrüllte. Sie verurteilte gerade eine Küchenhilfe, da sie das Huhn wohl nicht richtig gezupft hatte. Zumindest entnahm ich das dem pausenlosen Gezetere. Dann klatschte es einmal laut. Das war wohl eine Ohrfeige gewesen. Fasziniert bewegte ich mich

zum Fenster hin. Vorsichtig fuhr ich über das Holz. Ich nahm mit einem Mal jede Maserung war, sah die kleinsten Kerben und Spriesel. Mit dem Kissen, das auf der Fensterbank lag, war es ähnlich. Erneut berührte ich sacht die Konturen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich jeden einzelnen Faden erkennen konnte. Je näher ich dem Fenster kam, desto lauter wurden die Geräusche und auch das Stimmengewirr schwoll an. Am Hafen unten standen Fischer im Regen. Sie boten frischen Fisch an, den sie heute Nacht eingeholt hatten. “Unter Einsatz ihres Lebens”, wie sie immer wieder bekräftigten. Trotz des Wetters war einiges los dort. Die Fischstände waren überflutet mit Menschen. Ich hatte bereits erfahren, dass, aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse, um diese Jahreszeit nie fiel Fisch gefangen wurde, da es schlichtweg zu gefährlich war. Dementsprechend begehrt war er dann, wenn er einmal vorhanden

war. Unser Zimmer lag im oberen Stockwerk. Ich sah von hier eine junge Frau, die mit zwei kleinen Jungs unterwegs war. Ich nahm jedes noch so kleine Detail wahr, wie ihre Kleidung gestrickt war, welcher Stimmung sie waren. Die kleinen Jungen hatten definitiv ihre Freude. Sie rannten in doch recht heller Kleidung durch die Gegend, sprangen in Pfützen und freuten sich darüber, wenn es spritzte. Ihre Begleiterin sah nicht ganz so euphorisch aus. Auf der einen Seite ein wenig unglücklich, weil sie die Jungs vermutlich nachher wieder sauber machen musste, auf der anderen Seite starrte sie einfach nur resigniert in den Regen. Sie hatte einen kleinen Korb am Arm, der Inhalt war mit einem Tuch abgedeckt worden. Trotzdem lukte etwas hinaus. Es sah schon fast so aus, wie ein Apfel, zumindest war es rund, klein und rot... und hatte hier und da einige gelbliche Flecken... Das musste ein Apfel

sein. Ich saß inzwischen auf der Fensterbank und drückte mir die Nase am Fenster platt. Von überall her kamen Geräusche. Die Regentropfen klatschten auf das Dach und liefen am Fenster hinunter, das Rauschen der Wellen war nicht zu überhören. Ich schloss die Augen, ließ alles auf mich wirken. Ich wusste nicht, was hier gerade stattfand, aber ich musste zugeben, dass es mir wirklich gefiel. Ich schweifte ein wenig ab, fragte mich, wo Neoras war, dann wie es meiner Großmutter ging. Wenn Deydros sie nicht in Sicherheit gebracht hatte, würde ich ihn... “Endlich meldest du dich!”, hörte ich mit einem mal seine Stimme. Mit einem Schrei sprang ich von der Fensterbank hinunter und landete unsanft auf dem Boden. Suchend sah ich mich um. Da war niemand. Was war jetzt los? “Ganz ruhig.” Da war wieder seine Stimme. “Ich hatte doch gesagt, wir würden

früher oder später Kontakt audnehmen...” “Aber wie...”, murmelte ich leise. Ich war immer noch vollends verwirrt. “Du brauchst nicht zu sprechen. Denke es einfach nur. Ich verstehe dich so sehr gut.” Wieder seine Stimme. Langsam erhob ich mich. “W-was soll das hier?”, dachte ich also so deutlich wie irgendwie möglich. “Ich habe versprochen, wir würden wieder Kontakt aufnehmen. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass ihr dafür so lange braucht. Welchen Zauber hat Neoras gewirkt?” Ich war absolut verwirrt. “N-neoras ist überhaupt nicht da.”, wisperte ich leise in meinem Kopf. “Wie?”, Deydros Stimme hörte sich nun auch ein wneig irritiert an. “Aber wie hast du dann...?” “Wir haben auf dem Markt eine Kette gefunden. Ich hab sie angezogen und...” Mir fiel kein besseres Wort ein. “... und wumms. Ich höre viel mehr, sehe schärfer. Und du bist in meinem Kopf.” Ich war so fokussiert auf die

Stimme in meinem Kopf, dass ich nicht merkte, wie sich meine Füße vorwärts bewegten. “Das ist allerdings seltsam...” Mit einem Mal knallte ich mit dem Kopf gegen etwas unglaublich hartes. Mit schmerzverzerrtem Gesicht öffnete ich die Augen. Vor mir war der Türrahmen. Allerdings war er nicht mehr so scharf wie eben, die Geräusche waren auch verstummt. “Deydros?”, fragte ich laut in meinem Kopf. Auch er war weg. Mit ihm das Pulsieren meines Körpers. Leider wurde ds nun ersetzt von einem ekligen Übelkeitsgefühl, so als würde es mir gerade den Magen umdrehen. Verzweifelt schaute ich mich um. Dort neben dem Schrank stand eine Holzvase mit Blumen drin, sonst war nirgendwo ein Eimer zu sehen. Ich würde sie wohl oder übel umfunktionieren müssen. Mit einem Satz war ich bei der Vase, riss die Blumen heraus, dann ging es auch schon los. Ich konnte nichts mehr

halten. Das Schicksal schien nicht wirklich auf meiner Seite zu stehen. In diesem Moment kam nämlich Neoras zur Tür herein, durchnässt bis auf die Knochen, verstrubbelte Haare und mit mördermäßig schlechter Laune. Ich hing immer noch über der Holzvase, auch wenn sich mein Magen schon wieder entspannt hatte. Neoras brauchte nicht wirklich lange bis er sich einen Überblick verschafft hatte. Er sah das ausgehobene Bodenbrett und zählte eins und eins zusammen. Das erste was ich bekam, war eine relativ heftige Kopfnuss. Ich hatte sie verdient, das war klar. Neoras verließ dann allerdings direkt wieder das Zimmer, was ich nun absolut nicht nett fand. Ließ er mich jetzt ernsthaft alleine, obwohl es mir gerade echt dreckig ging? Bis mein Magen sich beruhigt hatte, war auch er wieder da. Mit einem großen Stück Leinentuch in der Hand, ging er vor mir in die

Hocke. Ich saß wie ein Häufchen Elend auf dem Boden. Es drehte sich alles und mir war immer noch nicht so wirklich klar, was gerade eben passiert war. Neoras erblickte nun die Kette an meinem Hals, schüttelte genervt seufzend den Kopf und begann dann, mir meine Partien um den Mund herum abzuwischen. Als er fertig war, ließ er mich gar nicht erst aufstehen, sondern hob mich direkt hoch und trug mich zum Bett. Das war definitiv eine gute Idee gewesen. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich nicht wusste, ob ich überhaupt stehen, geschweige denn hätte laufen können. Als er mich auf dem Bett abgesetzt hatte, ließ ich meinen Kopf gegen die Wand sinken. Es drehte sich immer noch alles, absolut grässlich. Ich spürte, wie links von mir die Unterlage ein wenig nachgab. Neoras hatte sich hingesetzt. Als ich das Gefühl hatte auch wieder mit geöffneten Augen gerade sitzen zu können, linste ich vorsichtig durch meine

Wimpern hindurch. Neoras saß da, massierte sich die Schläfen und schaute mich kritisch an. “Will ich wissen, was du gemacht hast?” Er sah mich nun mit hochgezogenen Augenbrauen an, stand dann aber auf. Ich richtete mich ein wenig auf, fuhr mir kurz über den Mund, um zu überprüfen, ob dort noch etwas hing und strich mir schließlich die Haare aus dem Gesicht. Entschuldigung oder direkte Antwort? Ich entschied mich schlussendlich für letzteres. “Wollen mit Sicherheit nicht. Sollen dagegen schon.” Er stand mit verschränkten Armen, immer noch vollständig durchnässt am Fenster. “Schieß los.” Er ließ sich auf die Fensterbank fallen, zog beide Beine an und wartete auf eine Antwort. “Ja, es war dumm von mir die Kette anzuziehen.” Neoras schnaubte sarkastisch und schüttelte den Kopf. Dann sah er aus dem Fenster hinaus. “Weißt du.”, sagte er schließlich leise. “Es gab durchaus einen Grund, wieso ich das Ding vor dir versteckt

hatte. Mir war irgendwie klar gewesen, dass etwas passieren würde. Und wie man sieht, ist es das ja auch.” Er wies mit der Hand auf meine Wenigkeit. “Ja. Nein. Doch.” Das mit dem Rechtfertigen ging voll nach hinten los. “Ach verdammt.” Ich atmete einmal tief durch. “Ja, ich habe das Ding angezogen. Aber das nur, weil mir die letzten Tage immer so langweilig war. Und es hat mich beinahe schon magisch angezogen. Also...” “Willst du jetzt mir dir Schuld daran geben, dass ich versuche möglichst nicht aufzufallen, damit wir bald weiter können um DEINE Probleme zu lösen?” Jetzt war er fuchsteufelswild. Er stemmte sich von der Bank hoch und ging kopfschüttelnd im Raum auf und ab, die Arme immer noch verschränkt. “Es hat etwas mit mir gemacht.”, murmelte ich nach einer Weile leise. Ich traute mich nicht mehr wirklich etwas zu sagen. Schließlich hatte er Recht. Er versuchte die ganze Angelegenheit halbwegs sauber über die

Bühne zu bringen und ich machte nur Blödsinn. “Ich habe gesehen, was es mit dir gemacht hat. Es hat dich zum Kotzen gebracht.” Immer noch wütend sah er mich an. Er konnte gar nicht mehr aufhören den Kopf zu schütteln. Erst nach einer Weile traute ich mich wieder zu sprechen. “Das auch. Aber es hat dafür gesorgt, dass ich plötzlich alles mögliche gesehen und gehört habe. Wirklich alles.” Überrascht, aber immer noch ärgerlich, sah er mich an. “Außerdem...” Ich atmete nochmals tief durch. “Außerdem habe ich mit deinem Meister gesprochen.” Das errang nun wirklich seine Aufmerksamkeit. “Wie...?” Stirnrunzelnd sah er mich an. “Keine Ahnung. Ich habe mich gefragt wo meine Großmutter ist und dann gedacht, dass ich Deydros... nun ja... Falls meiner Großmutter etwas passieren sollte, hätte ich ihm Probleme bereitet... Und in diesem Moment habe ich plötzlich seine Stimme in meinem Kopf gehabt. Er hat mich gefragt,

welchen Zauber du gewirkt hast, damit wir Kontakt zu ihm aufnehmen konnten. Er war total verwirrt, als ich ihm schließlich erklärt hatte, dass du gar nicht da warst und das diese Kette”, ich hob den Anhänger am Band vorsichtig hoch, “irgendwie dafür gesorgt hat...” Ich brach ab. Neoras schien seine Gedanken erst einmal sortieren zu müssen. “Und dann?”, fragte er schließlich. “Wie 'und dann'?” “Was hat der Meister gemeint?” “Oh... Ähm... Gar nichts mehr.” Nun sah Neoras mich restlos verwirrt an. “Ich bin gegen den Türrahmen gerannt. Und dann musste ich kotzen.” Neoras konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wahrscheinlich dachte er gerade, dass das mal wieder typisch für mich gewesen war. “In Ordnung.” Er massierte sich wieder die Stirn, blickte aber weniger wütend, sondern mehr konzentriert drein. “Diese Neuigkeiten sind mindestens genauso interessant wie die, die ich habe.” Überrascht sah ich nun auf. “Wir

können morgen abend übersetzen. Das Wetter soll besser werden und ich habe einen Fährmann gefunden, der uns mitnimmt. Es kostet zwar dementsprechend, aber egal.” Er drehte sich um, um den Raum zu verlassen. “Ich gehe ein heißes Bad nehmen.”, brummte er. “Je eher wir hier weg sind, desto eher bin ich wieder aus dem ganzen Schlamassel raus.”, hörte ich ihn noch leise murmeln, als er schon durch den Türrahmen verschwunden war. Wütend auf mich selbst, haute ich auf die Unterlage. Das hatte ich mir nun wirklich wunderbar vermasselt, ich verdammte Idiotin. Gereizt griff ich nach dem Anhänger, der immer noch um meinen Hals hing. Nur, weil ich meine vermalledeite Wunderfitzigkeit nicht im Griff hatte. Irgendetwas bewog mich trotzdem dazu, die Kette an meinem Hals zu lassen, sie nicht wegzureißen. Vorsichtig stand ich vom Bett auf. Zumindest zitterten meine Knie nicht mehr und ich konnte

wieder gehen. Vorsichtig tappste ich zum Schrank hin, mein Kreislauf fand das leider nicht wirklich lustig. Deswegen musste ich dort auch erstmal verweilen, meine Hände in den Rahmen des Schranks gekrallt, darauf wartend, dass das Schwindelgefühl endlich weg ging. Schließlich schaffte ich es dann doch zu der Vase zu gelangen, die ich vorher als Auffangbehätnis missbraucht hatte. Ihr Inhalt roch säuerlich und irgendwie auch scharf. Kurz gesagt: Er stank. Ich griff nach ihr, immer wieder mit den Augen klimpernd, da es an den Rändern meines Blickfelds ständig schwarz wurde. Das Ding war ganz schön schwer. Sollte ich den Inhalt jetzt aus dem Fenster kippen oder doch nach unten auf die Straße gehen? Bei Letzterem schien die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ich jemanden Unschuldigen traf und ihm die Kleidung versaute, also entschied ich mich dafür. Ich öffnete die Tür und ging

dann die Vase holen. Sie fühlte sich mehr an, wie ein Bierfass, als wie eine einfach Holzvase. Allerdings war sie auch wirklich groß. Ich wankte auf den Flur hinaus, wieder wurde es an den Rändern meines Blickfeldes schwarz, dieses Mal ließ es sich allerdings nicht durch Augenklimpern wieder entfernen. Ich stolperte zum Treppengeländer, setzte dort erst einmal die Vase wieder ab. Das Schwindelgefühl verschwand nicht, der schwarze Rand in meinem Sichtfeld wurde dagegen immer breiter. Ich kniff die Augen eine Weile zusammen, nichts änderte sich. Verdammt. Bis ich so wieder am Bett war, würde es eine Ewigkeit benötigen. Wenn es überhaupt klappte. Ich öffnete nochmals kurz die Augen, wurde aber sofrt dafür bestraft. Mir war inzwischen so schwindelig, dass sich mein Magen verdrehte, wieder. Immerhin hatte ich gesehen, was ich sehen wollte. Die Vase stand

nicht vollends im Weg. Keiner würde also darüber stolpern. Vorsichtig tastete ich nach den Geländerstreben, die zum Boden führten. An ihnen ließ ich mich mit einem Ächzen langsam hinunter gleiten. Vielleicht würde das eklige Gefühl wieder weggehen, wenn ich einfach nur eine Weile hier saß. Eine Tür schlug, ich hörte Schritte. Oh nein. Bitte nicht jetzt. Ich hatte doch schon Ärger bekommen. Bitte, bitte, lass es nicht Neoras sein. Bitte nicht... Die Götter waren wohl nicht wirklich gut auf mich zu sprechen. Er war es doch. “Hatte ich nicht gesagt, dass du im Zimmer bleiben sollst?” Ich hörte einige Köpfe über mir eine arrogante Stimme. Ja. Das war definitiv Neoras. Leider konnte ich nicht anders als hilflos zu nicken. Himmel war mir schwindelig. Ich versuchte die Augen zu öffnen, das gleiche Desaster wie vorhin. Es

machte alles nur noch schlimmer. Allerdings hatte ich für einen kleinen Moment den Blick auf einen wütend aussehenden, nur mit einer Hose bekleideten Neoras erhaschen können. Er hatte sein Hemd in der Hand gehalten und die Arme verschränkt gehabt. Und hatte sogar irgendwie... naja... gut ausgesehen... Was auch immer das nun zu bedeuten hatte. Noch während ich verwirrt darüber nachdachte, rebellierte mein Magen wieder... Leise stöhnte ich auf und krümmte mich zusammen. Das Kribbeln, das in meiner Magengegend entstanden war, sorgte nicht gerade für Besserung. Auf der einen Seite hatte ich die Hoffnung, dass Neoras nichts merkte, auf der anderen Seite wollte ich mich schnell wie möglich hinlegen oder vielleicht doch besser sterben. Ich hörte das Rascheln von Stoff und spürte einen leichten Luftzug. “Alles in Ordnung?” Wieder Neoras Stimme, dieses Mal allerdings

misstrauischer und direkt gegenüber von meinem Gesicht. Ich schüttelte den Kopf vehemment. Wieder keine gute Idee gewesen. Erneut zog ich die Lieder ein wenig hoch und blickte direkt in seine undefinierbaren Augen. Sie sahen auf jeden Fall weicher aus, als der Rest des Gesichts, auch wenn es doch ein wenig Mitgefühl ausstrahlte. Ich ließ den Kopf wieder sinken, und drückte mich gegen die Wand. Konnte das Schwindelgefühl nicht endlich weggehen? „Hey.“, er hob vorsichtig mein Gesicht an. Mein Blickfeld hatte sich immer noch nicht normalisiert. Genau so sah ich ihn wahrscheinlich auch an. „Mit dir ist definitiv nicht alles in Ordnung.“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir. Behutsam strich er mir die Haare aus dem Gesicht. Seine Finger streiften dabei meine Wange und hinterließen dort eine kleine kribbelige Spur. „Du bist ziemlich warm, weißt du das?“ Er legte mir die

Hand auf die Stirn. Genießerisch schloss ich die Augen. Sie war so angenehm kühl. Mein ganzer Körper pochte und schmerzte, hinter meiner Stirn, in meinem Kopf, pulsierte etwas unangenehm, so als würde ein Arbeiter eines Steinbruchs versuchen, dort Steine zu hauen. Mit einem Mal spürte ich, wie Neoras die Arme seitlich unter meinen Körper schob. Dann wurde ich angehoben. Ohne ein Wort trug er mich in unser Zimmer und legte mich dort auf mein Bett, um mich schließlich zuzudecken. Ohne jeglichen Widerstand kuschelte ich mich in mein Kissen. Es drehte sich immer noch alles, war aber nicht mehr ganz so schlimm. „Du hast wirklich ein Talent dafür, dich in Schwierigkeiten zu bringen.“, murmelte Neoras Stimme. Vorsichtig strich er mir über die Wange und zog einige verschwitzte Strähnen zur Seite. Ich fühlte mich wirklich komisch. Ich schwitzte und fror gleichzeitig... Und mein ganzer Körper kribbelte sonderbar... Das war

auch schon der letzte Gedanke, der meinen Kopf durchstreifte, dann war ich eingeschlafen. „Eigentlich sollten wir sie schlafen lassen, das ist dir klar, oder?“ Eine leise Stimme wisperte über mir. Eine zweite kam biestig hinzu. „Sie hat lange genug geschlafen. Wir können sie doch nicht einfach liegen lassen, wenn sie schon mal wieder Kontakt zu uns aufnimmt. Es kommt schließlich selten genug vor...“ Jemand seufzte und ich spürte, wie man mich kurz, aber heftig am Arm schüttelte. „Wieso kann sie nicht endlich aufwachen?“, murmelte die zweite Stimme, nun in der Nähe meines Ohres. Sie hatte mich wohl geschüttelt. „Sei doch nicht so grob!“ Das war die erste Stimme, die die zweite anfuhr... Beide Stimmen kamen mir eindeutig bekannt vor, beide waren weiblich, recht hoch und im Grunde genommen auch irgendwie sanft... Natürlich. Ich seufzte. Wie konnte es auch

anders sein. Ich zwinkerte einige Male und zwang mich schließlich dazu die Augen zu öffnen. Etwa eine Hand breit von mir entfernt war Fionas Gesicht, absolut grimmig dreinblickend, mit geschwungenen Augenbrauen. Aus Reflex robbte ich erst einmal einige Schritte zurück. „Siehst du, jetzt hat sie Angst vor dir.“ Samiras Gesicht tauchte neben dem von Fiona auf. Sie lächelte breit (und nicht weniger gruselig). „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Sie warf mir einen treudoofen Blick zu. Zusammen könnten die beiden echt überaus starke Stimmungsschwankungen darstellen. Die eine ständig schlecht gelaunt, die andere immer gut... Man bekam von beidem irgendwie Kopfschmerzen... „Gar nichts hab ich.“, brummelte ich genervt und rappelte mich auf. „Ich bin es nur nicht gewohnt, dass sich beim Aufwachen ein halb-fremdes Gesicht direkt vor meiner Nase

befindet.“ Ich atmete einige Male tief durch. Dann sah ich die beiden Mädchen bereits ein wenig freundlicher an. Sie hatten sich inzwischen beide wieder aufgerichtet. Im Vergleich zu den letzten Treffen sahen sie heute ziemlich anders aus. Samira trug eine schlichte schwarze Tunika, dazu eine weiße enge Hose und Sandalen. Die Haare hatte sie streng nach hinten gesteckt, ihr charakteristisches Stirnband fehlte komplett. Fiona trug ebenfalls eine Hose, sie war schwarz, dazu enge Stiefel und einen schwarzen Mantel. Auch sie hatte die Haare zusammengenommen. Allerdings fielen ihr noch einige Strähnen verspielt in das Gesicht. „Ist etwas passiert?“ Ich musterte die beiden nervös. Hosen war ich an ihnen absolut gar nicht gewohnt. „Wieso? Nur weil wir die äußerst unbequemen Kleider gegen etwas eindeutig Praktischeres eingetauscht haben?“ Fiona schaute mich spöttisch an. Ich zuckte mit

den Schultern. Sie zog misstrauisch die Augen zusammen. Mit verschränkten Armen umrundete sie mich beinahe lautlos ein Mal. „Wo wir gerade bei Veränderungen sind. Was ist eigentlich mit dir?“ Verwirrt sah ich an mir herunter. Ich verstand nicht. Ich sah eigentlich aus wie immer. Trug eine meine schwarze Hose und die Bluse in der selben Farbe... Was sollte also mit mir sein? „Du wirkst kühler, distanzierter.“, versuchte Samira zu erklären. „Nicht mehr so kindlich.“ Fiona schaute mich direkt an. Sie lächelte provokativ hochnäsig. Ich wusste tatsächlich erst einmal nicht, was ich sagen sollte. Vermutlich hatten die beiden schon recht. Ich hatte selbst das Gefühl, als ob ich mich seit dem Verlassen Loterons verändert hatte. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass es wirklich auffällt. „Wie meint ihr das?“, hakte ich nach. Fiona überlegte kurz, dann sah sich mich wieder an. „Du wirkst weniger

schreckhaft... und eindeutig selbstsicherer. Man könnte glatt meinen, dass du dabei bist dich charakterlich in einen Kerl zu verwandeln... Was nicht negativ gemeint ist. Eine gewisse Härte ist immer gut.“ Schon wieder so ein Hammer. Jetzt war ich auch noch beinahe ein Kerl... „Das hat sie nicht so gemeint...“, schaltete sich Samira ein. Sie berührte mich kurz am Arm, vermutlich um mich zu beschwichtigen. Ich schluckte meinen Unmut herunter. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Ort, an dem wir waren. Es war das erste Mal, dass es nicht die Blumenwiese war. Wir waren in einem Raum. Die Wände waren aus Stein, sahen aus, als wäre der komplette Raum in einer Höhle errichtet worden. Allerdings waren zu meiner Rechten drei Fenster, die das widerlegten. Bei Zweien waren die blutroten Vorhänge bereits zugezogen, das Kerzenlicht warf schöne Lichtspiele an sie. Bei genauerem Hinsehen fiel

mir auf: Das dritte Fenster war gar kein Fenster, sondern eine Tür. Sie führte hinaus auf einen Balkon. Samira und Fiona hatten nichts mehr gesagt, also beschloss ich für mich, dass ich zumindest einmal schauen könnte, was dort draußen war. Ich ging zur Balkontür, sie war weiß und bestand aus großen verglasten Holzgittern. Vorsichtig fuhr ich über den Rahmen. Dann ging ich hinaus. Die Sicht raubte mir den Atem. Vor mir lag ein schier endloser See. Um ihn herum waren viele kleine Häuser, man sah von überall her immer mal wieder das kurze Aufflackern von Licht. Der Himmel war absolut klar. Die Sterne blinkten überall. Fasziniert schaute ich mich um. Ohne groß nachzudenken, griff ich mir an den Hals und tastete nach dem Anhänger. „Jetzt wäre ein geeigneter Zeitpunkt, um deine Magie noch einmal spielen zu lassen.“, murmelte ich leise vor mich hin, während ich das Schauspiel

beobachtete. Ich hatte so etwas schon lange nicht mehr gesehen. Außerdem war diese Ruhe einfach himmlisch. „Wer soll welche Magie spielen lassen?“ Ich drehte mich um. Fiona schaute mich fragend an. Sie und Samira waren hinter mir auf den Balkon getreten. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich antworten sollte oder nicht. Schließlich wusste ich im Grunde nicht, wer oder was die Magie wirkte. „Wir sind hier auf Schloss Draken.“ Fiona gesellte sich neben mich und stützte sich locker auf das Geländer. Ich wirkte daneben beinahe schon steif, wie ich da so stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Umgebung beobachtend. „Wir haben auf dem Markt in Fardrahall eine Kette gefunden. Sie hatte schon da eine Aura.“, kam nun ich ihr entgegen. „Der See dort unten ist sozusagen der Haussee der Stadt. - Wer ist 'wir'?“ „Neoras und ich.“ Fiona nickte nur. Sie deutete an den

Himmel. „Von hier aus hat man egal zu welcher Jahreszeit den besten Blick auf die Sterne. - Was war dann?“ „Ich habe die Kette unerlaubterweise ausprobiert. Sie hatte einige nette Nebeneffekte. Mit einem Mal konnte ich viel schärfer sehen als sonst, hörte mehr – und nahm unbeabsichtigt Kontakt zu Neoras Meister auf.“ Samira sog hinter uns scharf die Luft ein. Fiona ignorierte sie einfach. Sie schaute immer noch in aller Seelenruhe nach vorne. „Spürst du die Aura der Stadt?“ Ich konzentrierte mich kurz. Eine geballte Welle aus purer Magie drückte urplötzlich auf mich ein, sodass ich die Verbindung schnell wieder abbrach. Überrascht sah ich Fiona an. „Sie wurde von Drachenreitern erschaffen. Nicht umsonst gelten sie – ausgenommen von den Großen Drei – als die stärksten Magier überhaupt.“ Sie drehte sich zu mir und sah mich eine Weile ruhig an. Dann legte sie den Kopf schief. „Was ist als Nächstes passiert?“

Ich seufzte. „Denke nicht einmal daran, mir etwas vorzumachen.“, hörte ich Fionas Stimme in meinem Kopf. Ihre Lippen bewegten sich rein gar nicht. „Ich hasse es, wenn man meint, in meinen Gedanken herumstöbern zu müssen. Speziell wenn es absolut unangebracht ist.“ Gereizt sah ich sie an. Auch mein Part dieses Gesprächs war wortlos gewesen. „Also?“ Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. Ich schnaufte einmal kurz durch. „Mein Kreislauf hat sich ein wenig beschwert, ich hab mich übergeben und bin nach einer weiteren, kleinen Eskapade erst im Bett und dann hier gelandet. Reicht das?“ „Klar.“ Fiona strahlte mich übertrieben freundlich an. „Habt ihr es jetzt?“ Samira näherte sich von hinten. Sie sah ziemlich verstimmt aus. „Was hast du denn jetzt?“, fragte ich kratzbürstiger als ich es eigentlich gewollt hatte. „Da hast du es.“ Sie deutete vorwurfsvoll auf Fiona und mich. „Eure Auren sind tief dunkel. Könntet ihr

bitte aufhören euch zu streiten? So viel negative Energie ist echt nicht zum aushalten.“ Aus wütenden, treudoofen Augen blickte sie uns an. Ich konnte nicht anders, ich musste laut loslachen, was nicht zur Verbesserung der allgemeinen Stimmung beitrug. Fiona grinste breit, sie dachte wohl das selbe. „Ihr seid gemein, wisst ihr das?“ Wütend drehte sich Samira um und marschierte zurück ins Haus. „Samira, warte!“ Fiona drehte sich seufzend um. „Du hast aber recht.“, murmelte sie mir noch leise zu, bevor sie Samira in den Raum hinterher lief. Ich seufzte einmal, dann wischte ich mir das Grinsen vom Gesicht und ging ebenfalls zurück in den Raum. Es musste schließlich noch einiges geklärt werden. Zum Beispiel sollten die beiden noch wissen, dass ich in einigen Tagen in Jochmàr sein würde und es interessant wäre zu erfahren, wo sie sich gerade aufhielten. Auch wenn, dank der Information mit den Drachenreitern, eine Stadt

auf Yéremija das Naheliegendste war. Samira stand mit dem Rücken zu mir vor dem Kamin, Fiona wild gestikulierend neben ihr. Sie schmollte wohl und Fiona wollte sie wieder beruhigen. Auch wenn mich das ganze Herumgewackel mit den Armen eher noch mehr in Rage bringen würde. „Es tut mir Leid.“ Samira drehte sich um. Sie sah überrascht aus. Gleichzeitig hatte sie doch recht rote Augen und ich fühlte mich mit einem Mal extrem schuldig – sie hatte geweint. Verdammt. Gegen Tränen war ich noch nie immun gewesen. „Das sagst du nur so.“, brummte sie leise. Sie hielt zwar die Arme weiterhin verschränkt und bemühte sich um einen grimmigen Blick, drehte sich aber auch nicht wieder weg. „Nein, ernsthaft.“ Ich schaute sie bittend an, gerade weil ich wusste, dass sie Recht hatte. Die Entschuldigung war am Anfang nur Mittel zum Zweck gewesen, aber jetzt hatte ich Schuldgefühle und die

fühlten sich alles andere als toll an. Ich ging noch einige weitere Schritte auf die beiden Mädchen zu. Fiona stand ein wenig hinter Samira und sah mich auffordernd an. Ihr Blick schien beinahe zu schreien, dass ich etwas Nettes tun oder sagen sollte. Also zwang ich mich dazu, Samira kurz entschuldigend über den Arm zu streicheln. Es hatte das zur Folge, was ich eigentlich hatte vermeiden wollen: Sie sprang mir um den Hals und umarmte mich. Wieder dieses krasse Ausdrücken von Gefühlen. Ich lächelte gezwungen, während Samira mir irgendetwas an den Hals nuschelte. Ich verstand kein Wort, streichelte ihr aber ein wenig steif über den Rücken. Ich war der Meinung, dass ich das alles sehr gut machte, dafür, dass ich nicht gerne von Fremden überschwänglich geknuddelt wurde. „Da wir jetzt alle wieder Freunde sind...“, setzte Fiona ironisch an. „Lass mich. Ich will sie noch ein wenig quälen.“, knurrte Samira mit

leicht sadistischem Unterton. Ich glaubte mich verhört zu haben. „Was?“, fragte ich nach. Samira löste sich von meinem Hals und grinste mich böse an. „Ich habe ein Talent dafür, Dinge wahrzunehmen, die Menschen gerne oder überhaupt nicht gerne mögen. So von wegen dunkle und helle Verfärbung der Aura und so...“, erklärte sie kurz und grinste noch breiter. Ich sah sie ziemlich perplex an. Die Kleine konnte tatsächlich ein berechnendes Biest sein. Und ich hatte sie einfach nur für ein wenig zu freundlich gehalten. Aber es musste wohl stimmen, was sie sagte. Fiona und ich waren beide nicht so begeistert im Bezug auf körperliche Annäherungen und genau das hatte Samira ständig getan. „Du bist ein echtes Miststück, weißt du das?“ Fiona war nicht weniger überrascht als ich und sie fasste genau das in Worte, was ich dachte. Samira zuckte nur unschuldig mit den Schultern. „Darf ich nicht auch hin und wieder

mal ein bisschen böse sein?“ Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Wir sollten vielleicht trotzdem noch besprechen, was wir als nächstes tun.“ Ich zog Samira kurz am Pferdeschwanz und ging dann zum einzigen Tisch in diesem Raum. Auf ihm waren mehrere Karten ausgebreitet, dort lagen Briefe und Schreibfedern, genauso wie Zeichendreiecke und Grafitstifte. Um den Tisch herum standen drei Hocker, Dreibeiner mit runder, gepolsteter Sitzfläche. Fiona und Samira gesellten sich zu mir. Da der Tisch rund war, konnten wir uns gut verteilen. Jede ließ sich auf einem Hocker nieder. Ich stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte und stützte mit verschlungenen Händen mein Kinn ab. „Also.“ Erwartungsvoll sah ich die beiden an. „Ich habe nach wie vor nicht wirklich Ahnung davon, was dieses ganze Chaos hier soll.“ Samira wollte gerade einhaken, als ich ihr auch schon wieder mit der Hand zeigte, still

zu sein. „Natürlich. Das Grobe ist klar. Aber ich frage mich die ganze Zeit, wieso bisher noch nichts größeres passiert ist. Klar, ich bin auf der Reise nach Fardrahall verfolgt worden, aber auf dem Weg nach Ant-al-Wal ist absolut nichts passiert. Seid ihr euch wirklich sicher, dass demnächst etwas geschehen wird. Ich habe da nämlich ernsthaft meine Zweifel.“ Beide schienen einen Moment zu brauchen, um sich eine Antwort zurechtzulegen. Fiona fand als erstes die Sprache wieder. „Sie arbeiten unsichtbar für die restlichen Menschen.“, versuchte sie es mir zu erklären. „Sozusagen im Untergrund. Der König will die Menschen möglichst ruhig halten. Wenn sie erfahren würden, dass die Auserwählten gefunden worden sind, würde sie nichts mehr halten und es würde zu Aufmärschen kommen. Genau das will Marlon aber vermeiden. Also arbeitet er mit seinen Leuten im Geheimen.“ Ich nickte. Deswegen also auch die drei Sucher und kein

größeres Aufgebot. Wobei. Das Aufgebot vor einigen Wochen, als dieses magische Unwetter gewesen war... Das war durchaus Magie der höheren Schule gewesen. „Kann ich mal deine Kette haben?“ Samira deutete an meinen Hals. Fragend sah ich sie an. Unfreiwillig gab ich sie schließlich her. „Wie schon gesagt. Sie arbeiten im Untergrund. Haben Informanten und so weiter.“ Fiona sah mich an und deutete dann kurz auf die Kette, deren Anhänger Samira genauestens untersuchte. Ich brauchte einen Augenblick, aber dann verstand ich. Verunsichert schaute ich Samira an. Sie rührte sich immer noch nicht, murmelte aber nun leise vor sich hin. Hoffentlich hatten die beiden mit ihrer Vermutung unrecht. Wenn die Kette tatsächlich nur eingesetzt worden war, um meinen Standort im Auge zu behalten wäre das fatal. Mit einem Mal sah Samira auf. Ihre Augen leuchtete rötlich, immer noch benebelt von der

ganzen Magie. Sie legte die Kette lautlos vor sich auf den Tisch. „Die Kette ist mit keinem Zauber zur Standortbestimmung versehen.“ Erleichtert atmete ich auf. „Allerdings...“ Mein Kopf ruckte schlagartig wieder hoch. „Diese Magie.“ Sie bewegte den Anhänger auf der Tischplatte. Dann schaute sie mich direkt an. „Sie ist dazu da, Macht über dich zu erlangen. Ich weiß allerdings noch nicht, ob im guten oder im schlechten Sinne. Die Aura ist ein wenig undurchsichtig, besser gestrickt als normalerweise.“ Sie schaute die blaue Perle nachdenklich an. „Wenn du mir den Anhänger da lässt, hab ich ihn bis morgen Nacht analysiert... Du weißt, dass eure Auren identische Verfärbungen haben, oder?“ Ich nickte. Sie blickte wieder konzentriert auf den Anhänger. Fiona sagte überhaupt nichts. Wütend vergrub ich mein Gesicht in den Händen. „Verdammt.“, nuschelte ich leise. Es war auch wirklich zu einfach gewesen. Die

Wahrscheinlichkeit war groß, dass jemand meine verdammte Neugier ausgenutzt hatte. „Du kannst nichts dafür.“ Ich hob den Kopf. Fiona sah mich an. Wieder hörte ich ihre Stimme nur in meinen Gedanken. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und deutete auf Samira. Diese hatte wieder die Augen geschlossen, vertieft in diverse magische Sprüche, bemüht die Aura des Gegenstandes zu knacken. „Gehen wir noch ein wenig auf den Balkon? Deine Zeit ist bald um und ich muss noch etwas mit dir besprechen.“ Ich nickte und erhob mich lautlos. Fiona folgte mir durch die Balkontür, erneut nach draußen. Die Sonne schimmerte bereits am Horizont, die ersten rötlichen Streifen zogen ihre Bahnen über den Himmel. „Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass du weißt, dass wir uns hier auf Yéremija befinden.“ Ich nickte kurz, schaute weiter in den Himmel. „Rede mit deiner Begleitung. Er wird wissen, wo sich Schloss Draken befindet.“

„Wieso kannst du es mir nicht einfach sagen?“ „Ich habe das ungute Gefühl, dass wir bespitzelt werden. Und zwar jeder einzelne von uns.“ Irritiert sah ich sie an. „Aber Samira hat doch gesagt... „Ich habe auch nicht von der Kette gesprochen, sondern von richtigen Menschen. Aus Fleisch und Blut.“ Na wunderbar. Ich begann bereits nervös im Kopf durchzugehen, ob ich möglicherweise jemanden in den letzten Tagen zufällig öfters gesehen hatte. Ich musste Neoras unbedingt nachher darauf ansprechen. „Lass mir die Kette bis morgen Nacht da.“ Samira tauchte hinter uns auf, den Anhänger in der linken Hand. „Eines ist auf jeden Fall klar.“ Sie strich vorsichtig mit dem Finger über die kleine Perle in der Mitte des Rings. „Er übt nur auf dich eine solche Anziehung aus. Ich spüre nichts, Fiona ebenfalls nicht.“ „In Ordnung.“ Ich zuckte ergeben mit den Schultern. Ich spürte schon wieder diese

Anziehung. Aber dieses Mal würde ich ihr widerstehen. „Solltest du nicht langsam gehen? Du hast nur noch eine knappe halbe Stunde, dann ist die Zeit um.“ Überrascht sah ich Samira an. Ihr Blick lag immer noch auf Fiona und mir, deswegen ging ich davon aus, dass sie mich meinte. Ich hatte das ganze Prozedere doch bisher noch nie steuern können, wie sollte es also dieses Mal gehen? „Du hast recht.“ Verwirrt blickte ich nun zu Fiona. Sie sah müde aus. Außerdem leuchteten ihre merkwürdig violett und ihre Zähne sahen mit einem Mal unnatürlich scharf aus. Ich blinzelte einige Male. Es war nichts mehr zu sehen. „Also.“ Fiona lächelte mir kurz zu, dann ging sie auch schon zur Balkontür. „Wir sehen uns in ein paar Stunden.“, sagte sie noch zu Samira und legte ihr kurz die Hand auf die rechte Schulter. „Viel Erfolg.“ Fiona lachte tonlos. „Du weißt doch, ich bin immer erfolgreich. Mir kann nichts entkommen.“ Traurig blickte sie Samira

an. „Es wird schon niemand dabei drauf gehen.“, versuchte diese Fiona nun zu ermutigen. Ich verstand absolut gar nichts. Verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her. Wieso sollte jemand sterben? Und wieso brauchte Fiona Erfolg? Beziehungsweise brauchte sie aus ihrer Sicht keinen Erfolg? „Hoffen wir es.“ Fiona tätschelte Samira nochmals die Schulter. Dann ging sie zur Balkontür, bog allerdings kurz vorher nach rechts ab. Dort hatte ich vorhin eine Treppe gesehen, diese nahm sie nun. Irgendetwas in mir warnte mich, dass ich vorsichtig sein sollte. Außerdem schwebte Fiona die Treppe beinahe schon hinunter. Man hörte keinen einzigen Schritt mehr. Ich schaute über das Geländer, um noch mal einen Blick auf sie erhaschen zu können. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Dieser Gedanke wurde auch direkt nochmal bestätigt. Fiona war nämlich wie vom Erdboden

verschluckt. „Wo...?“ „Frag besser nicht.“ Samira war neben mich getreten. „Du willst es im Grunde nicht wissen. Und sie will nicht, dass es jemand weiß.“ Sie schaute mich an und lächelte kurz. „Vorurteile sind etwas hässliches, weißt du? Und Fiona wurde leider schon viel zu oft mit ihnen konfrontiert. Also erzählt sie lieber niemandem davon. Wenn die Zeit reif ist wirst du es wahrscheinlich sowieso herausfinden.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass Samira seit einer knappen Stunde überraschend ernst war. Sie lächelte mich müde an. „Du solltest dich langsam bereit machen. Die Sonne ist gleich aufgegangen.“ Ich drehte mein Gesicht wieder Richtung Osten. Tatsächlich, der goldene Ball schwebte schon fast über der Horizontlinie. Ich nickte. „Brauchst du mich noch?“ Samira sah wirklich müde aus. „Nein. Geh schlafen. Ich kann alleine darauf warten, dass ich zurück geholt werde.“ Samira nickte dankbar und

wedelte zum Abschied nochmal mit der Kette. „Ich verspreche dir, du kriegst sie morgen Abend zurück.“ Mit einem Lächeln ging sie wieder in den Raum hinein, um ihn durch die gegenüberliegende Tür auch direkt schon wieder zu verlassen. Entspannt stützte ich mich auf das Geländer und beobachtete noch einige Augenblicke das Spektakel des Sonnenaufgangs. Das Ziehen setzte sacht ein und verstärkte sich zusehends. Ich schaute weiter dem Sonnenaufgang zu. Ich konnte es so oder so nicht steuern. Wieso sollte ich mich also jetzt verrückt machen? Es gab so viele andere Dinge über die ich mich später noch aufregen konnte. Mit einem Mal entstand links von mir eine weiße elliptische Spalte. Na dann. Auf in einen neuen Tag. Ich schloss die Augen und machte zwei Schritte. Dann öffnete ich sie langsam wieder. Ich lag im Wirtshaus in meinem Bett.

Gejagt

Wie jedes Mal nach so einem Aufenthalt war ich auch jetzt wieder ein wenig verwirrt. Müde rappelte ich mich auf. Neoras lag vor dem Kamin auf dem Boden, komplett zerzaust, mit geschlossenen Augen. Er schlief wohl noch. Heute Abend war es soweit. Wir würden nach Yéremija übersetzen. Endlich. Mit einem Mal kamen die Erinnerungen an die Gespräche der letzten Nacht zurück. Reflexartig griff ich mir an den Hals. Die Kette war nicht da. Es war also alles tatsächlich passiert... Wieso zweifelte ich jedes Mal erneut daran? Ich wusste nicht so wirklich, was ich Neoras alles erzählen sollte. Auf jeden Fall musste ich ihn fragen, wo Schloss Draken genau war. Und dann sollte ich ihm vielleicht noch von der Bespitzelung erzählen. Möglicherweise ist ihm ja etwas aufgefallen. Ich hatte in den letzten Tagen ja nicht viel mehr zu sehen bekommen als

dieses Zimmer. Er wusste also bestimmt mehr. Die Kette würde ich vorerst nicht thematisieren. Ich wollte nicht schon wieder streiten und außerdem noch warten bis Samira mit ihrer Analyse durch war. Leise wühlte ich mich aus der Decke heraus. Ich hatte mich wirklich fest eingewickelt über Nacht. Vorsichtig setzte ich beide Füße auf den Boden, ständig darauf bedacht, Neoras nicht zu wecken. Vor der Türe müsste inzwischen der tägliche Krug mit Wasser stehen. Im Raum gegenüber konnte ich mich dann waschen. Dort standen einige Schüsseln und ich hatte sogar einen ziemlich maroden Spiegel entdeckt. Es war zwar nicht das beste Haus der Stadt, hatte aber trotzdem mehr zu bieten, als ich gewohnt war. Mit dem Zirkel hatte ich, wenn auch nur selten, in Wirtshäusern gegessen. Dieses Haus hier war um Welten besser ausgestattet. Leise tapste ich zur Tür. „Wo willst du hin?“ Ich fuhr herum. Neoras hatte sich aufgerichtet

und sah mich mit verschlafenen Augen an. „Wie hast du...?“ „Schon vergessen? Ich höre alles.“ Er gähnte. „Ah. Ich wollte mich waschen gehen und es vermeiden dich dabei zu wecken.“ „Na dann.“ Er ließ sich wieder zurück fallen. Ich wollte gerade aus der Tür hinaus, als er sich nochmals zu Wort meldete. Ich drehte mich um. „Lass mir was vom Wasser übrig, ja? Ich bin zu müde, um pumpen zu gehen.“ „Klar.“ Dieses Mal schaffte ich es tatsächlich aus der Tür hinaus, ohne dass er mich nochmal aufhielt. Es dauerte nicht lange, da war ich auch schon wieder zurück im Zimmer. Neoras hatte sich in der Zwischenzeit angezogen, ich trug allerdings immer noch die selbe Kleidung wie gestern. „Ist noch Wasser übrig?“ Neoras schaute kurz zu mir nach oben, er war dabei seine Decken und die Kissen zur Seite zu räumen. „Natürlich.“ Ich runzelte kurz die Stirn. „Gut. Dann gehe ich mich jetzt noch

schnell fertig machen.“ Ich setzte mich auf die Fensterbank und schlag die Arme um meine Beine. „Wir müssen reden.“ So. Kurz und schmerzlos. Überrascht sah Neoras mich an. „Es gibt Neuigkeiten. Ich hatte gestern noch eine Unterredung mit Fiona und Samira.“ Neoras zog die Augenbrauen hoch. „Ist das der Grund, wieso du die Kette nicht mehr trägst?“ Genau wie vor einer halben Stunde, griff ich mir wieder reflexartig an den Hals. Ich musste das abstellen. „Samira hat sie, sie untersucht den Anhänger gerade. Darüber wollte ich auch mit dir sprechen.“ Ich sah ihm an, dass er beunruhigt war. „Ist es schlimm?“, fragte er misstrauisch. „Abhängig davon, wie du 'schlimm' definierst. 'Beunruhigend' trifft es glaube ich eher. Aber mach dich jetzt erst einmal fertig. Wir sind nicht so extrem unter Zeitdruck, was das anbelangt.“ Ich zog meine Mundwinkel ein wenig nach oben. Neoras nickte nur. „Dann bis gleich.“ Er öffnete die

Türe und war auch schon verschwunden. Auch er war schon nach kurzer Zeit wieder zurück. Im Gegensatz zu mir – ich hatte die Haare noch in nassem Zustand zu einem Zopf gebunden – hatte Neoras allerdings beinahe schon Stroh auf dem Kopf. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. Ich hatte es mir in der selben Zeit auf der Fensterbank bequem gemacht, mir ein Kissen geholt und es hinter meinen Rücken geschoben. „Ich habe die Hoffnung, dass das, was du mir jetzt erzählen willst, unsere Weiterreise nicht beeinträchtigen wird... Es hat mich einiges gekostet einen Schiffer ausfindig zu machen, der uns bei diesem Wetter über das Meer bringt.“ Neoras hatte mich schon unterbrochen, bevor ich überhaupt den Mund hatte aufmachen können. Dieses Gespräch fing eindeutig schon mal gut an. Mein Gegenüber stand breitbeinig vor mir, die Arme verschränkt, skeptischer Blick aufgesetzt. Es war doch immer wunderbar,

wenn man die Einstellung eines Menschen schon direkt aus seinem Gesicht ablesen konnte, da fühlte man sich direkt ermutigt etwas zu sagen. „Keine Angst.“ Mein Tonfall triefte eindeutig vor Sarkasmus. „Wir werden erst damit konfrontiert werden, wenn wir auf der Insel sind. Höchstens wir sind unvorsichtig und die Späher entdecken uns.“ Ich lächelte ihn strahlend an. „Ich schlage ja eigentlich grundsätzlich keine Frauen. Aber bei dir bin ich inzwischen kurz davor eine Ausnahme zu machen.“ Das sagte er mit absolut ruhiger Stimme und schaute mich dabei mit nicht weniger entspanntem Blick an. Ich glaubte ihm aufs Wort. „Du musst ja nicht gleich aggressiv werden.“ Ich sah ihn genervt an. „Also. Wo fange ich denn am besten an?“ Und dann erzählte ich ihm von den Geschehnissen der letzten Nacht. Von meiner Ankunft auf Schloss Draken, dem Gespräch mit Fiona,

Samira, die das Amulett analysierte und schlussendlich noch von Fionas Warnung, dass wir anscheinend verfolgt wurden. Mit jedem beendeten Satz wurde Neoras Blick ungläubiger, gleichzeitig aber auch beunruhigter. Als ich geendet hatte, schaute er nur noch nachdenklich drein. „Jetzt wo du es sagst...“, setzte er schließlich nach einer Weile an. Ich hob den Kopf. „Ich hatte gestern schon das Gefühl unten am Kai verfolgt worden zu sein. Und ich habe auch häufiger einen Mann und eine Frau gesehen. Im Grunde war nichts außergewöhnlich an ihnen, außer...“ Er schlug sich vor die Stirn. „Verdammt!“ „Was ist?“ Es wäre wunderbar, wenn Neoras zumindest einmal seine Gedankengänge offen legen würde. Stattdessen tiegerte er erst einmal nur unruhig hin und her. „Wieso ist mir das nicht schon früher aufgefallen?“ Auf meine Frage, was er denn nun meinte, antwortete er überhaupt nicht. Er

lief weiterhin nur durch den Raum, die Hände im Nacken verschränkt, das Gesicht zur Decke gewendet. „Verdammt, verdammt, verdammt.“ Das war das Einzige, was ich in der nächsten halben Stunde zu hören bekam. Verwirrt saß ich auf der Fensterbank, unschlüssig darüber, ob ich Neoras nochmal ansprechen sollte oder nicht. Nach einer Weile hatte ich allerdings auch keine Muse mehr, auf eine Stellungnahme seinerseits zu warten. „Neoras?“ Er hörte mich nicht, lief einfach weiter, monoton vor sich hinmurmelnd. „Neoras!“ Dieses Mal ein wenig lauter. Immer noch keine Reaktion. „Neoras!!!“ Er zuckte erschrocken zusammen. „Du brauchst nicht so zu brüllen, ich bin nicht taub. Ich denke nur nach.“ Ich seufzte genervt. Ich hatte einmal mehr den Punkt erreicht, wo ich gerne wieder mit unserem Zirkel unterwegs gewesen wäre. Auch wenn Julius mich häufig genervt hatte und das Zusammenleben mit Mino und den Anderen nicht immer leicht gewesen

war, so hatte doch zumindest eine gewissen Kommunikation bei uns statt gefunden. Es war nie etwas alleine beschlossen worden. Man hatte immer miteinander geredet. Ich atmete einmal tief durch. „Würdest du bitte mit mir sprechen?“ Ich versuchte so viel Ruhe wo möglich in meine Stimme zu legen, dennoch hörte ich mich immer noch eindeutig unfreundlich an. Neoras sah kurz auf den Boden, er überlegte wohl. „Seit vorgestern habe ich am Hafen immer mal wieder einen Mann und eine Frau gesehen. Optisch nicht besonders auffällig, trotzdem kamen sie mir merkwürdig vor. Aber ich bin nicht darauf gekommen, was es sein könnte. Bis jetzt...“ Oh, verdammt. Jetzt wusste ich, was er meinte. „Sie hatten eine magische Spur an sich haften, oder?“ Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Neoras nickte und fuhr sich seufzend mit der Hand über das Gesicht. „Damit haben wir ein ernsthaftes Problem.“ Ich kaute nervös auf

meiner Lippe herum, suchte nach einer Lösung. Mit einem Mal drehte Neoras sich um und ging zur Tür. „Wohin willst du?“, fragte ich verwirrt. Er drehte sich um, grimmig drein blickend. „Ich gehe hinunter zu dem Mann, der uns nach Yéremija bringen wird. Ich werde ihn irgendwie dazu bringen, früher abzulegen, sodass wir schon heute Abend die Küste erreichen können. Du bleibst hier. Ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und verschwand durch die Tür. Ich war wirklich froh, dass wir das Festland bald verließen. So langsam hatte ich nämlich keine Lust mehr darauf, ständig die ganze Zeit über auf unserem Zimmer bleiben zu müssen. Ich hatte in dieser Zeit schon angefangen immer mal wieder meine magischen Kräfte zu schulen, zu viel durfte ich allerdings auch nicht tun, da sonst meine magische Spur zu stark sichtbar werden würde. Ich hatte die

letzten beiden Tage nichts Spezifisches in diese Richtung unternommen... Obwohl. Die Kette hatte durchaus eine riesige Ausstrahlung an Magie. Sie hatte meine Spur wahrscheinlich nochmals verstärkt. Aber konnte ich nicht trotzdem einige kleine Übungen machen? So viel Magie setzte ich dabei eigentlich nicht frei... Noch bevor ich meinen Gedankengang zu Ende führen konnte, hörte ich Schritte auf der Treppe. Konnte Neoras schon zurück sein? Er hatte doch gerade eben erst den Raum verlassen. Ich ging zur Tür und lauschte. Die Schritte waren unterschiedlich laut, außerdem hörte ich leises Gerede. Eine weibliche und eine männliche Stimme. Es mussten also mindestens zwei Leute sein, die da die Treppe hinauf kamen. Zu Anfang verstand ich nichts von dem, was dort gesprochen wurde. So sehr ich mich auch anstrengte, ich hörte beinahe nichts. Erst als sie in etwa die Hälfte der

Strecke zurück gelegt hatten, verstand ich sie beinahe. „Du solltest leiser sein.“, zischte die weibliche Stimme. „Nachher hört sie uns noch.“ Ein Schnauben ertönte. „Das sagst gerade du? Du bist doch diejenige, die die Treppe hoch poltert. Genauso wie du gestern daran Schuld warst, dass uns der Junge beinahe entdeckt hat. Ich schlich langsam von der Tür zurück. Dann sah ich mich um. Ich saß definitiv in der Falle. Die Fenster waren zum einen vergittert – beim Aufsprengen mithilfe eines Zaubers würde man das definitiv auch auf der Treppe hören – und außerdem befanden wir uns im zweiten Stockwerk. Ich war absolut nicht begeistert davon, aus dieser Höhe hinabspringen zu müssen. Ich war kein sonderlicher Freund von Knochenbrüchen und Ähnlichem. Verstecken wäre die einzige sinnvolle Lösung, aber wo? Der Schrank wäre zu einfach, außerdem wäre ich dann zu weit von meinen Wurfsternen und

den Dolchen weg, falls es nötig war, mich zu wehren. Die andere Möglichkeit wäre das Bett, schmal genug, um mich darunter zu rollen, war ich auf jeden Fall. Bevor ich diese Sache noch genauer abwägen konnte, vernahm ich ein Stolpern. Ich musste Lächeln. Die selbe Stelle, an der ich auch immer stolperte, der obere Absatz. Leise huschte ich zum Bett hin. Ich schaffte es gerade noch unter das Bett zu rutschen, nachdem ich die Waffen und den Geldbeutel unter dem losen Brett hervor geholt hatte, da kamen sie auch schon. Alles an mich gepresst lag ich unter dem Holzgestell. Ich hatte tatsächlich gerade so dazwischen gepasst. Das Bett war zwar breit, aber eindeutig nicht hoch. Das war eine Tatsache, die mir vorher gar nicht aufgefallen war, mir aber nun ein recht sicheres Versteck bot. Es klopfte kurz an der Tür. Nachdem ich mich nicht rührte und auch keine Mucks machte, öffnete sie sich langsam. Ich sah zwar nicht gut,

was wirklich ein erheblicher Nachteil war, aber meine Ohren waren so intakt, dass ich eigentlich hören sollte, wo sich die Eindringlinge gerade befanden. „Und du bist sicher, dass du vorhin nur den Jungen gesehen hast, wie er das Haus verlassen hat?“ Die ironische Stimme des Mannes ertönte. Sie war nicht rau, sondern hatte einen schmeichlerischen Unterton, so als ob er es gewohnt hatte, bei seinem Meister zu Kreuze zu kriechen – dies galt allerdings nicht für seine Begleiterin. Die Stimme, die nun ertönte, war knarzig. Genau so, wie man sich die Stimmen der bösen Hexen in den Märchen immer vorstellte. Jetzt musste sie nur noch einen Buckel und Warzen im Gesicht haben, dazu abgerissene Kleidung, dann würde es passen. Ich bedauerte wieder, dass ich nichts sah. Diese Tatsache hätte mich durchaus interessiert. „Ich habe nur den Jungen gesehen. Das Mädchen muss hier sein. Wenn nicht hier,

dann zumindest im Haus.“ Die Schritte entfernten sich langsam von der Tür, gingen in Richtung des Fensters. „Ich hoffe, dass du recht hast.“ Das war wieder die Stimme des Mannes. Sie kam aus der Richtung, in der das Fenster auch lag. Vermutlich schaute er gerade aus dem Fenster und suchte mit seinem Blick den Hafen ab. Die Aussicht von hier war wirklich gut, man erfasste beinahe alles. Ich hörte, wie er sich umdrehte. Jetzt sah er wahrscheinlich die Frau an. „Du weißt, wie der König reagiert, wenn wir dieses Miststück nicht bald finden.“ „Das ist mir durchaus bewusst, Milo. Schon vergessen? Ich hatte bereits das Vergnügen, mit ihm persönlich eine Auseinandersetzung zu haben. Trotzdem gibt es immer noch die anderen beiden.“ Ein Schnauben ertönte. „Natürlich, Venezia. Du weißt einmal mehr alles besser als ich. Aber bedenke, dass die beiden anderen Mädchen unter dem Schutz der Hohepriesterin und der

Eiskönigin stehen.“ Hätte ich diese Stimme anfassen können, wäre sie mir bestimmt vor lauter triefendem, schmierigem Sarkasmus aus der Hand gerutscht. Die Frau schnaubte nur wütend. Sonderbarerweise hatte ich keine Angst, die beiden machten mich regelrecht eine bisschen nervös, mehr nicht. Eine Weile vernahm ich überhaupt keine Laut – das machte beunruhigte mich doch ein wenig –, schließlich meldete sich die männliche Stimme wieder zu Wort. „Geh hinunter und sage den beiden Wächtern, dass sie das Erdgeschoss und den Keller durchsuchen sollen. Wir beide übernehmen dieses und das erste Stockwerk. Verstanden?“ „Natürlich.“ Die Frau namens Venezia verließ das Zimmer mit polternden Schritten. Auch wenn ich den Mann, Milo, nicht hören konnte, konnte ich beinahe schon spüren, dass er verzweifelt den Kopf schüttelte. Sie war auch wirklich überraschend laut für eine

Frau. „Diese Frau treibt mich noch ernsthaft in den Wahnsinn. Ich kümmere mich also besser alleine um den Rest.“ Milo erwartete wohl nicht, dass ich mich in diesem Raum versteckte, sonst würde er wahrscheinlich keine Selbstgespräche führen. „Gerali?“, flüsterte er leise. Ich spürte einen leichten Luftzug und mir jagte es einen Schauer über den Rücken. Ich wusste, was 'Gerali' war. Ein Geist. Nicht irgendein Geist, nein, er war ein Elementargeist. Ob Erde, Feuer, Luft oder Wasser wusste ich nicht. Was mir aber klar war, war, dass wir (sofern Neoras bald zurückkam) damit einen ernstzunehmenden Gegner hatten. Magier, die einen Elementargeist beschwören konnten, waren definitiv nicht zu unterschätzen. „Meissssster?“ Ein beinahe schon schlangenartiges Gesäusel durchdrang den Raum. Es war leise, aber dennoch nahezu

perfekt zu hören – so, wie es nur bei Geistern des Elements Luft möglich war. Damit steigerte sich mein Problem nochmals. Luftgeister waren allgemein recht einfach zu beschwören. Allerdings war es aufgrund ihrer Beschaffenheit schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Das Element Luft war ja nicht fix, wie Wasser oder Erde. Es war flüchtig und entwischte nur zu leicht. Dieser Mann musste eine unglaubliche Beherrschung haben, wenn er einen Geist dieser Art mit Leichtigkeit unter sich halten konnte. „Mein lieber Gerali.“ Ein leises Schnurren ertönte. Milo kraulte diesem Geist nicht ernsthaft gerade den Kopf, oder? „Meissssster?“ Die Stimme schnurrte unterwürfig. Er kraulte ihm definitiv gerade den Kopf. „Tu mir doch den Gefallen und durchsuche das untere Stockwerk nach dem Mädchen, ja?“ „Natürrrrrrlich, Meissssster. Wiiiiiie iiiiihr wünnnnnscht.“ Wieder ein

Luftzug. Der Geist war wohl dabei den Raum zu verlassen. „Ach, und Gerali?“ Der Luftzug hielt inne. „Wenn du damit fertig bist, kümmere dich bitte um Venezia. Sie ist mir irgendwie lästig... So unbeholfen und in keinster Weise intelligent. Du verstehst?“ Ein leises Säuseln, der Luftzug trat wieder auf. „Danach kannst du gehen und dich ausruhen. Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich dich benötige.“, murmelte Milo noch leise, obwohl der Geist den Raum bereits verlassen hatte. „Und nun machen wir uns daran dich zu finden, junge Frau.“ Ich hatte diesen Mann definitiv unterschätzt. Wo ich ihn bis vor einigen Augenblicken noch für harmlos hielt, hatte er mir nun bewiesen, dass er auch ganz anders konnte. Währenddessen jagte Neoras – so hatte er es mir zumindest später berichtet – über den Hafen. Er habe ein schlechtes Gefühl gehabt

und sich deswegen beeilt, sagte er später nur dazu. Auf jeden Fall war er auf verzweifelter Suche nach unserem Schiffer, der nirgendwo aufzufinden war. Das Wetter war akzeptabel, Wolken waren vorhanden, aber zumindest kein Regen. Irgendwann hatte er ihn schließlich gefunden, ganz am Ende des Kais. Allerdings war der Fund nicht unbedingt schön. Auf dem Boden kniete eine Frau, sie hatte den Kopf eines Mannes in ihren Schoß gelegt und weinte bitterlich. Neoras hatte schon da eine Vorahnung gehabt, was passiert war. Es stellte sich heraus, dass der Mann unser Schiffer war. Nur das er nicht mehr ganz so viel Leben in sich hatte wie am vorherigen Tag. Er hatte einen blutigen Einstich mitten in der Brust, die Augen waren im Schrecken aufgerissen worden. Man konnte sich die Situation, die ihm den Tod gebracht hatte, gut vorstellen. Neoras blieb – nach eigenen Angaben – neben der Frau stehen und fragte, was geschehen sei. Diese schaffte es

vor lauter Tränen erst einmal nicht zu antworten. Schließlich riss sie sich zusammen und schaute ihn an. Mit erstickter Stimme erklärte sie, dass sie in ihrer Wohnung – in einem kleinen Haus direkt an der Anlegestelle des Schiffs – gekocht habe, da ihr Mann und sie jeden Tag um diese Uhrzeit essen würden. Nach einer Weile habe sie Stimmen gehört, die eines Mannes und die einer Frau – und natürlich die Stimme ihres Ehegatten. Sie habe es am Anfang für eine ganz normale Unterredung gehalten, bis die Stimmen immer weiter angeschwollen waren. In Sorge um ihren Mann habe sie sich also auf den Weg nach draußen gemacht, „nur um zu vermeiden, dass er Ärger bekommt.“ Sie hatte eindeutig den absolut falschen Zeitpunkt erwischt. Als sie durch die Haustüre kam, habe sie gerade noch ein gurgelndes Geräusch gehört, dann habe sie gesehen, wie ein Mann sein Langschwert aus ihrem Ehegatten gezogen hatte

und dieser kraftlos zu Boden gegangen war. Dann waren die beiden Besucher direkt verschwunden. Allerdings nicht, ohne dem verkrampft am Boden liegenden Mann nochmals einen Tritt zu verpassen. Panisch sei sie daraufhin aus dem Haus gerannt, habe um Hilfe geschrien, niemand hatte sie gehört. Ihr Mann habe bereits im Sterben gelegen, als sie zu ihm kam. Das letzte was er gesagt habe: „Sie werden sie finden.“ Das war Neoras Stichwort. Er entschuldigte sich bei der Frau, versprach so bald wie möglich wiederzukommen, dann rannte er auch schon den Kai entlang. Es war logisch, dass er wusste, wer „sie“ waren. Einige Augenblicke später hatte Milo mich gefunden. Beziehungsweise fand mich Gerali. Milo hatte im Grunde keinen Finger krumm gemacht, seit der Elementargeist den Raum verlassen hatte. Er hatte es sich auf der

Fensterbank bequem gemacht und dort gewartet, vermutlich auf etwas gewartet. Nach einer Weile war wohl gekommen, was er erwartet hatte: Ein erstickter Schrei, dann ein kleines, gemeines Lachen. Mir war der Schweiß ausgebrochen. Gerali hatte sich genau in jenem Augenblick um Venezia „gekümmert“, so wie Milo es verlangt gehabt hatte. Statt darauffolgend aber zu verschwinden, war er wieder zu seinem Herrn zurückgekehrt. Dort hatte er dann den nächsten Befehl erhalten, nämlich mich zu finden. Ich hatte gewusst, dass es nur noch eine Frage von Augenblicken war und hatte mir gar nicht die Mühe gemacht, einen Schild überzuziehen. Der Elementargeist hätte mich sowieso gesehen. Stattdessen hatte ich also die Dolche vorsichtig in meine Stiefel hinein geschoben – dankenswerterweise hatte ich sie direkt nach dem Waschen angezogen – und das Säckchen mit den Wurfsternen an meinem Gürtel befestigt. Zwei der Sterne hatte

ich in meinen Händen behalten. Ich hatte eine gewisse Vorahnung gehabt, dass Milo mich mithilfe von Magie unter dem Bett hervorziehen würde. Genau so war es auch gekommen. Er hatte dennoch nicht mit meiner Überraschung gerechnet. Auch wenn ich in der Luft schwebte, er hatte mich mit einer magischen Hand im Brustbereich gepackt, bestand immer noch die Möglichkeit die Wurfsterne zu schmeißen. Also versuchte ich mein Glück. Wenn auch nicht optimal geworfen, verfehlte der erste Stern meinen Angreifer nur deswegen, da er es gerade noch schaffte zurückzuzucken. Leider behielt er trotzdem die Gewalt über mich, ließ mich nur ein wenig herabsinken. Der nächste Stern, der direkt folgte, traf sein Ziel, wenn auch nicht exakt und erst Recht nicht dahin, wo ich ihn haben wollte. Geplant war gewesen die Schulter zu treffen und ihn damit zum Loslassen

zu zwingen. Stattdessen hatte ich Milos Ohr erwischt und es einmal diagonal eingeritzt, im oberen Bereich war sogar eine kleine Spalte entstanden. Der Stern hatte noch so fiel Schwung, dass er mit einem leisen Kratzgeräusch in der Wand stecken blieb. Milo griff sich brüllend ans Ohr, wieder sackte ich ein Stückchen ab. Da seine stärkere rechte Hand nun mit dem Ohr beschäftigt war, hielt er mich mit der leicht schwächeren linken fest. „Du verdammtes...“ Bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich bereits einen von Neoras Dolchen aus meinem Stiefel gezogen. Das war der Vorteil, wenn man nicht komplett festgehalten wurde sondern nur an einzelnen Körperregionen – der Rest war beweglich. Ich visierte kurz an, dann warf ich auch den Dolch. Genauso wie der Wurfstern, traf auch er sein Ziel nicht exakt. Erneut war die Schulter das Ziel gewesen (dieses Mal die linke), stattdessen hatte ich dem Dolch eine zu starke

Tendenz nach unten gegeben. Die Klinge schnitt zwischen Milos Rippen in seinen Wams hinein, als ob er aus warmer Butter bestehen würde. Im ersten Moment passierte nichts, Milo starrte einfach nur perplex auf seinen Bauch. Dann kam das Blut und mit dessen Auftreten brach Milo zusammen. Ich wusste nicht, ob ich außer Fleisch noch etwas wichtiges verletzt hatte, aber das war mir in diesem Moment egal. Der Druck um meinen Brustkorb herum verschwand, mit einem etwas lauteren Knall kam ich auf dem Boden auf, fiel aber nicht, da ich den Fall mit meinen Knien abfederte. Ohne auch nur weiter zu denken, zog ich den anderen Dolch aus meinem Stiefel. Langsam schlich ich mich an den Magier heran. Er hatte die Augen geschlossen und Blut trat zwischen seinen Rippen hervor, trotzdem sah ich, wie sich seine Brust hob und senkte. Er lebte noch. Erleichterung durchströmte mich. Auch wenn ich vorgehabt hatte diesen Mann

ernsthaft zu verletzen, war es doch nicht mein Ziel gewesen ihn zu töten. Mit einem Knall öffnete sich nun die Tür. Ich setzte bereits mit einer Schimpftirade an, hielt dann aber inne, als ich sah, wer sich da in der Tür befand. Statt wie erwartet dort Neoras vorzufinden, sah ich zwei Schränke von Männern vor mir stehen. Oder waren es doch Gollums? Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Sie waren definitiv hässlich genug dafür. Riesige Ohren, eine noch größere Knollen-Nase und im Ausgleich dazu zwei kleine Augen, die man unter den unmenschlich haarigen Augenbrauen beinahe nicht sah. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Gollums waren. Diese Geschöpfe sahen zwar dumm aus, waren es aber leider – mit ein bisschen Übung – überhaupt nicht. Als sie ihren Mentor dort blutend auf dem Boden liegen sahen, mich daneben mit einem Dolch, wussten sie sofort was zu tun war. Ich war die Angreiferin, also

mussten sie mich ausschalten. Zweifelnd sah ich auf den Dolch in meinen Händen hinunter. Mir war klar, dass das so nicht funktionieren würde. Ich hatte es bisher noch nie in meinem Leben mit etwas zu tun gehabt, das mit einem Gollum vergleichbar wäre. Sollte ich es also mit einem Zauber versuchen? Und vor allen Dingen: Welchen Zauber sollte ich versuchen? Mir wurde die Entscheidung abgenommen. Einer der Gollums begann etwas zu murmeln, was sich verdächtig nach einem Zauber anhörte, der in irgendeiner Form die Psyche beeinträchtigt. Es dauerte nicht lange, da spürte ich, welcher Zauber angewendet worden war. Mein Körper fühlte sich an, als würde er brennen. Entsetzt starrte ich auf meine Arme, aber dort war nichts. Der Schmerz wurde stärker, ich musste es irgendwie schaffen, einen Schildzauber aufzubauen. Ich erinnerte mich an die Nacht vor einigen Wochen. Bei diesem doch recht

sonderbaren Gewitter hatte mich der Schild auch geschützt. Und dafür hatte ich meine Chakren geöffnet. Nur wenn ich das jetzt tun würde, würde zumindest einer der beiden in meinen Geist eindringen und meine magische Aura übernehmen. Und dann hätte ich verloren. Der Schmerz wurde immer stärker. Inzwischen hatte ich nicht nur das Gefühl, dass meine Haut in Flammen stand, sondern auch, dass eine Herde Pferde in meinem Kopf Volkstanz tanzte. Ich konnte inzwischen nicht mehr stehen und fiel auf die Knie, die Hände um meinen Kopf geschlungen. Einmal schaffte ich es noch nach oben zu blicken. Beide machten nicht die Andeutung, als wollten sie mich bei Bewusstsein oder gar am Leben lassen. Innerlich lachte ich irre. Dabei sollte ich dem König doch lebend vorgeführt werden. „Konzentriere dich.“ Ich hörte eine leise Stimme im Kopf, die Stimme einer Frau. Innerlich zuckte ich bereits zusammen. Ich hatte

diese Stimme vor Wochen schon einmal gehört. Meine Mutter, Morgana, was auch immer sie war. „Konzentriere dich.“ Wieder diese Stimme. Wie zur Hölle sollte ich mich denn konzentrieren. „Du hast es gleich geschafft.“ Würde ich gleich das Bewusstsein verlieren oder wie? Ein lautes Krachen ertönte. Dann setzte ein leises Murmeln hinter mir ein. Ein Stöhnen ertönte und ich hörte, wie etwas auf den Boden stürzte. Damit brachen auch die Schmerzen ab. Ich kniff immer noch meine Augen zusammen. Es fühlte sich schmerzhaft an, keine Schmerzen zu haben. So als würde etwas fehlen, als wäre man leer. Auch wenn das Eindringen der Gollums in meinen Kopf nur von kurzer Dauer gewesen war. „Carina?“ Ich spürte zwei Hände auf meinem Rücken, kniete aber immer noch verkrampft auf dem Boden. Es dauerte kurz bis ich erkannt hatte, dass es Neoras Stimme war. „Ich brauche einen Moment.“, krächzte ich nur.

Mein ganzer Körper pulsierte sonderbar. Ich realisierte erst jetzt, was während Neoras Abwesenheit eigentlich passiert war. Ich öffnete die Augen. Als das Schummrige in meinem Blickfeld verschwunden war, sah ich als erstes meine Hände. Sie zitterten unkontrolliert. Tief durchatmen. Ich musste nicht mehr tun als tief durchzuatmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es schließlich mit zitternden Knien aufzustehen. Neoras stand hinter mir und schaute mich besorgt an. „H-hast du den Schiffer gefunden?“, flüsterte ich, am Ende brach meine Stimme. Er nickte. „Setze dich erst einmal. Vielleicht sollte ich lieber noch ein wenig warten, bevor ich dir diese Neuigkeiten überbringe.“ Er zog mich zur Fensterbank und drückte mich hinunter. „Ich fange mal an mit Aufräumen.“ Als er sich umdrehen wollte, hielt ich ihn am Arm fest. „Was ist passiert?“ Meine Stimme war wieder ruhig. Neoras sah mich mit

sonderbarer Distanz an. Genau diese Art von Blick hatte er auch gerade eben schon gehabt. „Darf ich dir eine Frage stellen?“ Nun gut. Dann würde ich ihn erst einmal ausweichen lassen. „Klar.“ Ich lächelte ein wenig verunglückt. „Wirst du immer so blau, wenn du Magie wirkst?“ Bitte was? Irritiert sah ich auf meine Arme. Was mir gerade eben auf dem Boden nicht aufgefallen war, sah ich nun. Ich hatte den selben blauen Schimmer wie zu dem Zeitpunkt, als ich das letzte Mal versucht habe, meine Chakren zu öffnen. Ich sah Neoras, der immer noch verwirrt drein blickte, wieder an. „Das ist ein wenig komplizierter. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, woher es kommt. Ich weiß nur, dass sich meine Aura schon einmal in dieser Art und Weise ausdehnt hat. Das war, als ich meine Chakren geöffnet hatte. Ich habe aber wirklich keine Ahnung aus welchem Grund.“ Ich zwang mich dazu noch einige Male durchzuatmen, beobachtete dabei aber meine

Hand. Mit jedem Atemzug wurde ich ruhiger und der blaue Schimmer verschwand ein wenig mehr. „Siehst du.“ Ich streckte Neoras die Hand hin. „Alles in Ordnung.“ Er strich kurz mit dem Zeigefinger über die Außenfläche. Mich durchlief ein leichtes Kribbeln. „Erzählst du mir jetzt von deinen Neuigkeiten?“ Meine Neugier machte den Moment zunichte. „Rutsch mal rüber.“ Ich machte Neoras Platz, er ließ sich auf die Fensterbank fallen. Dann rieb er sich über das Gesicht, um in einem langen Blick auf seine Hände zu enden. Es schien beinahe so, als wollte er die Erklärung hinauszögern. Das würde ich allerdings nicht zulassen. „Neoras?“, forderte ich ihn also sanft auf. „Er ist tot.“ Was? Wer war tot? Er rieb sich nochmals über das Gesicht und sah mich schließlich an, als keine Reaktion kam. Mehr als einen verwirrten Gesichtsausdruck konnte ich ihm allerdings nicht geben. „Unser Schiffer.

Er ist tot.“ Schlaff deutete er auf Milo, der immer noch auf dem Boden lag, neben ihm die Gollums. „Er und seine Begleiterin, wo auch immer sie ist, waren bei ihm. Seine Frau hat ihn schlussendlich von einem Langschwert durchstochen gefunden.“ Entsetzt sah ich Neoras an. Noch entsetzter war ich allerdings über mich selbst. Mein erster Gedanke hatte nämlich nicht dem armen Mann und seiner Witwe gegolten, sondern der Frage, wie wir nun das Meer überqueren sollten. Ich schämte mich. „Ja, ich weiß. Mir tut der arme Mann auch Leid. Speziell wenn man bedenkt, dass wir an seinem Tod Schuld sind. Im Grunde zumindest.“ Ich hatte wohl ein wenig zu betreten drein geschaut. Und jetzt schämte ich mich noch mehr. Außerdem hatte ich schon wieder einem Menschen den Tod gebracht und gleichzeitig möglicherweise noch einen weiteren selbst getötet. Nach einer Weile traute

ich mich schließlich zu fragen, was mir schon direkt zu Anfang durch den Kopf geschossen war. „Wie sollen wir das Meer jetzt überqueren?“ Neoras sah auf den Boden. Dann seufzte er. „Ich kann durchaus ein Boot über einen Fluss steuern. Allerdings weiß ich nicht, ob ich gut genug bin um auch eines heil über das Meer zu bringen, geschweige denn wo wir überhaupt eines herbekommen sollten.“ „Du kannst doch die Witwe fragen.“ Das war mir herausgerutscht. Ich musste mich wirklich kalt angehört haben, denn Neoras warf mir sofort einen vernichtenden Blick zu. „Die Frau hat gerade ihren Mann verloren, sollen wir ihr nun auch noch ihre einzige mögliche Einnahmequelle stehlen?!“ „So hatte ich das nicht gemeint.“, brummte ich beleidigt, auch wenn er recht hatte. „Ach ja?“ „Wir könnten es ihr abkaufen. Du hast doch gemeint, dass wir noch genug Gold haben.“ „Du meinst wir hatten genug Gold.“ Neoras deutete auf das

Loch im Fußboden, wo unsere Wertsachen gelagert hatten. Ich seufzte, dann stand ich auf und krabbelte unters Bett. Dort lag, wie beabsichtigt, die Geldbörse. Als ich wieder unter dem Bett hervor gekrochen war, warf ich sie Neoras zu. „Hältst du mich wirklich für so unvorsichtig?“ Ich sah in skeptisch an. „Nein.“ Er grinste entschuldigend. „Ich weiß, dass du lügst.“ „Komm schon, Carina.“ „Wir sollten los.“ Ich kniete mich vor Milo hin und zog den Dolch zwischen seinen Rippen hervor. Ihn steckte ich in den rechten Stiefel, den anderen hob ich vom Boden auf und steckte ihn in den linken. Milos Brust hob und senkte sich noch immer. Die Geschwindigkeit dessen war seit seinem Zusammenbruch auch nicht langsamer geworden, er lebte also noch. Einer der Gollums stöhnte auf. Die beiden begannen sich langsam zu regen. „Du hast recht.“ Nun erhob sich auch Neoras. Er ging zur Wand und zog

meine beiden Wurfsterne heraus, dann ging er zum Schrank, um unsere restlichen Habseligkeiten zu holen. Er legte mir den Mantel um die Schultern und steckte mir noch währenddessen die beiden Wurfsterne in das Säckchen an meinem Gürtel. „Ich würde die Türe allerdings vermeiden, wenn ich du wäre. Bis wir die beiden weggeschafft haben, sind sie wach.“ Ich nickte. „Wo lang dann?“, fragte ich irritiert. Nicht weniger verwirrt als ich deutete Neoras nach hinten. Überrascht sah ich erst jetzt, was dort passiert war. Die Scheibe war eingeschlagen, Scherben auf dem Boden verteilt. Er war vorher durch die Scheibe gekommen, um mir zu helfen. „Hast du dir etwas getan?“, fragte ich vorsichtig. Neoras zog die Augenbrauen hoch. „Ja. In Ordnung. Lass mich raten, du hättest dich schon gemeldet, wenn etwas passiert wäre, richtig?“ Er grinste breit. Dann machte er einen Diener und deutete auf das Fenster. „Nach

Ihnen, werte Dame. Verletzen Sie sich nicht. Und stürzen Sie bitte nicht ab. Sonst war das ganze Szenario umsonst.“ Als ich vor dem Fenster stand, hob er mich vorsichtig von hinten auf dem Sims hinauf. Dann stieg er hinter mich, die Beine ein wenig weiter geöffnet als meine, damit wir beide Platz fanden. „Siehst du das Dach unter uns?“ Ich schaute nach unten und nickte. „Es ist das Dach des Stalls. Dort sind unsere Pferde untergebracht. Das letzte Mal als ich die Fähre gesehen habe, war sie noch so groß, dass Platz für sie war. Mal schauen wie es dieses Mal aussieht... Gut. Also. Du springst jetzt darunter.“ Neoras wies nach vorne. Das konnte nicht sein Ernst sein. Das war doch so tief! „Jetzt sei nicht so ein Mädchen und spring!“, zischte Neoras. „Dummerweise bin ich aber ein Mädchen.“, gab ich beleidigt zurück. Hinter uns rumpelte es. Neoras drehte sich um. „Der erste ist wach. Spring endlich!“ Ich schickte ein

Stoßgebet zum Himmel, dann machte ich einen Schritt nach vorne und fiel... und kam direkt und absolut unversehrt wieder auf. „Komm.“ Neoras zog mich mich nachdem er aufgekommen war ans andere Ende des Dachs. Dieses Mal sprang er als erstes. „Spring.“ Er hielt die Arme offen, um mich aufzufangen. Ich sprang dieses Mal freiwillig. Wir rannten in den Stall hinein. Xandrijn und Klymënæstra standen im hinteren Bereich, die Sättel hingen über den Wände ihrer Kammern. Beide freuten sich uns zu sehen. „Jaja, mein Großer.“ Neoras strich Xandrijn über den Hals, während ich mich um seine Stute kümmerte. „Du wirst noch dein blaues Wunder erleben, wenn wir gleich auf See müssen. Ich weiß doch, wie sehr du Wasser hasst.“ Dann begann auch er Xandrijn zu satteln. Für diesen Abschnitt tauschten wir die Pferde. Es dauerte nicht lange, da stürmten wir aus dem Stall heraus, am Hafen entlang zum Ende des

Kais. Wir sahen beide nicht mehr, dass der verletzte Milo den Kopf aus dem kaputten Fenster streckte und uns hinterher sah. In seinen Augen stand blanke Wut, aber auch Entschlossenheit. Hätten wir das gesehen, hätten wir uns denken können, dass er uns früher oder später noch Probleme bereiten würde.

Bekanntschaften

Das Wetter hatte sich eindeutig verbessert. Es war früher Nachmittag und viele Menschen befanden sich am Hafen, da auch heute Fischmarkt war. Es war schwierig sie alle zu umrunden und trotzdem nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. Irgendwann gaben wir es auf, die Menschen stoben sowieso immer in alle Richtungen davon, wenn sie uns sahen. Immer wieder glitt mein Blick aufs Meer hinaus. Man konnte Yéremija von hier aus zwar nicht sehen, nahm aber dennoch die dicken Nebelschwaden am Horizont war. Dort war sie, die Insel der Drachen. Das Meer war im Gegensatz zu den Verhältnissen der letzten Tage heute überraschend ruhig. Die Sonne schien und der Wind blies. Es war zwar kalt, aber dennoch schön. Alles in allem ein wirklich angenehmer

Tag. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir die Anlegestelle des Bootes erreicht. Die Witwe, von der Neoras berichtet hatte, war verschwunden, das Boot war allerdings noch da - es lag ruhig im Wasser. Also beschlossen wir, im Haus einige Golfmünzen und eine Notiz zu hinterlassen. Gesagt, getan. Wir banden Xandrijn und Klymënæstra an der Hauswand fest. Während Neoras das Geld zusammensuchte, schrieb ich eine kurze Notiz: „Unser Beileid, aufgrund des Todes Ihres Mannes. Da wir eine schnelle Überfahrt benötigen, haben wir uns Ihr Boot gegen eine entsprechende Leihgebühr geborgt. Sie werden es so bald wir möglich zurückerhalten. Herzlichst N. und C.“ - Sie bekam das Boot nie wieder zurück. Ich hatte Anweisung erhalten unsere Namen nur abzukürzen, da es so „sicherer“ sei, so Neoras. Man könnte schließlich nicht wissen,

wer uns noch alles verfolgte. Nach heute morgen gab ich ich ihm zumindest in diesem Punkt recht. Sowohl das Schreiben des Briefes, als auch das Hinterlegen des Goldes war schnell erledigt. Wir konnten also direkt weiter. Neoras hatte recht gehabt. Auf dem etwas größeren Boot, einer Mischung aus Kutter und Fähre, fanden geradeso wir und die beiden Pferde Platz. Dankenswert war auch, dass Neoras, in Erwartung von Beeinträchtigungen dieser Art, die Satteltaschen von Xandrijn und Klymënæstra stets gefüllt gehalten hatte. So hatten wir auch jetzt genug Nahrung für die Überfahrt. Die nächsten Umstände bahnten sich allerdings bereits an. Wie sich herausstellte, überquerte Xandrijn nicht gerne Brücken. Klymënæstra war bereits an Bord, stand in aller Ruhe neben mir und ließ sich die Mähne vom auffrischenden Wind zerzausen. Neoras, der an Land auf Xandrijn einredete, schien allmählich

die Geduld zu verlieren. Schlussendlich endete es damit, dass er genervt seufzte und dann die Hände hob, so als würde er sich an einem Lagerfeuer wärmen. „Du provozierst es beinahe schon, Großer.“, brummte er kopfschüttelnd. „Aber wir haben jetzt wirklich keine Zeit für so etwas.“ Dann fing er an leise zu murmeln und ich konnte spüren wie seine Aura begann sich auszudehnen. Auch wenn ich ihm insgeheim mehr zugetraut hätte, was seinen Umgang mit Tieren anging, war ich doch neugierig darauf, was er tun würde, um Xandrijn zu Klymënæstra und mir an Bord zu bekommen. Das passende Mittel, um seine Arbeit zu beschleunigen, erschien auch kurz darauf. „Du solltest dich ein wenig beeilen!“, rief ich ihm mit leicht nervösem Unterton zu. „Ich sehe dort zwei ziemlich finstere Gestalten!“ Es war zwar nicht Milo – den Göttern sei dank – oder einer seiner Kumpanen, aber dennoch sahen die

beiden Männer nicht wirklich gesellig aus, eher angriffslustig. Als Antwort bekam ich nur ein grimmiges Lächeln, dann machte er Ernst. Ein harsches „Volare“ schallte über den Kai, die Schritte der herannahenden Männer beschleunigten sich und Xandrijn, der eben noch störrisch mit den Hufen gescharrt hatte, erhob sich unter ängstlichem Wiehern einige Fußbreit in die Luft, um dann, von Neoras gelenkt, langsam auf das Boot zu schweben. Ich empfing ihn freundschaftlich und strich ihm vorsichtig über die verschwitzten, zitternden Flanken. Neoras wickelte unterdessen am Kai das Tau vom Poller und warf es mit Schwung an Deck. Als nächstes packte er sich eines der Ruder, die am Ufer lagen und setzte es seitlich am Boot an. Als Nächstes übte er Druck aus und schaffte es nach und nach Bug und Heck von der Anlegestelle wegzuschieben. Die See war immer noch recht ruhig, trotzdem entschloss ich

mich dazu, die beiden Pferde festzubinden. Einfach nur, um einen unkontrollierten Ausbruch der beiden zu verhindern. Gleichzeitig fiel mir auch auf, dass die beiden Männer von eben immer näher kamen, nur noch knappe hundert Schritte, dann würden sie Neoras erreicht haben. „Jetzt mach schon!“, rief ich ihm wütend zu. Wieso konnte er sich nicht ein wenig beeilen? Das letzte, was jetzt nötig war, war nochmals in ein Gefecht verwickelt zu werden. Mit einer letzten Hebelbewegung stieß Neoras weit genug von der Kaimauer weg, dann hechtete er an Bord. „Hilf mir! Wir müssen das Segel spannen. Und dann könntest du für ein wenig Wind sorgen!“ Noch während er das sagte, sprang er bereits am Mast hoch und hangelte sich in die Höhe. Auch wenn Neoras nicht sonderlich hoch hing – gerade einmal das dreifache seiner Größe – verlor er kurz das Gleichgewicht, kam aber

wohlbehalten am eingerollten Segel an. Er löste die Schnüre, die die ganze Konstruktion fixierten und klettere flink wieder hinab. „Spann das hier“, er drückte mir ein Seilende in die Hand, „dort ein.“ Er deutete auf einen der Querbalken. Ich tat wie geheißen, Neoras rannte zur anderen Seite und verknotete sein Seilende ebenfalls an diesem Querbalken. Ich konnte von Weitem sehen, wie er den Knoten band und machte es ihm nach. Das Resultat war, dass alles hielt, also gab ich mich zufrieden. Die beiden Männer hatten nun die Anlegestelle erreicht. Wir hatten aber erst knapp zehn Fußlängen zwischen uns und die Mauer gebracht – ein Abstand, den man mit ein wenig Anlauf problemlos überwinden konnte. Typisch: Kaum war ich an der Reihe, wurde es auch schon eng. „Aero.“ Ich formte mit meinen Armen eine Spirale über dem Kopf, die Luft um mich herum

folgte dieser Bewegung. Neoras stand an der linken Seite des Kutters – steuerbord – und kümmerte sich um unsere Verfolger. Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie er ihnen am Ufer lagernde Fässer und Ähnliches entgegen schleuderte – und dabei wirklich übel fluchte. Konzentriert bewegte ich die Luft zum Segel und blähte dieses nach und nach auf. Darauf bedacht, das Boot von der Kaimauer weg und nicht an ihr entlang zu steuern – ja, ich hatte mir tatsächlich etwas dabei gedacht, auch wenn Neoras das später bezweifelte – füllte ich das Segel aus einem bestimmten Winkel, sodass es schließlich schräg, beinahe schon diagonal, vom Kai wegtrieb. Erst als ich meine Arme wieder gesenkt hatte und Neoras zur Bootsmitte zurückkehrte, vernahm ich das panische Wiehern Xandrijns, dass dann allerdings in ein nervöses Schnauben überging. Als ich mich nach ihm umdrehte, sah ich auch den Grund: Klymënæstra hatte es, obwohl sie

angebunden war, irgendwie geschafft, ihm den Kopf über den Hals zu legen und versuchte ihn so zu beruhigen. Zumindest sah es von hier so aus. „Carina?“ Neoras stand inzwischen wieder am Bug des Schiffes, wo sich auch das Steuerrad befand. „Ja?“ Fragend sah ich ihn an. „Könntest du deinen Trick mit dem Wind möglicherweise weiter machen bis wir aus dem Hafenbecken heraus sind?“ Anstatt eine Antwort zu geben, machte ich mich sofort wieder daran Luft zu bändige. Er hatte schließlich Recht. Wir hatten den Hafen noch lange nicht verlassen und wussten auch nicht, ob wir auch auf dem Wasser verfolgt werden würden. Während ich das Boot mithilfe von Neoras Anweisungen über das Meer lenkte, warf ich immer mal wieder einen Blick gen Himmel. Dort zogen sich Wolken zusammen, dicke, schwere, tief graue Wolken. Und das bedeutete

Unwetter, damit auch Wind. Dieser begann nun auch immer mehr aufzufrischen und, gesonnen wie uns die Götter derzeit zu sein schienen, kam er sogar vom Festland, schob und auf das offene Meer hinaus, in Richtung von Yéremijas Westküste. Langsam zog ich mich zurück, das Segel blieb weiterhin aufgebläht. Der auffrischende Wind trieb uns zwar sicher über das Meer, sorgte aber gleichzeitig auch dafür, dass die Wellen immer größer und zahlreicher wurden. Neoras stand am Steuer und lenkte das Boot konzentriert über das Wasser, die Pferde schnaubten unruhig und ich versuchte möglichst viel Abstand zum Wasser um mich herum zu bekommen. Vermutlich war es so langsam an der Zeit meinem Begleiter zu erklären, dass ich im Wasser versank wie ein Stein. Ich hatte mich als ich klein war immer dagegen gewehrt das kühle Nass weiter als bis zum Bauchnabel zu betreten, Großmutter hatte

also irgendwann aufgegeben mir das Schwimmen beibringen zu wollen. Ich ließ mich unter dem Dach neben Xandrijn auf einer Kiste nieder und kraulte dem nervösen Hengst das Fell. Das Segel zappelte unruhig im Wind, trotzdem verloren wir die ganze Zeit über kein einziges Mal unseren Kurs. Ruhelos schaute ich zum Himmel empor. Ich untersuchte die Wolken unbewusst auf Ähnlichkeiten mit denen, die damals für meinen eher unfreiwilligen Aufbruch gesorgt hatten. Solch einen Blitzhagel wie damals wollte ich nicht noch einmal erleben. Ich zwang mich dazu zu entspannen und kauerte mich auf der Kiste zusammen. Es war nicht wirklich komfortabel, tat aber sein nötiges. Ich war müde genug, um es ignorieren zu können. Eine Weile bemühte ich mich noch darum meine Augen aufzuhalten, schließlich fielen sie allerdings einfach zu, ich konnte nichts dagegen machen und glitt in einen

ruhigen Tiefschlaf. Die nächsten zwei Tage verliefen ohne Vorkommnisse. Als ich erwacht war, hatte Neoras zwar mit dicken Augenringen am Steuer gestanden, dafür war das Wetter aber ruhiger geworden. Die Pferde hatten im Stehen geschlafen oder vor sich hin gedöst, auf jeden Fall waren ihre Augen geschlossen gewesen. Es hatte mindestens eine Stunde gedauert, aber schließlich hatte ich es doch geschafft, Neoras dazu zu überreden mir das Steuer eine Weile zu überlassen. Erst als er angefangen hatte über Luftlöcher zu stolpern, hatte er eingesehen, dass auch er Schlaf benötigte. Und auf dem offenen Meer konnte schließlich wenig passieren, es war nichts in unmittelbarer Nähe gewesen, was ich hätte rammen können. Die Zeit war recht schnell vorbei gegangen. Das lag vermutlich auch daran, dass ich es wirklich genossen hatte, das Boot durch das von der

Sonne in Gold getauchte Wasser zu steuern. Neoras hatte nie erfahren, dass ich nicht schwimmen konnte. Aber vielleicht würde ich es doch einmal probieren. Es hatte schon spaßig ausgesehen, wie er da vom Bug gesprungen war und seine Bahnen durch die Wellen gezogen hatte. Außerdem war er danach immer so entspannt und gut gelaunt. Und Wasser stand ihm wirklich gut. Mein Herzschlag hatte sich jedes Mal ein wenig beschleunigt, wenn ich ihn mit den nassen, durcheinander gewirbelten Haaren und den vom Wasser benetzten Muskeln gesehen hatte. Ich hatte mich hüten müssen, ihn nicht länger als nötig anzustarren... Aber es hatte wirklich, wirklich... Ich wusste nicht wie... Aber es hatte auf jeden Fall gut ausgesehen. Und es hatte mir gefallen. Und gerade das irritierte mich zunehmend. Tstrom hatten wir, wie geplant, innerhalb dieser

zwei Tage erreicht. Unsere nächste Anlaufstelle wäre Mol gewesen, wenn wir uns an Deydros Vorgaben gehalten hätten. Wir hatten aber nur einen kurzen Zwischenhalt von einigen Stunden in Mol eingelegt und waren dann direkt weiter an Yéremijas Westküste gesegelt, statt das Westkap und die Drillingsinseln zu umrunden, hatten wir eine kleine Hafenstadt, KaDee, angesteuert. Sie lag ungefähr parallel zu Tstrom und verkürzte unseren Weg zu Wasser doch um einiges. Ich bekam in dieser Zeit immer häufiger „einen Moralischen“, wie Neoras es nannte, wenn er mich einmal mehr nachdenklich auf Xandrijn hatte sitzen sehen. Aber ich dachte einfach viel nach, gerade weil wir uns nun ein wenig mehr Zeit lassen konnten. Wir hatten das Festland verlassen und König Marlons Gewalt reichte – offiziell – nur bis an die Grenzen Loterons. Was natürlich nicht hieß, dass wir nicht weiter vorsichtig blieben, unser Tagesablauf wurde

einfach nur durch weniger Verfolgungsjagden und mehr Aufenthalte in Wirtshäusern geprägt. Wir hatten immer noch genug Gold, also gönnten wir uns drei Mal am Tag eine Mahlzeit und nachts ein warmes Bett. Auch wenn letzteres eigentlich nicht mehr nötig war. Im Osten begannen die warmen Monate grundsätzlich früher. Ich hatte die warme, dicke, wasserresistente Kleidung gegen mein Kleid aus Fardrahall eingetauscht und auch Neoras hatte seinen dicken Mantel in einer Satteltasche verstaut. Wenn ich den Hintergrund dieser Reise für einen Moment vergaß – was eigentlich jeden Morgen mindestens ein Mal geschah -, konnte man durchaus meinen, dass wir aus reiner Abenteuerlust und Freiheitsdrang unterwegs waren. Das Wetter spielte immer noch einwandfrei mit. Es waren einige weiße Wattewolken am Himmel, der sonst strahlend blau war, die

Gräser waren gelb-grün und der Wind strich sacht und leise über die Felder, sodass sich die Wipfel mit ihm mitbewegten. Es roch nach Gras und Blumen, hin und wieder sahen wir Bauern, die die Felder bestellten und uns fröhlich zuwinkten. Neoras lachte immer öfters und mich verließ so langsam meine traurige Stimmung, auch wenn ich Großmutter und die anderen nie vergaß und mir immer wieder über ihren Verbleib Gedanken machte. Die Tage kamen mir wie Stunden vor, so schnell zog die Zeit ins Land. Je näher wir Jochmár kamen, desto stärker veränderte sich das Landschaftsbild. Die weiten Felder verwandelten sich in kleine Siedlungen und immer häufiger begegneten wir unterwegs Händlern, die auf dem Weg zum Meer waren, um in Übersee Waren zu verkaufen und selbst mit neuen Gegenständen zurückzukehren. Ich war noch nie auf dieser Insel gewesen und dementsprechend verwirrt war ich, als Neoras

als einem Waldrand anhielt und mir eröffnete, dass wir schon so gut wie da wären. In diesem Moment zweifelte ich (mal wieder) ernsthaft an seinem Verstand. Irritiert starrte ich die Bäume an, fuhr mit den Augen den Waldrand immer wieder nach, nur um festzustellen, dass ich nichts übersah. Oder war ich doch einfach nur blind? „Ähm. Frage?“ Verwirrt schaute ich Neoras an. Er nickte schulterzuckend. „Wo genau soll hier jetzt eine Stadt sein? Oder wohnen die Menschen hier in Bäumen?!“ Die letzte Möglichkeit hatte ich noch gar nicht bedacht. Aber das konnte nun wirklich nicht sein, oder? Ich hatte doch von Schloss Draken aus eindeutig Häuser gesehen. Und einen See. Neoras lachte leise. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihn an. Aha. Ich hatte als doch etwas übersehen. „Tut mir leid.“, meinte er und schaute mich breit lächelnd an. „Ich vergesse immer, dass du noch nicht so weit

gekommen bist.“ Er deutete in den Wald hinein. „Der Wald bildet eine Art Gürtel um die Stadt herum. Er ist von magischen Sensoren durchsetzt, sodass die Wachen sofort bemerken, wenn größere Gruppen ankommen. Einzelne Reiter beachten sie allerdings weniger. Die werden erst am Tor abgefangen.“ Ich nickte verstehend. „Komm, lass uns weiter. Wenn wir uns jetzt ein wenig beeilen, sollten wir in weniger als einer Stunde in der Stadt sein. Sogar noch bevor das Abendrot den Himmel erreicht hat. Dann haben wir noch eine Chance ohne weitere Kontrollen durch die Tore hindurch zu kommen...“ Er zog noch einmal kurz die Mundwinkel nach oben, dann drückte er Klymënæstra sanft die Fersen in die Flanken. Sie stieg kurz und preschte dann in den Wald hinein. „Na komm, Großer.“ Ich tätschelte Xandrijn motivierend den Hals. „Ich glaube nicht, dass da noch viel Wasser zum überqueren sein wird.

Du kannst dich also auch freuen. Heute Nacht schläfst du wieder in einem Stall.“ „Kommst du jetzt?“ Neoras streckte den Kopf zwischen den Bäumen hervor. Er hatte wohl noch mal umgedreht, als er gemerkt hatte, dass ich nicht sofort nachgekommen war. „Klar.“ Ich lächelte und trabte zu ihm. Wir erreichten die Stadt in weniger als einer Stunde – vom Abendrot keine Sicht, weit und breit, die Sonne stand noch ein gutes Stück über dem Horizont. Jochmár war von außen wirklich beeindruckend. Sie war die erste Stadt, die nicht von Mauern umgeben war. Die einzige Befestigung die ich sah, war eine kleine Burg, die im südöstlichen Teil der Stadt, an einem Hang aufragte. „Respekt.“, murmelte ich leise. „Nicht wahr? Keine Mauer und trotzdem geschützt.“ Neoras schien nicht minder beeindruckt zu sein. Ich musste auch zugeben: Diese Stadt lag absolut

perfekt. Im Westen war Wald, der Schutz bot, im Süden das selbe. Der Osten war verdeckt von einer Bergkette, einzig der nördliche Bereich stand frei – zumindest sah es von meinem Standpunkt her so aus. „Lass uns hinein gehen.“ Erwartungsvoll sah ich Neoras an. Mit einem Mal breitete sich eine ungeahnte Euphorie in mir aus. Diese Stadt war zum Einen optisch eine wahre Schönheit. Zum Anderen schien sie eine unglaubliche Sicherheit zu bieten, wenn ihre Bewohner es noch nicht einmal für nötig hielten, eine Mauer um sie zu ziehen. Und das obwohl dieses Gebilde die Hauptstadt Yéremijas war. Natürlich könnte man jetzt sagen, dass die Nebelschwaden, die die Sicht auf die Insel verdecken sollten – auf unserer Herreise hatte ich noch nichts davon gesehen – genug Schutz boten oder, dass die Gegend einfach zu ruhig war. Ich hatte aber aus Büchern gelernt, dass hier früher durchaus der eine oder andere Krieg

ausgetragen wurde. Wären die Mauern bei einem solchen zerstört worden, hätte man aber Überreste gesehen... Einen Augenblick überlegte ich, dann atmete ich einmal tief ein und öffnete meine Aura... Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich musste schmunzeln. Ich hatte recht gehabt. Diese Stadt strotzte nur so vor Magie. Vielleicht waren wir hier also wirklich in Sicherheit. Langsam ritten wir auf das Haupttor zu, auch wenn es im Grunde gar kein Haupttor war. Es waren zwei Wachhäuschen, die an der Straße lagen. Mich würde interessieren, was Neoras zuvor damit gemeint hatte, dass ab Sonnenuntergang das Hineinkommen in die Stadt erschwert wurde. Wie bereits festgestellt, waren hier schließlich keine Mauern, sondern nur zwei kleine, leicht pummelige Wachen. Die Schlange war nicht sonderlich lang. Nur zwei Pferden mit Obstkarren und den zugehörigen

Bauern. Dementsprechend warteten wir nur eine sehr kurze Zeit bis auch wir an der Reihe waren. „Taschen öffnen.“ Der eine Wachposten war nicht sonderlich nett, trotzdem folgte Neoras kommentarlos seinen Anweisungen. Der andere sah mich währenddessen lüstern an, was mir ein wenig Angst einjagte, besann sich aber schnell wieder auf seine Arbeit. „Namen?“ Ich zwinkerte einige Male irritiert. Verdammt. Was sollte ich darauf nun antworten. Schließlich wurden wir in Loteron immer noch landesweit gesucht und ich wusste nicht, wie weit diese Nachricht schon vorgedrungen war. Also entschloss ich mich zu lügen. Neoras kam mir allerdings zu vor. „Mein Name ist Neoras, Magier und Sohn von Faun. Meine Begleiterin heißt Carina, Magierin und Tochter des Jupiter.“ Überrascht sah mich der eben noch grob gewesene Wächter an. „Nicht etwa von DEM Jupiter, oder?“ Ich atmete kurz

durch, reckte dann die Brust heraus und hob das Kinn. „Falls sie Jupiter, den Magier der achten Corona, der eine besondere Beziehung zur Magierin Morgana hatte, meinen, dann ja.“ Ich sah ihn ein wenig von oben herab an, auch wenn ich mir dabei komisch vorkam. „Entschuldigt bitte, verehrte Dame.“ Beide verbeugten sich tief. „Und sie natürlich auch, verehrter Herr.“ Verwirrt warf ich einen Blick zu Neoras, der nicht minder irritiert zu sein schien. Wir beide hatten nicht geahnt, dass mein Vater eine solch einflussreiche Person hier gewesen war. „Erhebt euch.“, sprach Neoras nach einer Weile mit fester Stimme. Ich hätte die beiden jetzt ernsthaft vergessen. „I-Ihr werdet bereits erwartet.“, stammelte nun der eine, der mich nach unseren Namen gefragt hatte. Erneut eine Überraschung fragen. „Darf ich fragen, wer uns erwartet und wo das sein soll?“ Ich lächelte charmant. Je schneller dies alles hier von statten ging, desto schneller

konnte ich mich auf die Suche nach Fiona und Samira begeben. „Die Königinnentochter Fiona und die Dame Samira haben uns dazu angehalten, Sie zu Ihnen zu schicken. Sie erwarten sie auf Schloss Draken.“ Ich nickte hoheitsvoll, nach außen hin völlig ruhig, auch wenn es in meinem Innern zu brodeln begann. Ich wollte bereits weiterreiten, als mir nochmals etwas einfiel. „Wie lange ist es her, dass sie diese Anweisungen gaben?“, fragte ich in die Runde. „Zwei Tage, Herrin.“ Ich nickte stumm. Neoras hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, meldete sich nun aber zu Wort. „Wir werden die Damen sofort aufsuchen.“ Er nickte den beiden Wachen zu. „Die Herren.“ Beide Wachen wichen zurück als ich losritt, Neoras schnippte zwei Silberstücke durch die Luft, dann trabte er zu mir. „Also Hochmut kannst du definitiv ausstrahlen.“ Er lächelte mir verschwörerisch zu. „Sogar ich hätte dir die Edeldame beinahe abgekauft.“ Ich

lächelte ebenfalls. „Und ich dachte immer das Schauspiel gehört auf keinen Fall zu meinen Begabungen.“ Er schüttelte leise lachend den Kopf. „Ich weiß ungefähr wie wir zum Schloss kommen. Reite mir einfach hinterher.“ Neoras beschleunigte in einen angenehmen Leichttrab. „Muss ich wieder im Damensitz reiten?“, fragte ich mit ironischem Unterton. Er lachte nur laut. Wir ritten in der äußersten Straße der Stadt. Sie beschrieb in etwa einen Halbkreis und führte bis auf zwei oder drei kleine Abzweigungen direkt zum Schloss. Die Dämmerung kam langsam und legte sich wie ein kühler, roter Umhang um unsere Schultern. Mit dem Licht verschwand auch die Wärme, die mich den heutigen Tag über so belebt hatte. Nach einer knappen Meile wurde die Häuserreihe zu unserer Rechten von einer dünnen Steinmauer ersetzt. Es dauerte nicht mehr lange, da sahen wir am Ende der Straße einen Aufgang aufragen. Die Straße hier stieg

schon leicht an. Dort vorne wurde dieser allerdings noch steiler. Als wir an eben jenem Absatz ankamen, erkannte ich, dass zu meiner Linken, am Geländer entlang noch eine Treppe verlief. Links von der Treppe und dem Geländer befanden sich einige niedrige Rosenbüsche und ein kleiner Blumengarten. Das Licht war inzwischen so schlecht, dass ich nicht mehr erkannte, was für Blumen es waren. Ich roch aber Lavendel und Tulpen. Nachdem wir den Anstieg hinter uns gebracht hatten, erkannte ich, was sich hinter dem Garten verbarg. Dort war der See. Haargenau der See, den ich vor einigen Nächten in Ant-al-Wal in meinem Traum gesehen hatte. Es schockierte mich immer noch beinahe jedes Mal, wenn ich Dinge, von denen ich geträumt hatte, tatsächlich später sah. Es war absolut unheimlich. „Ist alles in Ordnung?“ Neoras hatte sich im Sattel umgedreht und sah mich besorgt an. Ich

hatte gar nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war. „Jaja.“ Ich schüttelte müde lächelnd den Kopf. „Weißt du. Es ist schon ein bisschen komisch, dieses Wissen, dass ich das alles schon mal gesehen habe. Es fühlt sich alles so surreal an.“ Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. Neoras lachte leise. „Komm. Ich habe dort vorne einige Stallburschen gesehen. Wenn wir erwartet werden, sollten wir uns vielleicht nicht zu viel Zeit lassen, oder?“ Ich nickte und ritt weiter, meinen Blick immer noch fasziniert auf den See gerichtet... Vielleicht konnte ich ja auch... Suchend schaute ich umher. Tatsächlich. Dort hinten war der Balkon. Direkt vor mir lag er, in etwa derselben Höhe, wie dieser Eingangsbereich. Merkwürdig, dass mir dieser hier beim letzten Besuch gar nicht aufgefallen war. „Carina.“ Neoras klang inzwischen schon ein wenig genervt. Er stand bei zwei Männern, vermutlich den Stallburschen. Einer der beiden

hatte Klymënæstras Zügel in der Hand. Alle drei waren ungeduldig. Ich wendete Xandrijn flink vom Geländer weg. „Ich komme. Wirklich.“ Bei den dreien angekommen, schwang auch ich mich vom Pferd. „Die beiden Damen erwarten Sie bereits.“, erklärte einer der Stallburschen, der wie mir jetzt erst auffiel gar kein Stallbursche war, sondern ein livrierter Diener. Der andere Mann brachte unterdessen unsere beiden Pferde weg. „Ihr Reisegut wird Ihnen innerhalb kürzester Zeit gebracht werden. Wenn Sie mir nun bitte folgen würden.“ Wenn ich vorhin bereits gut darin gewesen war hochnäsig zu sein, dann schoss dieser Mann ernsthaft den Vogel ab. Er übertraf mich um Längen. „Nach dir.“, flüsterte Neoras mir leise zu und signalisierte mir mit einer galanten Handbewegung, dass er mir den Vortritt ließ. Ich lächelte ihm dankend zu und ging dann dem Diener hinterher, der uns durch eine riesige,

weiß gestrichene Tür hinein in eine von Kerzen erleuchtete Eingangshalle führte. Hinter uns wurden die Türen direkt wieder geschlossen, sodass ein eisiger Luftstoß entstand, der mich nur noch mehr in den Raum hinein trieb. „Warten Sie hier einen Augenblick, ich werde Sie ankündigen.“ Während der Diener das sagte zuckte sein gedrehter Schnurrbart leicht, was ihn nur noch eingebildeter erscheinen ließ. Während er den Raum verließ, sah ich breit grinsend zu Neoras hin. Dieser verdrehte die Augen, legte die Hand dramatisch an die Stirn und tat so als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Ich konnte mich nicht davon abhalten, ein kleines Kichern entschlüpfte mir. Hinter uns ertönte ein leises, aber dennoch gut vernehmliches Räuspern. Ich drehte mich überrascht um. Die beiden Wachleute hatte ich komplett vergessen gehabt. „Entschuldigt bitte.“, flüsterte ich

leise. „Carina!“ Ein Lachen und Samiras Stimme tönten durch die Halle, da kamen die beiden auch schon herein. Fiona ein wenig moderater, Samira aufgeweckt wie die letzten Male auch. „Ein wenig weniger Begeisterung wäre durchaus angebracht.“, begrüßte Fiona mich trocken. „Immerhin haben sie Verfolger auf den Fersen und zwar nicht zu knapp.“ „Bitte was?“, fragte Neoras überrascht. „Ihr hattet Verfolger auf den Fersen. Auch noch in Ant-al-Wal. Ihr habt doch nicht etwa geglaubt, dass sie nicht darauf kommen, dass ihr nach Jochmár wollt, oder?“ Neoras sah ein wenig perplex aus, ich ebenfalls, nur Samira behielt ihre gute Laune. „Gehen wir doch am besten in das Kaminzimmer. Dort liegen auch die ganzen Karten aus.“ Lachend drehte sie sich einmal im Kreis und lief mit wehendem Kleid davon. Heute trug sie eines aus rosafarbener

Seide Fiona drehte sich ebenfalls um und ging durch eine Tür auf der anderen Seite des Raumes. Kurz bevor sie verschwunden war, lächelte sie mir allerdings doch noch zu. „Es ist, trotz der gegebenen Umstände, schön dich wieder zu sehen.“ Dann zog sie ihren langen, schwarzen Wollmantel, den sie über einem einfachen, schwarzen Ensemble aus Leinen trug, fester um sich und schritt hinaus. „Dann komm.“ Ich nickte in die Richtung, in der die beiden anderen verschwunden waren. „Es wird dir dort gefallen. Versprochen. Es ist warm und man kann sich hinsetzen. Es gibt vielleicht sogar etwas zu essen.“ Ich lächelte schelmisch. „Haha.“ Neoras tat erst einige Schritte, blieb dann aber unschlüssig stehen. „Glaubst du wirklich, dass ich da dabei sein soll. Ich meine, ich hab doch im Grunde mit eurem Magier-Dreieck nichts zu tun.“ Oh nein, bitte. Das konnte er jetzt nicht ernst meinen.

„Ich sage es gerne nochmal: Da ist es warm, man kann sich hinsetzen und es gibt möglicherweise sogar etwas zu essen.“ Auffordernd sah ich ihn an. Es brachte nichts, er rührte sich keinen Schritt weit. Ich seufzte tief, dann drehte ich mich vollends zu ihm um. „Sieh mal. Du bist mein Begleiter, auf sonderbare Art und Weise bist du sogar mein Beschützer. Und du bist dafür verantwortlich, dass ich noch lebe... Außerdem hast du Ahnung von Magier und der Denkweise unserer Feinde. Weil du clever bist.“ Ich lächelte ihm aufmunternd zu. Auch er hatte mit jeder Eigenschaft, die ich aufgezählt hatte, immer ein wenig mehr gelächelt. Ich ging auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Also.“ Ich nickte bestätigend. „Falls diese Gründe es nicht tun, kann ich immer noch sagen, dass du ziemlich pflegeleicht bist und dass ich dich ungern einfach so den ganzen Weg wieder zurückreiten lassen würde.“ In

gespielter Entrüstung blieb Neoras der Mund offen stehen. „So.“ Einen Moment wog ich ab, entschloss mich aber dann doch, es zu tun. Ich drückte ihm einen flinken Kuss auf die Wange und sah dabei in seine glänzenden Augen, die mich nun überrascht anstarrten. „Das ist mein persönlicher Grund.“, gestand ich ihm offen, meinen Kopf in der Höhe seines Ohres haltend. Dann ging ich einige Schritte zurück. Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich das gerade wirklich getan hatte... „Kommt ihr jetzt ihr Turteltauben oder wollt ihr hier draußen Wurzeln schlagen?“ Fiona stand mit breitem Grinsen in der Tür und beobachtete uns beide interessiert. Um ehrlich zu sein wollte ich gar nicht wissen, wie lange sie sich da schon aufhielt. Entnervt schloss ich die Augen und zählte lautlos bis sechs, dann drehte ich mich um. Ich hatte meinen Herzschlag unter Kontrolle, meine Nerven

ebenso. „Ja. Ich musste den Herrn hier nur noch davon überzeugen, dass er gebraucht wird. Jetzt kommen wir mit. Und zwar beide.“ Ich drehte mich demonstrativ zu Neoras um. „Verstanden?“ Er nickte brav. „Na dann scheint ja alles geklärt zu sein.“, erklärte Fiona breit grinsend und ging hinaus, ich ihr kopfschüttelnd hinterher. Dieses Mädchen hatte entweder ein Gespür für Situationen, wie ein Elefant, der im Porzellanladen nach Futter suchte oder sie liebte es einfach nur, andere Leute aus der Fassung zu bringen. Da ich inzwischen schon ein wenig wusste, wie die beiden Mädchen so waren, tippte ich auf Letzteres. Ich folgte ihr durch einen langen, nur spärlich von Kerzen erleuchteten Gang. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet, was die drückende Stimmung nur noch verstärkte. Es hingen einige Gemälde aus, Gold gerahmte

Portraits von Männern mit weißem, aufgebauschtem Kragen, Puffärmeln und merkwürdig gezwirbeltem Schnauzbart... Dazu meistens lange lockige Haare... Das mussten wohl die ehemaligen Besitzer von Schloss Draken gewesen sein. Am Ende des Gangs blieb Fiona stehen, nirgendwo war jedoch eine Tür zu sehen. „Äh...?“ Fiona drehte sich um und unterbrach mich lächelnd, indem sie am Hals eines Kerzenleuchters zog, der sich zu meiner Rechten befand. Überrascht keuchte ich auf, als die Vertäfelung zu meiner Linken ein Stück in die Wand hinein sackte und dann nach links verschwand, um den Zugang zu einem hell erleuchteten Raum preiszugeben. „Nicht schlecht.“, wisperte Neoras leise hinter mir und Fiona lächelte noch breiter. Sie sah sehr zufrieden mit sich aus. „Nach euch.“ Sie wies mit ihrer rechten Hand auf den Eingang. Der Raum, den wir nun betraten, kam mir sehr bekannt vor. Vor mir lag der große runde Tisch

mit den vielen Karten und den geometrischen Utensilien, um ihn herum standen auch genau die selben Hocker wie das letzte Mal, nur das es jetzt vier an der Zahl waren. Samira stand gebückt vor dem Kamin, sie war gerade dabei das Feuer anzufachen. „So.“ Strahlend drehte sie sich um. Dann ging sie zu den Fenstern und zog die Vorhänge auf, dahinter erschienen zwei Platten mit Brot, Käse und kaltem Fleisch. „Ich weiß, dass es nicht so viel ist, aber wir werden später noch richtig essen. Ich dachte nur, dass ihr möglicherweise hungrig seid und etwas zu euch nehmen wollt, während wir die derzeitige Lage besprechen...“ „Wir bekommen gleich auch noch Besuch von den Ratsvorsitzenden Yéremijas und einigen Mitgliedern der hier ansässigen Magiergilden.“, erklärte Fiona. Überrascht sah ich sie an. Ich hatte nicht gewusst, dass die Menschen hier so kooperativ waren. Und vor allen Dingen, dass sie uns akzeptierten und nicht einfach auslieferten.

„Das werden sie nicht tun.“ Samira kam lächelnd auf uns zu. „Diese Menschen glauben ihren Prophezeiungen, einige hier leben sogar danach.“ „Außerdem brauchen sie uns auch. Schließlich bedroht Marlon sie genauso wie die Bewohner seines eigenen Reiches.“, fuhr Fiona fort. „Bis auf auf die Tatsache, dass sich in Loteron niemand traut, sich zu wehren. Ich meine, wie sollten die Bauern und Stadtbewohner das auch tun? Sie haben nichts und können meistens nicht mit Waffen hantieren, weil sie zu jung, zu alt oder...“ Neoras räusperte sich und warf einen entschuldigenden Blick in die Runde. „Naja. Oder weil sie eben Frauen sind.“ Fiona schmunzelte leise. „Jaja, ich weiß, was ihr jetzt denkt.“, fuhr Neoras mit erhobenen Händen fort. „Aber so ist die Denkweise beim größten Teil der Bevölkerung nun mal.“ „Ihr solltet nicht glauben, dass die Kampfbereitschaft bei unserem Volk übertrieben

hoch ist, Meister Neoras.“ Verblüfft drehten wir uns um. Hinter uns hatten einige Männer, aber auch Frauen den Raum betreten. Diejenige, die gesprochen hatte, war eine recht junge Frau. Sie trug ein schwarzes, eng anliegendes Kleid und darüber einen weißen, am Oberkörper geschnürten Mantel mit Ärmeln, die ab dem Ellbogen abwärts eingeschnitten waren und damit sehr locker saßen. Sie trat einige Schritte vor. „Ich bin Dahlia, die Ratsvorsitzende von Jochmár und das Oberhaupt des Rates von Yéremija.“ Sie hielt Neoras die Hand hin. Dieser verneigte sich und hauchte, ohne ihre Haut zu berühren, einen Kuss auf die Oberfläche. „Es ist mir eine Ehre euch kennen zu lernen, Ratsvorsitzende. Wie ihr schon erfahren habt, heiße ich Neoras.“ Sie zog galant ihre Hand zurück und nickte anerkennend. „Ihr seid der Schüler von Meister Deydros,

richtig?“ Woher sie das wusste, war mir absolut schleierhaft. Neoras schien dieser Fakt nicht einmal zu interessieren. Er nickte nur mit schmalem, aber dennoch herzlichem Lächeln. Sie nickte ebenfalls. „Nun dann.“ Sie ging zum Kartentisch. Dann drehte sie sich schwungvoll zu uns und den vielen Menschen, die inzwischen den Raum betreten hatten, um. „Meine Damen, meine Herren, werte Magier.“ Sie bedachte alle mit einem strahlenden Lächeln. „Sie alle wissen, aus welchem Grund wir heute Nacht hier sind. Lassen Sie uns anfangen.“ Mit einem Mal ging das große Rascheln los, die eben noch stocksteif gestandenen Menschen wuselten geschäftig durch den Raum, verteilten ihre Mitbringsel. Mir war klar, wieso diese Frau den Ratsvorsitz inne hatte. Sie schaffte es, ohne jegliche Magie – eine Aura dieser Art konnte ich nicht spüren -, die Menschen dazu zu bewegen etwas zu tun.

Ich wollte sie nicht zum Feind haben. Sie konnte definitiv gefährlich sein. Es wurden Stühle zusammen gezogen, einige blieben stehen, unter ihnen auch Fiona, Samira, Neoras und ich. Die Ratsvorsitzende Dahlia setzte sich ebenfalls nicht, genauso wie eine etwas ältere, komplett in rot gekleidete Frau mit vernarbtem Gesicht und eine jüngere, sehr bubenhaft wirkende Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Letztere trug einen eng anliegenden Anzug aus dunkelbraunem Leder. Die mittlere, in rot gekleidete Frau meldete sich nun zu Wort. „Auch von meiner Seite her einen guten Abend. Ich weiß, dass die Zeit drängt und ich weiß auch, dass diese Ansprache vermutlich überflüssig ist, aber ich halte sie dennoch. Bedenkt, dass die heutige Nacht entscheidend sein wird für unser weiteres Vorgehen. Die Prophezeiung ist dabei, sich zu erfüllen und wie wir auch wissen, möchte König Marlon von Loteron dies um jeden Zweck

verhindern. Der Ausgang ist ungewiss, dennoch möchte ich – auch im Namen der Magiergilden – sagen, dass wir gerade erst am Anfang stehen. Wir haben eine Möglichkeit, dieses Reich vor der Bedrohung, vor der es steht, zu beschützen. Gerade aus diesem Grund möchte ich euch bitten, euer Bestes zu geben. Denn vergesst eines nicht: Loteron ist jetzt nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dennoch. Wenn dieses Imperium fällt, durch wessen Hand auch immer, wird es nicht lange dauern, bis der Rest auch überrollt wird.“ Ein Schweigen erfüllte mit einem Mal den Raum. Alle Abgesandten und Ratsmitglieder sahen sie mit ernsten Augen an. Vermutlich schien es ihnen wie mir zu gehen. Ich hatte seit unserem Aufbruch aus Loteron gewusst, dass die Lage schlimm war. Allerdings hatte die Magierin uns noch einmal vor Augen geführt, was passieren würde, wenn wir versagten. Und diese Aussicht war alles andere als

erfreulich. „Nun denn. Das heißt trotzdem nicht, dass wir jetzt Trübsal blasen sollten. Frisch ans Werk und frohes, erfolgreiches Schaffen.“ Die jungenhaft aussehende Frau wandte sich lächelnd in die Runde. So als hätte sie ein Signal gegeben, fingen mit einem Mal alle an miteinander zu diskutieren und sich über die aktuelle Lage auszutauschen. „Verdammt.“, flüsterte ich Fiona, die neben mir stand, ins Ohr. „Ich weiß.“, zischte sie zurück. „Die sind wirklich gut.“ Ich nickte nur bestätigend, zu verblüfft um noch weiter zu reagieren. „Meine Damen.“ Dahlia und ihre beiden Mitrednerinnen näherten sich. „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt.“ Die Frau in Rot trat vor. „Mein Name ist Kira, Vorsitzende der Magiergilden und Anführerin der 'Wächter der Dunkelheit'.“ Erneut wurde nur Neoras die Hand gereicht, der diese mit einem kurzen,

Luftkuss bedachte. „Meisterin Kira, es ist mir eine Ehre.“ Sie nickte. „Ich bin Cato. Ich leite die Verbindung der Assassinen hier in Yéremija.“ Die Sprechende lächelte aus ihren karamellfarbenen Augen. Dieses doch eher weibliche Merkmal stand im kompletten Gegensatz zu ihrer eher rauchigen Stimme und dem doch beinahe schon männlichen Auftreten. Auch sie bekam einen Handkuss von Neoras. „Ich möchte nicht vorlaut sein, Meister Neoras. Aber wenn ihr mir die Frage gestattet, würde ich gerne erfahren aus welcher Magiergilde ihr stammt.“ Neoras nickte lächelnd und schob zur Antwort diskret seinen Hemdausschnitt ein wenig nach links, um dort seine Adlertätowierung für Kira freizulegen. „Genügt dies als Antwort?“, fragte er lächelnd. Die Angesprchene lachte leise. „Durchaus. An Selbstbewusstsein und Charme scheint es Euch

nicht zu mangeln.“ Ihre Mundwinkel verzogen sich katzenhaft, als sie sah wie Neoras schalkhaft lächelte. „Ich hoffe doch, dass ihr mit ebenso viel Intelligenz und diplomatischem Geschick aufwarten könnt.“ Nun war es Neoras, der leise lachte. „Durchaus, verehrte Dame. Ich sehe, dass ihr dort hinten erwartet werdet.“ Er deutete in ihren Rücken, wo einer der vielen Männer kurz die Hand in die Höhe streckte. Kira nickte akzeptierend. „Nun gut.“ Sie lächelte uns anderen noch einmal kurz zu und drehte sich dann um, um zu gehen. „Wolltet ihr mich nicht begleiten, Meister Neoras?“, fragte sie dabei noch leise, aber dennoch so laut, dass auch ich es mitbekam. Neoras sah mich einen Augenblick fragend an. Ich nickte ihm ermutigend zu, auch wenn es mir ganz und gar nicht gefiel, dass er nun mit dieser durchaus hübschen Frau zusammen arbeitete. „Schaut nicht so missmutig, Meisterin Carina.“,

wisperte Cato mir leise lächelnd zu. Ich fuhr erschrocken herum. „Entschuldigt.“ Ich lächelte sie an. „Wie unhöflich von mir. Ihr habt wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit.“ „Gut.“ Sie sah nun auch zu Fiona und Samira, die dabei waren sich mit Dahlia leise zu unterhalten. „Ich würde vorschlagen, dass wir beide eine Gruppe bilden. Überlassen wir eure beiden Begleiterin unserer Vorsitzenden.“ Ich nickte, erfreut darüber, dass jemand freiwillig mit mir zusammen arbeiten wollte. Ich lächelte sie geschmeichelt an. „Gerne. Wollt ihr hier drinnen bleiben oder sollen wir uns auf den Balkon begeben. Dort draußen gibt es zwar keine Tische, aber das Geländer ist dennoch breit genug, sodass man eine Karte problemlos auf ihr ausbreiten kann.“ Sie lächelte mir immer noch zu, trat jetzt allerdings einen Schritt zurück. „Nach euch, Carina.“

Epilog

„Es ist eindeutig angenehmer hier draußen.“, sprach Cato, als wir an die frische Luft traten. Ich hatte mir unterwegs eine Karte von den gesamten Imperien vom Tisch genommen und breitete sie nun auf dem steinernen Geländer aus. „Nicht wahr? Und es ist trotz der Dunkelheit so angenehm hell hier.“ Die Vorhänge waren zwar immer noch vorgezogen, aber durch die gläserne Tür viel dennoch sehr viel Licht auf den Balkon, außerdem wurde das alles noch von geschickt platzierten Kerzenleuchtern unterstützt. „Also gut.“ Cato bewegte sich lautlos neben mich. „Ich gehe einfach einmal davon aus, dass ihr bisher noch keine wirkliche Erfahrung mit den Strategien König Marlons gemacht habt, oder?“ „Nicht wirklich.“ Ich lächelte ihr entschuldigend zu. „Kein Grund, Bedauern zu hegen. Ich erkläre es

euch.“ Die nächsten zwei Stunden brachte Cato damit zu, mir zu erklären, wie König Marlon seine Kämpfer einsetzte. Die sogenannte Guerilla-Taktik hatte ich bereits zu spüren bekommen. Er schickte einzelne, kleine, unauffällige Gruppen aus, um einzelne, bedrohliche Gegenspieler zu töten, so drang er immer weiter vor. Er war wohl auch ein Mensch, der gerne abschreckende Exempel statuierte, aufgehängte Magier oder Diebe waren anscheinend keine Seltenheit. Cato wunderte sich geradezu, dass wir auf unserer Reise hierher noch nichts dergleichen gesehen hatten. Anscheinend griff der König nur im letzten Moment zu größeren Maßnahmen. Er war wohl nicht der Typ dafür, mit großen Heeren auszzuziehen, um eine wirkliche Schlacht zu führen. „Könnte das eine seiner Schwächen sein?“, fragte ich Cato neugierig. Fragend sah sie mich

an. „Möglicherweise versucht er auf einen längeren Massenkampf zu verzichten, da er zu wenig fähige Soldaten hat?“ Sie nickte bestätigend „Das könnte durchaus sein. Dennoch halte ich es für ziemlich unwahrscheinlich. Der König unterhält Unmengen an Soldaten und lässt sie täglich beinahe den ganzen Tag über Gefechte ausführen, nur damit sie in Übung bleiben, und wenn er sie nur ausschickt, um einige Bauern niederzumetzeln. Als Belohnung dürfen sie dann deren Frauen und Töchter vergewaltigen.“ Das sagte sie mit solcher Kälte in der Stimme, dass mir schier die Spucke im Hals stecken blieb. Resigniert hob ich den Kopf und schaute an den dunklen Himmel. Hier und da glänzte der eine oder andere Stern. Unten am See waren noch einige wenige Häuser erleuchtet, aber auch deren Zahl nahm drastisch ab. Es musste wirklich schon ziemlich spät sein. Mein Blick wanderte zum Horizont, aus reinem

Vergnügen wollte ich überprüfen, ob die Sonne schon dabei war den Rand der Welt zu ersteigen. Und tatsächlich, dort hinten glimmte es bereits gelb und rot. Sonderbar. Eigentlich war es dafür doch noch viel zu früh... Konzentriert starrte ich nochmal zur Horizontlinie. Oh nein – Das war auf keinen Fall die Sonne. „Cato.“, unterbrach ich die junge Frau, die immer noch versuchte mir die Angriffstaktiken zu erklären. „Ja?“ „Das da am Horizont. Ist das Feuer?“ Ich deutete über das Geländer hinweg auf die zuckende rot-gelbe Linie. Cato kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. „Verdammt.“, zischte sie leise. Sie murmelte etwas und einen kurzen Augenblick später stürmten Dahlia und Kira in Begleitung von Fiona, Samira und Neoras aus der Tür. „Was ist geschehen?“, fragte die

Ratsvorsitzende. Ich deutete stumm auf die Horizontlinie. Die vereinzelten Feuer bewegten sich immer näher, ich glaubte sogar, einzelne Figuren erkennen zu können. „Oh nein.“, murmelte Samira leise neben mir. Ich nickte nur. „Darauf sind wir alles andere als vorbereitet.“, stellte Dahlia nun resigniert fest, drückte dann aber die Schultern durch. Sie drehte sich zu Cato und Kira um. „Ruft eure Leute zusammen und bringt sie in Position.“ Die beiden nickten und stoben davon. Direkt darauf hörte man schon das Rumoren im Saal. „Ihr kommt mit mir und meinen Abgesandten.“, sagte sie zu Neoras. Dieser drückte mir einmal kurz ermutigend den Arm und verschwand dann ebenfalls im Innern des Schlosses. „Nun zu euch Dreien. Samira, du kümmerst dich von hier aus um die Organisation von Catos Leuten und folgst dabei strikt ihren Anweisungen, verstanden?“ Samira nickte ernst. „Fiona, du bist Kiras Auge und behältst von

hier aus den Überblick für sie, während sie dort unten ist.“ Auch Fiona nickte und brachte sich am Geländer in Position, sodass sie die komplette Stadt überwachen konnte. „Du Carina, wirst die Bändiger aus Kiras Gruppe von hier aus unterstützen. Sei ihr Auge, versuche Dinge vorauszusehen. Verstanden?“ Ich nickte bestätigend und stellte mich zwischen Samira und Fiona. Der Wind hatte aufgefrischt und so flatterten unsere Mäntel wild hin und her. „Gut.“ Dahlia sah einmal kurz zum Himmel, hob dann ein Amulett, dass sie um den Hals trug und rieb es kurz. „Hoffen wir, dass die Götter uns heute gnädig sind und dass wir nicht zu viel Schaden davon tragen.“ Mit wehendem Mantel verschwand sie und ließ uns hier oben zurück, die näher kommenden Reiter hatten wir fest im Blick.

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Hörbuch

Über den Autor

Mayana
Mein Name ist Mia und ich liebe das Schreiben über alles. Meine Hobbies sind zudem die Musik und der Sport.
Ich bin sehr kreativ und vernarrt in gute Fantasy- und Historien-Romane. Deswegen habe ich beschlossen einmal den Versuch zu wagen, um zu sehen, wie meine Geschichten so ankommen. - Ich hoffe sie gefallen euch!

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