mySTORYs Schreibratgeber
Für Anfänger und Fortgeschrittene

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Zeiträume

Zeit zum Erzählen, Zeit zum Erleben

Fast immer, wenn wir einen Roman lesen, erfahren wir etwas über die Zeit, in der seine Handlung spielt. Möglicherweise ist es ein sehr aktueller Roman, dessen Handlung im Sommer dieses Jahres angesetzt ist. Vielleicht liegt die Handlung aber auch schon ein paar Jahre zurück. Oder wir begeben uns beim Lesen ins Mittelalter. Oder bereisen das fiktive Land Mittelerde am Ende des Dritten Zeitalters. Manchmal bringt uns die Handlung auch in eine ferne Zukunft.

Neben anderem gehört gerade das Reisen in eine andere Zeit zur Faszination des Lesens. Was wir oft gar nicht bemerken, ist, dass wir uns dabei noch auf eine weitere Zeitebene einlassen. Schreiben wir selbst eine Geschichte, kann diese weitere Ebene aber wichtig werden.

1. Erzählte Zeit und Zeit des Erzählens

Die Zeit, in der die Handlung spielt, ist die Zeit, von der erzählt wird. Daher nennt man sie die erzählte Zeit. Erzählt wird, wie wir im Artikel über den Erzähler und seine Perspektiven nachlesen konnten, von einem Erzähler.

Betrachten wir, um uns dessen Situation deutlicher zu machen, zunächst eine mündliche Kommunikation. Wenn uns ein Freund erzählt, was er am Vorabend in einer Kneipe erlebt hat, dann gehören die Ereignisse in der Kneipe in die erzählte Zeit. Wir sagen auch, sie gehören zur Zeitebene des Erzählten.

Die Zeit, in der wir und unser Freund uns befinden, während er uns vom Vorabend erzählt, nennen wir die Zeit des Erzählens oder auch die Zeitebene des Erzählens.

Wir haben also zwei Ebenen, die, in der die Ereignisse stattfinden, über die unser Freund berichtet, und die, in der unser Freund berichtet. Unser Freund kann dabei jederzeit zwischen beiden Ebenen wechseln, kann mal auf die eine Bezug nehmen, mal auf die andere:

Das war unheimlich laut in dieser Kneipe gestern! Dagegen ist der Lärm von dem Bagger da drüben gar nichts!

Wenn der Freund als Erzähler auf die Ebene des Erzählten Bezug nimmt, spricht er von einer Vergangenheit, während er im zweiten Satz auf die Ebene des Erzählens Bezug nimmt, die seiner Gegenwart entspricht.

Im Prinzip gilt das Gleiche für den Erzähler im Roman: Die Ereignisse, von denen er uns erzählt, liegen auf der Ebene des Erzählten. Aber der Erzähler, der uns davon erzählt, hat seine eigene Gegenwart, in der er erzählt, also die Ebene des Erzählens, von der aus betrachtet das Erzählte in der Vergangenheit liegt.

Der große Unterschied zur mündlichen Kommunikation ist der, dass wir, die Leser, uns nicht mit dem Erzähler gemeinsam auf der Ebene des Erzählens befinden. Der Zeitpunkt, zu dem der Erzähler erzählt, liegt für uns Leser, von unserer Zeitebene aus gesehen, ebenfalls in der Vergangenheit.

Wollten wir es plastisch machen, würde sich ein Zeitstrahl ergeben:

In einer Kneipe passiert etwas – der Erzähler schreibt auf, was in der Kneipe passiert ist – wir lesen, was der Erzähler aufgeschrieben hat.

Beim Roman haben wir also drei Zeitebenen:

  1. die Ebene des Erzählten,
  2. die Ebene des Erzählens,
  3. die Ebene der Rezeption (des Lesens).

Wichtig für den Autor, ist, sich klarzumachen, dass der Erzähler nur  die ersten beiden Ebenen kennen kann.

Nehmen wir an, der Freund aus dem obigen Beispiel hätte uns seine Kneipenerlebnisse am nächsten Tag nicht erzählt, sondern sie aufgeschrieben. Am übernächsten Tag treffen wir ihn und er gibt uns seine Aufzeichnungen zu lesen.

Niemand würde ihn jetzt fragen: „Hä? Welchen Bagger meinst du denn? Ich sehe gar keinen.“

Denn jedem wäre klar, dass er den Bagger gesehen und gehört hat, als er seine Erlebnisse aufgeschrieben hat. Ob dagegen ein Bagger zugegen sein würde, wenn wir seinen Text lesen, konnte er nicht wissen.

So geht es auch dem Erzähler im Roman. Er kann nur Aussagen über die Ebene des Erzählten und über die Ebene des Erzählens treffen.

2. Die Gegenwart des Erzählers

Bei der personalen Erzählweise werden wir als Leser über die Gegenwart des Erzählers nichts erfahren. Der Erzähler, der nur aus der Sicht seiner handelnden Figur erzählt, nimmt sich selbst vollkommen zurück, gaukelt dem Leser vor, es gäbe ihn gar nicht, weshalb die Zeit des Erzählens bei seiner Erzählhaltung auch keine Rolle spielt. Stattdessen tut der Erzähler so, als würden beide Ebenen, die des Erzählens und die des Erzählten, miteinander verschmelzen.

Bei der auktorialen Erzählweise jedoch werden beide Ebenen deutlich voneinander getrennt, was dem Erzähler die Möglichkeit gibt, auch auf die Ebene des Erzählens zu referieren, die somit für ihn die Gegenwart darstellt.

Die drei versteckten sich im Schuppen hinter dem Haus, der heute längst einem Gemüsebeet gewichen ist.

Das Heute ist also nicht etwa die Gegenwart des Lesenden, sondern die des Erzählers. Selbst wenn der Erzähler von real existierenden Orten spricht, ist damit nicht gesagt, dass wir als Leser nun davon ausgehen können, dass dort immer noch ein Gemüsebeet zu finden ist.

Nun resultiert daraus eine Frage, die immer wieder für Verwirrung sorgt.

Zum damaligen Zeitpunkt war Berlin noch eine geteilte Stadt.

Auch dieser Satz referiert auf die Gegenwart des Erzählers, denn er impliziert die Aussage, dass Berlin in seiner Gegenwart, also zu dem Zeitpunkt, an dem er die Geschichte niederschrieb, nicht mehr geteilt war. An dieser Aussage ist auch jetzt nicht zu zweifeln, denn während ich diese Zeilen niederschreibe, ist Berlin noch immer ungeteilt. Aber wer kann schon wissen, ob das auch dann noch gilt, wenn Leser in 100 Jahren dieselbe Geschichte lesen?

Und nun kommt das Problem: Autoren bekommen immer wieder das Gefühl, sie müssten bei Aussagen, die auch in ihrer Gegenwart zutreffen, aus den Zeitformen der Vergangenheit in die der Gegenwart wechseln:

Endlich kamen sie in Sievershagen an, einem kleinen Ort, der in der Nähe von Rostock liegt.

Nach Möglichkeit wurde bis dahin vielleicht noch personal erzählt. Beim auktorialen Erzählen könnte und müsste die Verwendung des Präsens ein Hinweis auf die Ebene des Erzählens, also die Gegenwart des Erzählers sein. Das funktioniert aber nur, wenn der Erzähler regelmäßig auf diese Ebene referiert, der Leser also damit bereits bekannt ist.

Tatsächlich wird hier aber versucht, auf die Zeitebene des Lesens zu referieren. Und die hat im Roman nichts zu suchen. Es mag zwar unwahrscheinlich sein, aber möglicherweise gibt es Sievershagen in einer ferneren Zukunft nicht mehr. Oder Rostock heißt nicht mehr Rostock.

Viel wichtiger aber ist, dass das für die Figuren des Romans vollkommen unwichtig ist. Es hat mit ihrem Handeln zur erzählten Zeit nicht das Geringste zu tun. Auch für die Gegenwart des Erzählers hat es keine Bedeutung.

Nicht umsonst hat der zweite Teil des Beispielsatzes den Charme eines Reiseführers. Er stellt einen Bruch dar, der den Leser aus dem  Romangeschehen reißt. Er ist schließlich auch nur für den Leser gedacht. Wie eine erklärende Fußnote.

Aber wir schreiben eben kein Sachbuch, sondern einen Roman (oder eine Kurzgeschichte, eine Erzählung, …). Daher sollten wir den Hinweis auf die Lage von Sievershagen nur dann erwähnen, wenn er für Handlung und Figuren wichtig ist. Und dann heißt es einfach:

Endlich kamen sie in Sievershagen an, einem kleinen Ort, der in der Nähe von Rostock lag.

3. Vielschichtig: Die Ebene des Erzählten

Die Ebene des Erzählten umfasst nicht nur den Haupthandlungsstrang, sondern auch sämtliche Rückblenden und Vorausschauen innerhalb der Erzählung. Sie kann damit riesige Zeiträume umfassen und sogar in eine Zukunft reichen, die selbst aus Sicht des Lesers noch Zukunft sein kann:

2006 heirateten Klaus und Maria und bekamen in den folgenden zwanzig Jahren noch zwölf Kinder.

Zwar liegen aus Sicht des Lesers die (fiktiven) Ereignisse einer Erzählung meist in der Vergangenheit und auch die Ebene des Erzählens liegt in der Regel vor der Ebene des Lesens. Das muss aber nicht so sein.

4. Zurück in die Zukunft

Obwohl auch im Science Fiction über zurückliegende Ereignisse erzählt wird, liegen diese nur aus Sicht des Erzählers in der Vergangenheit. Die Gegenwart des Erzählers liegt nämlich aus Sicht des Lesers in einer fiktiven Zukunft. Und zwar in einer Zukunft, die aus unserer heutigen Sicht noch weiter von uns entfernt ist als die Ebene des Erzählten:

Gegenwart des Lesers – das, was erzählt wird (erzählte Zeit) – Gegenwart des Erzählers

Wir schreiben das Jahr 2130. Ich will euch von den Ereignissen erzählen, die drei Jahre zuvor auf der Erdkolonie Future geschahen.

Natürlich kann sich das für den Leser im Jahr 2130 ändern. Allerdings lesen auch wir die Geschichten von Jules Verne noch als Science Fiction, weil es eben immer nur um eine fiktive Zukunft gehen kann.

Veröffentlicht am 13.11.2010
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